3. Kapitel

Der Weg nach Hause

 

Sein Heimweg führte ihn auf eine staubige Landstraße, über der die Mittagssonne flirrte. Links und rechts des Weges dehnten sich Felder mit Getreide und Gemüse. In weiter Ferne glitzerte ein schmaler Streifen und reflektierte das Licht. Das war das Meer. Lucius liebte diesen Teil des Tages, auch wenn er regelmäßig verschwitzt und staubig zu Hause ankam. Der Weg ließ ihm Zeit zum Träumen, nachdem er sich bei Schulmeister Flavius in Schreiben und Zinsrechnen geübt hatte. Der Lehrer hielt viel auf sich und seine Künste und war ein im gesamten Umkreis des Provinzstädtchens am Rande der Sabinerberge gesuchter Pädagoge. Die besser gestellten Familien der Centurios und Honoratioren der Stadt schickten ihre Kinder, die Schreibtafel unter den Arm geklemmt, in seine Stunden. Auch auf Zucht und Ordnung wurde in den Unterweisungen sehr geachtet.

Lucius fand ein Schneckenhaus, hob es vom Boden auf und betrachtete es gedankenverloren. Seit er sich erinnern konnte, lebte er mit seinem Vater und seinen beiden älteren Schwestern auf dem kleinen Landgut in der Nähe des Städtchens. Seine Schwestern drängten mit jedem Jahr entschiedener auf einen Umzug ach Rom, wo mehr Leben war und verschiedenste Dinge ihre Aufmerksamkeit auf sich zogen.

Sie sehnten sich danach, nicht nur Nachrichten von ihren Freundinnen über die letzte Mode, die neuesten Schauspieler und natürlich den unerhörtesten Klatsch zu bekommen, sondern alles hautnah selber mitzuerleben.

Ihre Freundinnen, die den Winter in der großen Stadt verbracht hatten, geizten nicht mit detaillierten Beschreibungen, was die Gespräche der Schwestern jedoch nur jedes Mal wieder mit einem Seufzen und himmelwärts verdrehten Augen enden ließ, da sie nicht dabei sein konnten.

Lucius interessierte sich seinen zehn Jahren gemäß nicht sehr für diese Themen, fand sie eher unerträglich und freute sich insgeheim, dass es die angespannte finanzielle Situation der Familie nicht erlaubte, nach Rom umzuziehen. Sein Vater sagte das den Schwestern oft genug und auch laut genug. Lucius konnte nicht umhin, über die materielle Lage im Bilde zu sein. Dennoch glaubte er manchmal, den wirklichen Grund zu kennen, weswegen der Vater lieber auf dem Gut leben wollte: seine Leidenschaft für gutes Essen ließ sich hier mit den Erträgen der eigenen Landwirtschaft und dem talentierten Koch hervorragend pflegen. Der Vater und der Koch begeisterten sich gegenseitig und ersannen immer neue Gerichte – das wäre in der Stadt zumindest schwieriger, weil dort alles teurer war, die Zutaten, aber auch der Koch.

 

Ein kleines Stück des Weges weiter fand Lucius ein zweites Schneckenhaus und verglich es mit dem ersten. Er war froh, dass sein Vater sich nicht überreden ließ. Es waren nicht die Freunde, die ihn hier festhielten, denn um ehrlich zu sein, fiel es ihm eher schwer Freunde zu finden. Am liebsten war er für sich, und verschiedene Geschichten über seine Familie, wie sie im Ort hinter vorgehaltender Hand weitergetragen wurden, führten zu einer gewissen Reserviertheit seiner Schulkameraden. Er vermisste weder Rom dort, noch Freunde hier. Er schätzte die Freiheit, die er auf dem Gut genoss, die Möglichkeiten umherzustreunen, auf Bäume zu klettern und stundenlang in Wachträumen die Blicke über die Landschaft wandern zu lassen.

Nach der nächsten Hügelkuppe konnte man das Dach des Gutshofes in der flimmernden Luft erkennen. Lucius fand noch eine Schnecke, und als er sie aufhob sah er, dass das Gehäuse noch bewohnt war. Das kleine Weichtier hatte sich beim Hochheben schnell in die Windungen seines Hauses zurückgezogen, doch jetzt, als Lucius die Schale ganz ruhig hielt, wagte es sich zögerlich wieder hervor. Haltsuchend bewegte sich der Fuß der Schnecke nach allen Seiten und berührte Lucius Finger. Angeekelt warf er das Tier zu Boden und zertrat es. Den Schleim an seiner Sandale wischte er an einem Grasbüschel ab und rannte das letzte Stück des Weges zum Haus.

Eine Sklavin erwartete ihn mit einem Becken warmen Wassers und einem Tuch. Er rieb sich den Staub aus dem Gesicht und ging zum Speiseraum, wo sein Vater bereits auf einem der Liegen Platz genommen hatte.

„Ah, mein Sohn! Wie war der Tag? Du bist heute spät nach Hause gekommen. Bist du hungrig? Komm, probier von der Vorspeise, ein neues Rezept von unserem göttlichen Koch. Man nimmt Artischocken, aber die ganz jungen, die noch kein Heu angesetzt haben, und kocht sie in Essigwasser. Dann nimmt man mehrere Eier, wobei es wichtig ist, dass man solche von eher länglicher Form wählt. Sie haben nämlich den größeren Dotter und den besseren Wohlgeschmack. Diese werden zu gerade eben fester Konsistenz gekocht und dann in Vierteln zu den Artischocken gegeben. Unser Koch hat dazu eine Sauce aus Garum, Essig und Olivenöl entwickelt - köstlich. Greif zu und lass es dir schmecken.“

Sein Vater schien ihm heute besonders redselig und seine weitschweifigen Erörterungen machten ein wenig den Eindruck, als hätte er etwas ganz anderes auf dem Herzen. Zudem war es ungewöhnlich, dass seine Schwestern nicht mit bei Tisch saßen. Lucius beschloss abzuwarten, bis sein Vater von selbst auf sein eigentliches Thema zusteuern würde.

Die Vorspeise wurde abgetragen und ein Hühnergericht folgte. Auch hier gab es wieder einige Feinheiten anzumerken:

„Der Koch hat das Hühnchen in Falernermost erstickt statt ihm einfach den Hals umzudrehen. Er sagt, dadurch bekommt das Fleisch einen besonderen Wohlgeschmack, ähnlich dem von Lerchen. Dann würzt er es mit gestampftem Pfeffer, Flohkraut und etwas Kümmel und lässt es in einer Mischung aus Garum und Wein schmoren. Ich habe beschlossen dieses Rezept „Huhn auf parthische Art“ zu nennen.“

Der Vater schien den Faden immer noch nicht gefunden haben und kaute eine zeitlang schweigend auf seinem Stück herum. Zwischendurch trank er ungewöhnlich viel von seinem gemischten Wein. Sonst hielt er sehr darauf, sich zurückhaltend und vornehm zu benehmen, obwohl er es sich in der Abgeschiedenheit seines Landgutes auch anders hätte erlauben können. Doch trotz aller ländlichen Einfachheit lebte in ihm der alte Aristokrat, so dass seine etwas unkultivierte Art dem Wein zuzusprechen, sehr schlecht zu seinem sonstigen Betragen passte. Sein Problem schien ein recht schwerwiegendes zu sein. Schuldbewusst ging Lucius im Geiste die Liste seiner möglichen Verfehlungen durch. Zum Nachtisch gab es dann glücklicherweise lediglich frisch gepflückte Maulbeeren, weshalb sich die kulinarischen Belehrungen auf den Hinweis beschränkten, dass diese noch im Morgentau gesammelt werden müssten, um ihre segensreiche Wirkungen auf die Verdauung entfalten zu können.

Als nun keinen weiteren Speisen mehr aufgetragen wurden und nichts mehr einen unverfänglichen Gesprächsstoff abgab, genehmigte sich sein Vater einen letzten tiefen Schluck aus seinem Becher um sich endlich zu seinem eigentlichen Anliegen durchzuringen.

„Ich weiß, dass ich mit den Entscheidungen, die ich in den letzten Monaten treffen musste, alle meine drei Kinder unzufrieden mache. Dennoch ist es der einzige im Moment mögliche Weg. Du weißt, dass wir erst hierher aufs Land zogen, als deine Mutter vor sieben Jahren starb. Teils um dem Trubel der Hauptstadt zu entgehen, teils um unsere Finanzen zu konsolidieren, die durch das rege Gesellschaftsleben deiner Mutter doch sehr stark angegriffen waren. Unsere finanzielle Lage hat sich in den letzten Jahren glücklicherweise etwas entspannt, und durch den Verkauf eines Teils dieser Ländereien sah ich mich instand gesetzt, ein kleineres Haus in der Hauptstadt zu kaufen.“

„Du hast unser Land verkauft?“, fragte Lucius entsetzt, weil er sein Paradies dahinschmelzen sah. Sein Vater hob beschwichtigend die Hand.

„Nun, nun! Nur einen kleinen Teil davon. Gerade du solltest dich darüber freuen, denn du bist ja der Grund dafür und der Nutznießer dieser Maßnahme.“

Der Vater blickte wohlwollend auf seinen Sohn.

„Seit einiger Zeit beobachte ich mit Freude deine geistige Entwicklung und stelle von Tag zu Tag erneut fest, dass unser Schulmeister dir nur wenig wirkliche Anregung bieten kann. Etwas weniger freudig stelle ich fest, dass du zu Eigenbrötelei neigst und dich von den Gleichaltrigen absonderst. Aber egal ob es eine feste Eigenschaft deines Charakters ist oder an den zugegebenermaßen etwas bäuerlichen Manieren deiner Kameraden liegt, dieser Neigung muss man gegensteuern. Unsere Familie war in früheren Zeiten immer an der Leitung des Staates beteiligt gewesen, und wenn auch die Neigung, sich für das Gemeinwesen zu engagieren, in den letzten Jahren - na gut, fast Jahrhunderten - etwas nachgelassen hat, so ist das dennoch kein Grund, einem viel versprechenden Knaben wie dir nicht alle Türen zu öffnen. Zumindest solltest du die Möglichkeit bekommen, die Familie wieder zu einem Faktor im römischen Staatswesen zu machen. Sollte sich bei dir keine Neigung zum cursus honorum entwickeln, so soll es denn auch gut sein. Ich will mich jedenfalls keinem Vorwurf aussetzen. Deine Schwestern bleiben hier, da das Haus das wir in Rom erworben haben nicht groß genug ist, sie mitsamt ihren Bediensteten auch noch unterzubringen. Die beiden sind bereits informiert und haben sich zum Schmollen in ihre Zimmer zurückgezogen. Wenigstens konnte ich dir so in Ruhe alles erklären. Wir beginnen morgen mit dem Umzug.“

Benommen stand Lucius auf, verneigte sich vor seinem Vater und verließ wortlos den Speiseraum. Dieser seufzte tief. Sein Sklave schenkte ihm rasch etwas Wein in den Becher.

 

Lucius ging langsam über den Hof zu den Wirtschaftsräumen. Im Innern des großen Pferdestalles herrschte dämmriges Halbdunkel. Die Luft war angenehm kühl, da die Ställe von großen Pinien beschattet waren und auf gleichmäßige Belüftung geachtete wurde. Die Pferde der Region waren in der ganzen römischen Welt hoch geschätzt, und die Konsolidierung der Finanzen war nicht zuletzt auf den kleinen aber exquisiten Zuchtbetrieb des Gutes zurückzuführen. Lucius hatte von seinem Vater vor drei Jahren einen Hengst namens Ventus bekommen. Es war ein prächtiges Tier, der Stolz der ganzen Zucht. Sie hätten eine beachtliche Summe für ihn aushandeln können, doch sein Vater befand, dass seinem Sohn wenigstens ein angemessenes Reittier zustand, quasi als Ausgleich für das provinzielle Umfeld, in dem er sich als Spross einer altadligen Familie zu bewegen hatte.

Lucius legte dem Hengst einen Halfter um, sattelte ihn und führte ihn nach draußen in das grelle Licht des Mittags. Nachdem er dem Pferd einen Augenblick Zeit gegeben hatte sich an die Helligkeit zu gewöhnen, schwang er sich in den Sattel und ritt zum Hof hinaus. Als er das freie Land erreicht hatte, ließ er das Tier in Galopp fallen. Lange streifte Lucius ziellos über das Land, um alle beschwerenden Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen. Schließlich ritt er zu seinem Lieblingsplatz, schlang Ventus’ Zügel in einen Busch  und kletterte auf den uralten Olivenbaum, der hier auf einer Anhöhe stand. Der Baum stand völlig allein auf der kleinen Kuppe, vielleicht der letzte Überlebende eines ehemaligen Hains. Vielleicht war er aber auch nur ein Wildling, dessen Früchte noch nie von Menschen gesammelt und verarbeitet worden waren, so wie sich auch jetzt niemand um den alten Baum kümmerte. Niemand außer Lucius, der den Platz über die Maßen liebte. Der alte gewundene Baum, dessen Blätter bei jedem Windstoß silbrig schimmerten, erinnerten ihn an ein Netz voller glänzender Sardinen, das Fischer an einem Sommermorgen aus dem Meer gezogen hatten und bot ihm einen Thron, wie Jupiter ihn nicht hätte großartiger aussuchen können. Über die sanft geschwungenen Hügel wanderte der Blick durch den Dunst weit bis zur glitzernden Fläche des Mittelmeeres. Der Küste vorgelagert ragten einige kleine Inseln aus dem Blau des Wassers. Hier auf der Kuppe brachte der kleinste Windhauch eine erfrischende Brise vom Meer, und Lucius meinte einen leisen Duft von Tang und Muscheln zu erahnen. Die Einsamkeit war überwältigend, und die Kargheit der Landschaft wurde durch das anhaltende Schrillen der Zikaden noch hervorgehoben. Ihr Gesang war so einförmig, dass man sich so schnell daran gewöhnte und das Geräusch erst wieder wahrnahm, wenn die kleinen Tiere nach einer wie abgesprochen wirkenden Pause ihr Konzert wieder aufnahmen.

Lucius starrte in die Luft ohne das wundervolle Bild zu würdigen. Die Nachricht, sein Zuhause aufgeben zu müssen, hatte ihn zutiefst getroffen. Was sollte Rom ihm zu bieten haben, das ihm das alles ersetzen konnte. In der stillen Landschaft empfand er seine Einsamkeit als Freiheit. Unter anderen Menschen war sein verschlossenes Wesen eine Bürde. Er fühlte die Schieflage seiner Familie nur zu gut und litt unter der hämischen Neugierde der anderen Bürger, die die Bemühungen seines Vaters belächelten, die alterwürdigen Familientraditionen auch in ihrer unbedeutenden Gegenwart zu bewahren. Er wusste trotz seiner Jugend, dass im sich explosionsartig ausdehnenden Rom jeder nach Gütern, Beute, Sklaven und Geld gierte und der Wert eines Mannes nach seinem Vermögen beurteilt wurde. Ein armer Schlucker konnte der tapferste, gebildetste und ehrenvollste Mensch sein, er würde von seinen römischen Mitbürgern doch nur mitleidige Herablassung ernten. Lucius war sich sicher, dass das, was er hier in dem kleinen Provinzstädtchen durchzustehen gehabt hatte, nur ein schwacher Abglanz dessen war, was in Rom auf ihn wartete.

Lange saß er zwischen den Ästen des alten Baumes und hing seinen Gedanken nach. Die Sonne stand bereits tief, als er sich auf den Rückweg machte. Mit hängenden Schultern saß er auf Ventus und trabte langsam nach Hause.

 

Doch sein Vater dachte nicht daran, auf die Empfindlichkeiten seines Sohnes Rücksicht zu nehmen. Am nächsten Tag begannen die Vorbereitungen für den Umzug nach Rom. Verschiedene Möbel, die Speiseliegen allen voran, Ruhebetten, Truhen mit Kleidung und Geschirr wurden auf Karren verladen und unter der Aufsicht zuverlässiger Sklaven vorausgeschickt. Es folgten Kisten mit haltbaren Nahrungsmitteln, mit Büchern und Toilettenartikeln, Decken, Kissen, Amphoren mit Wein und Olivenöl. Der Koch fuhr mit einigen Küchenjungen und mit seinen bevorzugten Gerätschaften ab. Den Abschluss machte ein Gefährt, mit dem Lucius und sein Vater in Begleitung einer kleinen Leibwache am Ende der Woche nach Rom aufbrechen würden. Eine fest verschlossene Truhe, die einen Großteil des Barvermögens enthielt, war vorbereitet und wurde nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen.

Endlich war der Tag des Aufbruchs gekommen. Früh am Morgen setzte sich die Reisegesellschaft in Bewegung. Lucius hatte langsam sogar ein wenig Vergnügen an dem ganzen Unternehmen. Nachdem sich der erste Schock gelegt hatte, sah er der Aussicht nach Rom umziehen zu können mit gespannter Erwartung entgegen.

Am Abend des zweiten Reisetages gelangten sie an die Tore der Stadt. Die Wache hielt sie auf, da sie noch bis zum Anbruch der zehnten Stunde zu warten hätten. Karrenverkehr sei zu den Tagesstunden nicht erlaubt. So kam es, dass er die ersten Eindrücke seiner neuen Heimat in der Dunkelheit erlebte. Ein ortskundiger Führer leitete sie an die angegebene Adresse, während sie sich neugierig in ihrer neuen Umgebung umsehen konnten.

Viel war nicht zu erkennen, lediglich einzelne Laternen erleuchteten ab und an einen Hauseingang oder eine Bildsäule. Hin und wieder entdeckte Luicus Frauen, die im Schein einer Laterne auf irgendetwas zu warten schienen. Da Lucius sich nicht vorstellen konnte, was sie da suchten, fragte er seinen Vater. Ein undeutliches Knurren war die Antwort. Lucius entdeckte jedoch schnell andere Dinge, die seine Aufmerksamkeit fesselten. An die stillen Nächte auf dem Land gewohnt, erschien ihm der Lärm in den nächtlichen Straßen Roms geradezu ohrenbetäubend. Da der Verkehr für Güter und Personen in die Nachtstunden verbannt war, schallte das Poltern der Fuhrwerke und die Rufe und Schimpfworte der Fuhrleute nun durch die finsteren Straßen. Aus Tavernen, die im Erdgeschoss mancher Häuser eingerichtet waren, klangen Musik und Gelächter, aber auch die schweren Stimmen Betrunkener, die sich über Nichtigkeiten stritten. Die mehrstöckigen Mietshäuser verwandelten die Straßen in Schluchten, in denen sich der Lärm fing und jedes Wort hin und her geworfen wurde.

Lucius war froh, als sie in eine ruhigere Seitenstraße abbogen und den Weg in eine kleine ansteigende Gasse einschlugen. Das Sträßchen war schmal, und kleine Häuser bildeten eine geschlossene Front, nur unterbrochen von den schweren eisenbeschlagenen Türen. Der Lärm der Hauptstraßen klang hier gedämpft herauf, die Gasse selbst lag in völliger Ruhe und Dunkelheit. An einer der Türen hielten sie an, sein Vater entlohnte ihren Führer, und ihr Hausverwalter, der geöffnet hatte, begrüßte sie mit einer tiefen Verneigung. Lucius betrat das Atrium, das mit groben Steinplatten ausgelegt war. Im weichen Licht einiger Fackeln betrachtete er das Wasserbecken, in dem zwei Fische schwammen und ging dann, der einladenden Handbewegung des Verwalters folgend, ins Speisezimmer. Die Sklaven hatten dort die alten Ruhebetten aufgestellt und einen kleinen Imbiss vorbereitet. Lucius legte sich mit seinem Vater zu Tisch, und gemeinsam leerten sie einen Becher Wein auf ihre Zukunft in der Hauptstadt. Kaum hatte Lucius einige Bissen gegessen, spürte er, dass er todmüde war. Mühsam hielt er sich aufrecht und versuchte das Gespräch in Gang zu halten. Sein Vater bemerkte seine Schwäche und sagte lächelnd:

„Mein Sohn. Die Reise war lang, und ab morgen wirst du alle deine Kräfte brauchen. Geh auf dein Zimmer und leg dich schlafen.“

Ein Sklave beeilte sich Lucius in sein Zimmer zu führen. Dort waren sein Bett und seine Kleidertruhe aufgestellt, und wenn er übersah, dass der Raum nicht halb so groß war wie sein altes Zimmer, so konnte er sich fast wie zu Hause fühlen. Bevor ihn die Müdigkeit überwältigte, dachte er mit Unruhe an die ganzen Veränderungen, die die nächsten Tage ihm wohl noch bringen würden.

 

Der nächste Morgen fand Vater und Sohn beim Frühstück vereint und in angeregten Besprechungen über die weiteren Maßnahmen, die zu ihrer Etablierung in der Hauptstadt notwendig waren. Das heißt, die zu Lucius’, Etablierung notwendig waren, denn sein Vater machte ihm gleich klar, dass er vorhatte, den zurückgezogenen Lebensstil, den er sich in der Provinz angewöhnt hatte, hier fortzuführen. Für Lucius war jedoch eine Fülle von Unternehmungen geplant: als erstes mussten Lehrer für Rethorik, Staatskunde, Rechtswesen, griechische und römische Literatur und Philosophie ausgewählt werden. Der Hausverwalter war schon seit dem frühen Morgen in Geschäften unterwegs, und auch der Vater schickte sich bald an, einen der wenigen Freunde aus alten Tagen, Quintus Cäcilius Metellus, aufzusuchen um sich bei der Wahl der geeigneten Lehrer beraten zu lassen. In der Zwischenzeit sollte Lucius Ventus zum Marsfeld bringen, damit der Hengst in einer der nahegelegenen Stallungen untergebracht werden konnte.

Mit Lucius im Sattel und einem Sklaven am Halfter des Pferdes drängelten sich die drei am späteren Vormittag durch das Gewühle in den Gasssen Roms. Nicht wenige Passanten schauten dem kleinen Jungen auf dem prächtigen Pferd nach und kamen näher, um Ventus die Flanken zu klopfen. Eine Schar Gassenjungen hatten sie bald als willkommene Zielscheibe auserkoren und begleiteten die beiden mit Rufen und spöttischen Bemerkungen auf ihrem Weg durch die Straßen der Hauptstadt. Eine scheinbare Ewigkeit irrten sie durch die Gassen, gingen im Kreis, passierten manche Plätze zweimal, und als sie meinten um die nächste Ecke den Weg aus dem Labyrinth zu finden, traten sie doch nur in immer neue Straßenschluchten ein. Lucius schämte sich seine Provinzialität durch eine Frage nach dem richtigen Weg einzugestehen, doch die Gassenbuben merkten auch so sehr bald, dass er sich hoffnungslos verirrt hatte. Weit davon entfernt zu helfen, animierte sie seine Ahnungslosigkeit nur zu begeistertem Gejohle. Es war schon weit nach Mittag, als sie die freie Fläche des Marsfeldes ereicht und schließlich auch einen Stall angemietet hatten. Erschöpft und staubig machten Lucius und sein Begleiter sich auf den Heimweg und blieben diesmal als unauffällige Fußgänger wenigstens von unerwünschter Begleitung verschont.

Die nächsten Tage waren angefüllt mit Vorsprachen bei den verschiedenen Lehrern und dem Austüfteln eines funktionierenden Stundenplans. Gleich beim ersten Gespräch mit dem Dozenten für Rethorik unterlief Lucius ein ungeschickter Patzer. Als der Lehrer ihn nach seinem Namen fragte, antwortete  er in aller Unschuld und in der jugendlichen Schlichtheit seiner zehn Jahre „Lucius.“

Ein spöttisches Gelächter war die Antwort.

„Mein Kind, ich bin nicht deine Mutter und habe auch nicht vor dich mit Kosenamen anzusprechen, also nenne mir deinen vollständigen Namen.“

Lucius errötete wegen seiner Ungeschicklichkeit und antwortete:

„Lucius Cornelius Sulla.“

Nun war es an dem Rethoriker in eine gewisse Verlegenheit zu fallen, als er den Namen einer der ältesten Adelsfamilien Roms hörte. Einer Familie aber auch, die seit über hundert Jahren keine besonderen Glanzleistungen mehr aufzuweisen hatte und was noch schlimmer war, angeblich völlig verarmt war. Er fasste den Knaben näher ins Auge und gewann den Eindruck eines aufgeweckten, hübschen Jungen, der allerdings in seiner Ausdrucksweise und in seinen Manieren sehr provinziell wirkte. Laut sagte er:

„Nun Sulla, wir wollen es miteinander versuchen, der Zins für meinen Unterricht beträgt fünfzehn Denare im Jahr. Wenn dein Vater diesen Betrag aufbringen kann, kannst du ab nächster Woche meine Stunden besuchen.“

Nach mehreren weiteren Gesprächen hatten ihn alle Lehrer, die er aufgesucht hatte als Schüler akzeptiert, so dass zwei Wochen nach seiner Ankunft in Rom sein Unterricht beginnen konnte.

Die nun folgenden Wochen waren genauso schlimm, wie er es erwartet hatte. Seine Mitschüler bildeten eine geschlossene Front gegen ihn. Sein Name weckte ihren Neid, und ihre Grausamkeit fand reichlich Nahrung in seinen bäuerlichen Manieren und dem Rückstand in den Unterrichtsstunden. Fühlte sich einer durch sein hübsches Äußeres provoziert, so konnte er zu seiner Beruhigung auf die marode Situation der Familie verweisen. Lucius Versuche Kontakt aufzunehmen, wurden mit Schweigen oder Spötteleien quittiert.

Was er nur unsicher ahnte, war, dass die hauptstädtischen Eltern ihren Kindern in dem allgemeinen Streben nach Ruhm und Reichtum von klein auf Konkurrenzdenken und Ehrgeiz einflössten. Wäre er wirklich so bäuerisch, so unbegabt und so dumm gewesen wie seine Mitschüler ihm glauben machen wollten, er hätte wenig zu leiden gehabt. Doch die Jugendlichen witterten in ihm den zukünftigen Konkurrenten um politische Ämter und militärischen Karrieren und versuchten nach Kräften den Nebenbuhler auszuschalten und zu entmutigen, solange er noch jung und hilflos war. Das Einzige, in dem sie ihm beim besten Willen nicht die Fähigkeiten absprechen konnten, war im Spiel und Wettkampf auf dem Marsfeld. Durch seine ländliche Jugend auf dem Gut war Lucius eindeutig der beste Reiter, nicht nur unter Gleichaltrigen, sondern auch im Wettstreit mit wesentlich Älteren.

 

Lucius litt schweigend. Eines Nachmittags floh er mit Ventus vor die Grenzen der Stadt und fand einen Baum, der ihm als Ersatz für seinen geliebten Olivenbaum dienen konnte. Er schwang sich ins Geäst und ging die vergangenen Wochen in Gedanken durch. Er musste sich eingestehen, dass, aus welchen Gründen auch immer, er niemals von den Mitschülern akzeptiert werden würde. Nicht einmal die Jugendlichen aus dem Ritterstand zeigten Neigung ihm entgegenzukommen. Trotz wallte in ihm auf. Sie unterschätzten ihn gewaltig, wenn sie dachten, dass er auf sie angewiesen war. Er hatte sich auf dem Land an Einsamkeit gewöhnt, er würde auch hier ohne Gesellschaft auskommen. Sein Vater tat ihm leid, der trotz der gespielten Unbekümmertheit so viel für seinen Sohn erhoffte. Wenn sich die Haltung seiner Mitschüler nicht änderte, würde er niemals Freunde gewinnen, niemals Zutritt zu bedeutenden Familien erhalten und Verbindungen für die Zukunft knüpfen können. Etwas, das ihm sein Vater in seiner zurückgezogenen Lebensweise und in seiner Angst vor der Entdeckung ihrer finanziellen Nöte auch nicht bieten konnte. Lucius tat es zutiefst leid, dass er alle Erwartungen seines Vaters würde enttäuschen müssen, und er fasste einen Plan: Solange es ging, würde er seinem Vater etwas vorspielen. Er würde jede Schulstunde förmlich in sich aufsaugen, er würde seine Lehrer durch sein Gedächtnis und seinen Scharfsinn beeindrucken und er würde seinen Vater in Hoffnungen auf eine glanzvolle Karriere wiegen. Er würde in Zukunft darauf verzichten sich um die Anerkennung seiner Mitschüler zu bemühen und seinen Weg alleine gehen. Es würde leichter werden, wenn er sie aus freien Stücken von sich stieß, als tagtäglich unter ihrer Ablehnung zu leiden. Er atmete tief durch, es würde hart werden, aber das Bild des einsamen, unabhängigen Helden hatte seine Reize. Bezüglich der Einsamkeit blieb ihm ja ohnehin keine Wahl.

Von diesem Tag an war er schweigsam, hielt sich von den anderen fern und konzentrierte sich auf seine Unterrichtstunden. Seine Lehrer schätzten den stillen Jungen, seine Mitschüler betrachteten ihn weiterhin mit Argwohn, hatten aber doch das Gefühl, ihn ein für alle Mal auf seinen Platz verwiesen zu haben.

 

Lucius blieb seinem Entschluss treu. Er hatte sich daran gewöhnt, bei seinem Familiennamen gerufen zu werden. Er hatte sich daran gewöhnt, sich von den anderen fern zu halten. Er hatte sich daran gewöhnt, als Klassenbester zusätzliche Nahrung für ihre Spötteleien zu liefern. Seine Mitschüler dagegen hatten sich nicht daran gewöhnt, dass er außergewöhnlich intelligent war und sich zu einem gutaussehenden Jüngling entwickelt hatte, der dazu noch der beste Reiter auf dem Marsfeld war. Zwischenzeitlich waren auch die Eltern seiner Schulkameraden auf ihn aufmerksam geworden und beobachteten seine Entwicklung mit höchstem Misstrauen. Zeigte ein Knabe Neigung, sich dem Sprössling der dubiosen, verarmten Familie anzuschließen, wurde er umgehend von seinem Vater zur Rede gestellt. Lucius, oder besser Sulla, tat so, als merkte er es nicht.

Lucius’ Vater merkte in seiner Zurückgezogenheit allerdings wirklich nichts von der schwierigen Situation, in der sich sein einziger Sohn seit der Ankunft in Rom vor mehr als sechs Jahren befand. Er begnügte sich damit, die begeisterten Berichte der Lehrer zu genießen und alles zu ignorieren, was nicht in das glanzvolle Bild passte, das er sich in seiner Abgeschiedenheit vom Leben seines Sohnes gemalt hatte.

Lucius seinerseits tat alles, um seinen Vater zu schonen und war sogar schon so weit, Freundschaften und Einladungen zu erfinden, um ihm eine Freude zu machen. Ganze Abende streunte er durch die Straßen und Gassen Roms, um spät nach Hause zu kommen und am nächsten Morgen Geschichten von erfundenen Gastmählern zu erzählen. Seine Schwestern waren inzwischen an unbedeutende Ritter verheiratet worden, um die Mitgift gering zu halten. Trotzdem hatten die beiden Hochzeiten das kleine Gut am Rande der Sabinerberge weiter zusammenschmelzen lassen, und wäre nicht die lukrative Pferdezucht gewesen, sie hätten sich in der Hauptstadt kaum halten können. Das meiste Geld verschlangen die Schulstunden, und trotzdem achtete der alte Sulla immer darauf, dass sein Sohn über ein kleines Taschengeld verfügen konnte.

Lucius brauchte nicht viel, eine Erfrischung nach dem Unterricht oder am Nachmittag auf dem Marsfeld. Gelegentlich spendierte er Ventus eine Leckerei. Bei seinen abendlichen Exkursionen ging er gerne auf das Forum, wo sich nach Einbruch der Dunkelheit alle trafen, die den Müßiggängern einige Asse aus der Tasche zu ziehen versuchten: Zauberer, Geschichtenerzähler, Akrobaten, Musiker, Wahrsager und was es sonst an Künstlern und Bauernfängern in Rom gab. Auf kleinen tragbaren Feuerstellen wurde gebraten und daneben Wasser und billiger Wein verkauft. Zwischen allen schwärmten allein oder zu zweit die Dienerinnen der Venus und suchten nach Kundschaft. Niemand störte sich an dem Halbwüchsigen, der hier zwischen den anderen herumstromerte, und niemand erkannte ihn oder wollte ihn erkennen, da es für die Zöglinge der großen Häuser als absolut unstandesgemäß galt, diese plebejischen Vergnügungen zu besuchen. So konnte Lucius unbehelligt durch das ganze bunte Gewühl schlendern und den Trubel genießen, ohne Gefahr zu laufen, einem seiner Klassenkameraden zu begegnen. Er gab das eine oder andere Ass für Honigplätzchen aus und warf einem mageren Akrobaten eine Kleinigkeit in die hingehaltene Mütze.

 

Eines Abends mischte sich unter das gewöhnliche Geschrei und Gelärm die laute Stimme eines Ausrufers, der eine Aufführung im nahe gelegenen Theater anpries. Lucius hatte noch nie eine öffentliche Theateraufführung besucht, da sie für einen Jüngling aus guter Familie als völlig unpassend galten. Theater war noch schlimmer als Herumstreunen, denn die Scherze, die das hauptstädtische Proletariat in den Komödien so sehr liebte, waren grob und zotig, die Stücke voll von Prügeleien und obszönen Anspielungen. An diesem Abend jedoch stand er ein wenig deprimiert vor der Bude eines Zauberkünstlers, dessen Tricks so ungeschickt und durchschaubar waren, dass sie nur den allernaivsten Provinzler täuschen konnten und fragte sich, wie er die nächsten Stunden totschlagen würde. Als er sich wegen des allgemeinen Lärms umsah, sah er, dass halb Rom auf den Beinen und in Festtagslaune zu sein schien. Die Bürger strömten in Scharen zum Theater und nicht wenige würden auf die umliegenden Gebäude klettern müssen, um wenigstens von dort Teile des Schauspiels sehen zu können. Allmählich wurde Lucius von der allgemeinen Vorfreude angesteckt, und er beschleunigte seinen Schritt um ebenfalls in Theater zu kommen und einen guten Platz zu ergattern. Trauben von Menschen stauten sich vor den Eingangstoren und nur nach und nach fanden sie Einlass. Als Lucius an der Reihe war, waren die besten Plätze bereits vergeben, doch er fand noch einen Sitz etwas seitlich, aber dafür recht nahe an der Bühne.

 

Das Spiel begann. Es war eine Komödie über einen jungen Mann, der als Eunuch verkleidet in das Haus einer Kurtisane eindringt um seine dort versteckte Geliebte zu befreien. Lucius stellte überrascht fest, dass er sich ganz ausgezeichnet amüsierte. Die Scherze waren wirklich lustig, der großmaulige Angeber war so richtig schön derb und der Schmeichler hatte stets ein doppelbödiges Kompliment bei der Hand, dessen versteckte Beleidigung den Angesprochenen meistens entging. Die feinste Gestalt des ganzen Spiels aber war die Hetäre Thais, die von einem jungen Schauspieler gespielt wurde, dessen besonderer Liebreiz alle bezauberte. Das Spiel endete für Lucius viel zu früh. Zusammen mit den anderen klatschte er sich die Handflächen wund und jubelte als die Schauspieler zu fünften Mal auf die Bühne traten, um sich feiern zu lassen.

Um der allgemeinen Aufregung ein Ende zu machen, erhob sich der anwesende Ädil und versprach, die Aufführung am nächsten Tag wiederholen zu lassen. Erst nach diesem Versprechen leerte sich das Theater langsam, und noch lange wanderten Gruppen von Menschen durch die nächtlichen Straßen um schließlich lachend und schwatzend eine Taverne aufzusuchen.

Zwischen all diesen fröhlichen Grüppchen schwebte ein völlig entrückter Lucius. Für die Dauer der Aufführung hatte er alles um sich vergessen, die Schule, die Mitschüler, die Schwindeleien, die er seinem Vater nun schon seit Jahren auftischte, und er beschloss, auch die zweite Aufführung zu besuchen.

 

Als er vor Beginn der zweiten Aufführung auf seinem Platz saß, überfiel ihn eine leichte Panik: Was, wenn das Stück überhaupt nicht so gut wäre, wenn es einer zweiten Aufführung nicht standhalten würde? Ob es nicht besser wäre, es beim ersten Eindruck zu belassen und nach Hause zu gehen, bevor er sich die wundervolle Erinnerung zerstörte? Natürlich blieb er doch und bereute es nicht. Die Aufführung war beim zweiten Mal fast noch besser. Die Erinnerung daran vergoldete ihm die ganze nächste Woche.

 

„Lucius!“, hauchte Thais. Zitternd schmiegte sie sich an ihn, während er Ventus mit einem scharfen Ruck am Zügel zum Aufbäumen brachte und im gestreckten Galopp davon stob, die aufgebrachte Menschenmenge zurücklassend, die die zarte junge Frau bedroht hatte. Weit hinter den Toren Roms im Schatten eines alten Olivenbaums beendete er ihren halsbrecherischen Ritt in die Sicherheit, glitt vom schweißnassen Rücken seines edlen Rosses und half der verängstigten Hetäre herab. Obwohl sie festen Boden unter sich hatte und ihre Verfolger meilenweit abgeschlagen waren, konnte die junge Frau sich nicht auf den Beinen halten. Lucius musste sie stützen, und ihre tränenfeuchten Augen sahen ihn flehend an.

„Weine nicht, meine Geliebte. Alles wird sich zum Guten wenden!“, beruhigte er sie. „Siehe, unter diesem uralten Baum haben meine Vorfahren einen Schatz versteckt, um unserer Familie in Not zu helfen. Diese Münzen werden dir die Freiheit bringen.“ 

Ihre dunklen Augen weiteten sich ungläubig, dann dankbar und ihre feuchten Lippen fanden seinen Mund. Er schlang die Arme um sie und presste ihren schlanken Körper an sich...

Ein schwerer Stock krachte auf sein Pult. „Sulla! Ich werde meine Frage nicht noch einmal wiederholen, welche geografische Besonderheit half den Truppen Alexanders bei Issos?“

Lucius konnte sich der Erkenntnis nicht mehr verschließen, dass er sich verliebt hatte. Dieses Eingeständnis stürzte ihn in tiefe Verzweiflung. Es war noch nicht mal so schlimm, dass er nicht genau zu sagen gewusst hätte, ob er sich in den Gegenstand seiner Liebe als ein weibliches oder männliches Wesen verliebt hatte. Auch störte ihn nur am Rande, dass seine Geliebte – oder Geliebter ? - zu einer gesellschaftlich zutiefst verachteten Klasse gehörte, die vom allerzweifelhaftesten Ruf war. Das wirklich Schreckliche für ihn war, dass er sich plötzlich in eine Reihe mit seinen dümmlichen, gackernden Schwestern und ihrer hirnlosen Anhimmelei gestellt sah. Verzweifelt versuchte er sich gegen die einfallslose Schwärmerei der Mädchen abzugrenzen und suchte Beweise, dass es sich im Falle seiner Liebe um etwas ganz anderes handle. In seiner Verzweiflung verfiel er auf einen Plan. Er würde sich Gewissheit verschaffen. Er würde sich dem Gegenstand seiner Liebe annähern, nur und wirklich nur um das Traumbild an der Realität zu messen. Praktischerweise hatte er damit auch dem Vorwand vor sich selbst, seiner – seinem - Geliebten ab sofort aufzulauern.

 

Sein erster Weg führte ihn in das Theater. Der Pförtner, der nahe einem Eingang in einer Nische hockte, war von einem Schwarm junger Mädchen umgeben. Sie lauschten wie gebannt, und als der Alte geendet hatte, entfernten sie sich mit vielen Dankesrufen. Lucius sah schon wieder seine Schwestern vor sich und schämte sich zu Tode. Trotzdem ging auch er zu dem Alten, der ihn mit einem zahnlosen Grinsen bedachte, das Lucius irgendwie schadenfroh vorkam. „Kannst du mir sagen, zu welcher Truppe die Schauspieler von gestern Abend gehören?“, fragte er möglichst unbeteiligt. Statt einer Antwort hob ihm der Alte die geöffnete Handfläche entgegen. Lucius hatte damit gerechnet und warf ihm eine Münze zu.

„Die Schauspieler gehören zur Truppe des Heliodorus. In erster Linie verdienen sie ihr Geld mit Auftritten bei den Gastmählern der Reichen. Auch Musikanten und Flötenspielerinnen hat Heliodorus unter Vertrag.“

Das zahnlose Grinsen wurde unangenehm lüstern. „Sie sind nicht billig, aber so ein hübscher Junge wie du bekommt sicher einen Sonderpreis.“

Lucius meinte im Boden versinken zu müssen, aber er brauchte noch eine weitere Information.

„Wo treten sie denn in nächster Zeit auf?“

Die Handfläche streckte sich ihm wieder entgegen. Lucius warf noch ein Ass. Der Alte beäugte die kleine Münze missbilligend, ließ sie dann aber doch in den Falten seiner Tunika verschwinden.

„Der Ädil, der die Veranstaltung mit finanziert hat, hat sich eine kleine Privatvorstellung ausbedungen; heute Abend in seiner Villa.“

 

Am Abend überprüfte Lucius seinen Vorrat an Kleingeld und wanderte zum Palatin. Er bestach den Pförtner des Ädils und versuchte sich durch dessen Grinsen nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Es war abgemacht, dass er bleiben durfte, bis die Vorstellung beendet war, so dass er Truppe beim Verlassen des Hauses beobachten konnte. Lucius durfte in der Küche Platz nehmen und sah sich sofort von einigen Mägden umgeben, die ihm den Namen seiner Angebetenen entlocken wollten. Lucius war schlau genug die Mädchen stattdessen selber zum Reden zu bringen, und so erfuhr er den Namen seines Geliebten: Metrobius. Die Mädchen versorgten ihn mit Suppe aus dem Gesindekessel und mit verdünntem Wein, so dass er hier zum ersten Male wirklich zu einer Art Gastmahl kam.

Er musste lange warten. Schon war er drauf und dran vorzeitig seinen Posten zu verlassen, als endlich Geräusche aufbrechender Gäste aus den hinteren Räumen des Hauses erklangen. Kurz darauf strömte die Gruppe der Schauspieler in das Atrium, in der Mitte Metrobius. Luicus schien es, als schwebte dieser mehr, als dass seine Füße den schnöden Erdboden berührten. Er war kleiner als die Übrigen, aber seine schlanke, trainierte Gestalt hätte nicht besser proportioniert sein können. Von leicht bräunlichem Teint war sein Gesicht, ein vollkommenes Oval mit mandelförmigen Augen und geschwungenem Mund. Es hätte nur einer anderen Frisur bedurft, um als das einer bezaubernden jungen Frau zu gelten. Mit einer eleganten Verneigung verabschiedete Metrobius sich von dem Hausherrn, und wie ein Abschiedsgeschenk empfand Lucius ein Lachen, das wegen eines Scherzes einer seiner Kollegen unvermittelt hervorbrach. Dieses Lachen brachte Lucius in seiner Küche vollends um den Verstand. Es schien ihm als wäre der Mundschenk der Götter selbst herabgestiegen um unter den Sterblichen zu wandeln und speziell ihm den Kopf zu verdrehen.

Es verstand sich von selbst, dass er bei nächster Gelegenheit wieder auf dem Posten war um dem Geliebten aufzulauern. Sein gesamtes Taschengeld floss in den folgenden Wochen als Bestechung in die Börsen der Haussklaven, die ihn dafür mit Informationen versorgten und ihn im Haus versteckten. Dass sie hinter seinem Rücken über ihn kicherten, scherte ihn wenig, und auch das Bewusstsein seines unwürdigen Verhaltens war ihm inzwischen völlig gleichgültig. Es wäre natürlich das Einfachste gewesen, den Schauspieler aufzusuchen und sich um seine Freundschaft zu bemühen. Für Lucius jedoch ein völlig abwegiger Gedanke, zu sehr war er an seine Einsamkeit gewöhnt. Außerdem gefiel ihm seine Jagd, er fühlte sich auf seinen nächtlichen Exkursionen meilenweit von seinem bisherigen Leben als Musterschüler und Patrizierspross entfernt.

Es war schon Hochsommer, als Lucius spät nachts die Villa eines reichen Ritters verließ, in der er, in einem Winkel versteckt, den Geliebten bei einem kurzen Auftritt beobachtet hatte. Als er sich ein Stück vom Haus entfernt hatte, wurde er plötzlich von hinten an der Tunika gepackt, eine Hand legte sich vor seinen Mund und ein fester Griff zog ihn in die nächste Toreinfahrt. Er wehrte sich nach Kräften, und als er sich freigekämpft und sich zu Angreifer umgedreht hatte, drohten ihm die Knie nachzugeben. Vor ihm stand Metrobius, lächelnd und etwas außer Atem schien ihm das kurze Gefecht Spaß gemacht zu haben.

„Ich wollte meinen Verehrer jetzt doch einmal selbst sehen, da mir von so vielen Seiten Berichte über sein hübsches Gesicht zugetragen wurden. Ich muss sagen, dass meine Informanten eher untertrieben haben.“

Lucius schluckte, ein Vers, der ihn von Beginn seiner Leidenschaft an begleitete hatte, drängte sich über seine Lippen:

“Wohl sind andere Männer von höherem Wuchse als dieser,

aber so schön habe ich noch keinen gesehen mit den Augen.“

Eine Bewegung ging durch Metrobius Gesicht und Lucius fürchtete, er würde lachen, doch Metrobius  begnügte sich mit einem Lächeln und schien sich den Rest zu verkneifen. Lucius war ihm unendlich dankbar dafür.

„Für unser erstes Stelldichein ist das hier ein wenig einladender Fleck. Noch weniger ist er geeignet um den guten alten Homer zu bemühen. Lass uns lieber ein paar Straßen weiter gehen, dort gibt es eine ganz nette Taverne.“

Sie fanden eine freie Liege im hinteren Teil des Gartens, wo sie sich eine Karaffe Wein bringen ließen. Dann lagen sie im Schein der Fackeln, redeten den Rest der Nacht, und zum ersten Mal in seinem Leben war Lucius wirklich glücklich. Der Wein ging zur Neige und die Lippen, die sich auf Lucius Mund pressten, waren nicht weich und sanft, sondern fest und forschend und frisch wie die salzige Brise des Meeres. Lucius wusste, er würde sich nie wieder von ihnen lösen können, denn er war endlich zu Hause angekommen.