Kapitel Zehn

 

Jez blieb vollkommen reglos stehen, ohne irgendeinen Ausdruck auf ihrem Gesicht zuzulassen. Ihr Geist spielte verschiedene Strategien durch. Zwei Ausgänge - aber wenn sie das Fenster nahm, bedeutete das einen Sprung aus dem vierten Stock, und in ihrer Verfassung würde sie das wahrscheinlich nicht überleben. Außerdem konnte sie natürlich nicht gehen, ohne irgendetwas zu unternehmen, um Morgead zum Schweigen zu bringen - aber einen weiteren Kampf würde sie ebenfalls nicht überleben ...

Sie unterdrückte jedes Gefühl, erwiderte Morgeads Blick und fragte gelassen: »Und was denkst du, was der Grund ist?«

Triumph blitzte in seinen Augen auf. »Jez Redfern. Das ist der Schlüssel, nicht wahr? Deine Familie.«

Ich werde ihn irgendwie töten müssen, dachte sie, aber er sprach weiter.

»Deine Familie hat dich geschickt. Hunter Redfern. Er weiß, dass ich die Wilde Macht wirklich gefunden habe, und er erwartet von dir, dass du es aus mir herausholst.«

Erleichterung strömte langsam durch Jez’ Adern, und ihre Bauchmuskeln entspannten sich.

Sie ließ sich nichts anmerken. »Du Idiot! Natürlich nicht. Ich mache keine Botengänge für den Rat.«

Morgead zog die Oberlippe hoch. »Ich habe nichts vom Rat gesagt. Ich sagte Hunter Redfern. Er versucht, den Rat zu hintergehen. Er will die Wilde Macht für sich selbst. Um die Redferns zum Glanz alter Zeiten zurückzuführen. Du machst Botengänge für ihn.«

Jez war vor Ärger die Kehle wie zugeschnürt. Dann lauschte sie auf den Teil ihres Verstandes, der ihr riet, die Fassung zu bewahren und klar zu denken.

Strategie, rief diese Stimme ihr zu. Er hat dir gerade die Antwort serviert, und du versuchst, sie wegzuschlagen.

»Okay; was wäre, wenn das die Wahrheit ist?«, fragte sie schließlich knapp. »Was, wenn ich tatsächlich von Hunter komme?«

»Dann kannst du ihm sagen, er kann mich mal. Ich habe dem Rat meine Bedingungen genannt. Ich werde mich mit nichts Geringerem zufrieden geben.«

»Und was waren deine Bedingungen?«

Er lachte höhnisch. »Als wüsstest du das nicht.« Als sie ihn nur anstarrte, zuckte er die Achseln und hörte auf, im Raum auf und ab zu gehen. »Ein Sitz im Rat«, antwortete er kühl und mit vor der Brust verschränkten Armen.

Jez brach in Gelächter aus. »Du«, erklärte sie, »bist wohl total durchgeknallt.«

»Ich weiß, dass sie ihn mir nicht geben werden.«

Er lächelte, und es war kein nettes Lächeln. »Aber ich erwarte, dass sie mir so etwas anbieten wie die Kontrolle über San Francisco. Und eine Position nach der Zeitenwende.«

Nach der Zeitenwende. Also nach der Apokalypse, nachdem die menschliche Rasse getötet oder unterjocht oder gegessen worden war oder was immer Hunter Redfern sonst im Sinn hatte.

»Du willst ein Prinz in der neuen Weltordnung sein«, sagte Jez langsam, und es überraschte sie, wie verbittert es klang. Es überraschte sie, wie überrascht sie war. War das nicht genau das, was sie von Morgead erwartete?

»Ich will, was mir zusteht. Mein Leben lang musste ich herumstehen und zusehen, wie Menschen alles bekamen. Nach der Zeitenwende werden die Dinge anders aussehen.« Er funkelte sie grüblerisch an.

Jez war noch immer übel. Aber sie wusste jetzt, was sie sagen musste.

»Und was bringt dich auf die Idee, dass der Rat nach der Zeitenwende noch da sein wird?« Sie schüttelte den Kopf. »Du wärst besser dran, dich auf Hunters Seite zu schlagen. Ich würde jederzeit auf ihn wetten, wenn es zu einer Konfrontation zwischen ihm und dem Rat kommen sollte.«

Morgead blinzelte einmal, wie eine Eidechse. »Er hat die Absicht, den Rat loszuwerden?«

Jez hielt seinem Blick stand. »Was würdest du an seiner Stelle tun?«

Morgeads Miene wurde keine Spur freundlicher. Aber sie sah in seinen Augen, dass sie ihn hatte.

Er wandte sich scharf ab und ging zum Fenster, um mit düsterem Blick hinauszuschauen. Jez konnte praktisch sehen, wie sich die Rädchen in seinem Kopf drehten. Schließlich wandte er sich wieder zu ihr um.

»In Ordnung«, sagte er kalt. »Ich werde mich Hunters Team anschließen - aber nur zu meinen Bedingungen. Nach der Zeitenwende ...«

»Nach der Jahrtausendwende wirst du bekommen, was du verdienst.« Jez konnte sich nicht beherrschen. Sie funkelte wild zurück. Morgead weckte ihre schlimmsten Eigenschaften, all die Dinge, die sie zu beherrschen versuchte.

»Du wirst eine Position bekommen«, räumte sie ein und spann eine Geschichte, von der sie wusste, dass er sie hören wollte. Sie improvisierte, aber ihr blieb keine andere Wahl. »Hunter will in der neuen Ordnung Leute haben, die ihm ergeben sind. Und wenn du dich als wertvoll erweist, wird er dich wollen. Aber du musst es zuerst beweisen. Okay? Abgemacht?«

»Falls ich dir trauen kann.«

»Wir können einander trauen, weil wir es müssen. Wir wollen beide das Gleiche. Wenn wir tun, was Hunter will, gewinnen wir beide.«

»Also kooperieren wir - für den Augenblick.«

»Wir kooperieren - und wir warten ab, was geschieht«, antwortete Jez gelassen.

Sie sahen einander von den gegenüberliegenden Seiten des Raums aus an. Es war, als hätten sie niemals Blut geteilt. Sie waren in ihre alten Rollen zurückgekehrt - vielleicht ein wenig feindseliger, aber es waren dieselbe Jez und derselbe Morgead, die es genossen, Gegner zu sein.

Vielleicht wird es von jetzt an einfach, dachte Jez. Solange Hunter nicht auftaucht und mich auffliegen lässt.

Dann grinste sie innerlich. Das würde niemals geschehen. Hunter Redfern war seit fünfzig Jahren nicht mehr an der Westküste gewesen.

»Zum Geschäft«, sagte sie energisch. »Wo ist die Wilde Macht, Morgead?«

»Ich werde es dir zeigen.« Er ging zu dem Futon hinüber und setzte sich.

Jez blieb, wo sie war. »Du wirst mir was zeigen?«

»Die Wilde Macht.« Am Fußende des Bettes, auf dem kahlen Boden, stand ein Fernseher mit Video-Rekorder. Morgead legte eine Kassette ein.

Jez ließ sich auf dem gegenüberliegenden Ende des Futons nieder, dankbar für die Chance, sich hinzusetzen.

»Du hast die Wilde Macht aufgenommen?«

Er warf ihr einen eisigen Blick über die Schulter zu. »Ja, für Amerikas lustigste Heimvideos. Halt einfach die Klappe, Jez, und sieh es dir an.«

Jez kniff die Augen zusammen und folgte seinen Anweisungen.

Was sie sah, war ein Fernsehfilm über einen Asteroiden, der das Leben auf der Erde auszulöschen drohte. Ein Film, den sie bereits gesehen hatte - er war idiotisch gewesen. Plötzlich wurde die Handlung von dem Logo eines lokalen Nachrichtensenders unterbrochen. Eine blonde Moderatorin erschien auf dem Bildschirm.

»Wichtige aktuelle Nachrichten aus San Francisco. Wir haben Live-Bilder aus dem Marina District, wo ein Feuer der Alarmstufe fünf in einem Komplex von Sozialwohnungen wütet. Wir schalten jetzt zu Linda Chin, die sich vor Ort befindet.«

Die nächste Szene zeigte eine dunkelhaarige Reporterin.

»Regina, ich stehe hier in der Taylor Street, wo Feuerwehrleute zu verhindern versuchen, dass dieser spektakuläre Brand sich ausbreitet...«

Jez blickte vom Bildschirm zu Morgead. »Was hat das mit der Wilden Macht zu tun? Ich habe es live gesehen. Es ist vor zwei Wochen passiert. Ich habe mir diesen dummen Film angesehen ...«

Sie brach ab, erschrocken über sich selbst. Sie war tatsächlich drauf und dran gewesen zu sagen: »Ich habe mir diesen dummen Film angesehen, mit Claire und Tante Nan.« Um ein Haar hätte sie einfach so die Namen der Menschen ausgeplaudert, bei denen sie lebte. Wütend biss sie die Zähne zusammen.

Sie hatte Morgead bereits genug wissen lassen: Dass sie vor zwei Wochen in diesem Gebiet gewesen war, wo ein lokaler Nachrichtensender das Programm unterbrechen konnte.

Was war los mit ihr?

Morgead warf ihr einen sardonischen Blick zu, nur um sie wissen zu lassen, dass ihr Ausrutscher ihm nicht entgangen war. Aber alles, was er sagte, war: »Schau weiter zu. Du wirst schon sehen, was es mit der Wilden Macht zu tun hat.«

Auf dem Bildschirm flackerten die Flammen leuchtend orange und grell vor dem Hintergrund der Dunkelheit. So grell, dass Jez, hätte sie diesen Teil des Marina Districts nicht gut gekannt, sich kaum hätte orientieren können.

Vor dem Gebäude trugen gelbe Feuerwehrleute Wasserschläuche. Rauch flutete plötzlich nach draußen, als aus einem der Schläuche ein Wasserstrahl in die Flammen schoss.

»Ihre größte Angst ist, dass sich in diesem Komplex noch ein kleines Mädchen aufhalten könnte ...«

Ja. Das war es, was Jez von diesem Brand im Gedächtnis geblieben war. Da war ein Kind gewesen ...

»Schau her«, sagte Morgead und streckte die Hand aus.

Die Kamera zoomte etwas heran und holte die Flammen näher. Ein Fenster in dem rosig braunen Beton des Gebäudes. Hoch oben, im zweiten Stock. Auf dem Gehweg darunter loderten Flammen und machten es unmöglich, dort hinzugelangen.

Die Reporterin redete noch immer, aber Jez blendete sie aus. Sie beugte sich weiter vor, den Blick auf dieses Fenster gerichtet.

Wie alle anderen Fenster lag es hinter einem halbhohen, schmiedeeisernen Gitter. Doch im Gegensatz zu den anderen befand sich dort noch etwas: Auf dem Sims standen zwei Plastikkübel mit schmutzigen, dürren Pflanzen. Ein Fensterkasten.

Und ein Gesicht, das zwischen den Pflanzen hervorspähte.

Das Gesicht eines Kindes.

»Da«, sagte Morgead.

Die Reporterin sprach weiter. »Regina, die Feuerwehrleute sagen, es befinde sich definitiv noch jemand im zweiten Stock dieses Gebäudes. Sie suchen nach einer Möglichkeit, sich der Person zu nähern - dem kleinen Mädchen ...«

Starke Suchscheinwerfer waren auf die Flammen gerichtet worden. Das war der einzige Grund, warum man das Mädchen überhaupt sah. Trotzdem konnte Jez keine Gesichtszüge erkennen. Das Mädchen war ein kleiner, verschwommener Klecks.

Feuerwehrleute versuchten, eine Art Leiter auf das Gebäude zuzuschieben. Leute liefen umher, tauchten auf und verschwanden in dem wabernden Rauch. Die Szene war unheimlich, wie aus einer anderen Welt.

Jez erinnerte sich, erinnerte sich daran, das kaum unterdrückte Entsetzen in der Stimme der Reporterin gehört zu haben, erinnerte sich an Claire, die neben ihr gesessen und scharf die Luft eingesogen hatte.

»Es ist ein Kind«, hatte Claire gesagt, Jez’ Arm gepackt und ihr die Nägel ins Fleisch gebohrt und für einen Moment sogar vergessen, wie wenig sie Jez mochte. »Oh Gott, ein Kind.«

Und Jez hatte in etwa geantwortet: »Es wird schon alles gut gehen«, erinnerte sie sich. Aber sie wusste, dass es nicht gut gehen würde. Da war zu viel Feuer. Es bestand keine Chance ...

»Das ganze Gebäude ist betroffen ...«, sagte die Reporterin nun, und die Kamera fuhr wieder zu einer Nahaufnahme heran, und Jez erinnerte sich, wie sie begriffen hatte, dass sie tatsächlich im Fernsehen zeigen würden, wie dieses Mädchen bei lebendigem Leib verbrannte.

Die Plastikkübel schmolzen bereits. Die Feuerwehrleute mühten sich weiter mit der Leiter ab. Dann gab es plötzlich einen gewaltigen Ausbruch von Orange, eine Explosion, als die Flammen unterhalb des Fensters herausschlugen und mit wilder Wut hinaufzüngelten. Sie waren so hell, als zögen sie alles Licht ringsum in sich hinein. Sie waren jetzt überall um das Fenster herum mit dem Mädchen. Die Stimme der Reporterin brach.

Jez erinnerte sich lebhaft. Claire hatte aufgekeucht - »Nein!« - und ihre Nägel noch tiefer in Jez’ Arm gebohrt, so tief, dass Blut kam.

Und dann flackerte der Bildschirm plötzlich und eine gewaltige Wand aus Rauch wehte aus dem Gebäude. Schwarzer Qualm, dann grauer, dann ein Hellgrau, das fast weiß aussah. Alles ging in dem Qualm unter. Als er sich endlich ein wenig lichtete, starrte die Reporterin mit unverhohlenem Erstaunen zu dem Gebäude auf und vergaß, sich der Kamera zuzuwenden.

»Das ist unglaublich ... Regina, das ist eine absolute Wende ... die Feuerwehrleute haben - entweder hat das Wasser plötzlich Wirkung gezeigt, oder etwas anderes hat dazu geführt, dass das Feuer erloschen ist... so etwas habe ich noch nie gesehen ...«

Aus jedem Fenster im Gebäude quoll jetzt weißer Rauch. Und das Bild war verwaschen und bleich geworden, weil sich keine leuchtend orangefarbenen Flammen mehr gegen die Dunkelheit abzeichneten.

Das Feuer war einfach verschwunden.

»Ich weiß wirklich nicht, was geschehen ist, Regina ... ich denke, ich kann getrost sagen, dass alle hier sehr dankbar sind ...«

Die Kamera zoomte das Gesicht im Fenster heran. Es war immer noch schwer, Gesichtszüge zu erkennen, aber Jez konnte milchkaffeefarbene Haut sehen und eine anscheinend ziemlich gelassene Miene. Dann streckte jemand die Hand aus, um sachte nach einem der geschmolzenen Plastikkübel zu greifen und hereinzuholen.

Das Bild erstarrte. Morgead hatte auf Pause gedrückt.

»Sie sind nicht dahintergekommen, was das Feuer gelöscht hat. Es ist überall gleichzeitig ausgegangen, als sei es erstickt worden.«

Jez konnte erkennen, worauf er hinaus wollte. »Und du denkst, es war irgendeine Art von Macht, die es gelöscht hat. Ich weiß nicht, Morgead - es ist eine ziemlich gewagte Vermutung. Und von dieser Vermutung aus auf die Idee zu kommen, dass es eine Wilde Macht war …«

»Dann hast du es übersehen.« Morgead klang selbstgefällig.

»Was übersehen?«

Er spulte das Band zurück bis zu dem Moment, bevor das Feuer erlosch. »Ich hätte es selbst beinahe übersehen, als ich es live angeschaut habe. Ein Glück, dass ich es aufgezeichnet hatte. Als ich zurückgespult und noch einmal hingeschaut habe, konnte ich es deutlich sehen.«

Er spielte die Aufnahme jetzt in Zeitlupe ab. Jez sah das Feuer Bild um Bild größer werden. Sie sah es zu dem Fenster hinaufkriechen.

Und dann zuckte ein Blitz auf.

Bei normaler Geschwindigkeit sah man ihn nur als ein Flackern, das man leicht für ein Kameraproblem halten konnte. Doch bei dieser Geschwindigkeit war der Blitz unübersehbar.

Er war blau.

Eigentlich sah er aus wie ein Zwischending von Blitz und Flamme, blauweiß und von einem intensiveren Blau umrahmt. Und er bewegte sich. Zuerst war er klein, ein runder Fleck direkt am Fenster. Im nächsten Bild war er viel größer und breitete sich in alle Richtungen aus, während Finger in die Flammen griffen. Im nächsten Bild bedeckte er den gesamten Fernsehschirm und schien das Feuer zu verschlingen.

Im darauffolgenden Bild war er verschwunden, und das Feuer mit ihm. Weißer Rauch begann aus den Fenstern zu kriechen.

Jez war wie gebannt.

»Göttin«, flüsterte sie. »Blaues Feuer.«

Morgead spulte zurück, um die Szene noch einmal ablaufen zu lassen. »Mit blauem Feuer wird die letzte Dunkelheit gebannt. Mit Blut wird der letzte Preis bezahlt ... Wenn dieses Mädchen keine Wilde Macht ist, Jez ... was ist sie dann? Sag du es mir.«

»Ich weiß es nicht.« Jez biss sich langsam auf die Unterlippe und beobachtete, wie sich auf dem Bildschirm vor ihr die seltsame Szene noch einmal abspielte. Also bedeutete das blaue Feuer in der Prophezeiung eine neue Art von Energie. »Du fängst an, mich zu überzeugen. Aber ...«

»Hör mal, jeder weiß, dass eine der Wilden Mächte in San Francisco ist. Eine der Alten im Hexenzirkel - Grandma Harman oder irgendjemand - hat davon geträumt. Sie hat das blaue Feuer vor dem Coit Tower oder irgendwo da gesehen. Und alle wissen, dass die vier Wilden Mächte ungefähr zu dieser Zeit in Erscheinung treten sollten. Ich denke, dieses Mädchen hat es zum ersten Mal gemacht, als es begriff, dass es sterben würde. Als es so verzweifelt war.«

Jez konnte sich diese Art von Verzweiflung vorstellen; sie hatte sie sich bereits vorgestellt, als sie das Feuer zum ersten Mal, live, gesehen hatte. Wie es sich anfühlen musste ... derart in der Falle zu sitzen. Zu wissen, dass es keine irdische Hilfe gab, dass man kurz davorstand, den schrecklichsten vorstellbaren Schmerz zu erleben. Zu wissen, dass man spüren würde, wie der eigene Körper verkohlte und das eigene Haar brannte wie eine Fackel und dass es zwei oder drei endlose Minuten dauern würde, bevor man starb und das Grauen vorüber war.

Ja, du wärst verzweifelt gewesen, allerdings. All das zu wissen, hätte eine neue Macht aus dir herausziehen können, eine hektische Explosion von Kraft, wie ein unbewusster Schrei aus den Tiefen deines Wesens.

Aber eines machte ihr zu schaffen.

»Wenn dieses Kind die Wilde Macht ist, warum hatte sein Zirkel dann nicht bemerkt, was passiert ist? Warum hat das Mädchen ihnen nicht gesagt: >Hey Leute, hört mal: Ich kann jetzt Feuer löschen!<«

Morgead sah sie verärgert an. »Wie meinst du das, welcher Zirkel?«

»Nun, sie ist eine Hexe, richtig? Du willst mir doch nicht erzählen, dass Vampire oder Gestaltwandler solche neuen Kräfte entwickeln.«

»Wer hat etwas von Hexen, Vampiren oder Gestaltwandlern gesagt? Das Kind ist menschlich.«

Jez blinzelte.

Und blinzelte noch einmal, während sie versuchte, das Ausmaß ihres Erstaunens zu verbergen. Für einen Moment dachte sie, Morgead nähme sie auf den Arm. Aber seine grünen Augen waren einfach verärgert, nicht verschlagen.

»Die Wilden Mächte ... können menschlich sein?«

Morgead lächelte plötzlich - ein Feixen. »Du hast es wirklich nicht gewusst. Du hast nichts von all den Prophezeiungen gehört, oder?« Er warf sich spöttisch in Rednerpose:

***

Eine aus dem Land der Könige, lang vergessen;

Eine vom Herd, der noch die Glut bewahrt;

Eine aus der Tagwelt, in der zwei Augen wachen;

Eine aus dem Zwielicht, welches das Dunkel sucht.

***

Die Tagwelt, dachte Jez. Nicht die Nachtwelt, die menschliche Welt. Mindestens eine der Wilden Mächte musste menschlich sein.

Unglaublich ... aber warum nicht? Wilde Mächte galten als merkwürdig.

Dann fiel ihr etwas ein, und ihr wurde flau im Magen.

»Kein Wunder, dass du so scharf darauf bist, sie auszuliefern«, sagte sie leise. »Nicht nur um eine Belohnung zu kassieren ...«

»Sondern weil der kleine Dreck es verdient zu sterben - oder was immer Hunter für sie im Sinn hat.« Morgeads Stimme war sachlich. »Yeah, Ungeziefer hat kein Recht, Nachtweltkräfte zu entwickeln. Richtig?«

»Natürlich ist das richtig«, sagte Jez ohne jede Emotion. Ich werde jede Minute des Tages über dieses Mädchen wachen müssen, dachte sie. Er hat nicht das geringste Mitleid mit ihr - weiß die Göttin, was er ihr antun würde.

»Jez.« Morgeads Stimme war sanft, beinahe angenehm, aber sie erregte Jez’ volle Aufmerksamkeit. »Warum hat Hunter dir nichts von dieser Prophezeiung erzählt? Der Rat hat sie letzte Woche ausgegraben.«

Sie sah ihn an und verspürte ein inneres Schaudern. Kalter Argwohn lag in den Tiefen seiner grünen Augen. Wenn Morgead brüllte und wütend war, war er schon gefährlich genug, aber wenn er so still war wie jetzt, war er tödlich.

»Ich habe keine Ahnung«, sagte sie energisch und warf das Problem zu ihm zurück. »Vielleicht weil ich bereits hier draußen in Kalifornien war. Aber warum rufst du ihn nicht an und fragst ihn selbst? Ich bin mir sicher, er würde liebend gern von dir hören.«

Es folgte eine Pause. Dann warf Morgead ihr einen vernichtenden Blick zu und wandte sich ab.

Ein guter Bluff ist unbezahlbar, dachte Jez.

Jetzt konnte sie auch den nächsten Schritt wagen. Sie fragte: »Was bedeuten also die zwei wachenden Augen in der Prophezeiung?«

Er verdrehte die Augen. »Woher soll ich das wissen? Knobel du das aus. Du warst doch immer die Kluge von uns beiden.«

Trotz des triefenden Sarkasmus verspürte Jez einen Schauder anderer Art. Einen überraschenden Schauder. Er glaubte das tatsächlich. Morgead war selbst klug - er hatte das Flackern auf dem Fernsehschirm gesehen und begriffen, was es war, während anscheinend niemand sonst in der Bay Area das getan hatte -, aber er hielt sie trotzdem für die Klügere.

»Nun, du scheinst selbst ziemlich gut zurechtzukommen«, meinte sie.

Sie hatte ihn ruhig angesehen, um ihm keine Schwäche zu zeigen, und sie sah, wie sein Gesichtsausdruck sich veränderte. Seine grünen Augen wurden eine Spur sanfter, und das sarkastische Zucken um seine Lippen verschwand.

»Nein, ich stolpere nur vor mich hin«, murmelte er und ließ seinen Blick schweifen. Dann schaute er wieder auf, und plötzlich waren sie in einem Moment gefangen, da sie einander nur schweigend ansahen. Keiner von ihnen wandte sich ab, und Jez’ Herz machte einen eigenartigen Satz.

Der Moment dehnte sich in die Länge.

Idiotin! Das ist doch lächerlich. Vor einer Minute hattest du noch Angst vor ihm - ganz zu schweigen davon, dass seine Einstellung zu Menschen dir Übelkeit verursacht. Du kannst nicht plötzlich auf solche Gefühle umschalten.

Aber es hatte keinen Sinn. Selbst die Erkenntnis, dass sie in Lebensgefahr schwebte, half nicht. Jez fiel nichts ein, womit sie die Spannung hätte lösen können, und sie konnte den Blick nicht von Morgead abwenden.

»Jez, hör mal ...«

Er beugte sich vor und legte ihr eine Hand auf den Unterarm. Er schien nicht einmal zu wissen, dass er es tat Seine Miene war jetzt geistesabwesend, und sein Blick war auf sie geheftet.

Seine Hand war warm. Ein Kribbeln verbreitete sich von der Stelle, wo er Jez’ Haut berührte.

»Jez ... wegen vorhin ... ich wollte nicht...«

Plötzlich schlug Jez’ Herz viel zu schnell. Ich muss etwas sagen, dachte sie und bemühte sich um eine ausdruckslose Miene. Aber ihre Kehle war trocken, und ihr Verstand war leer. Das Einzige, was sie deutlich spüren konnte, war die Stelle, an der sie und Morgead einander berührten. Das Einzige, was sie deutlich sehen konnte, waren seine Augen. Katzenaugen wie Smaragde mit sich bewegenden grünen Lichtern darin ...

»Jez«, sagte er ein drittes Mal.

Und dann begriff Jez plötzlich, dass das silberne Band zwischen ihnen nicht zerrissen worden war. Es mochte sich zu einem dünnen Faden gedehnt haben, bis es kaum mehr zu sehen war, aber es war immer noch da, zog immer noch an ihr, versuchte, ihren Körper schwach und ihre Sicht trüb werden zu lassen. Versuchte, sie dazu zu bringen, sich Morgead zu nähern, noch während er sich ihr näherte.

Und dann wurde mit einem Krachen die Wohnungstür aufgetreten.