KAPITEL 2
Die Stimme eines Flugbegleiters drang aus den Lautsprechern der großen Verkehrsmaschine und riss die Passagiere aus ihren Gesprächen und Gedanken. Bedauerlicherweise sprach er Französisch.
Ich hätte zuerst Französisch anstatt Russisch lernen sollen, schalt Sydney sich selbst, während sie versuchte, hinter den Sinn seiner Worte zu gelangen. Sie war zwar recht gut in Sprachen, doch hatte sie beim SD-6 so viel zu erlernen, dass der Gedanke, sie eines Tages perfekt beherrschen zu müssen, sie manchmal ein wenig verzweifeln ließ. Nicht nur, dass Französisch viel leichter gewesen wäre, ich könnte es im Moment auch wirklich gut gebrauchen.
Derzeit sah es jedoch so aus, dass sie von zehn französischen Worten bestenfalls eines verstand, und selbst da war sie sich nicht ganz sicher.
Der Steward beendete seine Durchsage und wiederholte sie dankenswerterweise in Englisch: »Ladies und Gentlemen, wir befinden uns im Anflug auf den Flughafen Orly und werden in wenigen Minuten zur Landung ansetzen. Bitte bringen Sie Ihre Sitze wieder in eine aufrechte Position und vergewissern Sie sich, dass die Ablage, die sich in der Rückenlehne Ihres Vordermanns befindet, nach oben geklappt und korrekt eingerastet ist.«
Das sollte zu schaffen sein, dachte Sydney ein wenig selbstgefällig. Der SD-6 hatte ihr ein Erste-Klasse-Ticket spendiert, einerseits ihrer Tarnung wegen, andererseits auch aus der Überlegung heraus, dass sie so Gelegenheit hatte, in dem komfortablen Ruhesitz noch ein wenig zu schlafen. Dessen ungeachtet hatte sie jedoch, aufgeregt, wie sie war angesichts ihrer ersten offiziellen Mission, zwischen den pausenlosen Filmvorführungen und den zahllosen Tassen Kaffee nicht einmal für fünf Minuten die Augen geschlossen. Es war ihr erster First-Class-Flug, doch sie hatte nicht lange gebraucht, um herauszufinden, dass man in dieser Klasse eine junge Dame niemals hungrig oder durstig sitzen ließ, oder ihr gar solch niedere Verrichtungen zumutete wie das Einstellen der Rückenlehne. Gerade in diesem Moment eilten die Stewardessen geschäftig durch den Mittelgang und boten den Passagieren mit silbernen Zangen heiße feuchte Handtücher an.
»Sehr geehrte Fluggäste, hier spricht Ihr Kapitän«, verkündete eine neue Stimme in Englisch über die Lautsprecher. »In Paris ist es jetzt Sonntag, Ortszeit 12 Uhr 22 p.m. Die derzeitige Außentemperatur beträgt achtzehn Grad Celsius. Wir hoffen, dass Sie einen angenehmen Flug hatten, und würden uns freuen, Sie auch in Zukunft als unsere Gäste begrüßen zu dürfen. Bitte folgen Sie während des Landeanflugs und der Landung den Anweisungen des Bordpersonals.«
Sydney verrenkte sich beinahe den Hals bei dem Versuch, von ihrem Platz aus zum Fenster hinauszuschauen. Ihr Magen sagte ihr, dass sie sich im Sinkflug befanden, doch alles, was sie sehen konnte, war der Himmel.
Ich wünschte, Francie wäre hier, dachte sie. Wie gern hätte sie diesen Moment mit ihr geteilt. Hoffentlich redet sie überhaupt noch mit mir, wenn ich wieder zurück bin!
Kurz vor ihrem Aufbruch aus Los Angeles hatte sie ihre Freundin angerufen, nachdem sie sich in aller Eile eine Erklärung für ihre plötzliche Abreise ausgedacht hatte. Francie hatte den Anruf in ihrem Auto entgegengenommen; sie war bereits auf dem Weg zum Strand gewesen.
»Ich soll im Auftrag der Bank am Wochenende für jemanden in San Diego einspringen«, hatte Sydney ihre Freundin angelogen. »Einer der Angestellten dort ist krank geworden und kurzfristig ausgefallen.«
»Und da schicken sie dich? An einem Samstag? Setzen dich einfach ohne Koffer in den erstbesten Flieger? Haben die denn da unten keine eigenen Leute?«
»Es ist. eine Grippe-Epidemie. Fast die halbe Belegschaft liegt flach.«
»Na großartig«, hatte Francie sarkastisch geantwortet. »Sieh zu, dass es dich auch erwischt, und bring es mir mit.«
»Das ist eine einzigartige Chance für mich«, hatte Sydney sie zu beschwichtigen versucht. »Sei nicht sauer.«
»Ich bin aber sauer! Du hast versprochen, falls du es nicht mehr zum Strand schaffst, mit mir heute Abend auf die Party zu gehen.«
»Es tut mir Leid. Ich mach's wieder gut.«
Das Schweigen, das daraufhin folgte, hatte so lange gedauert, dass Sydney schon dachte, Francie hätte aufgelegt. Schließlich hatte Francie geseufzt. »Also gut. Wie lautet die Adresse?«
»Welche Adresse?«
»Die von deinem Hotel! Ich hoffe, sie haben dich in einem der besseren einquartiert, weil ich nämlich einen richtig geilen Swimmingpool erwarte. Die haben da doch einen Swimmingpool, oder?«
»Du. äh. willst nachkommen. zu mir ins Hotel?«, hatte Sydney gestammelt und hätte sich selbst dafür ohrfeigen können, dass sie dies nicht vorausgesehen hatte. San Diego war gerade mal zwei Autostunden von Los Angeles entfernt. Mehr noch, der Ort war voller
Studenten von gleich drei namhaften Colleges und darüber hinaus berühmt-berüchtigt für die Bars und Clubs im angrenzenden mexikanischen Tijuana, wo man Alkohol bereits ab achtzehn bekam. Sie und Francie waren einmal mit dem Wagen hinuntergedüst, um sich einen schönen Tag zu machen, hatten lauter nutzlosen Nippes eingekauft, auf der Avenida Revolucion Tacos gegessen und auf dem Rückweg Richtung Norden mit ihren Roller Blades die Strandpromenade von Mission Beach unsicher gemacht. Sydney war bei ihrer Ausrede auf San Diego verfallen, weil sie ungefähr wusste, wie es dort aussah, für den Fall, dass Francie anfangen würde, Fragen zu stellen. An den offensichtlichen Schwachpunkt, den diese Notlüge in sich barg, hatte sie überhaupt nicht gedacht.
»Natürlich komme ich nach!«, hatte Francie erwidert. »Letztes Mal haben wir es nicht mehr geschafft, uns Sea-World anzusehen, also wäre das doch für dich eine wunderbare Gelegenheit, die Sache wieder gutzumachen.«
»Aber. du kannst nicht kommen«, war Sydney herausgeplatzt. »Ich muss die ganze Zeit arbeiten. Unmengen von liegen gebliebenen Daten erfassen. Ich glaube nicht, dass ich überhaupt irgendwohin gehen kann.«
Wieder hatte Francie geseufzt. »Vielleicht können wir ja wenigstens abends zusammen essen gehen. Und uns danach ein wenig in den Clubs. «
»Ich werde bis spät am Abend beschäftigt sein, und außerdem hab ich nur ein Einzelzimmer«, hatte Sydney in ihrer Verzweiflung weitergelogen. »Wenn sie rauskriegen, dass ich dich dort übernachten lasse, könnte ich ziemlichen Ärger bekommen.«
»Weswegen?«, hatte Francie bissig entgegnet. »Dafür, dass du so etwas wie ein Leben hast?«
»Es tut mir Leid. Es ist nur so, dass. «
»Nein, mir tut es Leid«, war Francie ihr mit eisiger Stimme ins Wort gefallen. »Entschuldige bitte, dass ich so anmaßend war zu glauben, dir könnte etwas an meiner Gesellschaft liegen.«
Mir liegt sogar ziemlich viel an deiner Gesellschaft, dachte Sydney jetzt in diesem Augenblick. Wenn nur die CIA nicht so strenge Geheimhaltungsvorschriften gegenüber Zivilpersonen hätte!
Vereinzelt aufblitzende Farbtupfer zogen am Flugzeugfenster vorbei und lenkten Sydneys Aufmerksamkeit auf sich. Die ersten Gebäude kamen in Sicht. Dann die Landebahn. Die Triebwerke der Maschine heulten auf. Sydney hielt den Atem an, wartete, wartete.
Dann setzte die Maschine mit einem heftigen Ruck auf dem Rollfeld auf.
Abermals drang die Stimme des Piloten aus den Bordlautsprechern: »Mesdames et messieurs, bienvenue a Paris. Ladies und Gentlemen, willkommen in Paris.«
Ungeduldig stand Sydney in einer der Warteschlangen ankommender Flugpassagiere und trat von einem Fuß auf den anderen.
Aus verschiedenen Verkehrsmaschinen waren so viele Menschen auf einmal in die Ankunftshalle geströmt, dass ihr die Zollabfertigung in beinahe unerreichbare Ferne gerückt schien. Geschäftsreisende, Touristen, Einheimische und Einwanderungswillige. je größer die Menge wurde, umso beobachteter kam Sydney sich zwischen all diesen Leuten vor.
Sie rückte ihre Sonnenbrille zurecht und versuchte, ihrer inneren Unruhe Herr zu werden - das Letzte, was
sie wollte, war, irgendwelchen Argwohn erregen.
Ich wüsste zu gern, was mit meinem Koffer passiert, während ich mir hier die Füße in den Bauch stehe. Sie stellte sich vor, wie er gerade jetzt auf dem Gepäckkarussell unbeaufsichtigt seine Runden zog und mit seinem auffälligen, extravaganten Design förmlich danach schrie, geklaut zu werden. Was würde ich in einem solchen Fall machen? Was sollte ich dann anziehen?
Sie zwang sich, tief durchzuatmen. Das dicke Bündel Euroscheine, das Wilson ihr in die Hand gedrückt hatte, war sicher in dem Dokumentengürtel verstaut, den sie am Leibe trug; falls es nötig werden sollte, konnte sie sich jederzeit komplett neu einkleiden. Dummerweise war der Umstand, dass sie so viel Bargeld bei sich hatte, für sich allein gesehen bereits verdächtig genug. Die Vorstellung, dass jemand sie durchsuchen und dabei den ganzen Zaster finden würde, gefiel ihr überhaupt nicht. Sie verlagerte ihr Gewicht, seufzte verhalten, straffte sich.
Der Zollbeamte stempelte einen Reisepass ab und widmete sich dem nächsten Einreisenden, der auf seine Abfertigung wartete.
Was, wenn mein falscher Name auffliegt?, fragte sich Sydney besorgt. Bei der Ausreise aus den USA hatte man nur einen flüchtigen Blick auf ihren getürkten Ausweis geworfen, doch dieser französische Beamte schaute offenbar genauer hin. Was würden sie mit ihr anstellen, wenn sie herausfanden, dass sie gar nicht Kate Jones war? Würde ihre Mission dann möglicherweise beendet sein, noch bevor sie richtig begann?
Der Zollbeamte stempelte einen weiteren Reisepass ab. Dann noch einen. Und noch einen. Sydney spürte, wie ihr der Schweiß den Rücken hinablief. Endlich war
sie an der Reihe.
Der Beamte nahm ihren Ausweis entgegen und betrachtete mit kritischem Blick das Passfoto.
»Sie sind Amerikanerin?«, fragte er.
»Ja«, erwiderte Sydney, erleichtert darüber, dass er Englisch sprach.
»Nehmen Sie bitte die Brille ab.«
Sie schob die Sonnebrille zurück und gab sich Mühe, einen unbekümmerten Eindruck zu machen, während er ihr Gesicht musterte. Angesichts des peniblen Eifers, den er dabei an den Tag legte, war sie froh, dass sie keine Perücke trug.
»Der Grund für Ihren Aufenthalt in Frankreich?«, fragte er.
»Urlaub.«
Er hob seine angegrauten Augenbrauen. »Sie treffen hier jemanden?«
Sydneys Herz machte einen kleinen Satz. Hatte sie einen Fehler begangen? War es womöglich schon verdächtig, allein zu reisen?
»Ahm, ja. Eine Freundin«, antwortete sie nervös. »Sie lebt in Paris.«
»Wie lautet ihre Adresse?«
»Ich. ich hab sie nicht bei mir. Sie wollte mich mit dem Auto abholen. Wahrscheinlich steht sie schon draußen und wartet auf mich.«
Abermals sah der Mann sie prüfend an. Sydney musste alles aufbieten, was sie beim SD-6 gelernt hatte, um seinem Blick standzuhalten.
»Wie lange werden Sie bleiben?«, fragte er schließlich.
»Eine Woche.« Das Ticket, das Wilson ihr ausgehändigt hatte, umfasste Hin-und Rückflug,
Letzterer datiert auf sieben Tage nach Ankunft. Sie könne später immer noch umdisponieren, hatte er gesagt, doch ein einfaches Hinflugticket würde möglicherweise Verdacht erregen.
»Haben Sie den Rückflug bereits gebucht?«
Sydney nickte erleichtert.
»Dürfte ich das Ticket sehen?«
Sie kramte das Flugscheinheft aus ihrer Tasche, damit rechnend, dass der Zollbeamte es ebenso gründlich inspizierte wie alles andere. Doch der Mann warf lediglich einen flüchtigen Blick darauf und ließ seinen Stempel auf ihren Reisepass krachen.
»Angenehmen Aufenthalt«, sagte er. »Der Nächste!«
Mühsam den Impuls unterdrückend, auf und ab zu hüpfen, ließ Sydney die Zollabfertigungsstelle hinter sich und begab sich zur Gepäckausgabe. Ihr Koffer fuhr gemächlich Karussell und hatte die Zeit der Einsamkeit dem Anschein nach unbeschadet überstanden.
Ich hab's geschafft!, frohlockte sie in Gedanken, während sie das Gepäckstück vom Förderband zerrte. Jetzt, im Rückblick, sah alles so einfach aus, dass sie überhaupt nicht verstehen konnte, warum sie sich solche Sorgen gemacht hatte.
Den eleganten, mit Rollen versehenen Koffer hinter sich herziehend, schlug Sydney die Richtung ein, in der die meisten Leute verschwanden. In der Menschenmenge fiel es überhaupt nicht mehr auf, dass sie allein unterwegs war, und auch ihren Designer-Klamotten schien niemand besondere Beachtung zu schenken. Schließlich war sie in Paris, der Welthauptstadt der Mode, und extravagante Frauen gab es hier wie Sand am Meer. Sydney sah sie überall, wie sie auf hochhackigen Schuhen durch die Halle stolzierten, auf Französisch und in einer Geschwindigkeit, der wohl nur Einheimische zu folgen vermochten, aufeinander einplapperten, sich links und rechts zur Begrüßung Küsschen gaben oder ihre Geliebten empfingen - mit Küssen allerdings ganz anderer Art, die durch die Franzosen zu weltweiter Berühmtheit gelangt waren.
Die Stadt der Liebe, dachte Sydney wehmütig.
Es war nicht etwa so, dass sie keinen Freund wollte. Doch bis vor gar nicht allzu langer Zeit hatte es für sie so ausgesehen, als wäre sie für alle Typen, die sie auch nur halbwegs interessant fand, schlichtweg unsichtbar. Und nun, da sie allmählich anfingen, von ihr Notiz zu nehmen, gab es niemanden, aus dem sie sich irgendetwas machte.
Na ja, bis auf einen vielleicht. Allerdings kenne ich Noah Hicks kaum.
Agent Hicks war etwa sechs oder sieben Jahre älter als Sydney und nahm beim SD-6 eine viel zu hochrangige Stellung ein, um sich mit einem einfachen weiblichen Rekruten abzugeben. Aber das hatte Sydney nicht davon abgehalten, bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu versuchen, mehr über ihn in Erfahrung zu bringen. Rein optisch wirkte er ebenso attraktiv wie draufgängerisch -ein bisschen wie der süße Typ von nebenan, der bei einer Prügelei kräftig mitgemischt und ordentlich eingesteckt hatte -, doch der Grund, warum Sydney sich zu ihm hingezogen fühlte, war nicht sein gutes Aussehen. Es war seine Ausstrahlung, die Art und Weise, wie er sich bewegte, wie er ging, immer ein wenig aufrechter als die anderen und immer eine Winzigkeit schneller. Selbst wenn er lachte, blieben seine durchdringenden braunen Augen stets wachsam. Und als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, während eines Krav-Maga-Trainings beim
SD-6, war sie von der Präzision und Kraft seiner Tritte und Schläge fasziniert gewesen.
Das ist ein Mann, erinnerte sie sich des ersten Gedankens, der ihr damals durch den Kopf gegangen war, keiner dieser Milchbärte vom College. Noch jetzt, als sie durch die Ankunftshalle des Orly-Flughafens schritt, schoss ihr bei der Erinnerung die Röte ins Gesicht.
Sie hatte nur ein einziges Mal mit Noah gesprochen, und das auch nur ganz kurz. Er hatte zu dem Team gehört, das sie vor der Halle eingesammelt hatte, als die Dinge nach dem Sandoval-Konzert eskaliert waren. Damals hatte er ihr gerade mal seinen Namen genannt und sich dann sogleich die Verletzung an ihrer Hand angesehen. Ein physischer Kontakt, wie er flüchtiger kaum sein konnte und doch allemal ausreichend, um der Frage Nährboden zu geben, ob es vielleicht doch mehr sein konnte als rein berufliches Interesse, was er für sie empfand? Und nun hielt sie jedes Mal, wenn sie sich im Hauptquartier des SD-6 befand, Ausschau nach einem Typen mit kurzem, gewelltem braunem Haar, einer ungewöhnlichen Narbe unter dem Kinn und einem Charisma, das bereits den Raum erfüllte, während er selbst noch draußen stand.
Nachdem sie endlich den Ausgang erreicht hatte, trat Sydney aus dem Terminal und schaute blinzelnd in die Sonne eines milden Pariser Nachmittags.
Wartende Taxis schoben sich Stoßstange an Stoßstange voran, während ein Flughafenangestellter die aus dem Gebäude strömenden Fahrgäste ordnungsgemäß dem nächsten freien Wagen zuwies. Sydney steuerte das Taxi an, das der Geste des Mannes nach offenbar ihr zukam. Sogleich sprang der Fahrer heraus, um ihr das
Gepäck abzunehmen, wofür Sydney ihm aufrichtig dankbar war.
»Merci beaucoup«, sagte sie, nachdem er ächzend ihren Koffer im hinteren Teil des Wagens verstaut hatte.
Er lächelte und stieß irgendetwas auf Französisch hervor.
»Ahm... Plaza Athenee«, entgegnete Sydney in der Hoffnung, dass er sie nach der Adresse gefragt hatte, zu der er sie bringen sollte.
Offenbar schien ihn die Antwort zufrieden zu stellen. Dergestalt ermutigt begann er, während er die hintere Fahrgasttür öffnete und ihr beim Einsteigen behilflich war, munter draufloszuschwatzen, und die ganze Zeit über, die er benötigte, um sich hinters Lenkrad zu klemmen und in den fließenden Verkehr einzufädeln, riss die leider etwas einseitig verlaufende Konversation nicht ab.
»Je suis desolée. Je ne parle pas français«, warf Sydney irgendwann mit einem verlegenen Lächeln ein, womit sich auch bereits ihr gesamtes Repertoire an zusammenhängenden französischen Sätzen restlos erschöpfte.
Doch obgleich sie ihn soeben davon in Kenntnis gesetzt hatte, dass sie des Französischen nicht mächtig war, lachte der Mann nur und redete hemmungslos weiter. Sydney nahm an, dass er ihr einen Vortrag über die Gegend hielt, durch die sie gerade fuhren, doch ebenso gut hätte er ihr einen schmutzigen Witz erzählen können, sie hätte den Unterschied nicht gemerkt. Zuerst versuchte sie noch angestrengt, in dem Wortschwall die eine oder andere bekannte Vokabel auszumachen, doch bald schon nahmen die Bilder, die draußen an ihr vorüberzogen, sie so sehr gefangen, dass das Geplapper des Fahrers über sie hinwegwehte wie ein sanfter Frühlingswind. Sie war in Paris, und jemand sprach auf Französisch zu ihr, und auch wenn sie nichts von dem, was der Mann ihr erzählte, verstand, was spielte das schon für eine Rolle? Sie würde einfach alles gierig in sich aufsaugen und die neue Erfahrung genießen.
Die Autobahn, auf der sie das Flughafengelände verlassen hatten, wich bereits nach kurzer Zeit dem verwirrenden Verkehrsnetz einer Metropole, das immer labyrinthartiger wurde, je näher sie der Innenstadt kamen. Nicht eine Straße schien im rechten Winkel abzuzweigen und jede Kreuzung Dreh-und Angelpunkt einer völlig außer Rand und Band geratenen Blechlawine zu sein. Autos schossen von allen Seiten in den Kreisverkehr hinein und rasten, häufig begleitet von lautem Reifengequietsche und wütendem Gehupe, in irgendeine andere Richtung wieder hinaus. Offenbar wussten die Autofahrer von Paris ganz genau, wohin sie wollten -und erwarteten von jedem anderen Verkehrsteilnehmer, unverzüglich Platz zu machen.
Schließlich gab Sydney es auf, sich den verworrenen Weg, den der Taxifahrer durch das Großstadtgewimmel nahm, merken zu wollen und konzentrierte sich stattdessen auf die Sehenswürdigkeiten, die sich ihren Blicken boten. Einen Friedhof und mehrere Parks hatte sie bereits entdeckt; nun fuhr das Taxi eine breite Allee entlang, die von pittoresken Geschäften gesäumt wurde. Kirchturmspitzen erhoben sich hoch über die Dächer der Stadt und erinnerten an die glanzvolle Geschichte dieses Brennpunkts der Alten Welt.
Ich wünschte, wir könnten am Eiffelturm vorbeifahren, dachte sie, doch sie widerstand der Versuchung, den Fahrer zu bitten, einen kleinen Umweg zu machen. Ihre Rolle war die einer reichen, weltgewandten Touristin; sie musste unbedingt damit aufhören, wie ein Landei aus dem Fenster zu glotzen. Vielleicht komme ich später dazu, ihn mir anzusehen, tröstete sie sich selbst. Und den Louvre, und die Seine, und Notre Dame.
Vielleicht habe ich aber auch keine einzige freie Minute und werde gar nichts sehen.
Frustriert lehnte sich Sydney in ihrem Sitz zurück. Was auch immer sie für Wilson in Paris erledigen sollte, es war ganz gewiss wichtiger als Sightseeing. Sie fuhr sich mit den Fingern über das Schlüsselbein und ertastete ihr winziges neues Muttermal. Die Hightech, die sich unter der kleinen Hautunebenheit verbarg, gab ihr ein Gefühl von Sicherheit.
»Voici la Tour Eiffel«, verkündete in diesem Moment der Fahrer und zeigte auf die Windschutzscheibe.
Sydney rutschte auf dem Rücksitz so weit nach vorn, wie es ging. Dort, weit vor ihnen, erhob sich eine verwinkelte Struktur aus Eisenträgern in den Himmel, die anderen Gebäude der Stadt überragend wie ein riesiges Ausrufezeichen.
»Jetzt weiß ich, dass ich wirklich in Paris bin.« Zufrieden seufzte sie auf.
Der Mann lachte und begann etwas herunterzurasseln, von dem sie annahm, dass es sich um Fakten und Geschichten rund um das weltbekannte Wahrzeichen der Stadt handelte. Und die ganze Zeit über hielten sie genau darauf zu, bis die Antennenspitze aus ihrem Blickfeld verschwand und die weit gespannten mächtigen Stützkonstruktionen am Boden in Sicht kamen. Schließlich waren sie so nah herangekommen, dass sie das Fenster herunterkurbeln und den Kopf hinausstecken musste. Weit, weit hinauf wuchs der berühmte eiserne
Turm, so gewaltig und hoch, dass es schlichtweg überwältigend war.
Jäh bog das Taxi in eine abzweigende Straße ein und gleich darauf in die nächste. Dann gelangten sie auf eine Brücke.
»La Seine«, erklärte der Fahrer stolz und lächelte Sydney im Rückspiegel an. Sie fuhren über einen der berühmtesten Flüsse der Welt.
Die Seine, mehr grün als blau, lag glitzernd im Sonnenschein, und farbenprächtige Schiffe und Boote bevölkerten den Strom auf ganzer Breite flussauf und flussab. Die Ufer waren beinahe restlos mit Gebäuden und Gehwegen erschlossen, dennoch verbreitete der Fluss immer noch seinen unverwechselbaren Charme. Auch einige Grünflächen und Anlegestellen konnte Sydney erkennen, und in der Ferne ein paar weitere Brücken.
Am anderen Ufer des Flusses angekommen, änderte der Taxifahrer abermals die Richtung, bog in eine im spitzen Winkel abgehende Straße ein und hielt kurz darauf vor einem beeindruckenden Hotelpalast an. Über jedem einzelnen Fenster des aus honigfarbenem Backstein errichteten mehrstöckigen Gebäudes flatterte eine rote Markise im Wind, und große Kästen mit farblich dazu abgestimmten Blumen schmückten die Balustrade eines jeden Balkons. Die beiden massiven, unregelmäßig geformten Kuppeln, die den Eingangsbereich des Hotels überdachten, wirkten auf Sydney wie die aufgeklappten Hälften einer riesigen Auster.
Der Taxifahrer drehte sich zu ihr herum. »Nous voici! Plaza Athenee!«, sagte er und wies nicht ohne Stolz auf das prächtige Quartier.
Im nächsten Moment war bereits der Hotelportier zur Stelle, um ihr beim Aussteigen zu helfen. Wie benommen bezahlte Sydney das Taxi, während ihr Gepäck bereits aus dem Kofferraum geholt wurde und seinen Weg in die Nobelherberge nahm.
»Merci«, sagte sie zu dem Fahrer und gab ihm ein großzügiges Trinkgeld. »Au revoir.«
Der Mann hob zum Abschied die Hand und stieg wieder in seinen Wagen. »Einen schönen Aufenthalt noch!«, rief er und brauste davon.
»Er kann Englisch!«, stöhnte Sydney, als ihr klar wurde, dass der Taxifahrer sie die ganze Zeit zum Narren gehalten hatte. Wenn sie daran dachte, was ihr auf der Fahrt hierher alles an Informationen durch die Lappen gegangen war, wurde ihr ganz schlecht. Vielleicht hätte sie ihn einfach darum bitten sollen, Englisch zu sprechen.
In Zukunft wird der erste Satz, den ich in einer Fremdsprache lerne, >Sprechen Sie Englisch?< sein, nahm sie sich vor. Und je eher, desto besser.
Am Hoteleingang hielt der Portier immer noch die Tür für sie auf. Den Taxifahrer Taxifahrer sein lassend, schritt sie unter den beiden »Muschelhälften« hindurch auf das gläserne Doppelportal zu.
Das Interieur des Plaza Athenee war noch weitaus luxuriöser, als das Äußere versprach. Unwillkürlich zog Sydney die Luft ein, als sie das prachtvolle Foyer betrat. Sie kam sich vor wie Aschenputtel auf dem Festball. Das konnte doch nicht sein, dass sie hier wohnen sollte. Wilson hatte nicht gelogen, als er das Athenee als »piekfein« bezeichnete, aber ihrem ersten Eindruck nach war das Hotel bei weitem mehr als nur das. Von allen Seiten wehte ihr der Hauch von Vergangenheit entgegen, von Tradition, von Paris und von Haute Couture. Einen kurzen Augenblick lang zögerte sie, kam sich wie ein Eindringling vor. Doch dann warf sie den Kopf zurück, strich sich noch einmal über ihren Chanel-Pullover und begab sich entschlossen zur Rezeption.
»Hallo«, warf sie dem Empfangschef entgegen, selbst ein wenig überrascht von dem leicht herrischen Tonfall in ihrer Stimme. »Ich habe ein Zimmer reserviert. Carrie Wainwright.«
»Oh, Mrs. Wainwright!«, erwiderte der Mann. »Herzlich willkommen im Plaza Athenee. Ich werde sogleich den Pagen anweisen, Sie in Ihre Suite zu führen.«
Sydney schenkte dem Empfangschef ein wohlwollendes Lächeln und folgte gnädig dem herbeigeorderten Pagen, doch ihr Herz und ihre Gedanken schienen miteinander um die Wette zu rasen, als sie den Fahrstuhl betrat.
Hat der Typ mich gerade Mrs. Wainwright genannt?
Wenn Carrie Wainwright als verheiratete Frau auftreten sollte, hätte Wilson es sicher erwähnt. Zudem war die Muttersprache des Hotelangestellten zweifellos Französisch. Wahrscheinlich hatte er sich ganz einfach nur versprochen.
Natürlich, dachte Sydney erleichtert. So muss es sein.
Ihre Absätze sanken bei jedem Schritt tief in den Teppich ein, während sie dem Pagen durch den Hotelflur folgte, und das Gehen fiel ihr zunehmend schwerer. Allmählich begannen der Zwölf-Stunden-Flug, die neun Stunden Zeitverschiebung und die Tatsache, dass sie seit einer halben Ewigkeit kein Auge mehr zugetan hatte, ihren Tribut zu fordern, während das Koffein und die Aufregung, die sie bislang wach gehalten hatten, sich komplett verflüchtigt zu haben schienen und sie zurückließen wie eine bis zum Zerreißen gespannte Saite.
»Voilà.« Der Hotelpage blieb vor einer der Türen stehen. Dann klopfte er zu Sydneys Verwunderung an.
Was glaubt er, wer uns hereinbitten wird?
Eine Sekunde später wurde ihre Frage beantwortet, als ein Mann von innen weit die Tür aufriss.
»Hallo, Liebling!«, rief er, trat auf den Flur hinaus und drückte ihr auf jede Backe ein Küsschen. »Hattest du einen angenehmen Flug?«
Für einen Moment war Sydney sprachlos, ja, fast geschockt. »Aber. «
»Was aber? Wen hast du denn erwartet? Deinen anderen Ehemann vielleicht?«, fragte er augenzwinkernd und lachte, wohl eher dem Hotelpagen zuliebe.
Nachdem er dem Pagen rasch ein Trinkgeld in die Hand gedrückt hatte, manövrierte er Sydney mit sanftem Nachdruck in das Zimmer und schloss die Tür. Erwartungsvoll drehte er sich zu ihr um, doch das Einzige, wozu sie in der Lage war, bestand darin, ihr Gegenüber sprachlos anzustarren.
»Sie wirken überrascht«, sagte er ruhig.
Überrascht? Das ist noch harmlos ausgedrückt.
Ihr neuer Partner war Noah Hicks.