Kapitel 3
Aus der Shelter Bay Gazette
Startschuss für Aufräumarbeiten in der Stadt
Shelter Bays Bürgermeisterin Claire Hutchinson ruft alle Bürger dazu auf, heute bei den Aufräumarbeiten an allen Stränden der Stadt mitzuhelfen. Die durch Wirbelsturm Bonita entstandenen Schäden sind zwar glücklicherweise nicht so groß wie zunächst befürchtet, dennoch haben Wind und Wellen reichlich Müll an den Stränden hinterlassen.
»Wir sind wirtschaftlich auf den Tourismus angewiesen«, so die Bürgermeisterin gestern Abend in einer Pressemitteilung. »Die Touristen erwarten hier die unberührten, weißen Sandstrände, für die unser Ort berühmt ist.« Ein Sprecher der Stadtwerke äußerte sich heute Morgen …
»Guten Morgen, Sonnenschein!«, trällerte Zoe, als Will am nächsten Morgen müde in die Küche geschlurft kam. Sie ließ zwei Spiegeleier auf einen Teller gleiten und hechtete zum Toaster, um die Toastscheiben darin vor dem Verbrennen zu retten. Eigentlich wollte Wills Dad den Auswurfmechanismus schon seit acht Jahren reparieren, doch Zoe konnte das Gerät mit seinen Macken mittlerweile recht gut einschätzen.
»Was machst du denn schon hier?«, fragte Will und blinzelte sie aus verschlafenen Augen an. »Und wieso riecht es hier nach gebratenem Speck?«
»Na, weil ich dir Frühstück gemacht habe«, antwortete Zoe und setzte ihm den Teller vor die Nase. »Ich dachte mir, das wäre wohl das einzige Mittel, um dich wach zu bekommen.«
Will warf einen Blick auf die Küchenuhr: halb zwölf. Nun saß er also mitten in seiner eigenen Küche, während das Mädchen von nebenan den Kochlöffel schwang, als sei es Schneewittchen und hätte eine Bande hart arbeitender Zwerge zu verköstigen. So war Zoe eben. Zwar verbrachte sie lediglich die Sommermonate in Shelter Bay, doch jedes Mal, wenn sie und ihr Vater wieder auftauchten, schien es, als seien sie nie fortgewesen. »Wo sind denn eigentlich die anderen?«
»Ich nehme mal an, dass dein Dad im Laden ist. Und deine Mom …«
»Na, auch schon aufgestanden?«, sagte Evelyn Archer, die gerade aus dem Wohnzimmer kam. Missmutig blickte sie Will aus ihren dunklen Augen an. »Dein Vater könnte gut deine Hilfe gebrauchen. Humberto hat nämlich heute keine Zeit.«
Will schob sich eine Gabel voll Ei in den Mund. Sich mit seiner Mutter anzulegen hatte sowieso keinen Sinn.
»Aber jetzt ist Bert doch gerade nicht hier«, mischte sich Zoe ein.
Mrs Archer wandte ihren durchdringenden Blick von Will ab und sah Zoe an. »Ich habe ja gar nicht mitbekommen, dass du schon im Lande bist.«
»Bin ich – tadaa!«, trällerte Zoe. Sie holte die Kaffeekanne, um für Wills Mutter eine Tasse des frisch gebrühten schwarzen Getränks einzugießen. »Er meinte, er wolle in die Stadt fahren, um den Traktor reparieren zu lassen und wäre in ein paar Stunden wieder zurück.« Sie reichte Mrs Archer ihre Lieblingstasse.
Wills Mutter nickte dankbar und nahm einen großen Schluck Kaffee. »Hmm – bei mir wird der nie so gut.« Schwerfällig ließ sie sich auf den Stuhl fallen. Das Korbgeflecht ächzte unter ihrem Gewicht. Dabei ließen ihre hohen Wangenknochen und feinen Gesichtszüge noch immer erahnen, was für eine Schönheit Wills Mutter früher einmal gewesen war. Doch diese Zeiten waren längst vorbei. Im Laufe der Zeit, besonders im vergangenen Jahr, hatte ihr Umfang in beängstigendem Maße zugenommen. Anstelle der vormals langen Haare trug sie nun einen praktischen Kurzhaarschnitt und auch ihre längst verblassten Strähnchen ließ sie nicht mehr auffrischen. Hinzu kam, dass sie meistens in Shorts und ausgeleierten, farblosen T-Shirts herumlief. Es wirkte fast so, als wolle sie sich unsichtbar machen.
Zoe zog überrascht eine Augenbraue hoch und sah fragend zu Will hinüber, der auf seinem letzten Stück gebratenen Speck herumkaute.
»Was hast du da eigentlich mit deinem Gesicht angestellt?«, fragte Mrs Archer.
»Wieso, was ist denn mit meinem Gesicht?« Zoe strich sich verwundert über die Wange.
»Sie meint das Nasenpiercing«, übersetzte Will für sie.
»Hast du das etwa noch gar nicht gesehen?« Zoe warf ihre blonden Haare zurück und hielt den Kopf so, dass Mrs Archer einen besseren Blick auf den winzigen glitzernden Saphir auf ihrem rechten Nasenflügel werfen konnte. »Das habe ich mir stechen lassen, als wir letztes Jahr in Indien waren. Das ist dort so Brauch.« Sie warf Mrs Archer ein schelmisches Grinsen zu und knuffte sie in die Seite. »Du solltest dir auch eins machen lassen, Evelyn. Oder vielleicht ein Augenbrauenpiercing – die sind zurzeit total in.«
Mrs Archer schnaubte nur und verdrehte die Augen.
»Na ja, auf jeden Fall wärst du zweifellos das Gesprächsthema Nummer eins im Ort«, neckte Zoe sie weiter.
»Ich bin bereits das Gesprächsthema Nummer eins«, gab Mrs Archer schnippisch zurück und nahm noch einen großen Schluck Kaffee.
Betretenes Schweigen trat ein.
»Tja, dann«, sagte Will schließlich und wischte mit der Toastrinde noch den Rest Ei vom Teller. »Es war ja echt toll mit euch, aber ich werde dann wohl mal …«
»Will wollte mich in die Stadt begleiten«, verkündete Zoe und ließ das Geschirrtuch vielsagend gegen Wills Stuhllehne klatschen. »Ich muss noch ein paar Dinge besorgen. In Ordnung, Evelyn?«
Als Antwort zuckte Wills Mutter nur mit den Schultern. »Frag lieber mal deinen Vater, weshalb er sich hier eigentlich nicht mehr blicken lässt.«
»Er lässt euch zumindest alle herzlich grüßen«, entgegnete Zoe, die bereits mit Will auf dem Weg zur Tür war.
»Du bist mit dem Auto hier?«, fragte Will, als er ihren Wagen in der Einfahrt stehen sah.
»Na, ich wusste doch, dass wir noch woandershin fahren würden und ich habe beim besten Willen nicht vor, mich auf deinen Gepäckträger zu hocken.«
»Du wusstest, dass wir noch woandershin fahren würden?«, wunderte sich Will.
»Ja, weil ich einen Riesenappetit auf Eis habe. Und du wirst mich begleiten.«
»Wieso hast du denn nicht einfach gefrühstückt?«
»Hab ich doch – um acht Uhr, wie jeder andere vernünftige Mensch. Und jetzt wird’s eben Zeit für ein Eis.« Zoe zog ihn zu dem zerbeulten, orangefarbenen Gremlin, mit dem sie die Straßen unsicher machte. Das Ding sah uralt aus und fuhr sich auch genauso. Sie nannte den Wagen scherzhaft »Schlagloch-Detektor«, denn davon ließ er nie eines aus.
»Du kannst wirklich von Glück sagen, dass meine Mutter dich mag«, bemerkte Will trocken, als Zoe losfuhr und der Kies dabei in alle Richtungen spritzte.
»Ich bin die durchgeknallte Tochter, die sie nie haben wollte«, konterte Zoe.
Will lachte. »Genau, und ich bin der Langweiler-Sohn, den sie nie leiden konnte.«
Zoe stutzte. »Was redest du denn da?«
Will zuckte mit den Schultern und sah aus dem Fenster. »Du würdest mich manchmal also doch als durchgeknallt bezeichnen?«
Zoe boxte ihn freundschaftlich in die Seite. »Ach, hör auf jetzt!« Langsam bahnte sie sich einen Weg zwischen all den heruntergefallenen Ästen.
»Dad meinte, auf der 27 käme man um diese Zeit gut durch.«
»Ja, da dürfte heute wenigstens nicht viel Verkehr sein.«
»Wollen wir’s hoffen.« Zoe bog an der Gabelung ab und mit einem Mal kam der Highway in Sicht. Normalerweise wimmelte es auf der zweispurigen Straße von den schicken Wagen der Sommertouristen, doch heute Morgen war es ungewöhnlich ruhig. Bestimmt sind gerade alle damit beschäftigt, ihre Gärtner anzubrüllen, dass sie die heruntergefallenen Äste aus den Hecken holen sollen, dachte Will. Zoe fuhr auf den Highway und trat aufs Gas, dass ihnen der Wind nur so um die Ohren pfiff. Zoes Auto besaß keine Klimaanlage, allerdings war das in Shelter Bay im Grunde auch nicht unbedingt nötig. Die Seeluft war auch im Hochsommer angenehm kühl und überall duftete es nach frisch gemähtem Gras. Zwischen den Grundstücken, die den Einheimischen zur Pferdezucht oder zum Kartoffelanbau dienten, hatten die Sommergäste gepflegte Gärten angelegt.
»Wann seid ihr angekommen?«, fragte Will.
»Am Donnerstag.«
»Heute ist Donnerstag.«
»Letzten Donnerstag.«
Will vermied es, sie anzusehen. Er war nicht überrascht. Natürlich hatte er längst bemerkt, dass drüben in ihrem Haus abends das Licht brannte. Ganz abgesehen von Johnnys Auto, das er in der Auffahrt gesehen hatte.
Letztes Jahr hatte Zoe noch nicht einmal bei sich zu Hause haltgemacht, bevor sie hergekommen war. Kaum war Johnny mit seinem Oldtimer, einem silbernen Mercedes, in die Auffahrt der Archers eingebogen, war Zoe auch schon freudestrahlend herausgehüpft. Als Erstes war sie auf Tim, der am Gemüsestand gearbeitet hatte, zugestürzt und ihm um den Hals gefallen. Danach war sie zu Will gelaufen, der bei den Tomaten im Treibhaus war, und hatte darauf bestanden, dass er um Punkt vier Uhr mit ihr zum Strand ginge – Zoe würde sich zum Schwimmen zwar nie ins Meer wagen, doch sie liebte den Strand. Also waren sie gegangen. Aber das war im letzten Jahr gewesen.
Zoe verließ den Highway und bog in eine kleine, schattige Straße mit sehr großen, aber keineswegs protzigen Häusern ein.
»So, und da hast du dir also nach einer halben Ewigkeit überlegt, du könntest ja mal vorbeikommen und mir Frühstück machen?«
Zoe schwieg. Will blickte aus dem Fenster und ließ sich die sanfte Meeresbrise durch die Haare wehen. Sein Vater zog ihn stets auf, »Geh endlich zum Friseur«, doch Will mochte seine langen Haare. Manchmal ließ er sie einfach wie eine Gardine über seine Narbe hängen.
Tim hatte sich seine Haare jedes Jahr zum Sommerbeginn abrasiert. Gegen Ende des Sommers sah er schon wieder ziemlich verwildert aus. Will hatte den Wuschellook bei seinem Bruder schon immer mehr gemocht: Dreitagebart und Shorts, die ihm zwei Nummern zu groß waren. Mit seinem ausgeprägten Kinn und der markanten Nase sah Tim beeindruckend gut aus. Zu Beginn des Sommers konnte man ihn glatt für einen Verkehrspolizisten halten, der einen gleich herauswinken und einem einen Strafzettel für zu schnelles Fahren verpassen oder Handschellen anlegen würde. Im Spätsommer dann, wenn seine Haare wieder nachgewachsen waren, hatte er das blendende Aussehen eines Filmstars im Urlaub.
Will blickte verstohlen zu Zoe. Ihre eine Hand lag auf dem Steuer, die andere hing lässig aus dem Fenster.
Nach außen hin wirkte sie völlig sorglos, doch sie starrte mit ernster Miene vor sich hin, ganz in Gedanken versunken. Will fiel auf, wie blass sie war. Unter ihren Augen hatte sie dunkle Schatten.
»Wie hast du in letzter Zeit geschlafen?«, fragte Will.
»Ach – bin letzte Nacht wieder draußen gewesen.«
»Das kann echt gefährlich werden«, stellte Will fest.
Sie seufzte auf und ihre Stimme hörte sich auf einmal ganz matt an. »Ich weiß.«
Es war Will unbegreiflich, woher sie überhaupt die Energie nahm, immer so fröhlich zu tun. Er selbst brachte das jedenfalls nicht fertig. Er schaffte es gerade mal, morgens aus dem Bett zu kommen, am Verkaufsstand zu helfen und ein paar Worte mit anderen menschlichen Wesen zu wechseln. Selbst das Zähneputzen stellte für ihn schon eine schier unüberwindbare Anstrengung dar.
Sie fuhren in Richtung Ortszentrum und Will ertappte sich dabei, wie er die Gehwege zu beiden Seiten nach dem Mädchen absuchte, das er am Tag zuvor gesehen hatte. Doch auf den Straßen war kaum jemand unterwegs. Er musste sich sehr zurückhalten, um Zoe nicht zu fragen, ob sie vielleicht einem Mädchen begegnet war, auf das seine Beschreibung passen könnte. Andererseits hatte er keine Lust, von seinem gestrigen Erlebnis zu berichten. Lass gut sein!, sagte er sich also.
Schließlich hielten sie vor dem Eiscafé Sixteen Flavors. »Ich glaube, ich hab dich noch nie vor dich hin summen gehört«, meinte Will, als das Auto knatternd zum Stehen kam.
Zoe hielt inne, die Hand schon am Türgriff. »Habe ich etwa gesummt?«
»Ja.«
Zoe legte den Kopf schief und sah ihn neugierig an. »Wie ging denn die Melodie?«
Will warf ihr einen spöttischen Blick zu. »Da fragst du den Falschen, das weißt du doch.« Was Musik betraf, war Will gänzlich unbegabt.
Die Türglocke bimmelte, als Will und Zoe das kühle Eiscafé betraten. Da man im Sixteen Flavors auch zu Mittag essen konnte und es eines der wenigen geöffneten Lokale in der Stadt war, hatten sich zu dieser frühen Stunde bereits zahlreiche Einheimische und Sommergäste eingefunden, um einen Bissen zu sich zu nehmen. Als Will die freundlich lächelnde Bedienung hinter der Theke sah – Rachel Finneagan –, schickte er ein kurzes Dankgebet zum Himmel. Sie war ein nettes Mädchen, das nicht allzu viel redete, und da sie gerade erst auf die Highschool gekommen war, würde sie sich wahrscheinlich nicht trauen, ein Gespräch mit älteren Schülern anzufangen.
»Zwei Kugeln Pfefferminz in der Waffel«, sagte er und schwang sich auf einen der roten Barhocker.
»Und was darf’s für dich sein?«, wandte sich Rachel an Zoe.
»Nein, nein, das ist für sie«, erklärte Will. »Sie nimmt immer das Gleiche. Und für mich bitte eine Cola.«
Rachel sah Zoe fragend an und diese nickte. Dann wanderte Rachels Blick wieder zu Will und sie wurde knallrot. Als sie ihm die Cola reichte, hielt sie den Blick gesenkt.
»Danke, Rachel«, sagte er und ihre Wangen glühten noch mehr. Hastig begann sie, die Eiskugeln in die Waffel zu füllen.
Als Rachel ihr das Eis reichte und Zoe bezahlen wollte, winkte Will ab: »Du kannst mir ja dann einfach beim nächsten Mal einen ausgeben.«
Er hielt ihr die Tür auf. Dankbar nickend trat sie hinaus in die Sonne und beeilte sich, die Tropfen abzulecken, die an ihrem bereits schmelzenden Eis herunterliefen.
Drei Kerle mit glatten sonnengebräunten Oberkörpern und tief sitzenden Shorts waren gerade dabei, die Markise vor einem neuen Restaurant, dem Paz, zu reparieren. Na toll. Noch so ein Nobelschuppen, dachte Will. In seiner Kindheit hatten noch die hübschen kleinen Lädchen der Einheimischen das Stadtbild von Shelter Bay geprägt. Damals gab es noch Penny’s Candy, Toys and More, Fitzgerald’s – das von allen nur Kramladen genannt wurde – und das »feine« Restaurant, das Delia Mater’s. Keines dieser kleinen Geschäfte hatte bis heute überlebt, abgesehen vom Delia Mater’s, das jedoch von New Yorker Investoren von Grund auf saniert worden war, sodass man es kaum wiedererkannte. Nun reihte sich eine schicke Boutique an die nächste. Darin konnte man zu horrenden Preisen, für die man woanders eine ganze Einbauküche bekam, Mode erwerben, die kein normaler Mensch tragen konnte.
Ein magerer Junge mit strähnigem schwarzem Haar beobachtete von einer Veranda aus die Männer. Als er Zoe erblickte, starrte er sie aus großen dunklen Augen an. Ohne zu blinzeln. Will spürte, wie Zoe sich neben ihm nervös versteifte. Er kannte den Jungen – es war Kirk Worstler, der Oberkiffer aus der Zehnten. Will wollte Zoe gerade sagen, dass sie keine Angst zu haben brauchte, da der Typ zwar leicht verrückt, aber ansonsten harmlos war. Doch noch bevor er den Mund aufmachen konnte, drehte sich Zoe zu ihm um und fragte: »Passiert dir das eigentlich öfter?« Sie stieß ihn in die Rippen. »Dass du von den Leuten so merkwürdig angestarrt wirst?«
Will setzte ein gequältes Lächeln auf. »Tja, was soll ich sagen? Man hat es nicht leicht, wenn man so sexy ist.«
Zoe kicherte und ihre Nervosität schien ein wenig nachzulassen. Bereitwillig folgte sie Will über die Straße, fort vom bohrenden Blick dieses dürren Jungen. Wieder relativ beruhigt, wandte sie sich wieder ganz ihrem Eis zu. Gerade, als auch Wills Anspannung abebbte, blieb Zoe wie vom Donner gerührt stehen und starrte ungläubig auf den Telegrafenmasten vor ihrer Nase. Dort hing ein grellgrüner Flyer, der den Auftritt einer lokalen Band, Minutia’s Cousin, am Samstagabend im Old Barn ankündigte. Zoe streckte ihre Hand nach dem Papier aus und berührte es ehrfürchtig, als sei es ein Bruchstück aus früheren Zeiten oder ein Fragment aus einem längst vergessenen Traum.
Will las den Flyer über Zoes Schulter hinweg und sagte dann: »Tja, das Leben muss wohl weitergehen.«
In Zoes Augen loderte etwas auf, wie ein Stück Papier, das Feuer gefangen hatte. »Wie können sie nur …« Fassungslos schüttelte sie den Kopf.
Sanft legte Will ihr die Hand auf die Schulter. Er hatte die Flyer schon vorher gesehen, weshalb es für ihn kein so großer Schock mehr war, dass Tims Band nun ohne ihn weitermachte. Zoe hingegen zitterte vor Wut und hatte die Hände zu Fäusten geballt. »Tim war es, der die Band ins Leben gerufen hat«, sagte sie. »Das war Tims Band.«
Will zuckte nur mit den Schultern. Er konnte sich vorstellen, wie Alans, Robs und Ginnys Kommentar hierzu lauten würde: »Tim hätte es so gewollt.« Mit Sicherheit hatte die Band sich zusammengesetzt und gemeinsam beschlossen, dass sie zum Gedenken an ihren Freund unter demselben Namen weitermachen würden und dass dies genau Tims Wunsch entsprochen hätte. Will fand es hochinteressant, dass anscheinend jeder wusste, was Tim gewollt hätte. Er selbst hatte keine Ahnung.
Er musste an Tims letztes Konzert denken, das er zusammen mit Zoe besucht hatte. Es war ein Open-Air-Konzert auf der sattgrünen Wiese vor der First Church. Der Stil von Minutia’s Cousin war ein sonderbarer Mix aus Klassik und Rock. Tim spielte Akustikgitarre, Alan Flöte und Piccoloflöte, Rob war für die Percussion zuständig und Ginny spielte E-Gitarre und sang. Die meisten ihrer Songs hatte Tim geschrieben. Er verwendete einzelne Versatzstücke und Fragmente aus dem klassischen Bereich und verpasste ihnen durch seine Arrangements einen modernen Anstrich. Minutia’s Cousin war auf dem besten Weg, sich im Ort einen Namen zu machen – sogar jetzt noch war ihre Freundesliste bei Facebook ein seltsamer Mix aus Teenagern und älteren Semestern. Zoe hatte ebenfalls zur Fangemeinde der Band gehört und darauf bestanden, dass Will sie auf jedes Konzert begleitete. Häufig sah sie sogar bei den Proben zu. Auch Will hatte Minutia’s Cousin gemocht – aber hauptsächlich deswegen, weil es eben Tims Band war. Er selbst stand eher auf Hip-Hop und mochte es vor allem laut. Was Minutia’s Cousin machten, klang für seinen Geschmack eher nach völlig überschätztem Fahrstuhlgedudel, wobei er zugegebenermaßen nicht viel Ahnung von Musik hatte.
Einen Moment lang stand Zoe nur so da, den Nacken gebeugt wie ein verbogener Kerzendocht. Schließlich riss sie sich zusammen, hob den Kopf und warf einen verächtlichen Blick auf den knalligen Flyer. »Ohne Tim können die das Ganze eh vergessen«, sagte sie knapp. Sie ging weiter und warf ihre Eiswaffel in den nächsten Mülleimer.
Zoes Tonfall nach zu urteilen, würde sie sich wahrscheinlich nie wieder bei einem Konzert von Minutia’s Cousin blicken lassen. Mit Alan und Ginny war sie immer gut befreundet gewesen – mit Rob nicht so sehr, da er selten ein Wort sagte –, doch würde sie ihnen jetzt auf der Straße begegnen, würde sie vermutlich noch nicht einmal grüßen. So war Zoe nun einmal.
Sie tat gern so, als könnte sie nichts erschüttern. Will jedoch kannte sie besser. Im Grunde konnte sie beinahe alles aus der Fassung bringen. Es war schon mehr als einmal vorgekommen, dass Zoe Will auf etwas ansprach, das er Wochen zuvor zu ihr gesagt hatte. Seine unsensible Wortwahl hatte in ihrem Innern winzige Wunden geschlagen, die nicht heilen wollten. Noch schlimmer war es, wenn Zoe dachte, sie hätte Will in irgendeiner Form beleidigt oder verletzt. Dann kam sie Tage, mitunter erst Wochen später zu ihm, um ihn wortreich für etwas um Verzeihung zu bitten, an das er sich noch nicht einmal mehr erinnerte. Er konnte einfach nicht nachvollziehen, was in ihrem Kopf vor sich ging. Dinge, die für ihn überhaupt keine Bedeutung hatten, waren für sie von größter Wichtigkeit. Dies war allerdings auch der Grund dafür, dass der Anblick einer Blume sie in Entzücken versetzen konnte oder dass sie in Tränen ausbrach, wenn sie eine Suchmeldung für einen vermissten Hund las. Es war, als stünde sie immer kurz davor zu entflammen, und alles und jeder konnte den Zündstoff dafür liefern.
Zoe warf ihr blondes Haar zurück und hakte sich bei Will unter. Ohne sie anzusehen legte er ihr seine warme Hand auf den Oberarm. Im Gleichschritt liefen sie die ruhige Straße entlang. Die meisten Läden hatten wegen des Wirbelsturms noch geschlossen, doch in einigen wenigen – wie im Haushaltswarengeschäft – ging es dafür zu wie in einem Bienenstock.
»Das Frühstück war übrigens super«, brach Will schließlich das Schweigen. »Danke.«
»Gern geschehen.«
Sie liefen noch ein Stück weiter. Die Stadt hatte das Geschäftsviertel erst vor Kurzem grundsaniert und im Zuge dessen die Gehwege mit roten Steinen pflastern lassen. Vereinzelt lagen noch ein paar Äste auf den Straßen herum, doch im Großen und Ganzen schienen die Aufräumarbeiten gut voranzugehen.
Vor einem Antiquitätengeschäft blieb Will abrupt stehen und sein Arm rutschte von Zoes Schulter. Etwas im Schaufenster hatte seine Aufmerksamkeit erregt.
»Was hast du denn?«, fragte Zoe.
Wills Blick verweilte auf einer antik aussehenden Flöte. Einer Flöte, die ihm höchst bekannt vorkam. Allerdings hatte er wenig Lust, Zoe zu erklären, was es damit auf sich hatte. Zumal er selbst nicht so recht wusste, was er davon halten sollte. Also schüttelte er lediglich den Kopf und sagte: »Ach nichts.«
»Gar nichts? Meinst du nichts, so wie – nichts? Oder nichts, so wie – dramatische Pause – ein unheimlich bedeutungsschweres Nichts?«
Will zwinkerte ihr zu. »Nichts im Sinne von: Das ist eine coole Flöte. Aber der Laden hat sowieso zu, also ist es auch egal.«
»Wie du willst, du alter Geheimniskrämer.« Sie zeigte auf ein Schild mit der Aufschrift »Aushilfe gesucht«, das direkt nebenan im Fenster des Bella’s, einem altmodischen Diner, hing. »Das Schicksal hat mich hierhergeführt«, verkündete sie theatralisch.
Will war nicht überzeugt. »Wieso willst du denn im Bella’s jobben? In der Villa ist das Trinkgeld doch viel besser. Oder in diesem neuen Laden, dem Paz.«
Zoe studierte die Speisekarte, die ziemlich nach Kantinenessen klang. In den Fenstern hingen überall handgeschriebene Zettel, auf denen die Tagesangebote standen – 2,99 Dollar für Toast, Eier, Speck und Kaffee. Ein Eis gratis zu jedem Kindermenü. Frühstück rund um die Uhr. Das Diner lag neben einem abgewirtschafteten Spirituosengeschäft am heruntergekommeneren Ende einer eigentlich recht netten Straße. Diese Ecke war der einzige Schandfleck des ansonsten makellosen Viertels. Und das Bella’s war das einzige Lokal, in dem ein Essen für die Einheimischen noch erschwinglich war. Der Großteil der Sommergäste hatte noch nie einen Fuß hineingesetzt.
»Reiche Leute geben erfahrungsgemäß furchtbar wenig Trinkgeld«, antwortete Zoe. »Und, wie sehe ich aus?« Sie zupfte das hellblaue, rückenfreie Top zurecht, das sie zu weißen Shorts trug. »Meinst du, ich sollte lieber nach Hause gehen und mich umziehen?«
»Du siehst super aus. Außerdem erwartet doch wohl keiner, dass du hier mit Bluse und Stöckelschuhen anmarschierst, nur um dich für einen Kellnerjob zu bewerben.«
»Sprach der Sohn des Gemüsebauern.« Zoe fuhr sich mit den Fingern durch ihre dichte, blonde Mähne und trug etwas Lippenbalsam auf. Sie warf kurz einen prüfenden Blick auf ihr Spiegelbild im Fenster und atmete tief durch. »Wünsch mir Glück«, sagte sie zu Will.
Will sah sie einen Moment lang an. »Warum willst du das überhaupt machen? Du hast doch genug Geld.«
Zoe machte ein nachdenkliches Gesicht, als wollte sie dazu etwas Tiefgründiges sagen, doch dann schien sie es sich anders zu überlegen und entgegnete nur grinsend: »Na, was soll ich denn sonst den lieben langen Tag machen? Vielleicht am Strand abhängen und mich in der Sonne aalen?«
Will zuckte bloß mit den Schultern. »Machen die meisten anderen Mädchen doch auch.«
Zoe stemmte entrüstet eine Hand in die Hüfte. »Ich bin aber nicht wie die meisten anderen Mädchen«, erwiderte sie.
Will knuffte sie freundschaftlich in die Seite. »Stimmt«, sagte er. »Das ist mir auch schon aufgefallen.«
Die Motorsäge kreischte laut auf, als Mr Archer sie in den gewaltigen Stamm des umgefallenen Baumes trieb. Will durchquerte Zoes Garten und näherte sich seinem eigenen Zuhause vom hinteren Ende des Grundstücks. Dabei bekam er einen guten Eindruck vom Zustand des Gewächshauses. Ganz so schlimm, wie er befürchtet hatte, war es glücklicherweise nicht. Die alte Eiche war auf das Schrägdach geprallt und dann entlang der Wand heruntergerutscht, wobei mehrere Fenster zu Bruch gegangen und diverse zarte Setzlinge zerstört worden waren. Wäre der Baum nur einen halben Meter länger gewesen, hätte er das Gewächshaus völlig zerstört. Nun lag die Eiche wie ein umgefallener Riese neben dem Haus. Am unteren Ende befand sich immer noch die Wurzel, die einen riesigen Krater in der Erde hinterlassen hatte.
Will lief zu seinem Vater, der gerade dabei war, den Baumstamm in fünfundvierzig Zentimeter lange Stücke zu zersägen. Gerade groß genug für ihren Ofen, mit dem sie den Winter hindurch das Haus beheizten. Verwundert registrierte Will, dass sein Vater das Sägen selbst übernommen hatte. Normalerweise überließ er Humberto die schweißtreibenden Arbeiten auf dem Hof. Doch dann fiel ihm wieder ein, dass Humberto an diesem Morgen keine Zeit hatte.
»Soll ich das hier schon mal zum Schuppen bringen?«, schrie Will gegen die kreischende Motorsäge an.
Mr Archer, der eine dicke Plastikschutzbrille trug, sah zu Will auf. Fragend legte er die Stirn in Falten und drosselte den Motor, sodass die Kettensäge nur noch leise vor sich hin tuckerte. »Was hast du gesagt?«
Will wies mit einer Kopfbewegung auf den Schuppen. »Soll ich schon mal anfangen, das Holz aufzustapeln?«
»Das macht Carl später, wenn er rüberkommt«, antwortete Wills Vater.
»Dann kann ich mich doch um die zerbrochenen Scheiben kümmern«, bot Will an.
»Carl und ich übernehmen das später«, sagte Mr Archer. Er blickte Will sanft an. »Lass du es mal ruhig angehen.«
Will stöhnte entnervt auf. »Dad, mit mir ist alles in Ordnung.«
»Dann sieh einfach zu, dass die Tiere heute Abend versorgt werden, und guck mal nach, was mit dem Gatter nicht stimmt. Morgen kannst du mir dann helfen. Den Gemüsestand lasse ich heute noch zu, aber zum Wochenende hin müssen wir wieder geöffnet haben. Das Sommervölkchen braucht unbedingt sein Gourmetgemüse.«
Will versuchte, den aufsteigenden Ärger hinunterzuschlucken. Einerseits konnte er es seinem Vater nicht übel nehmen, schließlich meinte er es nur gut. Andererseits drückte er dies auf sehr eigenwillige Art und Weise aus. Selbst wenn er Will gegenüber freundlich war, ließ er keinen Zweifel daran aufkommen, wer für ihn an erster Stelle stand – der Kunde. Was er auch tat, es war eine durchkalkulierte Gewinn- und Verlustrechnung.
Will blieb einen Moment lang stehen und sah seinem Vater bei der Arbeit zu. An und für sich wäre es ihm lieber gewesen, selbst ein bisschen zu arbeiten, allerdings hatte er keine Lust, das erklären zu müssen. So wie es aussah, konnte er die ihm zugewiesenen Aufgaben genauso gut später noch erledigen. Länger als eine Stunde würde er dafür sicherlich nicht brauchen. Will setzte sich in Richtung des Hauses in Bewegung, aber als er das Auto seiner Mutter in der Auffahrt erblickte, ging er stattdessen zur Garage. Die hat mir gerade noch gefehlt!, dachte er.
Seine Augen brauchten einige Zeit, um sich an das schwache Licht in der muffigen Garage zu gewöhnen. Wie immer fiel sein Blick zuerst auf das helle Holzpaddel, das über der kaum benutzten Werkbank seines Vaters hing. »Segel-Preis« stand darauf. Tim hatte ihn mit zwölf Jahren im örtlichen Segelverein gewonnen und Will hatte ihn stets darum beneidet. Tim war ein hervorragender Segler gewesen … und was hatte es ihm gebracht?
Will konnte sich noch genau an das sanfte Schwanken unter seinen Füßen erinnern, als er neben seinem Bruder an Bord der Vagabond gegangen war. Das war in jener Nacht gewesen, in der Tim verschwunden war. Das Meer hatte in der Sonne geglitzert. Als Will über die Bucht hinaus auf die offene See geschaut hatte, hatte ein dunkler Schatten, der sich deutlich gegen die goldenen Lichtspiele auf der Wasseroberfläche abhob, seine Aufmerksamkeit erregt. Doch bevor er ihn Tim zeigen konnte, war der Schatten auch schon wieder verschwunden gewesen. Es hätte ein Schwimmer sein können, allerdings ziemlich weit draußen im Wasser. Will war letztendlich zu dem Schluss gekommen, dass er es sich eingebildet haben musste.
In diesem Moment musste er wieder an das Mädchen vom Vortag denken.
Will versuchte, den Gedanken zu ignorieren. Ob er sich je daran gewöhnen würde, dass für ihn jede Situation einem gedanklichen Minenfeld glich? Einfach alles in seinem Leben war untrennbar mit Tim verbunden. Sein Fehlen war ein stiller Begleiter, der Will hinter jeder Ecke auflauern konnte. Genau wie es nun die Gedanken an das Mädchen taten.
Er schob seine schwere schwarze Honda-Maschine auf die Straße. Sein Ziel war der Strand.
Vielleicht würde er ja dort etwas finden. Ein Zeichen. Irgendeinen Hinweis.
Etwas, das ihm sagen würde: Sie war hier.
Will setzte seinen Helm auf und erweckte das Motorrad mit einem Kickstart zum Leben.
Er brauste die Einfahrt entlang und fuhr dann weiter auf der von heruntergefallenen Baumteilen gesäumten Straße. Auf einer Seite stand ein orangefarbenes Räumfahrzeug und einige Männer mit Schutzhelmen warfen die Äste und Zweige in einen mitgebrachten Holzschredder. Will winkte ihnen im Vorbeifahren zu und gab Gas.
Er brauste an den Sonnenblumenfeldern seiner Familie vorbei – die bei den Touristen besonders gut ankamen und erstaunlicherweise vom Sturm verschont worden waren – sowie an zwei Treibhäusern, in denen Biotomaten und Biobasilikum gezüchtet wurden. Seit mehr als dreihundert Jahren besaßen die Archers Land in Shelter Bay. Sie hatten bereits zu einer Zeit hier gelebt, als es nur Bauern, Fischer und Priester im Ort gegeben hatte. In Shelter Bay waren sogar Straßen nach ihren Vorfahren benannt – Archer Road, Old Archer Lane. Im Laufe der Jahre hatte die Familie mehrere Landparzellen verkauft. Die Käufer hatten darauf dann riesige Villen errichtet, die außen mit mittelalterlich anmutenden Mauertürmchen und Schindeldächern protzten, innen mit großzügigen Räumlichkeiten, Gewölbedecken und hochmoderner Ausstattung. Viele der Besitzer rühmten sich der »umweltbewussten« und »energieeffizienten« Bauweise ihrer Häuser. Will fand das absolut lächerlich, denn schließlich konnte von Umweltbewusstsein keine Rede sein, solange man eine 830-Quadratmeter-Villa besaß und sie lediglich zwei Monate im Jahr bewohnte. Während er die ruhige Seitenstraße entlangfuhr, erspähte Will hinter den hohen Buchsbaumhecken weite smaragdgrüne Rasenflächen, die mit den obligatorischen Hortensienbüschen und Heckenrosen gärtnerisch gestaltet waren. Er musste an die Unmengen von Düngemittel denken, die hier großzügig verteilt wurden, sowie an all das Wasser, das benötigt wurde, um selbst im August alles grün und saftig zu erhalten, an all die Pestizide und Schädlingsbekämpfungsmittel. Leute, die hier wohnten, verstanden unter »umweltbewusst«, dass sie in Elektroautos zum nächsten Gemüsestand fuhren, um dort einzukaufen, und danach gleich wieder nach Hause zu fahren und sich an ihren gechlorten Swimmingpool zu setzen, anstatt an den nur zwei Straßen weiter entfernten Strand.
Und der Gemüsestand, an dem sie alle ihr Essen kauften? Der gehörte Wills Vater.
Entgegen der Familientradition war Wills Vater kein Landwirt. Natürlich gab es nach wie vor welche hier draußen. Ein Nachbar, der ein Stück weiter unten in der Straße wohnte, hatte sogar das Cornell-Institut für Agrarwirtschaft besucht. Bertrand Archer hingegen interessierte sich nicht für Landwirtschaft im eigentlichen Sinne. Nun gut, er besaß Land und bezahlte Arbeiter, die darauf für ihn Gemüse und Blumen anbauten und ernteten. Allerdings war Bert irgendwann darauf gekommen, dass mit herkömmlicher Landwirtschaft kein Geld zu machen war. Mit einem Ladenverkauf hingegen sehr wohl, zumindest mit dem Verkauf von – wie Will es gerne nannte – Fashiongemüse. Den Menschen in den Hamptons war es schlichtweg egal, welchen Preis Bert für ein Pfund Tomaten verlangte. Dasselbe galt für die handgemachten Pommes, die am Verkaufsstand angeboten wurden. Auf der Suche nach einem passenden Mitbringsel kauften die Touristen handgesiedete Lavendelseife oder Blumensträuße, ohne großartig darüber nachzudenken, wie viel Geld sie dafür ausgaben.
Ebenso wenig zählten sie das Wechselgeld nach, wenn sie mit einem Hundert-Dollar-Schein bezahlt hatten. Ihre Kreditkartenbelege unterschrieben sie, ohne auch nur einen Blick darauf geworfen zu haben. Und wenn Bertrand Archers Gemüsestand auch der teuerste in der Gegend war, nun ja, dann konnte das wohl nur daran liegen, dass die Qualität seiner Produkte schlichtweg die beste war.
Dies war also die Art Landwirtschaft, die Wills Vater betrieb. Er besaß genügend Gewächshäuser, um seinen Verkaufsstand mit einem reichen Angebot traditioneller Gemüsesorten zu versorgen, ganz abgesehen von den Unmengen an geerntetem Mais, die er zusätzlich auf einem Tisch am Straßenrand auftürmte. Er stellte ein hübsches junges Mädchen aus dem Ort ein, das spätnachmittags frische Süßkartoffelpommes anbot. Den Kunden, die nach einem langen Strandtag mit knurrenden Mägen am Gemüsestand warteten, um sich dort für die Abendmahlzeit einzudecken, stieg der verführerische Duft in die Nase. Zudem hielt Bert direkt neben dem Verkaufsstand ein paar Enten und zwei hübsche schwarze Schafe. Während ihre Eltern einkauften, durften Kinder die Tiere mit Körnerfutter verwöhnen, das man am Verkaufsstand erwerben konnte. Die Blumen baute Bertrand entlang der Straße an, damit die Dahlien und Sonnenblumen in all ihrer majestätischen Pracht von den vorbeifahrenden Leuten bewundert werden konnten. Er ließ sie frühmorgens von Humberto und Alma pflücken, sodass die beiden noch vor acht Uhr verschwunden waren, wenn die ersten Kunden eintrafen. Die alte Registrierkasse wurde in der Regel von Mr Archer höchstpersönlich bedient, seltener von Will oder seiner Mom. Er scherzte und plauderte mit den Kunden und ließ jeden wissen, dass dies sein kleines Familienunternehmen war. Er pries die selbst gebackenen Scones seiner Frau und die angeblich von ihm selbst arrangierten Blumen an (obwohl er kurz vorher Alma vorgeworfen hatte, es nicht schön genug gemacht zu haben). Den Stadtmenschen bot er ausreichend Lokalkolorit, sodass sie sich geschmeichelt fühlten, mit »waschechten« Einheimischen per Du zu sein – mit den Bauern, von denen dieses Stück Land bereits seit Generationen bestellt wurde. Das Salz der Erde.
Größtenteils war das ganze Gerede allerdings nichts als Schall und Rauch. Wills Vater war kein Landwirt, sondern Geschäftsmann.
Bertrand Archer konnte nichts Falsches daran finden. Für ihn war es einfach eine Rolle, die er spielte, so wie ein Zauberer. Die Leute kamen zu ihm, um genau diese Show zu sehen. Sie wollten es glauben. Dafür musste man noch nicht einmal zaubern können – man gab ihnen einfach das, was sie sehen wollten. Und so sorgte er dafür, dass das romantische Bild vom Landbauern am Leben erhalten wurde, und ließ die Dummen die Drecksarbeit machen.
Als Wills Vater noch klein gewesen war, hatte Shelter Bay nichts mit dem aufgetakelten Touristenort von heute gemein gehabt, in dem die Miete für einen fünf Straßen vom Strand entfernten Bungalow zehntausend Dollar pro Woche betrug. Genau genommen gehörte Zoes Familie auch zu diesem Sommervölkchen, denn sie wohnte die meiste Zeit des Jahres über in New York. Doch Zoes Großvater hatte das Haus im Jahr 1944 gekauft und ihr Dad hatte in seiner Kindheit gemeinsam mit Wills Dad Krebse gefangen. Aus diesem Grund wurden die Ellis’ gewissermaßen als Ehrenbürger von Shelter Bay angesehen und auch als solche behandelt. Will musste jedes Mal lachen, wenn er seinen Ökofarm-Dad neben dem tätowierten, verlottert aussehenden Johnny Ellis stehen sah. Aber wahrscheinlich geht es den Leuten nicht anders, wenn sie mich mit Zoe sehen, überlegte er.
Als Will zum Strand kam, wimmelte es dort nur so von emsig arbeitenden Menschen. Er stellte sein Motorrad ab und eilte die Stufen hinunter. An einigen Stellen war der Sand bereits von den wärmenden Sonnenstrahlen getrocknet worden, allerdings vermutete Will, dass er darunter noch nass war, da er unter seinen Füßen kaum nachgab. Eine hochgewachsene Gestalt stand neben dem umgestürzten Rettungsschwimmersitz und fotografierte einen Berg aus aufgetürmten Trümmerteilen.
»Angus!«, rief Will seinem Freund zu. »So machst du dich aber nicht gerade nützlich!«
»Will!« Angus umarmte ihn kumpelhaft. »Ich schieße hier nur ein paar Fotos für die Zeitung. Am Ende ist wahrscheinlich eh wieder keins gut genug, aber scheiß drauf. Als Praktikant bei der Gazette, Alter, ich sag’s dir, das ist echt der Traumjob schlechthin! Klick, klick, na komm schon, Baby, jaaa, das ist es, gib alles!« Dabei tat er so, als würde er ein erotisches Fotoshooting mit einem angespülten Stiefel veranstalten. »Verflucht, Mann, jetzt guck dir doch bloß mal dieses Chaos hier an!«
»Ehrlich gesagt hatte ich noch Schlimmeres befürchtet«, meinte Will.
Angus’ Miene verfinsterte sich. »Na ja, hier wurde nicht nur Treibholz angespült.«
Will wurde schlagartig übel. »Wie meinst du das?«
Angus senkte die Stimme. »Die haben ’ne Leiche gefunden, Mann, ’ne waschechte Leiche!«
»Was? Etwa ein Mädchen?«, fragte Will mit belegter Stimme.
»Nee, so ’nen Typen. Total zerfleddert, als ob er in ’ne Schiffsschraube oder so was geraten wäre. Mann, der sah echt aus wie einmal durch den Fleischwolf gedreht.« Angus zog eine Grimasse. »Gefressen bei lebendigem Leib.«
»Und wer war der Kerl?«
»Hab keinen blassen Schimmer – und jetzt kommt’s! Weißt du, ich war total scharf auf diese Story. Hab mir gedacht, ich schreib so was wie ›Mysteriöser Tod auf Shelter Bay. Von Angus McFarlan‹. Aber mein Chef meinte: ›Neee, über die näheren Todesumstände ist ja noch nichts bekannt, da drehen uns die Touristen noch voll am Rad. Das Ganze halten wir jetzt erst mal schön unter Verschluss, top secret, ab damit ins Polizeiprotokoll und dann Deckel drauf, klar?‹«
»Redet dein Chef wirklich so, als wäre er der Hauptermittler bei CSI New York?«
»Nur, wenn ich ihn nachmache«, grinste Angus.
»Heißt das denn jetzt, dass du gar nichts darüber schreibst?«
»Höchstens ’ne Todesanzeige. Falls wir überhaupt jemals herausfinden, wer der Typ eigentlich war.« Angus ließ den Blick über das weite Meer schweifen. Die See war erstaunlich ruhig, als schäme sie sich für all die Zerstörung in der Nacht zuvor.
»Und, wie ist es deiner Meinung nach passiert?«, fragte Will. »War es ein Hai?«
Angus schüttelte den Kopf. »Keinen Plan, Mann, die Leiche war echt übel zugerichtet. Aber wär’s ein Hai gewesen, dann hätte der doch nicht so viel von ihm übrig gelassen, oder?«
»Ist schon ’ne verrückte Geschichte.«
»Ach ja, apropos verrückt: Hast du schon das von Kirk Worstler gehört?«
»Den hab ich vorhin in der Stadt gesehen.« Will erwähnte absichtlich nicht, dass seine Blicke sich förmlich in Zoes Hinterkopf gebohrt hatten. »Wieso, was ist denn mit ihm?«
»Der ist gestern total durchgedreht, ist zur Feuerwache gerannt und hat in der ganzen Stadt Alarm ausgelöst.« Angus’ Augen blitzten vor Vergnügen. »Die Feuerwehrleute sind komplett ausgerastet, die ganze Stadt stand Kopf. Wundert mich, dass du gar nichts davon mitbekommen hast.«
»Ach du Schande, was ist denn nur mit diesem Kerl los?«
»Die Worstlers haben doch alle einen an der Waffel, Mann«, meinte Angus.
»Das hab ich auch schon gehört.« Jeder auf der Insel wusste es: Die Worstlers waren völlig verrückt. Und zwar immer nur die Jungs in der Familie. Kirks Großvater Adelai war so eine Art Heiler gewesen, sein Vater Ishmael sprach angeblich in fremden Zungen, Ishmaels Bruder war auf See verschollen – man munkelte, er sei über Bord gesprungen – und Kirks Vater hatte sich zu Tode gesoffen. Das war nun schon fünf Jahre her und die meisten Leute weinten ihm keine Träne nach, denn er war ein aggressiver Säufer gewesen, unter dem Kirks Mutter und Schwester ziemlich gelitten hatten.
Kirk selbst hatte lange Zeit wie ein ganz normales Kind gewirkt. Aufgeschlossen, selbstsicher und künstlerisch begabt. Doch im Laufe der Jahre hatte sich etwas in ihm verändert und aus dem neugierigen, klugen Kind war ein nervöser Junge geworden. Er lief stundenlang allein am Strand umher, aber er spielte nicht, wie andere in seinem Alter, sondern schien stets nach irgendetwas Ausschau zu halten. Nach dem Tod seines Vaters schien es ihm eine Zeit lang besser zu gehen. Er wirkte wie ein durchschnittliches, wenn auch trauriges Kind. Doch dann, nach Danny Sawdees Party im letzten Jahr, hatte er sich vollkommen verändert. Manche Leute behaupteten, er wäre auf LSD oder hätte irgendwelche Pilze eingeworfen. Andere mutmaßten sogar, es wären gar keine Drogen im Spiel gewesen, sondern Kirk hätte eine religiöse Begegnung der dritten Art gehabt, eine Art Vision oder Erweckung. Fest stand jedenfalls, dass er als Mutprobe auf den alten verlassenen Leuchtturm am Rand der Insel geklettert war und dass dort oben irgendetwas vorgefallen sein musste, denn als er wieder heruntergekommen war, war er nicht mehr derselbe gewesen.
Ein paar Schüler von der Highschool waren überzeugt, Ben sei einem Engel begegnet. Ein Mädchen wollte ihn sogar eines Nachts singen gehört haben. Das Lied sei so wunderschön gewesen, nicht von dieser Welt! Den Text hätte sie nicht verstanden, aber seine Worte hätten so seltsam fremd geklungen, wie aus uralten Zeiten.
Die meisten hielten ihn allerdings einfach nur für einen durchgeknallten Junkie.
»Ich hab gehört, seine Schwester wollte, dass er einen Entzug macht, aber seine Ma hat gemeint, das könnten sie sich beim besten Willen nicht leisten.«
»Woher weißt du nur immer dieses ganze Zeug?«
»Tja, Vitamin B muss man haben! Und vergiss nicht, dass ich mit Leib und Seele Reporter bin, Alter!«, lachte Angus. »Mann, das hier ist mein Leben! Apropos …« Er unterbrach sich kurz, um einen Krebs zu fotografieren, der über einen algenbedeckten Haufen Strandmüll eilte. In einer seiner Scheren klemmte ein Stück Papier, das er beim Laufen hin und her schwenkte. Irgendwie hatte das etwas von einem übereifrigen Zeitungsjungen. »Sag mal, wann kommt eigentlich deine Freundin zurück?«
»Zoe? Die ist doch längst wieder da.«
»Ach, echt?« Angus grinste. »Wusste ich ja gar nicht. Na dann.« Damit wandte er sich wieder dem Haufen toter Äste und Algen zu.
Will hätte am liebsten noch etwas darauf erwidert, zum Beispiel »Wieso willst du das überhaupt wissen?« oder so ähnlich. Doch dann würde Angus mit Sicherheit glauben, dass es ihm etwas ausmachte, mit wem Zoe näher zu tun hatte. Was es natürlich nicht tat. Zoe kannte fast jeden hier auf der Insel, schließlich kam sie ja schon seit vielen Jahren hierher. Und natürlich wusste Will auch, dass sie und Angus miteinander befreundet waren. Nicht einordnen konnte er hingegen Angus’ breites Grinsen. Ob sein Freund wohl Chancen bei Zoe hätte? Im Grunde war er ja nicht so recht … na ja, ihr Typ. Wobei, was hieß das schon? Zoe ging schließlich mit vielen Jungs aus. Im letzten Jahr hatte sie was ziemlich Ernstes am Laufen gehabt – irgend so ein Jason Dingsbums. Ein Sommergast, wie er im Buche stand: weißer Lexus und das typische selbstsichere Auftreten eines Sohnes aus reichem Elternhaus. Will war ihm erst ein paarmal begegnet und fand insgeheim, dass dieser Jason ein Vollidiot erster Klasse war, und manchmal kam es ihm sogar so vor, als sähe Zoe das genauso. Auf der anderen Seite hatte der Typ nun mal super Klamotten und viel Geld, und da Zoe es toll fand, in schicke Restaurants ausgeführt zu werden und teure Geschenke zu bekommen, passten sie und Jason vermutlich ganz gut zusammen, überlegte Will.
Er blickte den Strand entlang. Überall waren Leute unterwegs, sammelten den Müll auf und packten ihn in große Tüten. Die Arbeit ging schnell voran. Will vermutete allerdings, dass spätestens dann, wenn am nächsten Freitag die ersten Wochenendausflügler aus New York mit Billigbussen auf ihrem Weg gen Osten hierherkamen, der Strand wieder genauso zugemüllt sein würde wie vorher.
Sein Blick fiel auf ein langhaariges Mädchen am anderen Ende des Strands, das über ein großes Stück Treibholz gebeugt stand. Ihr schwarzes Haar fiel ihr über die Schultern. Unwillkürlich packte Will Angus am Arm. »Wer ist denn das da drüben?«
»Was? Wer denn?« Sein Blick blieb an einem vollschlanken Glatzkopf mit engem Poloshirt hängen, der mit einem Klemmbrett unter dem Arm am Strand stand. »Meinst du Franklin Overmeyer? Der gehört zu den Leuten von der Stadtverwaltung.«
»Nein, nicht der«, sagte Will und sein Herz klopfte wie wild. »Das Mädchen da hinten mit den langen Haaren.«
»Ach, Kate Sands?«
In dem Moment drehte sie sich ein Stück in seine Richtung, sodass Will sie besser erkennen konnte. Ihre Augen waren braun, nicht grün, und außerdem hatte sie ein rundes Gesicht voller Sommersprossen. Das war eindeutig nicht das Mädchen von gestern. Will kannte sie aus dem Spanischunterricht. »Oh, äh, ich … hab sie für jemand anderen gehalten.«
»Ey, Mann, sag bloß, du stehst auf Kate? Die arbeitet nämlich auch bei der Gazette, soll ich da mal was für dich klarmachen?«
»Im Ernst, ich hab sie für jemand anderen gehalten.«
Angus zog belustigt die Augenbrauen hoch. Will stieß einen Seufzer aus. Das würde er ihm jetzt sowieso nicht mehr glauben. »Also pass auf, ich muss gehen, okay? Man sieht sich.« Jetzt habe ich schon Halluzinationen, dachte Will, als er ging. Bestimmt der Geist des Mädchens, das bei dem Hurrikan umgekommen ist. Er hatte das Gefühl, als sei sie überall am Strand.