KAPITEL 9

Es war bereits Abend geworden, als Sydney und Noah aus dem Taxi stiegen, das sie zurück an die Seine gebracht hatte.

Lichter glitzerten auf dem Fluss, Tausende und Abertausende von tanzenden hellen Pünktchen, hervorgerufen von den Häusern und erleuchteten Gebäuden am Ufer, den Brücken, Anlegestellen und den zahlreichen Schiffen, die immer noch auf dem tiefdunklen Wasser des Stroms auf und ab fuhren. Die meisten der Schiffe waren groß und voller Touristen, doch Sydney konnte auch einige Frachter und ein paar kleinere, schnellere Boote ausmachen, die, wie sie annahm, vermutlich irgendwelchen gut betuchten Ansässigen gehörten, denen der Sinn nach Zerstreuung stand.

Noah bedeutete ihr, ihm hinunter zu einem Anlegesteg zu folgen.

»Kommen Sie«, sagte er. »Wir machen eine kleine Bootsfahrt.«

»Von hier aus?«

Der Pier, den Noah für sie ausgeguckt hatte, war weder auffallend stark frequentiert noch sonderlich hell erleuchtet, lediglich ein paar kleine Boote dümpelten festgezurrt längsseits des Stegs vor sich hin. »Die großen Touristenschiffe legen aber dort drüben an«, bemerkte sie und wies auf das andere Ufer.

»Wir suchen etwas, das ein wenig. privater ist«, erklärte er leicht gereizt. Er wandte sich um und marschierte entschlossen hinunter zum Pier, wobei die große Einkaufstüte, die er trug, bei jedem Schritt gegen sein Bein schlug. Sydney musste sich beeilen, um mit ihm mitzuhalten.

Von dem Moment an, als sie sein Paket in dem Antiquitätenladen abgeholt hatten, hatte sich sein Verhalten grundlegend verändert. Er wirkte angespannt, war wieder ungeduldig und barsch - ganz der Typ, der ihr heute Morgen so sehr auf die Nerven gegangen war. Doch diesmal wurde ihr etwas bewusst: Nicht sie war der Grund dafür, dass er sich so merkwürdig benahm, sondern ihre Mission. Wenn ihr Partner seinen Job machte, blieb offenbar wenig Raum für andere Dinge.

Noah blieb vor dem ersten Boot, auf dem sich jemand an Bord befand, stehen und bellte irgendeine Frage auf Französisch hinüber. Der Mann, der gerade dabei war, eine Luke zu säubern, unterbrach seine Arbeit und starrte Sydney und Noah an, als kämen sie von einem anderen Stern. Dann schüttelte er den Kopf und machte eine abwehrende Handbewegung. Unbeirrt stapfte Noah weiter den Steg hinunter.

»Was haben Sie zu ihm gesagt?«, fragte Sydney, während sie versuchte, mit ihm Schritt zu halten, doch er ging einfach weiter.

Am Ende des Piers lag, träge in den Kielwasserwellen vorbeifahrender Schiffe auf und ab schaukelnd, ein graues Kabinenboot vertäut. Die sich bereits vom Rumpf ablösende Farbe gab allen Grund zu der Annahme, dass es bereits bessere Tage gesehen hatte. Auf Deck saß zurückgelehnt auf einem Klappstuhl ein Mann, der seinen Wein direkt aus der Flasche trank.

»Bonsoir!«, rief Noah ihm zu. »Ca va?«

Aus trüben Augen spähte der Mann in der einsetzenden Dunkelheit zu ihnen hinüber, dann erhob er sich auf unsicheren Beinen von seinem Stuhl. Die Sachen, die er anhatte, waren zerschlissen und schmutzig, und auf seinem T-Shirt prangte ein großer,

dunkler Rotweinfleck.

»Er ist betrunken«, flüsterte Sydney angewidert.

Noah lächelte humorlos. »Und abgebrannt. Zwei Punkte für uns.« Sydney auf dem Steg zurücklassend, sprang er an Bord und begann mit dem Mann zu reden.

Was immer Noah ihm auch erzählte, es schien dem Mann zu gefallen. Zwar unterbrach er Noah des Öfteren und machte dem Tonfall nach irgendwelche Einwände geltend, doch in seine Augen war ein Glitzern getreten, das seine heimliche Freude verriet. Wenige Augenblicke später zog Noah ein Bündel Geldscheine aus der Tasche und drückte sie dem Mann in die Hand. Ungläubig starrte der alte Säufer auf das Geld und versuchte dann so eilig von dem Boot herunterzukommen, dass er um ein Haar in die Seine gefallen wäre. Als er auf dem Pier an Sydney vorbeischwankte, zog er eine überwältigende, nach Schweiß und billigem Fusel riechende Dunstwolke hinter sich her.

»Bonsoir«, lallte er noch mit einem niederträchtigen Blinzeln, bevor er torkelnd in der Nacht verschwand.

»Kommen Sie schon. Steigen Sie ein«, forderte Noah Sydney auf und reichte ihr seine Hand.

Sie ergriff seinen Arm und kletterte an Bord. »Was haben Sie gemacht? Das Boot gekauft?«

»Sagen wir einfach, wenn der Alte es morgen hier wieder findet, wird er es als Bonus betrachten.«

»Aber wir bringen es doch zurück, oder?«

»Kann ich jetzt noch nicht sagen. Sind Sie in der Lage, so ein Boot zu steuern?«

»Das ist nicht Ihr Ernst.«

Abermals sah er sie mit seinem 007-Blick an. Wenn es um so alltägliche Dinge wie Essengehen und Stadtbesichtigung ging, war Noah ein Ausbund an Charme und

Gelassenheit. Doch sobald es den Job betraf, war er so ungenießbar wie ein altes französisches Baguette.

»Es ist Ihr Ernst«, murmelte sie resigniert. »Na großartig. Zeigen Sie mir, wie man das Ding in Gang bringt.«

Sydneys Erfahrung mit Schiffen beschränkte sich auf Ruderboote, Kanus und einen eintägigen Crashkurs in Schnellbootfahren beim SD-6. Doch die Seine war ein großer Fluss, und was Noah da für sie gemietet, gekauft oder geborgt hatte, sah nicht eben nach einem Rennboot aus.

Wenn ich erst mal die richtige Richtung habe, was soll da noch groß schief gehen?, versuchte sie sich selbst Mut zu machen.

Noah warf den altersschwachen Schiffsmotor an und verschwand mit seinem Paket in der Kabine. Sydney konnte ihn dort unten in der Dunkelheit herumrumoren und leise vor sich hin fluchen hören, während sie ein paar herumliegende Sachen beiseite räumte. Das Boot wurde von Deck aus gesteuert, und sie verspürte wenig Lust, sich während irgendwelcher eiligen Manöver auch noch mit umherkullernden Weinflaschen herumschlagen zu müssen.

»Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie es da unten riecht«, rief sie Noah durch die offene Luke zu.

Endlich ging in der Kabine ein Licht an, und Noah tauchte am unteren Ende der kleinen Einstiegsleiter auf. »Ich glaube nicht, dass Sie sich das wirklich vorstellen können. Also, können wir jetzt abfahren, oder was?«

Sydney kreuzte ihre Finger. »Von mir aus kann's losgehen.«

Mit vereinten Kräften legten sie vom Pier ab, und Sydney steuerte das Boot hinaus auf den Fluss. Mit jedem weiteren Meter, den sie zwischen sich und das Ufer brachten, schien Noahs Anspannung nachzulassen. Schließlich lehnte er sich, nun wieder die Ruhe selbst, lässig gegen die Außenwand der Kabine.

»Sie brauchen nicht mitten auf den Fluss hinauszufahren. Halten Sie sich auf dieser Seite und schippern Sie einfach ein bisschen herum. Wir haben es jetzt nicht mehr eilig.«

»Warum überhaupt das Boot?«, fragte Sydney nach einer Weile.

»Das Paket, das wir abgeholt haben, enthält das Empfangs-und Wiedergabegerät für die Wanzen und Kameras, die Sie bei Monique Larousse hinterlassen haben. Alles, was von ihnen seit heute Vormittag aufgezeichnet worden ist, wartet darauf, heruntergeladen zu werden. Und um das zu tun benötige ich einen absolut sicheren Ort. Einen Flecken, an dem wir ungestört sind. Und unbeobachtet.«

Er spähte den Fluss hinauf und hinab. Mittlerweile war es Nacht geworden, und kein weiteres Boot befand sich in ihrer Nähe.

»Der hier scheint mir für unsere Zwecke genau richtig sein. Wenn man mal von dem Gestank absieht«, fügte er hinzu. »Erinnern Sie mich daran, dass ich, wenn ich da unten mit allem fertig bin, diese Klamotten verbrenne.«

Sydney grinste. »Armer Noah.«

»Wie auch immer. Hören Sie, entfernen Sie sich nicht zu weit vom Ufer, aber halten Sie trotzdem immer genügend Abstand. Ich möchte nicht, dass irgendwer mehr von unserem kleinen Ausflug auf der Seine mitbekommt als nötig. Halten Sie die Augen auf und achten Sie auf alles und jeden, verstanden?«

»Wird gemacht.« Sie hielt das Steuer immer noch so fest umklammert, dass ihre Knöchel weiß hervortraten, doch sie spürte, wie in diesem Moment ihre Zuversicht wuchs.

»Alles klar«, rief Noah. »Ich werde jetzt das Gerät aufbauen. Rufen Sie mich, wenn Sie irgendetwas sehen.«

»Keine Sorge.«

In dem schwachen Schein der kleinen Lampe, die Noah in der Kabine angemacht hatte, konnte Sydney durch die Einstiegsluke sehen, wie er den schmalen Tisch in der Mitte freiräumte, der voller Pappschachteln und Plastikbehälter mit altem, vergammeltem Essen lag. Allein schon bei dem Gedanken an den fürchterlichen Gestank, der dort unten herrschen musste, wurde Sydney schlecht. Doch Noah schien unbeeindruckt: Ein Teil nach dem anderen landete in hohem Bogen in der bordeigenen Spüle. Dann stieß er einen Haufen schmutziger Wäsche von der zum Tisch gehörenden Sitzbank, ließ sich auf ihr nieder und widmete sich seinem Paket.

Das Gerät, das er daraus hervorholte, sah aus wie ein Laptop, an dem ein großer Kopfhörer hing. Noah setzte die Kopfhörer auf, kauerte sich vor das schwach leuchtende Computerdisplay und begann auf der Tastatur zu tippen. Er wandte Sydney sein Profil zu, doch sie konnte nur wenig von dem erkennen, was sich auf dem Bildschirm abspielte. Bald schon gab sie den Versuch auf. Was immer er dort unten tat, er würde vermutlich eine ganze Weile damit beschäftigt sein. In der Zwischenzeit hatte sie ein Boot zu steuern.

Kaum eigene Fahrt machend, trieb das Schiff den Fluss hinab, während Sydney nach allem Ungewöhnlichen Ausschau hielt. Während einer nächtlichen Fahrt auf der Seine fiel es nicht schwer nachzuvollziehen, warum Paris auch »Die Stadt der tausend Lichter« genannt wurde. Die Gebäude am Ufer flimmerten förmlich in dem Glanz prachtvoller Illuminierung, und Touristenschiffe richteten die grellen Kegel ihrer Scheinwerfer auf alles, was nicht ohnehin schon leuchtete wie ein Weihnachtsbaum.

Rote und grüne Signallampen blinkten auf kleineren Booten ähnlich dem ihren, und jedes noch so kleine Funkeln brach sich auf dem sanft dahinströmenden Wasser der nachtschwarzen Seine. Es lag etwas unendlich Friedliches darin, langsam den Fluss hinabzudriften und die kühle Nachtluft zu genießen.

Zumindest bis zu dem Augenblick, als Sydney bemerkte, dass sie direkt auf eine Flussgabelung zusteuerten.

»Noah!«, rief sie, unschlüssig darüber, was sie nun machen sollte.

Er sprang so jäh auf, dass er heftig mit dem Kopf an die niedrige Kabinendecke stieß. »Was ist los?«

»Vor uns gabelt sich der Fluss. Wo soll ich lang?«

Er machte Anstalten, ihr zu Hilfe zu eilen, doch als er vernahm, was ihr Problem war, stöhnte er verärgert auf. »Und deshalb bescheren Sie mir beinahe einen Herzinfarkt?«, schimpfte er. »Ist mir egal. Treffen Sie eine verantwortungsbewusste Entscheidung.«

Sie nickte und riss das Steuer nach rechts. Noah wandte sich wieder seinem Überwachungsgerät zu.

»Schon irgendwas Brauchbares entdeckt«, fragte Sydney, bevor er sich wieder die Kopfhörer aufsetzen konnte.

»Bis jetzt noch nicht. Ich hab die Fotos durchgesehen, die Sie mit Ihrem Ohrring gemacht haben - von den Verkäuferinnen und von Monique Larousse -, und sie dem SD-6 übermittelt, damit man dort überprüfen kann, ob eine dieser Personen in unserer Datenbank bekannter Agenten auftaucht.«

»Monique Larousse? Aber ich bin ihr doch nie begegnet.«

»Schwarzhaarige Puppe? Die mit dem Nacht-der-lebenden-Toten-Teint?«

»Das war Monique Larousse?«, fragte sie verblüfft und erinnerte sich nun wieder an die äußerst übellaunige Frau, die sie nur für einen kurzen Moment gesehen hatte.

»Ein paar von den Kameras, die Sie positioniert haben, funktionieren nicht«, fuhr Noah fort.

»Was meinen Sie damit, sie funktionieren nicht?«, brauste sie auf. »Ich habe sie ordnungsgemäß angebracht!«

»Wahrscheinlich haben Sie das. Aber diese Technologie ist noch nicht ganz ausgereift. Sehen Sie, so winzig kleine Kameras.« Er zuckte mit den Schultern. »Manchmal gehen sie einfach kaputt. Manchmal stößt jemand, ohne es zu merken, dagegen. Und manchmal kommt es zu irgendwelchen Störungen.«

»Was für Störungen?«

»Lassen Sie mich das hier zuerst einmal fertig machen, okay? Danach werde ich Ihnen alles erklären, was Sie wissen wollen.« Im nächsten Moment saß der Kopfhörer erneut auf seinem Kopf, und Noah war wieder ganz in seine Arbeit vertieft.

Ein großes Touristenschiff hatte zu ihnen aufgeholt und setzte gerade zum Überholen an. Sydney steuerte ein wenig näher zum Ufer und ließ es passieren. Das Schiff befand sich bereits ein gutes Stück vor ihnen, als plötzlich dessen Scheinwerfer aufflammten und die Turmspitzen einer prächtigen Kathedrale erhellten. Vor lauter Ehrfurcht hielt Sydney den Atem an.

»Meine Damen und Herren, Notre Dame«, schallte es von den Lautsprechern des Touristenschiffes zu ihr herüber, doch Sydney hätte dieses Hinweises nicht bedurft. Die alte Kathedrale bot in dem um sie herumgeisternden Scheinwerferlicht einen schier unglaublichen Anblick, wuchs und türmte sich immer höher und weiter in den Himmel hinauf, je näher sie herankamen. Sydney stellte sich die unzähligen geplagten Arbeiter vor, die dies alles vollbracht und ihr Leben einem Traum gewidmet hatten, den vollendet zu sehen den meisten in ihrem kurzen Dasein versagt geblieben war. Diese Generationen gottgläubiger und mörderisch hart arbeitender Menschen hatten etwas geschaffen, das sich in seiner Schönheit und Erhabenheit scheinbar über alles Irdische erhob.

»Hey, was sagen Sie dazu?«, rief Noahs Stimme sie wieder in die Gegenwart zurück. »Ich glaube, ich hab Ihr Paket gefunden.«

»Das aus dem Lieferwagen?«, fragte sie aufgeregt.

»Sehen Sie selbst.«

Er hob das Überwachungsgerät vom Tisch, kam damit zur Einstiegsluke hinüber und hielt den Bildschirm so, dass Sydney ihn gut sehen konnte. Dann drückte er eine Taste, und ein Videofile-Ausschnitt wurde gestartet.

In dem Wiedergabefenster tauchte die verlassene Kellertreppe des Modehauses auf. Plötzlich öffnete sich eine der seitlichen Türen, und ein großer und kräftiger glatzköpfiger Mann trat in den Flur, auf den Armen ein längliches, in Plastikfolie gewickeltes Paket.

»Das ist Arnaud, und das ist das Paket!«, rief Sydney aus.

»Schauen Sie weiter«, forderte Noah sie auf.

Arnaud machte ein paar Schritte auf die Innentreppe zu, schien dann jedoch zu zögern. Im nächsten Moment legte er seine Last auf dem Boden ab und machte sich daran, die schwarze Plastikfolie zu entfernen. Sydney beugte sich ein wenig vor und sah etwas Rotes aufblitzen, bevor Arnaud mit einem Ruck den Rest der Folie herunterriss und einen langen und schweren dunkelroten Stoffballen zutage förderte.

»Na toll«, ächzte sie enttäuscht auf. »Das sollten wir aber schleunigst dem Hauptquartier melden.«

»Er kommt später noch einmal zurück und schafft die Plastikfolie nach draußen. Ich schätze, um oben keinen unnötigen Ärger zu bekommen - wovon wir allerdings ohnehin nicht viel mitbekommen hätten, denn oben funktioniert keine einzige Kamera.«

»Nicht eine?«

»Nein. Wir haben nur diese hier und die im Treppenhaus. Und weder die eine noch die andere hat irgendwelche interessanten Erkenntnisse erbracht.«

»Finden Sie das nicht ein bisschen seltsam?«, fragte sie. »Ich meine, dass alle drei Kameras im Erdgeschoss ausgefallen sind, während ausgerechnet die beiden, die sich nicht dort befinden, anstandslos funktionieren?«

Noah nickte nachdenklich. »Ja. Das ist in der Tat ein bisschen seltsam. Es gibt Mittel und Wege, die Übertragung von Kamerasignalen zu unterbinden. diverse Störsender zum Beispiel. Auch der SD-6 besitzt einige von diesen Dingern, aber nur welche mit sehr geringer Reichweite und einer zeitlichen Kapazität von lediglich ein paar Minuten am Stück. Wir haben nichts, mit dem man eine komplette Etage ins graue Dunkel tauchen könnte, und das gleich für mehrere Stunden.« Er machte eine Pause, bevor er zerknirscht hinzufügte: »Zumindest nichts, von dem ich weiß.«

»Wenn wir so etwas hätten, wüssten Sie davon, davon

bin ich überzeugt.«

Ein schiefes Grinsen erschien auf Noahs Gesicht. »Sie sind so naiv«, sagte er. »Vergessen Sie nicht, dass es das Geschäft der CIA ist, Informationen zu sammeln, und nicht, sie herauszugeben - nicht einmal an uns. Manchmal habe ich das Gefühl, je mehr ich erfahre, desto weniger blicke ich durch.«

»Also, was machen wir?«, fragte Sydney. »Noch mal hin und weitere Kameras verstecken?«

»Vielleicht. Hier, setzen Sie das mal auf«, sagte er und reichte ihr den Kopfhörer. »Ich hab hier noch eine merkwürdige Sache.«

Sydney ließ das Steuerrad gerade lange genug los, um nach dem Kopfhörer zu greifen und ihn sich um den Nacken zu legen. Ohne ihren Hut abzusetzen, schob sie sich die gepolsterten Lautsprecher über die Ohren.

»Das Folgende stammt von der Abhörwanze in Ihrem Anproberaum«, erklärte ihr Noah und rief eine Sounddatei auf. »Um die Wahrheit zu sagen, ich hielt es zunächst für reine Verschwendung, dort eine Wanze anzubringen - viel zu öffentlich -, aber sie hat uns letztlich den einzigen Anhaltspunkt geliefert, den wir im Augenblick haben.«

Er startete die Wiedergabe-Taste.

Im ersten Moment war nichts zu hören als Stille. Dann nahm Sydney schwache Fußtritte wahr. Metallscharniere quietschten; eine Tür schloss sich leise. Abermals Schritte, diesmal wesentlich lauter - offenbar war jemand in den Umkleideraum gekommen. Wieder ein paar Fußtritte, gefolgt von einem schabendem Geräusch. dann nichts mehr. Noch eine geschlagene Minute verbrachte Sydney mit Lauschen, doch es war kein einziger Laut mehr zu hören.

»Was meinen Sie, was das für ein Geräusch war?«, fragte sie.

Noah schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Komisch ist vor allem die abrupte, völlige Funkstille bis zum Ende der Aufzeichnung. Als ob jemand einfach vom Erdboden verschwunden wäre.«

Mit großen Augen sah Sydney ihn an. »Dieser Agent des K-Direktorats«, erinnerte sie sich. »Der, den man hineingehen, doch nie wieder herauskommen gesehen hat.«

»Interessant, nicht wahr?«

Noah startete die Aufzeichnung erneut, damit Sydney sie sich ein zweites Mal anhören konnte. »Sie sind in diesem Umkleideraum gewesen, nicht ich«, sagte er. »Haben Sie irgendeine Idee, was in dem Zimmer so ein Geräusch verursachen könnte?«

»Nicht wirklich.« In Gedanken ging sie alle Einrichtungsgegenstände durch, die sich in dem Raum befunden hatten, als ihr Blick plötzlich auf etwas fiel, das sie alles andere schlagartig vergessen ließ.

»Noah!« raunte sie ihm eindringlich zu. »Ein Boot!«

Hinter ihnen, sich leicht links haltend, war ein kleines Boot bis auf etwa zwanzig Meter an sie herangekommen. Und im Gegensatz zu all den anderen Schiffen auf dem Fluss fuhr dieses hier völlig ohne jede Beleuchtung; nicht einmal die vorgeschriebenen Signallichter waren eingeschaltet. Der schmale Rumpf war kaum mehr als ein dunkler Schatten auf dem tiefdüsteren Wasser.

»Geben Sie Gas!«, schrie Noah und warf das Überwachungsgerät auf den Tisch in der Kabine. Die daran befestigten Kopfhörer wurden unsanft von Sydneys Ohren gerissen und polterten die Treppe hinab. Mit einem Satz war Noah am Steuerstand und drückte den Schubregler

bis zum Anschlag nach vorn.

Stotternd und Rauchwölkchen ausspuckend protestierte der Motor, bevor er aufheulend auf Höchstgeschwindigkeit ging. Sydney wurde durch die jähe Beschleunigung nach hinten gerissen und konnte sich gerade noch am Steuerrad festhalten. Ihr Hut flog über Bord und nahm die Sonnenbrille, die noch immer an ihm steckte, mit sich ins nasse Grab. Um ihr Gleichgewicht ringend, versuchte Sydney den Kurs zu halten, während sie mit Volldampf die Seine hinunter jagten.

»Ist das nicht ein bisschen zu auffällig?«, brüllte sie Noah über den Motorenlärm hinweg zu.

»Nicht, wenn sie hinter uns her sind. Yep. Wie ich's mir dachte!«

Sydney warf alarmiert einen Blick über die Schulter. Auf dem kleinen Boot hinter ihnen flammten sämtliche Lichter auf, und mit aufheulenden Maschinen nahm es die Verfolgung auf. Der Abstand, den Sydney zwischen sich und das fremde Boot gebracht hatte, wurde zusehends geringer.

»Sie müssen häufiger die Richtung ändern«, rief Noah, während er im Heck niederkniete und seine Waffe zog. »Davonfahren können wir ihnen nicht, also müssen wir sie irgendwie abhängen.«

»Wie soll ich sie denn hier mitten auf dem Fluss abhängen?«, schrie Sydney panisch zurück.

Noah hatte seine Unterarme bereits auf die hintere Reling gestützt, die Waffe auf die sich unaufhaltsam nähernden Verfolger gerichtet. »Sie sind der Steuermann. Lassen Sie sich was einfallen.«

Sydney hielt das Lenkrad fest umklammert, während beide Boote weiter den Fluss hinunterpreschten. In Anbetracht der laut röhrenden Motoren und der buchstäblichen

Welle, die sie machten, schien es so gut wie sicher, dass jeden Moment die Wasserschutzpolizei aufkreuzen würde.

Was nicht einmal das Schlechteste wäre, dachte Sydney. Zumindest würden die Beamten nicht versuchen, sie umzubringen; etwas, dessen sie sich hinsichtlich der Insassen des Bootes hinter ihnen, wer immer sie auch sein mochten, nicht so sicher war.

»Sie holen auf. Tun Sie irgendwas!«, bellte Noah sie

an.

Sydney riss das Steuer hart nach links und drehte es, Hand über Hand, so weit wie möglich herum. Das Heck des Bootes brach aus, schlingerte ein paar Mal hin und her wie der außer Rand und Band geratene Schwanz eines Fischs. Verzweifelt begann sie, gegenzulenken, doch das Boot hatte bereits eine Wende um zweihundertsiebzig Grad vollzogen und raste nun direkt aufs Ufer zu. Gerade noch rechtzeitig schaffte sie es, ihren Kamikazekurs zu korrigieren, mit dem Ergebnis, dass der Bug nun flussaufwärts wies und sie in eben die Richtung fuhren, aus der sie gekommen waren.

»Ja! Sehr gut!«, rief Noah ihr anspornend zu.

Der Puls in ihrer Halsschlagader hämmerte wie eine Nähmaschine, und wenn sie nur fünf Sekunden Zeit gehabt hätte, um über das nachzudenken, was sie hier tat, hätte sie sicher das Handtuch geworfen. Diverse Hormonausschüttungen, ausgelöst durch Angst, Stress und Panik, vermischten sich in ihrem Blut zu einem Cocktail, dessen Wirkung sie bis an ihre Grenzen trieb.

Gehetzt warf sie einen Blick nach hinten. Das andere Boot hatte ebenfalls gewendet, doch bei diesem Manöver einiges an Zeit verloren. Vor ihr teilte sich abermals der Fluss. Sydney steuerte hart nach rechts und lenkte das

Boot an einer kleinen Insel zu ihrer Linken vorbei. Das andere Boot folgte ihnen, das Manöver früh genug erkennend, ohne Probleme.

»Das ist die Île Saint-Louis«, rief Noah ihr über die Schulter hinweg zu. »Direkt dahinter kommt die Insel mit Notre Dame. Versuchen Sie zwischen beiden hindurchzukommen, vielleicht können wir die Typen so abhängen.«

Kurz darauf konnte Sydney an Backbord die schmale Passage auftauchen sehen. Das Verfolgerboot fuhr erneut mit voller Kraft und hatte bereits wieder bis auf wenige Meter aufgeschlossen. Sydney hielt die Luft an und riss das Steuer nach links. Abermals drohte das Heck auszubrechen.

»Wir schaffen‘s nicht!«, schrie sie zu Noah hinüber.

Die Wasserstraße zwischen den beiden Inseln befand sich nun in einem Winkel zu ihrem Boot, der annähernd eine volle Wende erforderlich machte, um heil auf der anderen Seite herauszukommen. Sydneys Boot würde bestenfalls neunzig Grad schaffen und dann gegen die Uferböschung krachen.

»Mehr nach links!«, brüllte Noah.

Mit aller ihr zu Gebote stehenden Kraft stemmte sie sich gegen das Steuerrad, bewegte es Stückchen für Stückchen weiter. Doch unaufhaltsam raste das Ufer näher. Doch es war nicht das sich sanft und allmählich zum Land hin erhebende Gestade eines natürlichen Flussbettes, sondern eine etliche Meter hohe Schutzmauer aus massivem Beton. Langsam schob sich der Bug ihres Bootes weiter nach links. Aber würde es reichen?

Nur knapp gelang es Sydney, eine Frontalkollision mit der Insel zu vermeiden, doch das Heck ihres Bootes geriet einmal mehr ins Schlingern und knallte gegen die

Mauer. Von dem Aufprall zu Boden gerissen, schlug Sydney auf dem rauen Deck der Länge nach hin und schrammte sich Hände und Beine auf, während das Boot führerlos durch die Flussenge taumelte.

Noah sprang auf und übernahm das Steuer. »Sind Sie okay?«, rief er.

Sydney kam auf die Knie und blickte nach hinten. Das Verfolgerboot hatte offensichtlich die gleichen Probleme, an der Insel vorbeizukommen, wie sie, doch aufgrund seiner hohen Geschwindigkeit weitaus weniger Glück. Mit voller Wucht krachte es mit der Breitseite gegen die Kaimauer, wurde bis in die Mitte des Flusses zurückgeschleudert und ging in Flammen auf.

Noah drosselte den Motor und schaute auf das brennende Wrack. »Netter Fahrstil«, meinte er ungerührt.

Sydney versuchte wieder aufzustehen, doch ihre Beine knickten unter ihr weg. Sie zitterte am ganzen Körper. An Deck kauernd sah sie dabei zu, wie die Flammen auf dem anderen Boot immer größer wurden, immer höher hinaufzüngelten in den nächtlichen Himmel.

Das hätten wir sein können, schoss es ihr durch den Kopf.

Und dann sah sie noch etwas.

Vor dem hellen Hintergrund der lodernden Flammen löste sich eine schwarze Gestalt von dem Boot, tauchte ins Wasser, erschien kurz darauf wieder an der Oberfläche und schwamm davon.

Noah war dies ebenfalls nicht entgangen, und sogleich nahm er wieder Fahrt auf, doch noch bevor er das Boot gewendet hatte, war der einsame Schwimmer bereits in der Dunkelheit verschwunden.

Mit einem grimmigen Ausdruck im Gesicht drehte Noah sich zu Sydney um.

»Okay, jetzt ist es offiziell«, sagte er. »Dies hier ist die längste Zeit ein simpler Aufklärungsauftrag gewesen.«