Kapitel 4
Aus der Shelter Bay Gazette
Polizeiprotokoll: Ertrunkener aus New York beging offenbar Selbstmord
Der 56 Jahre alte Terrence, »Terry«, Milton starb am vergangenen Mittwoch durch Selbstmord. Er besaß ein Ferienhaus nahe der Stelle, an der man ihn am Donnerstagmorgen tot aufgefunden hatte. Nachbarn berichteten, Mr Milton habe seit dem Tod seiner Mutter im vergangenen Jahr unter Depressionen gelitten …
»Will, du kommst genau richtig!«, rief sein Vater ihm zu, als er die Treppen herunterkam. »Probier doch auch mal was von diesem Wein! Das hier ist Mr Jameson – ihm gehört ein Weinberg oben in North Fork. Wir würden gerne seinen Wein an unserem Stand verkaufen.«
Wills Mutter saß schweigend auf dem Sofa und nippte an der hellen, bernsteinfarbenen Flüssigkeit in ihrem Glas.
»Brauchst du denn nicht eine Lizenz, um Alkohol verkaufen zu dürfen?« Will schüttelte den Kopf, als sein Vater ihm ein Glas Wein hinhielt. »Nein danke.«
»Möglicherweise nicht, wenn der Kunde ihn bei euch bestellt«, entgegnete Mr Jameson. Er erinnerte Will an einen dieser alternden Soapdarsteller: groß, graumeliertes, nach hinten gegeltes Haar, braun gebrannt und immerzu ein strahlendes Lächeln auf den Lippen. »Wir sind noch dabei, einen Plan auszutüfteln, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass unsere Lieferungen bereits am Tag der Bestellung bei Ihnen eintreffen werden.«
»Die Leute werden uns die Bude einrennen wegen dieses Sauvignon blanc«, schwärmte Mr Archer. »Bist du sicher, dass du nichts davon möchtest, Will?«
»Er ist wirklich köstlich«, sagte Mrs Archer leise.
»Ich wollte gleich noch mit dem Motorrad weg«, sagte Will.
»Nur einmal nippen?« Mr Jameson lachte.
Will rang sich ein müdes Lächeln ab. In Wahrheit verabscheute er Wein. Bier genauso. Allerdings hatte er keine Lust, das Mr Ich-war-mal-Seifenopernstar zu erklären.
»Mein abstinenter Sohn«, sagte Wills Vater und rollte mit den Augen. »Wo willst du denn hin?«
»Nur ein bisschen in die Stadt.«
»Du denkst aber schon daran, dass du danach eine Schicht hast, oder?«, erinnerte Mrs Archer ihn.
»Wie könnte ich das vergessen!«
Mr Archer winkte seinen Sohn hinaus und rief: »Na los doch, raus mit dir! Amüsier dich schön!« Er ließ ein aufgesetztes, herzliches Lachen erklingen, bei dem Will fast schlecht wurde.
Er winkte und ging zu seinem Motorrad. Hastig zog er sich den Helm über den Kopf und startete die Maschine. Der Motor heulte laut auf und Will jagte ihn noch ein paarmal hoch, bevor er die Auffahrt hinunterfuhr.
Er heizte die Straße entlang und fühlte sich mit jedem Meter, der zwischen seinem Vater und ihm lag, erleichterter. Will spürte genau, dass sein Vater vor den anderen Leuten jedes Mal eine bühnenreife Show abzog. Ihm fehlte dafür jegliches Verständnis. Zudem machte es ihn wütend, dass dieses Schauspiel seinen Vater offenbar all seiner Energie beraubte, denn sobald sie allein waren, sprach er kaum ein Wort mit Will.
Er stellte sein Motorrad ab, verstaute seinen Helm und ging schließlich zum Schaufenster. Er betrachtete eingehend die goldene Zierschrift auf der Tür und fuhr dabei jeden Buchstaben mit den Augen nach: Edelantiquitäten Worthington. Will schob seine Daumen unter die breiten Tragegurte seiner wasserdichten Kuriertasche und zog sie höher auf seine Schultern. In der Glastür warf er einen kurzen Blick auf sein Spiegelbild. Unter der Sonnenbräune wirkte seine Gesichtsfarbe matt und fahl. Er hatte eine traumreiche Nacht hinter sich. Er war mit Tim surfen gewesen, sie hatten gelacht und sich in den Wellen getummelt. Erst als er langsam aufgewacht war, hatte sich der Traum zum Albtraum entwickelt. Tim war tot und das Mädchen mit den grünen Augen vielleicht auch, wo auch immer es sein mochte.
Schließlich legte Will seine Hand auf den Messinggriff und öffnete die Tür.
Der Ladenbesitzer, ein feiner älterer Herr, dekorierte gerade eine Glasvitrine, als Will den kühlen schummrigen
Laden betrat. Sein Kopf erschien kurz über der Ladentheke. »Ich bin gleich bei Ihnen«, sagte er, um wie ein Erdmännchen sofort wieder in seinem mit Antiquitäten ausstaffierten Loch zu verschwinden.
Will nutzte den Moment, um sich im Laden umzusehen. Links von ihm stand ein großer Schreibtisch. Er war kunstvoll verziert mit geschnitzten Köpfen von Löwen und anderen exotischen Tieren. Die Tischfüße waren Klauen, die eine Kugel umschlossen hielten. Der Schreibtisch war von beachtlicher Größe und so konstruiert, dass man von beiden Seiten daran Platz nehmen konnte. Fasziniert betrachtete Will das Möbelstück eingehend von allen Seiten.
»Dies ist ein Doppelschreibtisch aus dem 19. Jahrhundert«, erklärte der ältere Herr. »Daran konnten sie sich gegenübersitzen und haben vermutlich über Budgetfragen diskutiert.«
»Es steht kein Preis dran«, bemerkte Will.
»Dieses Objekt kostet vierzigtausend Dollar«, sagte der Herr.
Will lachte auf. »Tja, da kann ich ja von Glück sagen, dass ich bereits einen Schreibtisch besitze.«
Der Ladenbesitzer lächelte, was seine strenge Erscheinung nicht mehr ganz so unnahbar wirken ließ. So war er eher ein hagerer Mann mit einer winzigen Gleitsichtbrille und einer beigefarbenen Hose, als der Besitzer eines Ladens, in dem Einrichtungsgegenstände so viel kosteten wie das Auto von Wills Vater. »Wie kann ich Ihnen denn weiterhelfen?«
»Also …« Will wühlte in seiner Tasche und beförderte ein in eine braune Papiertüte gewickeltes Etwas hervor. Der Mann sah aufmerksam zu, als Will behutsam die Flöte aus der Tüte nahm und sie hochhielt. »Können Sie mir irgendetwas hierüber sagen? Bei Ihnen im Schaufenster liegt doch genau so eine.« Will wies mit einem Kopfnicken über seine Schulter.
Der Mann huschte hinter seine Theke und streifte eilig ein Paar weiße Baumwollhandschuhe über. Dann nahm er die Flöte und betastete sie mit äußerster Vorsicht. »Dies ist ein sehr altes Instrument.«
»Wie alt?«
»Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher. Natürlich müsste ich sie zunächst authentifizieren lassen, aber ich schätze mal, dass sie wohl an die fünfhundert Jahre alt sein dürfte. Möchten Sie die Flöte verkaufen?«
»Nein.« Allein bei dieser Frage juckte es Will schon in den Fingern. Er wollte seine Flöte zurück, allerdings konnte er sie dem Mann ja nicht einfach aus der Hand reißen. »Ich … ich wollte einfach nur mehr darüber erfahren.«
»Es tut mir wirklich leid, dass ich Ihnen nicht mehr dazu sagen kann. Die Flöte, die dort im Schaufenster liegt, ist ein äußerst seltenes Stück. Im Grunde warte ich nur noch auf das Echtheitszertifikat, damit ich sie nach Nizza in Frankreich schicken kann. Dort soll sie in ein Museum kommen.« Er ging mit der Flöte zur Ladentheke und legte sie sachte nieder. Dann holte er einen Stoffbeutel und steckte das Instrument behutsam hinein. Er rollte den Beutel auf und übergab ihn Will. »Etwas so Wertvolles sollte sicher aufbewahrt werden«, sagte der Mann.
»Danke.« Will packte die Flöte wieder in seine Tasche und schämte sich insgeheim für seine zerknitterte Papiertüte. »Aber könnten Sie mir denn sagen, woher Sie die andere Flöte haben?«
»Interessanterweise war die Person etwa so jung wie Sie. Sie arbeitet gleich nebenan.« Der Verkäufer kritzelte etwas auf die Rückseite seiner Visitenkarte. Asia Marin stand dort in krakeligen Großbuchstaben.
»Ach, sie arbeitet im Bella’s?«, fragte Will und konnte sein Glück kaum fassen. »Das ist ja toll, ich wollte sowieso gerade dorthin.«
»Ein Wink des Schicksals«, verkündete der Antiquar feierlich.
Will nickte und musste darüber schmunzeln, wie rasch der Mann wieder zu seiner spröden Ernsthaftigkeit zurückgekehrt war. »Ja, kann sein.«
Will ließ sich in einer Zweiersitzecke nieder und stellte seine graue Kuriertasche auf dem Tisch ab. Es war jetzt später Vormittag und die ersten Mittagsgäste trafen nach und nach ein. Zoe hatte Will erzählt, dass sie fast ausschließlich für die Mittagsschichten eingeteilt worden war, allerdings war sich Will nicht sicher, ob sie heute auch arbeitete. Er ließ den Blick durch den langen Raum schweifen. Farmer mit Baseballkappen hatten es sich in ihren Sitzecken bequem gemacht und hockten dicht gebeugt über ihren Fish and Chips. Zwei dicke Frauen teilten sich lachend ein Bananensplit. Überall saßen Leute, die aßen und sich unterhielten.
Will holte die Flöte aus seiner Tasche und befreite sie vorsichtig von dem Stoffbeutel. Vermutlich hätte er besser Handschuhe tragen sollen, so wie der Herr in dem Antiquitätengeschäft, doch andererseits hatte er die Flöte bereits so oft in den Händen gehalten, dass es nun wohl auch keinen Unterschied mehr machte.
Das Holz in seiner Hand wog leicht, wie die feinen Knochen eines Vogels.
Sie hatte Tim gehört. Nicht, dass er darauf gespielt hatte. Soweit Will wusste, konnte Tim lediglich Gitarre spielen. Nichtsdestotrotz war dies Tims Flöte. Davon ging Will zumindest aus.
Wochen, nachdem seine Familie einen Grabstein über einer leeren Kiste errichtet hatte, hatte Angus’ Onkel Will zu sich auf die Polizeistation gebeten. Er hatte gesagt, er habe etwas für ihn. Als Will dort angekommen war, hatte Polizeichef Barry McFarlan eine Plastiktüte mit einem Beweisstück aus der Schublade seines Schreibtischs gezogen und erklärt, dass der Polizeibeamte, der nach Tims Verschwinden vor Ort gewesen war, die Flöte auf dem Segelboot im Rigg festgeklemmt gefunden habe. Da sie für die Ermittlungen nicht von Belang zu sein schien, konnten sie das Beweisstück freigeben. »Ich weiß doch, dass Tim total auf Musik stand. Sie muss ihm gehört haben«, sagte Barry und fragte Will, ob er die Flöte haben wolle, »zum Andenken«.
Zum Andenken, hatte Will gedacht. Ein Andenken an den Tod seines Bruders. Als ob es davon nicht schon genügend gab. Die Flöte hatte er trotzdem mitgenommen. Dann hatte er sie in der untersten Schublade verstaut und sie dort bis vor ein paar Tagen vergessen. Er wusste selbst, wie albern es war, zu denken, die Flöte könnte irgendetwas mit Tim zu tun haben. Und doch hatte er das Gefühl, ihm durch sie näher zu sein. Als er dann die gleiche Flöte im Schaufenster gesehen hatte, hatte er sofort beschlossen, mehr über sie in Erfahrung zu bringen.
Will ließ den Blick durch das Restaurant schweifen. Er konnte Zoe nirgends entdecken. Eine punkig gestylte Bedienung mit Dreadlocks und einer grauen Kellnerinnen-Uniform stand bei einigen älteren Damen am Tisch und scherzte mit ihnen herum. Der Küchenchef – Angel, der schon zum Inventar des Bella ’s gehörte – war auf seinem angestammten Platz am Herd. Will konnte ihn durch die Essensdurchreiche erspähen. Er fragte sich, ob das Punk-Mädel wohl Asia war und schnappte sich eine Tageszeitung, die jemand auf seinem Platz liegen gelassen hatte. Will überflog die Vorder-, dann die Rückseite. Auf der ersten Seite des Lokalteils standen die Todesanzeigen und das Polizeiprotokoll. Dort fand er einige knapp gehaltene Zeilen über die Leiche, von der Angus ihm zu Beginn der Woche erzählt hatte, jedoch kein einziges Wort über ein dunkelhaariges Mädchen. Will versuchte, sich das Bild der fremden Schönen zurück ins Gedächtnis zu rufen und war überrascht, wie deutlich sich ihm ihre strahlenden meergrünen Augen, ihre blasse Haut und ihre hohen Wangenknochen eingeprägt hatten. Ihr langes Haar, das wie ein Schleier hinter ihr auf dem Wasser schwamm, als sie ins Meer watete.
Die ganze Szene erschien ihm irgendwie unwirklich. Kein Mädchen konnte so wunderschön sein. Und kein Mensch würde während eines solchen Sturms in den tobenden Ozean hineinmarschieren. Das Ganze kam ihm vor wie einer jener Albträume, die sich derart real anfühlen, dass man beim Erwachen völlig außer Atem ist und endlos erleichtert darüber, sich in seinem eigenen Bett in den eigenen vier Wänden wiederzufinden.
»Was darf es für dich sein?«
Will hob den Kopf und das Herz gefror ihm zu Eis. Es blieb nicht einfach stehen, sondern fühlte sich plötzlich kalt und zerbrechlich an, so als würde die geringste Berührung es zum Bersten bringen.
Das ist sie!, durchfuhr es ihn.
Leuchtend grüne Augen waren aufmerksam auf ihn gerichtet. Das schwarze Haar hatte sie im Nacken zu einem Knoten zusammengesteckt. Sie trug eine von diesen üblichen langweiligen Kellnerinnen-Uniformen und hatte sich einen Stift hinters Ohr geklemmt. Und trotzdem war sie einfach unbeschreiblich schön.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie und der Klang ihrer Stimme umnebelte seine Sinne. Will wusste, dass er irgendetwas hätte sagen sollen, doch er brachte kein Wort heraus. »Eine Cola«, presste er schließlich mit erstickter Stimme hervor.
Sie notierte sich seine Bestellung und sah dann mit leicht schief gelegtem Kopf wieder von ihrem Block auf. Ob sie mich auch erkannt hat?, überlegte er.
Die Kellnerin blickte auf die Tischplatte, wobei sich ihr Gesichtsausdruck veränderte. »Woher hast du die?«, fragte sie leicht argwöhnisch und blickte ihn forschend an.
Will sah auf seine Hände hinab, in denen er immer noch die Holzflöte hielt. In seinem Kopf rauschte es wie bei einem gestörten Funksignal – irgendwie machten Worte für ihn gerade keinen Sinn. Was sollte er ihr denn antworten? »Sie hat vermutlich meinem toten Bruder gehört«? »Die hat mir ein Polizist als Andenken gegeben«? Sein Blick blieb an ihrem Namensschild hängen.
»Asia Marin«, sagte er laut.
Asia sah ihn misstrauisch an, so als erwarte sie, dass Will ihr gleich mit einem abgedroschenen Spruch kommen würde – was ihr offenbar nicht sonderlich gefiel. »Müsste ich dich kennen?«
Will wusste nicht so recht, was er darauf antworten sollte. Etwa nicht?, wollte er am liebsten fragen. Erst habe ich dich um ein Haar überfahren und dann habe ich versucht, deinen Selbstmordversuch im Meer zu verhindern. Schon vergessen?
»Nein«, brachte er endlich heraus. »Ich, äh – der Besitzer von dem Antiquitätengeschäft nebenan schickt mich. Er sagte, dass du ihm auch so eine Flöte verkauft hast.«
Asia ließ sich auf dem Sitz gegenüber von Will nieder. Vorsichtig nahm sie ihm die Flöte aus der Hand und betrachtete das Instrument. »Die sieht wirklich fast genauso aus wie meine«, sagte sie dann.
Sie saßen so nah beieinander, dass Will fast ihren Atem auf der Haut spüren konnte. Er fühlte sich ganz benommen von ihrer samtig-weichen Stimme. Man wollte sich einfach hineinschmiegen. »Ich bin da auch kein Fachmann …« Sie warf ihm einen prüfenden Blick zu.
»Wir sind ja hier auch nicht in einer Quizsendung zum Thema Antiquitäten«, sagte Will. »Sag mir einfach alles, was du darüber weißt. Diese Flöte ist für mich ein Buch mit sieben Siegeln.« Er lehnte sich vor und tat so, als wolle er das Instrument eingehender betrachten. In Wirklichkeit jedoch wollte er einfach nur diesem wundervollen Mädchen etwas näher kommen.
»Also … wenn man’s ganz genau nimmt, ist das nicht einfach eine Flöte, sondern eine Blockflöte. Das sieht man an diesen Löchern hier.« Mit ihren schlanken Fingern zeigte sie auf die grob geschnitzten Löcher. »Ich nehme an, diese hier stammt aus Europa. Und sie ist alt – sehr alt, möglicherweise noch älter als die, die ich hatte. Könnte um die vierhundert oder fünfhundert Jahre alt sein. Es ist ziemlich schwierig, solche Dinge korrekt zu datieren.«
»Wie bist du eigentlich an deine Flöte gekommen?«, fragte Will.
»Sie war ein Geschenk.«
»Warum hast du sie dann verkauft?«
»Ich hatte keine Verwendung mehr dafür.« Asias Augen verengten sich zu Schlitzen, als hätte Will sich mit seinen Fragen auf ein gefährliches Terrain begeben. »Reden wir jetzt hier über meine oder deine Flöte?«
»Tut mir leid. Über meine. Aus welchem Holz ist sie gefertigt?«, fragte Will.
Asia sah ihm in die Augen. »Es ist kein Holz«, sagte sie. »Sondern Knochen.«
Ihm wurde eiskalt, als sei die Temperatur im Restaurant urplötzlich um zehn Grad gefallen.
»Asia!«, brüllte Angel aus der Küche herüber. »Ich bezahl dich hier nicht fürs Herumsitzen!«
»Ach, werden wir etwa hier bezahlt?«, meldete sich das Punk-Mädel zu Wort. Die älteren Damen kicherten.
»Ich werde mal besser deine Cola holen«, sagte Asia, legte die Flöte behutsam auf dem Stoffbeutel ab und stand auf. »Ich bin gleich zurück.«
Will nickte nur und fühlte sich noch immer leicht benommen. Er war so überwältigt von der Schönheit des Mädchens und der Weichheit ihrer Stimme, dass er völlig vergessen hatte, sie zu fragen, wer ihr die Flöte geschenkt hatte. Oder aus welchem Grund sie – wenn überhaupt – ins Meer gelaufen war. Wenn sie zurückkommt, kann ich ja nachhaken, dachte Will. Doch anstelle von Asia war es die Punk-Kellnerin, die ihm etwas später seine Cola brachte.
»Macht Asia gerade Pause?«, fragte Will.
Die Kellnerin warf ihm einen Blick zu, der vermuten ließ, dass er nicht der erste Mann war, der nach Asia fragte. »Ja, ja«, antwortete sie gleichermaßen wachsam und gelangweilt.
Will trank seine Cola aus und sah auf die Uhr. Er musste zum Verkaufsstand – seine Schicht fing gleich an. Schließlich hatte er nicht ewig Zeit, um auf Asia zu warten.
Jetzt, da er sie gefunden hatte, wusste er ja, wo er sie antreffen konnte. Wenigstens existierte sie wirklich.
Eigentlich hätte ihn dieser Gedanke beruhigen sollen.
»Hey, Schätzchen, die alte Lady da drüben in der Ecke schnippt schon die ganze Zeit wie verrückt in deine Richtung.« Die schwarz geschminkten Lippen geschürzt, balancierte Lisette auf beiden Händen die vollen Teller für Tisch vier und nickte nur grob in die Richtung, in der Zoes Kundin saß. Sie war zwar erst Mitte zwanzig, redete aber wie jemand aus den Sechzigerjahren. Sie hatte braune Augen, die sie dunkelblau schminkte, und trug eine Hornbrille. Ihr Haar war leuchtend rot, wie das von Pippi Langstrumpf, und heute trug sie es wie eine kleine Fontäne mitten auf ihrem Kopf. Sie arbeitete seit drei Jahren im Bella’s und hatte bereits ihre Stammkunden, beispielsweise die Versicherungstypen an Tisch vier. »Diese alte Hexe kenne ich. Besser du gehst schnell zu ihr, Schätzchen, sonst verwandelt sie dich noch in eine Kröte.«
»Lisette, wirst du dafür bezahlt, dass du mit Zoe quatschst?« Angel O’Rourke – Manager des Bella’s und zudem für die Küche zuständig – blickte mürrisch drein, wobei sein karottenfarbener Schnauzer vor Unmut zuckte. Zoe fand, dass er aussah wie eine irisch-dominikanische Version von Oskar aus der Mülltonne.
»Ach, jetzt halt mal die Luft an, Angel!«, entgegnete Lisette schnippisch und sauste zu ihrem Tisch davon.
Zoe klappte den Skizzenblock zu und blickte zu der Dame in der Ecke hinüber. Sie war übergewichtig und hatte einen Wust grauer Haare auf ihrem Kopf, die in drei verschiedenen Blondtönen gesträhnt waren. Ihre Haut sah aus wie der zerknitterte Bettbezug über einem bauschigen Federbett und die verkniffenen Lippen hatte sie grellpink geschminkt. Schnipp, schnipp, schnipp. Als die Frau merkte, dass sie Zoes Aufmerksamkeit erregt hatte, hielt sie ihren Kaffeebecher hoch und tippte demonstrativ mit einem pink lackierten Fingernagel darauf.
Zoe eilte zu ihr an den Tisch.
»Dieser Kaffee ist kalt.« Mit steifer Miene stellte sie den Becher auf der Papierunterlage ab, die auf der goldgesprenkelten Tischplatte lag.
Zoe nahm ihr den Kaffeebecher – der noch erstaunlich warm war – aus der Hand.
»Außerdem schmeckt er abgestanden. Sie könnten ruhig mal einen frischen aufbrühen.« Sie sah in die Zeitung, die vor ihr auf dem Tisch aufgeschlagen war.
»Diesen Kaffee habe ich eigenhändig aufgebrüht, und zwar fünf Minuten bevor ich ihn serviert habe«, protestierte Zoe.
Der Strähnchenunfall bedachte sie mit einem vernichtenden Blick.
»Dann sollten Sie sich lieber um eine neue Kaffeesorte bemühen, dieses Gebräu hier schmeckt jedenfalls wie Spülwasser.«
Zoe spürte eine Flamme des Zorns in sich auflodern.
Sie war kurz davor, der Kundin gehörig ihre Meinung zu sagen, als sich ihr eine kühle Hand auf den Arm legte, erfrischend wie eine Sommerbrise.
»Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte eine samtweiche Stimme. Asias unverwandter Blick lag auf der Kundin, die sich fast unmerklich duckte wie eine Schildkröte, die sich unter ihren Panzer zurückzieht. »Hallo, Mrs Cuthbert«, sagte Asia mit samtweicher Stimme. »Wie geht es Ihnen denn heute?«
Irgendwie verursachte Asias ruhige Art bei Zoe ein Schwindelgefühl, so als würde sie versuchen, sie aus weiter Ferne zu betrachten. Und das, obwohl die andere Kellnerin gar nicht sonderlich groß war. Sie strahlte einfach eine besondere Ruhe aus. Mit ihrem langen schwarzen Haar, das sie zu einem Knoten im Nacken aufgesteckt trug, und ihren feinen Gesichtszügen erinnerte sie irgendwie an eine griechische Statue.
»Ach, mein Knie macht mir nach wie vor zu schaffen«, klagte Mrs Cuthbert und zog ein verdrießliches Gesicht. »Es hat mich die ganze Nacht über wach gehalten.«
Asia beugte sich leicht vor und flüsterte Mrs Cuthbert etwas ins Ohr – oder doch nicht? Zoe hatte jedenfalls nicht gesehen, dass ihre Lippen sich bewegten. Doch die alte Dame lächelte.
»Ich danke Ihnen, Liebes.« Sie warf Zoe noch einen Blick zu, doch die Härte darin war verschwunden.
Ohne ein weiteres Wort nahm Asia den Kaffeebecher und führte Zoe, die in Erwartung eines Streits immer noch ganz angespannt war, vom Tisch fort.
Als sich Zoe noch einmal umdrehte, sah sie Mrs Cuthbert am Tisch sitzen und aus dem Fenster schauen. Sie hatte ein leichtes Lächeln auf den Lippen und ihr Kopf schaukelte sachte vor und zurück, wie von einer sanften Brise bewegt, die außer ihr selbst niemand wahrnahm.
Asia verschwand eilig hinter der Theke.
»Willst du den Kaffee etwa wegschütten? Der ist doch völlig in Ordnung«, meinte Zoe. »Ich habe ihn frisch aufgebrüht. Und heiß ist er auch noch.« Das Bella’s war berühmt für seinen Kaffee: Er hatte ein köstliches Aroma und war so stark, dass es einem die Schuhe auszog.
Asia nickte und lächelte. »Ja, ich weiß.«
»Warum …?«
»Ich bleibe jetzt hier stehen, zähle bis sechzig und werde ihr dann einfach denselben Becher noch einmal bringen. Diesmal wird er ihr schmecken.« Zoe blickte skeptisch drein, doch Asia schenkte ihr ein zuversichtliches Lächeln und berührte sie sacht am Arm. »Du wirst schon sehen.«
Zoe beobachtete sie, als sie auf Mrs Cuthberts Tisch zusteuerte. Die alte Dame wandte sich vom Fenster weg und Asia reichte ihr den Kaffeebecher. Sie nahm einen Schluck und strahlte die Kellnerin dann an.
»Na, ist Asia wieder als Schlangenbeschwörerin unterwegs?«, fragte Lisette, die über der Theke lehnte, um an eine Senftube heranzukommen.
»Sieht ganz so aus«, entgegnete Zoe.
»Das Mädel würde es sogar hinkriegen, den Meckerschlumpf zum Strahlen zu bringen.« Lisette hielt die Senftube empor und rollte mit den Augen. »Ja, ja, jetzt mach dir mal nicht ins Hemd!«, rief sie einem der Männer von Tisch vier zu, der sich über seinen angeblich kalten Burger beklagte.
Hinter Zoe erklang das Glöckchen. »Das Essen für Tisch sieben ist fertig!«, rief Angel.
Sie stieß einen Seufzer aus. An Tisch sieben saß Mrs Cuthbert. Sie machte sich auf eine Diskussion über die Qualität des Sandwichs gefasst, doch Mrs Cuthberts Laune war offenbar wie gewandelt. »Ich danke Ihnen, Liebes«, sagte sie herzlich, als Zoe den Teller vor ihr auf den Tisch stellte.
Völlig überrascht murmelte Zoe ein »Gern geschehen« und ging wieder. Es war bereits kurz vor vier und das Bella’s leerte sich allmählich. Zoe wischte den Tresen ab, füllte die Serviettenständer wieder auf und sortierte Besteck. Als sie alles erledigt hatte, schnappte sie sich wieder ihren Skizzenblock. Sie wollte die unzähligen Fältchen festhalten, die spinnennetzartig Mrs Cuthberts Nacken überzogen. Es faszinierte sie, wie sie in Bewegung gerieten, sobald die alte Dame aß.
»Wunderschön.«
Zoe setzte erneut an. »Dir sollte ich ein Glöckchen um den Hals binden«, sagte sie zu Asia, die über Zoes Schulter hinweg die Skizze beäugte.
Asia lächelte. Ihr Finger fuhr ganz sachte die gezeichneten Linien nach und ihre Berührung war so zart, dass die Zeichnung kein bisschen verwischte. Gerade wollte sie nach dem Skizzenblock greifen, doch dann hielt sie im letzten Moment inne. »Darf ich?« Sie betrachtete jede Zeichnung einen Augenblick lang und blätterte dann weiter. Die meisten Leute blätterten durch Zoes Skizzenblock wie durch eine Zeitschrift, ohne dem Inhalt besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Asia hingegen studierte eingehend jede einzelne Zeichnung. Bei einem Porträt hielt sie inne. »Ich glaube, den hier kenne ich.«
»Nein.«
Asia zog erstaunt eine Augenbraue hoch und Zoe kam sich idiotisch vor. Sie hatte selbst bemerkt, dass ihr Ton schärfer gewesen war als beabsichtigt. »Es ist nur, weil – das ist das Bild von jemandem, der …« Sie brachte es nicht über die Lippen. Eine Welle der Gefühle drohte sie zu überrollen – Wut, Schmerz, Liebe, Angst.
»Von jemandem, der …« Asia suchte in ihrem Gesicht nach der Antwort. »… nicht mehr ist.«
Zoe nickte.
Asia ließ die Worte im Raum stehen. Nach einer Weile konnte Zoe regelrecht spüren, wie sie sich verflüchtigten. Sie atmete tief ein.
Asia sah auf die Zeichnung hinab, die Tims grinsendes Gesicht zeigte. Zoe betrachtete das Porträt – die fast schon zu lange Nase, die geraden Zähne, die wuscheligen Haare. Sie hatte die Zeichnung zu Beginn letzten Sommers angefertigt, noch bevor er sich seine Locken hatte abrasieren können. Bevor er verschwunden war.
»Doch, ich kenne ihn«, sagte Asia. Ihre Stimme klang tief, beinahe wie das Murmeln eines dahinplätschernden Gebirgsbachs. Ihre Finger strichen über die Papierkante. »Es war jemand hier im Restaurant, der genauso aussah. Allerdings hatte er eine Narbe.« Sie fuhr sich mit dem Finger über Schläfe und Wangenknochen. »Hier.«
»Das war Will.« Asia kannte Will? Bei diesem Gedanken fühlte sich Zoe unbehaglich. »Er ist …« Es gab vieles, das Zoe an dieser Stelle hätte sagen können, doch sie entschied sich für: »Das auf dem Bild ist sein Bruder.«
Asia nickte. Sie stellte keine der Fragen, die einem sonst gestellt wurden: Was ist passiert? Wie ist er gestorben? Hatte er eine schwere Krankheit? Standen sich die beiden sehr nahe? Woher kennst du sie? Stattdessen saß sie einfach nur so da, neben Zoe. Normalerweise hasste Zoe all diese Fragen. Wenn sie allerdings unausgesprochen in der Luft hingen, fand sie es irgendwie noch schlimmer. Beinahe unfreiwillig sagte sie: »Es war ein Unfall. Tim ist letztes Jahr ertrunken.«
»Du warst dabei.« Das klang nicht nach einer Frage.
»Nein«, sagte Zoe mit brüchiger Stimme. »Aber Will.«
»Was ist passiert?«
»Das weiß keiner.«
Asia neigte den Kopf leicht zur Seite und sah Zoe aufmerksam an.
»Will kann sich an nichts mehr erinnern. Und Tims Leiche wurde nie gefunden.«
Asia ließ diese Information einen Augenblick sacken. »Schmerz«, sagte sie dann.
Wie seltsam diese Bemerkung war. Schmerz. Ja, genau das war es, was Zoe derzeit fühlte. Auf jede erdenkliche Art. Überwältigenden Schmerz.
Betont langsam wandte sich Asia der nächsten Zeichnung zu.
»Magst du Kunst?«, fragte Zoe unvermittelt.
»Tut das nicht jeder?«, lautete Asias Gegenfrage.
»Nicht unbedingt.« Zoe zuckte mit den Schultern. »Ich meine, nicht viele Leute interessieren sich dafür. Vor allem nicht in unserem Alter.« Dies war auch einer der Gründe, weshalb es ihr so schwerfiel, mit den anderen Mädchen ihrer New Yorker Highschool ins Gespräch zu kommen. Keine von ihnen teilte ihre Interessen. Ehrlich gesagt, schienen sich die meisten von ihnen für gar nichts zu interessieren.
Asia sah aus, als nähme sie Zoes Kommentar ganz in sich auf. »Das ist wahr. Ich glaube, nicht jeder mag jede Kunst. Doch jeder mag irgendeine Art von Kunst – Tanz, Musik, Filme …«
»Dann habe ich wohl eher die visuelle Kunst gemeint.«
Asia lächelte und Zoe betrachtete ihr Gesicht. Sie hat wirklich eine ganz besondere Ausstrahlung, so viel ist sicher, dachte Zoe. Nicht bloß, weil Asia sich ihrer aufgebrachten Kundin angenommen hatte. Es lag einfach etwas in ihrer Stimme, in ihren weich fließenden Bewegungen, das die Menschen um sie herum zur Ruhe brachte. Zoe hatte das unerklärliche Gefühl, Asia von irgendwoher zu kennen. Gleichzeitig jedoch wirkte sie ein wenig reserviert. Zoe spürte eine Kälte von ihr ausgehen wie Dampf von einem Trockeneisbehälter.
»Denkst du dabei an eine bestimmte Art visueller Kunst?«, fragte Asia.
»Im Miller findet gerade eine Ausstellung statt«, sagte Zoe. Das Miller war eine winzige Galerie im Ort, in der es häufig bemerkenswerte Werke zu bestaunen gab. Dort wurden die Werke einheimischer Künstler, die – hier draußen – als weltbekannt galten, ausgestellt. Die Liste der Künstlergestirne, deren strahlende Karrieren an diesem Ort ihren Anfang genommen hatten, schien hell genug, um die Ostküste zu erleuchten. »Die Ausstellung trägt den Titel ›Schönheit der Meere‹. Sie ist der Wahnsinn. Ich war neulich dort. Du solltest dir das echt mal anschauen.«
»Vielleicht werde ich das«, sagte Asia. Sie ging an Zoe vorbei, um von Angel einen Teller entgegenzunehmen und ihre körperliche Präsenz jagte Zoe einen Schauer den Rücken hinunter.
Sie hat definitiv etwas Kaltes an sich, stellte Zoe fest. Kalt wie der Meeresgrund.