Kapitel Zwölf

 

Jez hielt das Kind an einer Hand fest, während sie unter den schmutzigen Neonröhren die Treppe hinaufgingen.

Sie konnte nur ahnen, was Iona dachte, als sie sie nach oben führten.

Sie traten auf das Dach hinaus, das in schräg einfallendes Nachmittagslicht getaucht war. Jez berührte ganz sanft Ionas Schulter.

»Siehst du - das ist der Garten.« Sie deutete mit dem Kopf auf eine eingetopfte Palme und drei Holzfässer mit verschiedenen verwelkten Blättern darin. Iona schaute in diese Richtung, dann sah sie Jez nüchtern an.

»Sie bekommen nicht genug Wasser«, sagte sie so leise, wie sie alles sagte.

»Ja, hm, es hat in diesem Sommer nicht genug geregnet«, meinte Morgead. »Willst du das in Ordnung bringen?«

Iona sah ihn nur ernst an.

»Hör mal, was ich meine, ist - du hast die Macht, richtig? Also, wenn du es uns jetzt einfach zeigen willst, dann kannst du das gern tun. Was immer du möchtest. Es wird alles viel einfacher machen. Warum lässt du es nicht regnen?«

Iona sah ihn direkt an. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«

»Ich meine, es gibt keinen Grund, warum du hier verletzt werden solltest. Wir wollen, dass du einfach so etwas machst wie in der Nacht des Feuers. Irgendetwas. Zeig es uns.«

Jez beobachtete ihn. Irgendetwas stimmte an dieser Szene nicht: Morgead in seinen hohen Stiefeln und der Lederjacke, mit seinen gestählten Muskeln, schlank und sehnig, auf einem Knie vor diesem harmlos aussehenden Kind in rosafarbenen Hosen. Und das Kind, das seinen Blick einfach mit traurigen, distanzierten Augen erwiderte.

»Ich glaube, du bist verrückt«, sagte Iona leise. Ihre Zöpfe bewegten sich, während sie den Kopf schüttelte. Ein rosafarbenes Band flatterte.

»Erinnerst du dich an das Feuer?«, fragte Jez hinter ihr.

»Natürlich.« Das Mädchen drehte sich langsam um. »Ich hatte Angst.«

»Aber dir ist nichts passiert. Das Feuer ist in deine Nähe gekommen, und dann hast du irgendetwas getan. Und dann ist das Feuer weggegangen.«

»Ich hatte Angst, und das Feuer ist weggegangen. Aber ich habe nichts getan.«

»Okay «, sagte Morgead und stand auf. »Wenn du es uns nicht erzählen kannst, kannst du es uns vielleicht zeigen.«

Bevor Jez noch ein Wort sagen konnte, hob er das kleine Mädchen hoch und trug sie davon. Er musste über eine Wand aus Müll steigen, die sich wie eine diagonale Mauer schräg über das Dach zog. Sie bestand aus Telefonbüchern, gesplitterten Holzscheiten, alten Kleidern und anderem Krimskrams, und sie bildete eine Barriere, die eine Ecke des Dachs vom Rest abschirmte.

Er stellte Iona in das Dreieck hinter dem Müll. Dann stieg er wieder über die Mauer und ließ sie dort stehen. Iona sagte nichts und versuchte auch nicht, ihm aus dem Dreieck zu folgen.

Jez stand angespannt da. Das Kind ist eine Wilde Macht, sagte sie sich. Sie hat bereits Schlimmeres als dies hier überlebt. Und ganz gleich was geschieht, sie wird nicht verletzt werden.

Das habe ich ihr versprochen.

Aber nur zu gern wäre sie für einige Minuten eine Telepathin gewesen, um dem Kind noch einmal zu sagen, dass es keine Angst zu haben brauche. Dieser Wunsch verstärkte sich erst recht, als Val und Raven Benzin auf die Müllmauer gossen. Iona beobachtete sie mit riesigen, ernsten Augen und rührte sich immer noch nicht.

Dann entzündete Pierce ein Streichholz.

Die Flammen sprangen gelb und blau in die Höhe. Sie waren nicht leuchtend orange wie in jener Nacht.

Aber heiß. Sie breiteten sich schnell aus, und Jez konnte von ihrem drei Meter entfernten Platz aus die Hitze spüren.

Das Kind war dem Feuer näher.

Die Kleine sagte noch immer nichts und versuchte auch nicht, über die Flammen zu springen, während sie noch niedrig waren. Binnen weniger Sekunden flackerten sie so hoch, dass sie nicht mehr hindurchspringen konnte, ohne selbst Feuer zu fangen.

Okay, dachte Jez, obwohl sie wusste, dass das Kind sie nicht hören konnte. Jetzt tu es! Komm schon, Iona. Lösch das Feuer.

Iona sah es nur an.

Sie stand vollkommen reglos da, die kleinen Hände zu Fäusten geballt. Eine kleine, einsame Gestalt, der die spätnachmittägliche Sonne einen weichen, roten Heiligenschein um den Kopf zauberte, während der heiße Wind des Feuers ihr rosa gesäumtes Shirt kräuselte. Sie starrte in die Flammen, aber nicht aggressiv, nicht als würde sie gegen sie ankämpfen wollen.

Verdammt, das ist falsch, dachte Jez. Sie hatte selbst die Hände so fest zu Fäusten geballt, dass ihre Nägel sich in die Innenflächen ihrer Hände bohrten.

»Weißt du, ich mache mir Sorgen«, bemerkte Pierce leise hinter ihr. »Ich mache mir ehrlich Sorgen.«

Jez sah ihn schnell an. Pierce sprach nicht viel, und er schien der Kälteste der Gruppe zu sein - abgesehen von Morgead natürlich, der kälter sein konnte als jeder andere. Jetzt fragte Jez sich, ob er, der anscheinend niemals von Mitleid gerührt wurde, tatsächlich der Sensibelste sein konnte.

»Ich mache mir Sorgen wegen dieses Feuers. Ich weiß, dass uns niemand beobachten kann, aber es macht eine Menge Qualm. Was ist, wenn einer der anderen Mieter nach oben kommt, um der Sache auf den Grund zu gehen?«

Jez hätte ihn beinahe geschlagen.

Dies ist nicht mein Zuhause, dachte sie und spürte, wie der Teil von ihr, der geseufzt und sich geliebt und verstanden gefühlt hatte, verwelkte. Dies sind nicht meine Leute. Ich gehöre nicht zu ihnen.

Und Pierce war es nicht wert, dass man ihn schlug. Sie wandte ihm den Rücken zu, um wieder zu Iona hinüberzuschauen. Sie hörte verschwommen, wie Morgead ihm erklärte, er solle den Mund halten und dass die anderen Mieter ihre kleinste Sorge seien; aber im Wesentlichen konzentrierte sie sich auf das Mädchen.

Komm schon, Kleine!, dachte sie. Dann sprach sie es laut aus.

»Komm schon, Iona! Lösch das Feuer. Du kannst es! Tu einfach das, was du beim letzten Mal getan hast!« Sie versuchte, den Blick des Kindes aufzufangen, aber Iona betrachtete die Flammen. Sie schien jetzt zu zittern.

»Ja, komm schon!«, rief Morgead schroff. »Bringen wir es hinter uns, Kleine.«

Raven beugte sich vor, und der Wind fuhr ihr in den langen Pony. »Erinnerst du dich daran, was du in dieser Nacht getan hast?«, rief sie ernst. »Denk nach!«

Iona sah sie an und sprach zum ersten Mal wieder. »Ich habe gar nichts getan!« In ihrer Stimme, die zuvor so gefasst gewesen war, schwangen jetzt Tränen mit.

Das Feuer brannte inzwischen lichterloh, laut wie ein tosender Wind, und wehte kleine Bröckchen brennenden Mülls in die Luft. Eins schwebte auf Ionas Fuß herab, und sie trat einen Schritt zurück.

Sie muss Angst haben, sagte Jez sich. Das ist der Sinn dieser Prüfung. Wenn sie keine Angst hat, wird sie ihre Macht niemals finden können. Es geht immerhin um die Rettung der Welt. Wir foltern dieses Kind nicht zum Spaß ...

Es ist trotzdem falsch.

Der Gedanke explodierte aus irgendeinem Teil von ihr. Jez hatte als Vampir und Vampirjägerin eine Menge schrecklicher Dinge gesehen, und plötzlich wusste sie, dass sie das hier nicht länger mitansehen konnte.

Ich werde es abbrechen.

Sie sah Morgead an. Er stand angespannt da, die Arme vor der Brust verschränkt, den Blick seiner grünen Augen auf Iona geheftet, als könne er sie allein mit seinen Augen dazu überreden, das zu tun, was er wollte. Raven und Val standen neben ihm; Raven mit ausdrucksloser Miene unter ihrem dunklen Haar; Val hatte die massigen Hände in die Hüften gestemmt und runzelte die Stirn. Thistle war ungefähr einen Schritt hinter ihnen.

»Es ist Zeit aufzuhören«, sagte Jez.

Morgead riss den Kopf herum, um sie anzusehen. »Nein. Wir sind schon so weit gekommen; es wäre dumm, wenn wir noch einmal ganz von vorn anfangen müssten. Das wäre ihr gegenüber auch nicht netter, oder?«

»Ich sagte, es ist Zeit aufzuhören. Was hast du hier, um das Feuer zu löschen - oder hast du darüber noch gar nicht nachgedacht?«

Während sie redeten, trat Thistle vor. Sie ging direkt bis vor die Flammen und starrte Iona an.

»Du solltest besser schnell etwas unternehmen«, rief sie, »oder du wirst verbrennen!«

Der kindliche, spöttische Tonfall erregte Jez’ Aufmerksamkeit, aber Morgead richtete wieder das Wort an sie.

»Sie wird es jetzt jeden Moment löschen. Sie muss erst genug Angst haben ...«

»Morgead, sie ist bereits vollkommen verängstigt! Sieh sie dir doch an!«

Morgead drehte sich um. Iona hatte die geballten Fäuste jetzt auf Brusthöhe gehoben; ihr Mund war leicht geöffnet, während sie viel zu schnell atmete. Und obwohl sie nicht schrie oder weinte wie ein normales Kind, konnte Jez das Beben sehen, das ihren kleinen Körper durchlief. Sie sah aus wie ein winziges, gefangenes Tier.

»Wenn sie es jetzt nicht tut, wird sie es niemals tun«, erklärte Jez entschieden. »Es war von Anfang an eine dumme Idee, und jetzt ist es vorbei!«

Sie sah die Veränderung in seinen grünen Augen; das Aufflackern von Wut und dann die plötzliche Dunkelheit der Niederlage. Sie begriff, dass er klein beigeben würde.

Aber bevor er etwas erwidern konnte, trat Thistle noch näher an den brennenden Müll heran.

»Du wirst sterben!«, kreischte sie. »Du wirst genau jetzt verbrennen!« Und sie begann, den brennenden Müll in Ionas Richtung zu treten.

Danach überschlugen sich die Ereignisse.

Der Müll löste einen Funkenhagel aus, während er auf Iona zuflog. Iona riss vor Entsetzen den Mund auf, als ihr plötzlich brennende Müllstücke um die Knie wirbelten. Und dann brüllte Raven Thistle an, aber Thistle trat bereits erneut gegen den Müll.

Eine zweite Flut von Funken regnete auf Iona nieder. Jez sah, wie sie die Hände hob, um ihr Gesicht zu schützen, dann breitete sie die Arme aus, als ein brennendes Stück Stoff sich auf ihren Ärmel legte. Sie sah eine winzige Flamme auf dem Ärmel erblühen. Sie sah, wie Iona sich hektisch umblickte und nach einem Fluchtweg suchte. Morgead zerrte Thistle am Kragen zurück. Thistle trat immer noch um sich. Überall waren Funken, und Jez spürte einen heißen Schmerz an ihrer Wange.

Und dann wurden Ionas Augen riesig und leer und starr, und Jez konnte sehen, dass sie zu irgendeiner Entscheidung gekommen war, dass sie irgendeine Möglichkeit gefunden hatte, um zu entfliehen.

Nur dass es nicht die Richtige war.

Sie würde springen.

Jez sah, wie Iona sich zum Rand des Daches umwandte, und in derselben Sekunde wusste sie, dass sie das Kind nicht rechtzeitig erreichen würde, um es aufzuhalten.

Es gab nur eines, was sie tun konnte.

Jez hoffte nur, dass sie schnell genug sein würde.

Um ein Haar wäre sie es nicht gewesen. Aber rund um das Dach befand sich eine sechzig Zentimeter hohe Mauer, und diese hielt Iona für eine Sekunde auf, weil sie erst darüberklettern musste. Eine Sekunde Zeit für Jez, um durch das Feuer zu springen und sie einzuholen.

Und dann war Iona auf der Mauer, und dann warf sie ihren kleinen Körper ins Leere. Sie sprang wie ein fliegendes Eichhörnchen mit ausgebreiteten Armen und Beinen und schaute dabei auf die Straße hinab, die viele Stockwerke unter ihr lag.

Jez sprang mit ihr.

Jez! Der telepathische Ruf folgte ihr, aber Jez hörte ihn kaum. Sie hatte keine Ahnung, von wem er überhaupt gekommen war. Ihr ganzes Bewusstsein war auf Iona konzentriert.

Irgendein Teil von ihr hoffte immer noch, dass das Kind Magie besaß und den Wind dazu bringen würde, sie festzuhalten. Aber es geschah nicht, und Jez verschwendete keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie bekam Iona mitten in der Luft zu packen, ergriff denkleinen Körper und hielt ihn fest.

Es war etwas, das kein Mensch hätte tun können. Doch Jez’ Vampirmuskeln wussten instinktiv, was sie zu tun hatten. Sie drehten ihren Körper im Fallen, schoben ihn unter das Kind in ihren Armen, schoben ihre Beine unter Iona.

Aber natürlich hatte Jez keine vampirische Widerstandskraft mehr gegen Verletzungen. Sie wusste ganz genau, dass ihr der Sturz beide Beine brechen würde. In ihrem geschwächten Zustand konnte er sie sogar töten.

Aber er muss das Kind retten, dachte sie emotionslos, während der Boden ihr entgegenraste. Der zusätzliche Widerstand von Jez’ Fleisch würde für Iona wie ein Kissen wirken.

Aber eines gab es, woran Jez nicht gedacht hatte.

Die Bäume.

Entlang des rissigen, moosbewachsenen Gehsteigs standen in regelmäßigen Abständen Judasbäume, die jetzt in doppelter Hinsicht deplaziert wirkten. Keiner der Bäume hatte besonders viel Laub, selbst jetzt im Spätsommer, aber sie hatten eine Menge kleiner Äste.

Jez und das Kind krachten direkt in einen der Bäume hinein.

Jez nahm den Schmerz wahr, doch es war ein kratzender, stechender Schmerz und nicht die brutale Qual des Aufschlags auf Asphalt. Ihre Beine krachten durch etwas, das barst und knackte und in ihr Fleisch stach. Äste und Zweige. Sie wurde herumgewirbelt, während einige der Zweige sich in ihrer Jeans verfingen und andere in ihrer Lederjacke. Jeder Ast, den sie traf, verringerte ihre Geschwindigkeit.

Als sie schließlich aus dem Baum krachte und auf den Boden schlug, raubte es ihr lediglich den Atem.

Schwarze Punkte tanzten ihr vor Augen. Dann klärte sich ihre Sicht auf, und sie begriff, dass sie auf dem Rücken lag und sich Iona auf den Bauch drückte. Glänzende Judasbaumblätter schwebten überall um sie herum.

Göttin, dachte sie. Wir haben es geschafft. Ich fasse es nicht.

Sie nahm einen dunklen Nebel wahr, und etwas krachte neben ihr auf den Gehsteig.

Morgead. Er landete mit gebeugten Knien wie eine Katze, aber wie eine große Katze. Ein Sprung von einem hohen Gebäude war selbst für einen Vampir ziemlich weit. Jez konnte sehen, wie ihn die Stoßwelle erschütterte, als er mit den Füßen auf den Asphalt traf, bevor er vornüber kippte.

Das muss wehtun, dachte sie mit vagem Mitgefühl. Aber in der nächsten Sekunde stand er schon wieder, kam zu ihr und beugte sich über sie.

»Geht es dir gut?« Er brüllte sowohl laut als auch telepathisch. Sein dunkles Haar war durcheinander und stand ihm vom Kopf ab; seine grünen Augen funkelten wild. »Jez!«

Oh. Du warst es, der gebrüllt hat, als ich gesprungen bin, dachte Jez. Ich hätte es wissen müssen.

Blinzelnd schaute sie zu ihm auf. »Natürlich geht es mir gut«, sagte sie hochmütig. Dann zog sie an dem Kind, das mittlerweile neben ihr lag. »Iona! Geht es dir gut?«

Iona regte sich. Sie hielt mit beiden Händen die vordere Seite von Jez’ Jacke umklammert, und sie richtete sich ein wenig auf, ohne Jez loszulassen. Sie hatte einen Brandfleck am Ärmel, war sonst aber unversehrt.

Ihre samtig braunen Augen waren riesig - und trüb. Sie wirkte traurig und verwirrt.

»Das war wirklich erschreckend«, sagte sie.

»Ich weiß.« Jez schluckte. Sie war nicht gut darin, über emotionale Dinge zu sprechen, aber jetzt sprudelten die Worte einfach so aus ihr heraus. »Es tut mir leid, Iona; es tut mir so leid, es tut mir so leid. Wir hätten das nicht tun dürfen. Es war gemein, und es tut mir furchtbar leid, und wir werden dich jetzt nach Hause bringen. Niemand wird dir etwas tun. Wir werden dich zu deiner Mom zurückbringen.«

Die samtigen Augen blickten immer noch unglücklich. Müde und unglücklich und tadelnd. Jez hatte sich noch nie so sehr wie ein Monster gefühlt; nicht einmal in jener Nacht in Muir Woods, als sie begriffen hatte, dass sie Jagd auf ihre eigene Rasse machte.

Ionas Blick blieb fest, aber ihr Kinn zitterte.

Jez sah Morgead an. »Kannst du ihr Gedächtnis löschen? Ich sehe keinen Grund, warum sie sich an all das erinnern müsste.«

Sein Atem ging immer noch schnell, sein Gesicht war bleich, und seine Pupillen waren geweitet. Aber er sah Iona an und nickte. »Ja, ich kann es löschen.«

»Denn sie ist nicht die Wilde Macht«, sagte Jez ruhig, als mache sie eine Bemerkung über das Wetter.

Morgead zuckte die Achseln. Dann strich er sich mit dem Handgelenk das Haar aus dem Gesicht und schloss kurz die Augen.

»Sie ist ein ungewöhnliches Kind, und ich weiß nicht genau, was sie einmal werden wird - eine großartige Ärztin oder Botanikerin oder vielleicht sogar Präsidentin oder so. Etwas Besonderes, denn sie hat dieses innere Leuchten - etwas, das sie davon abhält, wütend oder gemein oder hysterisch zu werden. Aber das hat nichts damit zu tun, dass sie eine Wilde Macht ist.«

»Okay! Ich hab’s kapiert!«, brüllte Morgead, und Jez wurde bewusst, dass sie aufgeregt drauflosgefaselt hatte. Sie klappte den Mund zu.

Morgead holte tief Luft und ließ die Hand sinken. »Sie ist es nicht. Ich habe mich geirrt. Ich habe einen krassen Fehler gemacht. Okay?«

»Okay.« Jez war jetzt ruhiger. »Also könntest du ihre Erinnerungen bitte löschen?«

»Ja! Ich bin ja schon dabei!« Morgead legte die Hände auf Ionas kleine Schultern. »Hör mal, Kleine, es tut … mir leid. Ich hätte nie gedacht, dass du ... du weißt schon, dass du einfach so springen würdest.«

Iona sagte nichts. Wenn er Vergebung wollte, würde er sie nicht bekommen.

Er holte erneut tief Luft und fuhr fort: »War ein ziemlich mieser Tag, richtig? Also, wie wär’s, wenn du ihn einfach vollkommen vergisst, und ehe du dich versiehst, wirst du wieder zu Hause sein.«

Jez konnte spüren, wie er mit seiner Macht das Bewusstsein des Kindes berührte. Ionas Augen flackerten, und sie sah Jez unsicher an.

»Es ist in Ordnung«, flüsterte Jez. »Es wird nicht wehtun.« Sie sah Iona weiter fest an und versuchte, sie zu trösten, während das, was Morgead suggerierte, langsam seine Wirkung entfaltete.

»Du brauchst dich nicht mehr daran zu erinnern«, sprach Morgead weiter, und seine Stimme war jetzt beschwichtigend. Sanft. »Also, warum schläfst du nicht einfach ein? Du kannst ein kleines Nickerchen machen ... und wenn du aufwachst, bist du zu Hause.«

Ionas Lider schlossen sich. In der allerletzten Sekunde warf sie Jez ein winziges, schläfriges Lächeln zu - es war nur der sachte Anflug eines Lächelns, aber diese Regung in Ionas Miene schien das Gefühl der Enge in Jez’ Brust zu lindern. Und dann lagen Ionas Wimpern schwer auf ihren Wangen, und ihre Atmung war tief und regelmäßig.

Jez richtete sich auf und legte das schlafende Kind sanft auf den Gehsteig. Sie strich einen verirrten Zopf zur Seite und beobachtete, wie sich die kleine Brust einige Mal hob und senkte. Dann schaute sie zu Morgead auf.

»Danke.«

Er zuckte die Achseln und stieß scharf den Atem aus. »Es war das Mindeste, was ich tun konnte.« Dann warf er ihr einen seltsamen Blick zu.

Und im gleichen Moment fiel es Jez siedend heiß ein. Sie war diejenige, die sich solche Sorgen um das Kind gemacht hatte - warum hatte sie dann Morgead gebeten, die Erinnerungen zu löschen?

Weil ich es nicht tun kann, dachte sie trocken. Laut sagte sie: »Ich bin wirklich ziemlich müde nach allem, was heute geschehen ist. Ich habe nicht mehr viel Macht übrig.«

»Ja ...« Aber seine grünen Augen waren leicht verengt und blickten forschend.

»Außerdem tut mir alles weh.« Jez streckte sich und prüfte zaghaft ihre Muskeln, wobei sie spürte, dass jeder Teil ihres Körpers protestierte.

Der forschende Blick verschwand sofort. Morgead beugte sich vor und begann sie besorgt und sanft abzutasten.

»Kannst du alles bewegen? Was ist mit deinen Beinen? Fühlst du dich irgendwo taub?«

»Ich kann alles bewegen, und ich wünschte, ich würde mich irgendwo taub fühlen.«

»Jez - es tut mir leid.« Er platzte ebenso unbeholfen damit heraus wie zuvor bei dem Kind. »Ich wollte nicht … ich meine, das alles hat sich einfach nicht so entwickelt, wie ich es geplant hatte. Das Kind ist verletzt worden – du bist verletzt worden. Das war nicht das, was ich im Sinn gehabt habe.«

Das Kind ist verletzt worden?, dachte Jez. Erzähl mir nicht, dass dich das interessiert.

Aber Morgead hatte keinen Grund zu lügen. Und er wirkte tatsächlich unglücklich - wahrscheinlich unglücklicher, als Jez ihn je gesehen hatte. Seine Pupillen waren riesig, als hätte er Angst.

»Ich bin nicht verletzt«, erklärte Jez. Es war das Einzige, was ihr einfiel. Plötzlich wurde ihr schwindelig - sie fühlte sich unsicher und ein wenig benommen, als befände sich sie noch immer im freien Fall vom Dach.

»Doch, das bist du.« Er sagte es mit seiner typischen Halsstarrigkeit, als sei dies eine ihrer Streitereien. Aber er streckte die Hand aus, um sie an der Wange zu berühren.

An der Wange, die von den Müllfunken getroffen worden war. Es tat weh, doch Morgead berührte sie so sanft ... Kühle floss aus seinen Fingern, drang in die Brandwunde ein und linderte den Schmerz.

Jez keuchte auf. »Morgead - was machst du da?«

»Ich gebe dir ein wenig Macht. Deine Reserven sind erschöpft, und du brauchst sie.«

Er gab ihr Macht? So etwas hatte sie noch nie gehört. Aber er tat es. Sie konnte spüren, dass ihre Haut sich schneller heilte, während seine Stärke in sie hineinfloss.

Es war ein seltsames Gefühl. Sie schauderte innerlich.

»Morgead ...«

Sein Blick war auf ihr Gesicht geheftet. Und plötzlich waren seine Augen alles, was Jez sehen konnte; der Rest der Welt war verschwommen. Alles, was sie hören konnte, war das leise Stocken in seinem Atem; alles, was sie fühlen konnte, war die Sanftheit seiner Berührung.

»Jez...«

Sie beugten sich zueinander hin, sie fielen aufeinander zu. Es war dieses silberne Band zwischen ihnen, das kürzer wurde, sie zueinander hinzog. Sie konnten sich an nichts anderem festhalten als aneinander. Und dann lag sie in Morgeads Armen, und sie spürte seinen warmen Mund auf ihren Lippen.