KAPITEL 10
»Fühlen Sie sich in der Lage, wieder das Steuer zu übernehmen?«, fragte Noah.
Er manövrierte das Boot von der Insel fort und hin zur Flussmitte, und gemächlich, um keine weitere Aufmerksamkeit zu erregen, tuckerten sie für eine Weile Richtung Westen.
Hinter ihnen konnte Sydney Sirenengeheul hören, doch nach einer Weile verlor es sich in der Nacht. Mit ihm verschwand allmählich auch ihr Zittern, ließ sie erschöpft und wie betäubt zurück.
Nichts schien ihr mehr real - nicht der SD-6, nicht das K-Direktorat, und schon gar nicht die irrsinnige Verfolgungsjagd, die sie sich soeben mit dem anderen, nun wie eine brennende Fackel auf der Seine treibenden Boot geliefert hatten. Nickend nahm sie wieder ihren Platz am Steuer ein.
Sofort verschwand Noah in der Luke zur Kabine und kam gleich darauf mit dem laptopähnlichen Überwachungsgerät und den Kopfhörern zurück.
»Bringen Sie uns da vorne hin, wo es am tiefsten ist«, wies er sie an und deutete in die entsprechende Richtung. Als Sydney die Stelle, die er ihr bezeichnet hatte, erreichte, warf er das gesamte Equipment kommentarlos über Bord.
»Brauchen wir das denn nicht mehr?«, fragte sie, als die Ausrüstung unterging.
Noah zuckte die Achseln. »Wir können sie nicht mit uns herumschleppen, und auf dem Boot zurücklassen können wir sie erst recht nicht.«
Sie nickte, mit einem Mal mehr als froh darüber, dass er die Verantwortung trug. In ihrem derzeitigen Zustand war sie nicht einmal fähig, die allerkleinste Entscheidung zu treffen; sie hatte schon genug damit zu tun, sich überhaupt auf den Beinen zu halten.
Als sie an dem Pier ankamen, von dem aus ihr nächtliches Abenteuer begonnen hatte, übernahm Noah wieder das Steuer. Mit einem beherzten Satz sprang Sydney auf den Anlegesteg und machte die Leine an einer der Klampen fest.
»Wie schwer hab ich es wohl ramponiert?«, fragte sie, auf das Heck ihres Bootes deutend, als Noah ebenfalls an Land kam. Die Seite, mit der sie gegen die Ufermauer der Insel gekracht waren, lag dem Wasser zugewandt, sodass sich der Schaden nicht einschätzen ließ.
»Es schwimmt noch, und es fährt noch«, erwiderte er gleichgültig. »Glauben Sie mir, der Typ wird sich bestimmt nicht beschweren. Kommen Sie.«
Er rannte den Pier hinauf, und Sydney blieb keine andere Wahl, als ihm zu folgen.
An der Straße angelangt, hielt Noah sogleich das erstbeste Taxi an. »Nous allons au Cimetiere du Père Lachaise«, schleuderte er dem Fahrer entgegen, als er die hintere Wagentür aufriss. »Depechez-vous! Je vous payerai le double si vous y arrivez rapidement.«
Sydney war kaum eingestiegen, da startete der Fahrer bereits mit quietschenden Reifen durch. Unsanft wurde sie gegen die Rücksitzlehne geworfen.
»Noah!«, rief sie verblüfft.
»Was?«
»Sie sprechen Französisch!«
Er verzog das Gesicht. »Ich spreche schon die ganze Zeit Französisch.«
»Ja, aber mehr schlecht als recht. Und jetzt auf einmal ...«
Mit einem Kopfschütteln und einem warnenden Blick auf den Fahrer brachte er sie zum Schweigen. »Was immer Sie mir erzählen wollen, erzählen Sie's mir später!«
Sydney stellte keine weiteren Fragen mehr, doch sah sie ihn nach wie vor forschend von der Seite her an.
Er hat diesen idiotischen Akzent bloß vorgetäuscht, als Teil der Rolle, die er spielt, dämmerte es ihr. Tatsächlich jedoch war, wie sie soeben gehört hatte, seine Aussprache perfekt. Diese Entdeckung nötigte ihr nur noch mehr Respekt vor ihm ab. Wie fähig sie ihn auch immer eingeschätzt hatte, stets bewies er ihr aufs Neue, dass noch weitaus mehr in ihm steckte.
Den Rest der Taxifahrt verbrachten sie schweigend. Während der Fahrer sich darauf konzentrierte, bei der überhöhten Geschwindigkeit, mit der er durch die Stadt jagte, keinen Unfall zu bauen, hing ihm Noah nach vorn gebeugt im Nacken und schien ihn zu noch mehr Eile antreiben zu wollen. Sydney kauerte derweil erschöpft auf dem Rücksitz und ließ die Straßen an sich vorüberfliegen, ohne irgendeine Ahnung zu haben, wohin sie eigentlich fuhren. Ganz offensichtlich hatte Noah einen Plan, doch sie würde schon noch früh genug erfahren, worin dieser bestand.
Ihr Gottvertrauen erhielt allerdings einen empfindlichen Dämpfer, als das Taxi wenige Minuten später in eine völlig verlassene Seitenstraße einbog und mitten im urbanen Niemandsland anhielt.
»Nous voici!«, verkündete der Fahrer und blickte Noah erwartungsvoll an.
Im Gegensatz zu den hellen Lichtern der Großstadt breitete sich nun Dunkelheit vor ihnen aus; die Gegend, in der sie sich befanden, schien von der Finsternis förm-lich verschluckt zu werden. Sydney fuhr mit der Hand über die von innen beschlagenen Fenster, doch sie konnte immer noch nicht viel erkennen.
Nachdem er dem Fahrer ein paar Geldscheine hingeworfen hatte, ergriff Noah Sydneys Hand und zerrte sie aus dem Taxi. Sie standen direkt vor einem Friedhof.
»Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen«, sagte Sydney, als das Taxi wieder davongefahren war. »Was tun wir hier?«
»Das werden Sie schon sehen«, erwiderte Noah, bereits auf den Friedhofszaun zueilend.
»Ich möchte Ihren Eifer ja nur ungern bremsen, aber ich glaube nicht, dass jetzt Besuchszeit ist.«
Noah wandte sich gerade lang genug um, um ihr seinen Einsatzleiter-Blick zuzuwerfen. Sydney seufzte, kletterte hinter ihm über die Einfriedung und landete auf der anderen Seite sicher wieder auf den Füßen.
Der Cimetiere du Père Lachaise war riesengroß, in tiefste Nacht gehüllt und voller Gräber und Grüfte - kurz: über alle Maßen gruselig. Die wie dahingestreut am Himmel stehenden Sterne vermochten ihren Weg nicht zu erhellen, und auch der fahle Schein des Mondes ließ die Schatten nur noch düsterer und unheimlicher erscheinen. Sydney hielt sich dicht hinter Noah, während dieser von Grabmal zu Grabmal schlich, immer Ausschau haltend nach irgendeinem Wächter.
Sie waren bereits tief in das Herz des Friedhofs vorgedrungen, als Noah schließlich vor dem ausladenden Portal einer großen Familiengruft stehen blieb. Nach allen Seiten in die Finsternis spähend, vergewisserte er sich, dass sie unbeobachtet waren, und wandte sich sodann der eisernen Tür zu, die den Zugang zum Grabmal versperrte. Düster und massiv, und rostig wie sie war, wirkte sie, als wäre sie vor Jahrhunderten zum letzten Mal geschlossen worden. Ein schwerer Türklopfer hing in ihrer Mitte.
Noah hob den Eisenring an, doch anstatt ihn dann wieder herabfallen zu lassen, drückte er ihn ganz nach oben gegen die Tür. Dann kniete er sich rasch hin und presste seine Hand gegen die unterste Platte des Portals.
Zu Sydneys maßloser Verwunderung begann die Platte zu glühen. Sie sah, wie ein schmaler horizontaler Lichtbalken sich langsam von oben nach unten bewegte und Noahs Handfläche scannte. Ein lautes Klicken durchbrach die Stille, und die Tür schwang auf.
»Schnell«, trieb Noah sie zur Eile an, packte sie am Arm und zog sie mit sich in die stockdunkle Gruft. Mit einem leisen Geräusch fiel die schwere Tür hinter ihnen wieder ins Schloss.
»Wo sind wir hier?«, flüsterte Sydney geschockt.
»In einem Ausrüstungsdepot des SD-6«, antwortete Noah, ohne seine Stimme zu senken. »Schalldicht, kugelsicher und bis oben hin voll mit Zeug, das wir brauchen.« Er machte ein Pause, dann fuhr er, nun mit deutlich formellerem Tonfall, fort: »Computer, Stimmerkennung, Agent Noah Hicks.«
An der Decke flammte eine rote Lampe auf und erhellte einen kleinen, rechteckigen Raum. Hinter ihnen befand sich die Wand mit der Eingangstür und direkt vor ihnen eine weitere, in der zahlreiche Gedenksteine die einzelnen Sargkammern der Toten bezeichneten, die in der Gruft ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten. Überrascht ließ Sydney ihren Blick durch die unerwartet schaurige Kammer wandern.
»Das hier ist ein Ausrüstungsdepot?«, fragte sie verdutzt. Sie hatte bereits von diesen Lagern gehört - geheime Zufluchtsorte, über den ganzen Erdball verteilt -, aber sie hatte nicht geahnt, dass sie so aussahen.
Noah streckte die Hand aus und drückte seinen Daumen gegen eine Steingravur. Ein weiterer Scan, und die gesamte Wand mit den vermeintlichen Sargkammern versank geräuschlos im Boden, eine Mauerattrappe, hinter der sich der wahre Zweck der Totengruft verbarg.
Sie befanden sich nunmehr in einem etwa drei Quadratmeter großen, fensterlosen Raum. Einige Regale an der linken Wand waren bis zum Bersten gefüllt mit Geheimdienst-Equipment. Auf der rechten Seite lehnten an einem mit einer Plane abgedeckten großen Irgendwas, das in der Ecke stand, ein paar aufeinander gestapelte Kisten. Noah ging hinüber, nahm einen schwarzen Rucksack vom Haken und warf ihn Sydney zu.
»Nehmen Sie sich, was Sie brauchen«, sagte er, »wir kommen nämlich nicht mehr ins Hotel zurück.«
Sich sodann den Regalen zuwendend, begann er das Inventar zu durchwühlen und ließ alles, was er für nützlich befand, hinter sich auf den Boden fallen.
»Worauf warten Sie? An die Arbeit«, forderte er Sydney auf, als er bemerkte, dass sie sich keinen Zentimeter von der Stelle gerührt hatte. »Hier. Ich denke, diese Hosen haben in etwa Ihre Größe.« Ein Paar schwarze Stretchhosen flogen in Sydneys Richtung, gefolgt von einem dazu passenden Rollkragenpulli. »Am besten probieren Sie auch gleich ein paar von diesen Schuhen an. Mit denen, die Sie anhaben, kommen Sie nicht weit, wenn wir Fersengeld geben müssen.«
Indem sie Noah den Rücken zuwandte, zog Sydney sich rasch um, zwängte sich unter dem Kleid in die Stretchhosen, bevor sie es gegen den Rollkragenpulli tauschte. Für den Fall, dass sie sie noch einmal benötigen würde, faltete sie anschließend ihre Designersachen ordentlich zusammen und verstaute sie zusammen mit den Sandaletten in ihrem Rucksack. Als sie sich wieder umdrehte, trug Noah ebenfalls schon schwarze Hosen. Weiter war er allerdings noch nicht gekommen. Die Muskeln und Sehnen seines nackten Oberkörpers spannten sich, als er in eines der oberen Regale langte und einige kleine Plastikschachteln herunterholte. Verlegen wandte Sydney ihren Blick ab, doch Noah schien ihre Irritation nicht einmal zu bemerken.
»Sender«, erklärte er, öffnete jede einzelne der Schachteln und überprüfte deren Inhalt. Nachdem er offenbar gefunden hatte, was er suchte, reichte er Sydney eines der Kistchen. »Schnappen Sie sich einen von diesen Allzweckgürteln und machen Sie das Empfangsteil daran fest. Anschließend verbinden Sie dieses Kabel mit dem Mikro und dem Knopfhörer.«
Sydney tat, wie ihr geheißen, während Noah nach einem Hemd für sich suchte. Anders als die winzig kleinen Sender, die sie bislang benutzt hatten, waren diese hier schwer, unhandlich und kaum zu übersehen. Das Empfangsteil war breiter als der Gürtel, der Hörer wurde außen am Ohr befestigt und das damit verbundene Mikro über ein schmales Gestell seitlich des Kopfes hinunter zum Kinn geführt.
»Ich komme mir vor wie ein Rockstar«, witzelte sie. »Fehlen nur noch die Fans.«
Noah lächelte anerkennend. »Damit sind Sie in bester Gesellschaft. Jim Morrison liegt hier nämlich irgendwo begraben.«
Ausdruckslos lächelte Sydney zurück. Ein Rockstar zu sein war eine Sache; ein toter Rockstar zu sein hingegen erschien ihr im Augenblick nicht so wahnsinnig amüsant.
Sie ging zu dem Regal hinüber und fand ein Paar passende schwarze Schuhe und Socken. Sie war noch damit beschäftigt, sich die Schnürsenkel zuzubinden, als Noah bereits auf sie zutrat.
»Welchen Revolver möchten Sie«, fragte er. In jeder seiner ausgestreckten Hände lag eine Waffe.
»Revolver?«, echote sie. »Wozu?«
»Für unseren zweiten Besuch bei Madame Monique natürlich. Wir müssen noch einmal dahin und dort alles gründlich durchsuchen, bevor die Leute vom K-Direktorat Zeit haben, ihre Spuren zu verwischen.«
»Wir gehen bewaffnet dorthin?«
Überrascht sah Noah sie an. »Na ja. klar.«
Blindlings nahm Sydney einen der Revolver. Sie hatte gelernt, mit beiden Modellen umzugehen, doch besaß sie weder mit dem einen noch mit dem anderen hinreichend Erfahrung, um wirklich so etwas wie eine Meinung zu haben. Wenn sie einmal fertig ausgebildete Agentin war, würde sie ihre eigene Waffe erhalten, doch die einzige Gelegenheit, bei der sie als Rekrutin so ein Ding in die Finger bekam, war auf dem Schießstand. Bis jetzt.
Noah warf ihr das Holster zu, das zu ihrem Revolver gehörte. »Vergessen Sie nicht, genügend Munition einzustecken. Und beeilen Sie sich - wir vertrödeln hier nur unnötig viel Zeit.«
Sydney schnallte sich den Revolver um, in der Hoffnung, ihn nicht einsetzen zu müssen. Sie war nach Paris geschickt worden, um Kleider einzukaufen, und nun steckte sie mitten in einem knallharten Agententhriller. Bei dem Tempo, in dem die Dinge eskalierten, war nicht abzusehen, welches Ende die Sache noch nahm.
Während sie in dem Regal nach der Munition für ihre Waffe kramte, fiel ihr ein Satz Dietriche in die Finger.
Kurzerhand ließ sie sie in ihren Rucksack wandern. Sie war bereits ein ziemliches Ass, was Schlösserknacken anbelangte, und auf verschlossene Türen würden sie in dem Modehaus sicherlich reichlich stoßen. Noah rüstete sich noch mit einem Nachtsichtgerät aus, und jeder von ihnen hängte sich zudem eine Taschenlampe an den Allzweckgürtel. Anschließend schob sich Noah eine zweite Waffe in den Hosenbund und eine dritte in ein Holster an seinem Bein. Zu guter Letzt komplettierten sie ihre Ausstattung mit weiten, schwarzen Windjacken, die das meiste ihrer Ausrüstung verbargen.
»Sind Sie so weit?«, fragte Noah, während er sich den Rucksack über die Jacke streifte.
Sydney nickte.
»Gut.«
Noah ergriff die Plane in der einen Ecke des Raumes und riss sie mit einem kräftigen Ruck beiseite. Der Überwurf sank zu Boden und gab den Blick frei auf ein Motorrad und zwei Helme. Den einen warf Noah Sydney zu, den anderen setzte er sich selbst auf. Dann schob er das Zweirad auf die freie Fläche in der Mitte des Depots. Ein Bein über den Fahrersitz schwingend, forderte er Sydney mit einer knappen Kopfbewegung auf, auf dem Sozius Platz zu nehmen.
»Halten Sie sich gut fest«, wies er sie an. »Und keine falsche Schüchternheit.«
Seine Stimme kam klar und deutlich über den Kopfhörer, doch da seine Augen unter dem Helm nicht mehr zu sehen waren, vermochte Sydney nicht zu sagen, ob er sie schon wieder aufzog oder nicht. Dennoch schlang sie die Arme fest um seinen Körper und drückte sich eng an seinen Rucksack.
»Ich hoffe, Sie haben hier nicht noch irgendwelche Revolver drin«, murmelte sie nervös.
»Nur ein paar Handgranaten.«
»Was? Noah!«
»Ich mach nur Spaß«, sagte er und versuchte sich weit genug herumzudrehen, um sie anzuschauen. »Schon mal was von Galgenhumor gehört?«
»Die dummen Sprüche, die die Leute ablassen, wenn sie zu ihrer eigenen Hinrichtung gehen? Passt ja großartig. Vielen Dank für die Aufmunterung.«
»Nein! Es ist nur. Ach, vergessen Sie's. Sie sind einfach viel zu empfindlich.«
»Ich empfindlich?«, protestierte sie.
Er drehte sich wieder nach vorne. »Können wir jetzt losfahren, oder was?«
»Ja, sagte ich doch schon.«
»Na prima.« Noah warf den Motor an. »Computer!«, rief er laut. »Exitprozedur initiieren.«
Das rote Licht über ihren Köpfen erlosch, die schwere Tür der Gruft schwang auf, und Sydney und Noah donnerten hinaus in die Nacht.
Bei der zweiten Abbiegung, die Noah mit Höchstgeschwindigkeit einschlug, hatte Sydney bereits gelernt, dass sie sich mit ihm in die Kurve legen musste. Beim ersten Mal wäre sie beinahe vom Motorrad gerutscht, und noch immer pochte ihr Herz heftig vor lauter Aufregung über diese neue Erfahrung.
Hoffentlich sind wir bald da, dachte sie nervös. Abgesehen von dem Bruchteil einer Sekunde, den er benötigte, um das Friedhofstor zu öffnen, hatte Noah nicht ein einziges Mal die Hand vom Gas genommen, seit sie das Ausrüstungsdepot verlassen hatten. Wahrscheinlich befanden sie sich schon ganz in der Nähe
des Couturier-Hauses.
Ich wollte, ich wüsste, was uns dort erwartet.
Würden sie die Revolver benutzen müssen, die sie bei sich trugen? Für Noah bedeutete der Umgang mit Waffen gewiss nichts Besonderes, doch ihr bereitete der Gedanke, auf jemanden zu schießen, mehr als nur Bauchschmerzen. Das einzig Schlimmere wäre indes, dass jemand auf sie schoss.
Dabei sollte es gar kein gefährlicher Auftrag werden!, beklagte sie sich in Gedanken. Wilson würde der Schlag treffen, wenn er mich jetzt sehen könnte.
Oder vielleicht auch nicht?
Schließlich hatte sie begeistert eingewilligt, als Geheimagentin zu arbeiten, und Wilson hatte ihre Ausbildung übernommen. Möglicherweise war er ganz genau darüber im Bilde, was hier und in diesem Augenblick geschah.
Die Lichter von Paris rauschten an ihr vorbei, ebenso unscharf und flüchtig wie ihre eigenen verworrenen Gedanken.
Sydney atmete tief durch. Ich sollte mir langsam darüber klar werden, was ich machen soll, wenn wir dort sind.
Nur leider hatte sie diesbezüglich nicht die geringste Ahnung. Vor allem darf ich nicht die Nerven verlieren. Noah hat schon viele solcher Missionen hinter sich - er wird bestimmt nicht einfach wild drauflosballern.
Wahrscheinlich nicht.
Ein weiterer tiefer Atemzug. Prickelnd strich die kühle, frische Nachtluft über jeden Zentimeter ihres Körpers. Sydney versuchte, ihre Sinne beieinander zu halten, die Sorge über das, was vor ihr lag, aus ihren Gedanken zu verdrängen. Das Heulen des Motorrads in ihren Ohren, der Geruch nach alten Gemäuern, nach Abgasen und Asphalt, die Nähe und Wärme von Noahs Körper, die blendenden Lichter überall um sie herum.
Es funktionierte nicht.
Jede einzelne Wahrnehmung brachte ihr nur noch mehr ins Bewusstsein, dass dies vielleicht die letzte Nacht in ihrem Leben war.
»Noch etwa eine Minute«, hörte sie Noahs Stimme an ihrem Ohr. »Stellen Sie sich darauf ein, dass alles sehr schnell gehen muss, wenn wir da sind.«
Sie nickte, nicht bedenkend, dass er sie nicht sehen konnte.
Die Abzweigung in die bereits vertraute Gasse kam in Sicht, und Noah bog ohne abzubremsen ein. Laut hallte das Motorengeräusch der Maschine von den Häuserwänden wider, als sie auf den Hintereingang des Modehauses zurasten. Endlich hielt Noah an, und Sydney stieg taumelnd vom Beifahrersitz, kaum spürend, wie ihre Füße den Boden berührten. Fast automatisch setzte sie ein Bein vor das andere, als würden sie jemand anderem gehören.
Noah bockte die Maschine auf und übernahm die Führung, eilte die schmale Außentreppe hinab, die vor der verschlossenen Kellertür endete. Sie legten ihre Helme auf der untersten Treppenstufe ab. Dann griff Sydney nach ihrem Rucksack, in dem sich der Satz Dietriche befand, doch schon hatte Noah eine Pistole mit Schalldämpfer hervorgezogen und schoss das Türschloss kurzerhand auf.
»Keine Zeit mehr für diskretes Vorgehen«, sagte er und stieß die Tür mit einem gewaltigen Fußtritt auf. »Kommen Sie, Sydney. Auf geht's!«
Das Licht ihrer Taschenlampen huschte über die kahlen Wände, während die beiden Eindringlinge, Sydney voran, durch den unteren Flur und die Treppen hinauf ins Erdgeschoss hasteten.
»Welche Richtung zum Umkleideraum?«, fragte Noah. »Schnell, bevor uns jemand entdeckt.«
Ein Stück weiter vor ihnen war der Vorhang zu erkennen, der den hinteren Bereich des Hauses von dem Rest des Geschäfts trennte; er war halb zurückgezogen. Sydney schlüpfte hindurch und erreichte wenige Meter weiter den Hauptflur, von dem aus die Tür zu dem Anprobezimmer abging. Sie schwenkte den Kegel ihrer Taschenlampe durch den Flur, um sicherzugehen, dass sich niemand dort befand. Dann huschte sie weiter. Vor einer offen stehenden Tür machte sie Halt.
»Das ist es. Das ist das Zimmer, in dem ich gewesen bin«, teilte sie Noah mit gedämpfter, eindringlicher Stimme mit.
»Gut. Schauen wir nach, was dieses merkwürdige Geräusch verursacht haben könnte.«
Sie traten ein und machten sich ans Werk. Suchend tanzte der Schein ihrer Taschenlampen über Spiegel und Möbel. Sydney zog vorsichtig jede einzelne Schublade des großen Schreibtisches auf, doch sie fand lediglich Unmengen von Nähzeug. Währenddessen kippte Noah die schwenkbaren Standspiegel in ihren Gelenken nach oben und nach unten, ebenfalls ohne Erfolg.
»Was könnte das bloß gewesen sein?«, murmelte er ärgerlich.
Sydney ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen; viel mehr Möglichkeiten gab es nicht. Sie versuchte es mit einem der Brokatstühle, schob ihn auf dem harten Holzboden vor und zurück. Das Geräusch, das dabei entstand, ähnelte dem Schaben, das die Abhörwanze aufgezeichnet hatte, war jedoch nicht einmal annähernd so laut. Ihre Idee aufgreifend, stemmte sich Noah gegen den schweren Schreibtisch, nur um festzustellen, dass er fest am Boden verankert war.
»So kommen wir nicht weiter«, brummte er.
»Es klang doch so, als würde irgendetwas über Holz schleifen. Könnte es sein, dass eine dieser Dielen locker ist?«
Sie knieten sich hin, klopften den Boden ab und untersuchten das Parkett. Nicht eine der Holzdielen ließ sich auch nur einen Zentimeter bewegen. Doch dann fiel Sydney etwas auf: An einer Seite des Zimmers befand sich am Rand des Fußbodens eine deutlich sichtbare Nut, die sich bis zu der holzvertäfelten Wand hinaufzog.
»Was hat das denn wohl zu bedeuten?«, fragte sie und deutete auf die verdächtige Stelle.
Noahs Augen leuchteten auf. »Bingo.«
Er lehnte sich gegen die Wand und strich mit der Handfläche über die senkrecht verlaufenden Holzbretter. Es dauerte kaum eine Minute, bis eines der Paneele unter dem Druck seiner Hand nachzugeben schien.
»Machen Sie sich auf eine Überraschung gefasst«, sagte er und versetzte der Wand einen heftigen Stoß. Ein etwa quadratmetergroßes Stück Mauerwerk schwang an einem sich dahinter befindenden Mechanismus herum; etwa fünfzig Zentimeter Unterkante der verkappten Drehvorrichtung schabten mit einem kratzenden Geräusch über den Fußboden aus Hartholz.
»Eine Geheimtür!«, keuchte Sydney und wollte sich bereits ins Unbekannte stürzen, doch Noah packte sie an ihrer Jacke und hielt sie zurück.
Dann leuchtete er mit seiner Taschenlampe in den finsteren Durchgang hinein. Der Lichtkegel fiel auf die nackte Backsteinmauer des Hauses, die ungefähr einen halben Meter jenseits der Zimmerwand begann. Links führte eine schmale steile Holzstiege hinab und verlor sich in der Finsternis.
»Ich gehe«, sagte er. »Sie bleiben hier und geben mir Deckung.«
»Ich werde mit Ihnen kommen.«
»Nein«, sagte er bestimmt. »Das werden Sie nicht.«
»Ich will sehen, was da ist«, beharrte sie, sich mehr davor fürchtend, allein gelassen zu werden, als vor dem, was sie dort unten vielleicht erwarten mochte.
»Schon klar. Aber ich brauche Sie hier oben, um mir den Rücken freizuhalten. Und jetzt schalten Sie die verdammte Taschenlampe aus, schnappen sich Ihren Revolver und tun Ihren Job.«
Noch bevor sie irgendetwas einwenden konnte, ließ er sie stehen und stieg die morsche Treppe hinab. Sydney zögerte, jede Faser ihres Körpers zerrte in ihr mit dem Wunsch, ihm zu folgen. Doch dann machte sie die Taschenlampe aus und zog ihre Waffe, so wie Noah es ihr aufgetragen hatte. Schwer lag der Revolver in ihrer zitternden Hand.
Ich schaff das schon, beschwor sie sich und versuchte, ruhig zu bleiben.
Doch was, wenn irgendjemand kam und sie tatsächlich von dem Schießeisen Gebrauch machen musste? Sie hatte ein umfassendes Waffentraining absolviert; sie wusste, dass sie in der Lage war, ein Übungsziel zu durchlöchern wie einen Schweizer Käse.
Was sie indes nicht wusste, war, ob sie auch in der Lage sein würde, die Waffe auf einen Menschen zu richten.
»Noah!«, flüsterte sie in ihr Mikro. »Noah, können Sie mich hören?«
»Laut und deutlich«, kam es zurück.
Der Klang seiner Stimme beruhigte sie ein wenig. »Was ist da unten? Alles klar bei Ihnen?«
»Ja. Ich bin gerade. «
Mit einem dumpfen Geräusch brach seine Stimme ab. Sydney erschrak bis ins Mark.
»Noah?«, wisperte sie mit zitternder Stimme. »Noah, sind Sie okay?«
Doch alles, was sie hörte, war Stille.