Kapitel Elf
»Hey, Morgead!«, rief jemand von draußen, noch während sich die Tür schubweise bewegte - sie klemmte alle paar Zentimeter, weil sie alt und verzogen war und nicht mehr in den Rahmen passte.
Jez war beim ersten Geräusch herumgefahren. Die Verbindung zwischen ihr und Morgead war gestört, obwohl sie noch immer das schwache Echo des dünnen silbernen Fadens spüren konnte, wie eine Gitarrensaite, die summte, nachdem sie angeschlagen worden war.
»Hey, Morgead ...«
»He, schläfst du noch ...?« Mehrere lachende, lärmende Gestalten drängten in den Raum. Aber das Gebrüll brach jäh ab, als sie Jez erblickten.
Es folgte ein Aufkeuchen, dann Stille.
Jez stand auf und wandte sich ihnen zu. Sie konnte es sich nicht länger leisten, müde zu sein; jeder Muskel war jetzt wieder leicht angespannt, alle Sinne hellwach.
Sie wusste, in welcher Gefahr sie schwebte.
Genau wie Morgead waren diese Teenager das Treibgut der Straßen San Franciscos. Waisen, bei geichgültigen Verwandten untergebracht, in der Nachtwelt unerwünscht. Vergessene.
Ihre Gang.
Die Schule war zu Ende, und sie waren bereit loszuziehen.
Jez hatte immer schon gedacht - von dem Tag an, als sie und Morgead diese Kids aufgelesen hatten -, dass die Nachtwelt einen Fehler beging, indem sie sie wie Müll behandelten. Sie mochten jung sein; sie mochten keine Familien haben, aber sie hatten Macht. Jeder Einzelne von ihnen besaß die Kraft eines gefährlichen Gegners.
Und in diesem Moment sahen sie Jez an wie eine Gruppe von Wölfen, die ihr Abendessen ins Visier nahm. Wenn sie alle gleichzeitig beschlossen, sich auf sie zu stürzen, wäre sie in echten Schwierigkeiten. Irgendjemand würde am Ende getötet werden.
Sie stand äußerlich gelassen da, während eine leise Stimme endlich das Schweigen brach.
»Du bist es wirklich, Jez.«
Und dann eine andere Stimme, neben Jez. »Ja, sie ist zurückgekommen«, sagte Morgead achtlos. »Sie hat sich der Gang wieder angeschlossen.«
Jez warf ihm einen kaum merklichen Seitenblick zu. Sie hatte von ihm nicht erwartet, dass er ihr helfen würde. Er erwiderte den Blick mit undurchschaubarer Miene.
»Sie ist zurückgekommen?«, fragte jemand verständnislos.
Ein winziger Stich der Heiterkeit durchzuckte Jez. »Das ist richtig«, antwortete sie und behielt eine ernste Miene bei. »Ich musste für eine Weile weggehen, und ich kann euch nicht verraten wohin, aber jetzt bin ich wieder da. Ich habe mir gerade meinen Weg zurück in die Gang erkämpft - und ich habe Morgead besiegt, sodass ich jetzt wieder die Anführerin bin.« Sie dachte, dass sie die ganze Angelegenheit geradeso gut sofort hinter sich bringen konnte. Sie hatte keine Ahnung, wie sie darauf reagieren würden.
Es folgte ein weiterer langer Moment des Schweigens. Und dann ein Jubelschrei. Er ähnelte einem Kriegsschrei. In derselben Sekunde strömte Jez eine gewaltige Welle entgegen - vier Personen, die sich alle auf sie stürzten. Einen Herzschlag lang stand sie wie erstarrt da, bereit, einen vierfachen Angriff abzuwehren.
Dann schlangen sich Arme um ihre Taille.
»Jez! Ich habe dich vermisst!«
Jemand schlug ihr beinahe fest genug auf die Schulter, um sie umzuwerfen. »Du böses Mädchen! Du hast ihn schon wieder besiegt?«
Die vier Gangmitglieder versuchten, sie gleichzeitig zu umarmen, zu boxen und zu tätscheln. Jez hatte Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie überwältigt war. Das hatte sie nicht erwartet.
»Es ist schön, euch wiederzusehen«, sagte sie. Ihre Stimme war eine Spur unsicher. Doch es war die Wahrheit.
»Du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt, einfach so zu verschwinden, weißt du«, sagte Raven Mandril. Raven war das hochgewachsene, gertenschlanke Mädchen mit der marmorbleichen Haut. Ihr schwarzes Haar war hinten kurz und vorn lang und fiel ihr über ein Auge, sodass es dieses völlig verdeckte. Das andere Auge war mitternachtsblau und strahlte Jez an.
Jez erlaubte es sich zurückzustrahlen, nur ein klein wenig. Sie hatte Raven immer gern gemocht, sie war von allen die Reifste. »Tut mir leid, Raven.«
»Mir hast du keinen Schrecken eingeflößt.« Das war Thistle, die Jez noch immer umarmte. Thistle Galena war die Zarteste von allen, die mit zehn Jahren ihren Alterungsprozess aufgehalten hatte. Sie war genauso alt wie die anderen, aber winzig und beinahe schwerelos. Sie hatte duftiges, blondes Haar, amethystfarbene Augen und kleine, glänzend weiße Zähne. Ihre Spezialität war es, das verirrte Kind zu spielen und dann jeden Menschen anzugreifen, der versuchte, ihr zu helfen.
»Dich kann nichts schrecken«, erklärte Jez und erwiderte die Umarmung.
»Sie meint, sie wusste, dass es dir gut ging, wo immer du warst. Ich habe es ebenfalls gewusst«, sagte Pierce Holt. Pierce war der schlanke, kalte Junge mit dem aristokratischen Gesicht und den Künstlerhänden. Er hatte dunkelblondes Haar und tief liegende Augen, und in seiner Nähe schien die Luft immer ein paar Grad kälter zu sein. Aber in diesem Moment sah er Jez einfach mit kühler Anerkennung an.
»Ich bin froh, dass wenigstens irgendjemand so dachte«, erwiderte Jez mit einem Blick auf Morgead, der einfach nur herablassend wirkte.
»Yeah, nun, einige Leute sind fast verrückt geworden. Sie haben dich für tot gehalten«, warf Valerian Stillman ein und folgte Jez’ Blick. Val war der Große, Heroische mit dunklem, rostfarbenem Haar, grau gesprenkelten Augen und dem Körperbau eines American-Football-Spielers. Für gewöhnlich lachte er entweder oder brüllte vor Ungeduld. »Morgead hat uns die Straßen zwischen Dale City und der Golden Gate Bridge nach dir absuchen lassen ...«
»Weil ich gehofft hatte, dass ein paar von euch von der Brücke fallen«, sagte Morgead emotionslos. »Aber so viel Glück hatte ich nicht. Und jetzt halt den Mund, Val. Wir haben keine Zeit für diesen Klassentreffenquatsch. Wir haben etwas Wichtiges zu tun.«
Thistles Gesicht leuchtete auf, als sie von Jez zurücktrat. »Du meinst eine Jagd?«
»Er meint die Wilde Macht«, warf Raven ein. Der Blick ihres sichtbaren Auges war auf Jez geheftet. »Das hat er dir bereits erzählt, oder?«
»Ich brauchte ihr nichts zu erzählen«, stellte Morgead fest. »Sie wusste es bereits. Sie ist zurückgekommen, weil Hunter Redfern einen Deal mit uns machen will. Die Wilde Macht gegen einen Platz an seiner Seite nach der Zeitenwende.«
Er erzielte eine Reaktion, von der Jez wusste, dass er sie erwartet hatte. Thistle quietschte vor Freude, Raven lachte heiser, Pierce setzte sein typisches kaltes Lächeln auf und Val brüllte.
»Er weiß, dass wir sie wirklich haben! Er will es sich nicht mit uns verderben«, rief er.
»Ganz richtig, Val. Ich bin mir sicher, dass er in seinen Stiefeln zittert«, sagte Morgead. Er sah Jez an und verdrehte die Augen.
Jez konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Es war wirklich wie in alten Zeiten: Sie und Morgead tauschten heimlich Blicke über Vals Kopf hinweg aus. Eine seltsame Wärme durchströmte sie - nicht die beängstigende, kribbelnde Hitze, die sie erlebt hatte, als sie mit Morgead allein gewesen war, sondern etwas Simpleres. Das Gefühl, mit Leuten zusammen zu sein, die sie mochten und sie kannten. Ein Gefühl der Zugehörigkeit.
So etwas hatte sie in ihrer menschlichen Schule nie empfunden. Sie hatte Dinge gesehen, die ihre menschlichen Klassenkameraden in den Wahnsinn getrieben hätten. Keiner von ihnen hatte eine Ahnung, wie die reale Welt war - oder wie Jez wirklich war. Aber jetzt war sie umringt von Leuten, die sie verstanden. Und es tat so gut, dass sie diese Empfindung zugleich erschreckte.
Das hatte sie nicht erwartet, dass sie in ihre Gang zurückgleiten würde wie eine Hand in einen Handschuh. Oder dass etwas in ihr sich umschauen und seufzen und sagen würde: »Wir sind zu Hause.«
Denn ich bin nicht zu Hause, ermahnte sie sich streng. Das hier sind nicht meine Leute. Auch sie kennen mich nicht wirklich ...
Aber sie brauchen dich nicht zu kennen, kehrte der kleine Seufzer zurück. Du brauchst ihnen nicht einmal zu verraten, dass du ein Mensch bist. Es gibt keinen Grund, warum sie es herausfinden sollten.
Jez schob den Gedanken beiseite und kämpfte den seufzenden Teil ihres Verstandes entschlossen nieder. Und hoffte, dass er in den Tiefen verborgen bleiben würde.
Sie versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was die anderen sagten.
Thistle sprach mit Morgead und zeigte all ihre kleinen Zähne, während sie lächelte. »Also, wenn du die Bedingungen geklärt hast, bedeutet das, dass wir es jetzt tun werden? Wir werden das kleine Mädchen abholen?«
»Heute? Ja, ich schätze, das könnten wir.« Morgead sah Jez an. »Wir kennen ihren Namen und alles. Sie heißt lona Skelton, und sie wohnt nur einige Häuserblocks von der Stelle entfernt, wo der Brand war. Thistle hat sich bereits mit ihr angefreundet.«
Jez war verblüfft, obwohl sie eine entspannte Miene beibehielt. Sie hatte nicht erwartet, dass die Dinge sich so schnell entwickeln würden. Aber es konnte sich durchaus alles zum Besten fügen, begriff sie, als sie rasch die verschiedenen Möglichkeiten durchging. Wenn sie die Kleine entführen und zu Hugh bringen konnte, würde diese ganze Maskerade bis morgen vorüber sein. Und sie würde es vielleicht sogar überleben.
»Freu dich nicht zu sehr«, warnte sie Thistle und kämmte dem kleineren Mädchen einige Grashalme aus dem seidigen Haar. »Hunter will die Wilde Macht lebend und unversehrt. Er hat Pläne mit ihr.«
»Außerdem müssen wir sie prüfen, bevor wir sie holen«, bemerkte Morgead.
Jez unterdrückte den Drang zu schlucken und fuhr fort,Thistles Haar mit den Fingern durchzukämmen. »Wie meinst du das, sie prüfen?«
»Ich denke, das liegt auf der Hand. Wir können das Risiko nicht eingehen, Hunter eine Niete zu schicken. Wir müssen uns davon überzeugen, dass sie tatsächlich die Wilde Macht ist.«
Jez zog eine Augenbraue hoch. »Ich dachte, du wärst dir sicher«, sagte sie, aber natürlich wusste sie, dass Morgead recht hatte. Sie hätte selbst darauf bestanden, dass Hugh einen Weg fand, das kleine Mädchen zu prüfen.
Das Problem war, dass Morgeads Art der Prüfung wahrscheinlich ... unangenehm sein würde.
»Ich bin mir sicher, aber ich will sie trotzdem prüfen!«, blaffte Morgead. »Hast du ein Problem damit?«
»Nur wenn es gefährlich ist. Für uns, meine ich. Schließlich hat sie irgendeine Art von Macht, die unser Vorstellungsvermögen übersteigt, richtig?«
»Und sie besucht die Grundschule. Ich denke kaum, dass sie in der Lage sein wird, es mit sechs Vampiren aufzunehmen.«
Die anderen blickten zwischen Morgead und Jez hin und her wie Fans bei einem Tennismatch.
»Es ist ganz so, als sei sie nie fort gewesen«, bemerkte Raven trocken, und Val lachte brüllend, während Thistle kicherte.
»Sie klingen immer so - verheiratet«, stellte Pierce fest, mit einem Anflug von Gehässigkeit in seiner kalten Stimme.
Jez funkelte sie an, wohl wissend, dass Morgead das Gleiche tat. »Ich würde ihn selbst dann nicht heiraten, wenn jeder andere Mann auf Erden tot wäre«, informierte sie Pierce.
»Wenn ich die Wahl hätte zwischen ihr und einem Menschen, würde ich mich für den Menschen entscheiden«, warf Morgead bösartig ein.
Alle lachten darüber. Sogar Jez.
***
Die Sonne glitzerte auf dem Wasser des Yachthafens. Links von Jez war ein breiter Streifen mit grüner Rasenfläche, wo Leute riesige, bunte Drachen steigen ließen; aufwendige Drachen mit Dutzenden von Regenbogenschwänzen. Auf dem Gehsteig waren Rollerblader unterwegs, Jogger und Leute, die ihre Hunde ausführten. Alle trugen Sommerkleidung; alle wirkten glücklich.
Auf der anderen Straßenseite war alles anders.
Eine Linie von pinkbraunem Beton markierte die Grenze. Dahinter lag eine Highschool und viele Reihen von Sozialbauten, allesamt klobig, flach und hässlich. Und in der Straße dahinter war überhaupt niemand mehr zu sehen.
Jez überließ Morgead die Führung auf seinem Motorrad, während er auf diese Gebäude zufuhr. Sie fand diese Straßen immer bedrückend.
Er bog neben einem Laden mit dem halb verrotteten Schild »Shellfish De Lish« in eine schmale Gasse ein. Val donnerte hinter ihm her, dann Jez, dann Raven mit Thistle hinter sich auf dem Motorradsattel, und zu guter Letzt Pierce. Sie alle schalteten ihre Motoren aus.
»Dort lebt sie jetzt; auf der anderen Seite der Straße«, sagte Morgead. »Sie und ihre Mom wohnen bei ihrer Tante. Niemand spielt auf dem Spielplatz; es ist zu gefährlich. Aber Thistle könnte in der Lage sein, sie dazu zu bewegen, die Treppe herunterzukommen.«
»Natürlich kann ich das«, bemerkte Thistle gelassen. Sie zeigte ihre spitzen Zähne und grinste.
»Dann können wir sie packen und verschwunden sein, bevor ihre Mom es auch nur bemerkt«, sagte Morgead. »Wir können sie zu mir bringen und sie ungestört prüfen.«
Jez atmete einmal tief ein, um den Knoten in ihrem Magen zu beruhigen. »Ich schnappe sie mir«, sagte sie. Zumindest würde sie auf diese Weise vielleicht in der Lage sein, der Kleinen etwas zuzuflüstern, um sie zu beruhigen. »Thistle, du versuchst, sie direkt zum Gehsteig zu bringen. Ihr anderen haltet euch bereit, die Motoren hochzujagen, wenn ich sie packe. Der Lärm sollte jeden Schrei übertönen. Raven, du liest Thistle auf, sobald ich das Kind habe, und wir fahren alle direkt zurück zu Morgead.«
Alle nickten, anscheinend zufrieden mit dem Plan - bis auf Morgead.
»Ich denke, wir sollten sie bewusstlos schlagen, wenn wir sie uns schnappen. Dann wird es gar keine Schreie geben. Ganz zu schweigen von irgendwelchem blauen Feuer, wenn sie dahinterkommt, dass sie entführt wird ...«
»Ich habe bereits gesagt, wie wir es machen werden«, unterbrach Jez ihn entschieden. »Ich will nicht, dass sie bewusstlos geschlagen wird, und ich denke nicht, dass sie uns verletzen kann - sie besucht schließlich noch die Grundschule.« Jez grinste Morgead frech an. »Also, haltet euch bereit. Ab mit dir, Thistle.«
Während Thistle über die Straße lief, stieß Morgead einen scharfen Atemzug aus. Sein Kinn war angespannt.
»Du konntest noch nie einen Rat annehmen, Jez.«
»Und du konntest noch nie Befehle entgegennehmen.« Sie sah, dass er kochte, aber nur aus dem Augenwinkel. Im Wesentlichen konzentrierte sie sich auf das Wohngebäude.
Es war ein trostloser Ort. Keine Graffiti - aber auch kein Gras. Vor dem Gebäude standen einige mutlose Bäume. Und dieser Spielplatz mit einer blauen Metallrutsche und einem Klettergerüst ... alles sah neu und unberührt aus.
»Stellt euch vor, an einem Ort wie diesem aufzuwachsen«, sagte sie.
Pierce stieß ein seltsames Lachen aus. »Du klingst so, als täte sie dir leid.«
Jez schaute ihn an. Da war kein Mitgefühl in seinen tiefliegenden, dunklen Augen - und auch keins in Ravens mitternachtsblauen oder Vals grau gesprenkelten Augen. Komisch, sie konnte sich nicht daran erinnern, dass sie so herzlos waren - aber natürlich war sie in alten Zeiten auch nicht so empfindlich gewesen, was dieses Thema betraf. Sie hätte sich nie die Mühe gemacht, darüber nachzudenken, was sie für menschliche Kinder empfanden.
»Es liegt daran, dass sie ein Kind ist«, sagte Morgead schroff. »Es ist für jedes Kind schwer, an einem solchen Ort aufzuwachsen.«
Jez schaute ihn überrascht an. Und in seinen smaragdgrünen Augen sah sie, was ihr in den Augen der anderen gefehlt hatte; eine Art von trostlosem Mitleid. Dann zuckte er die Achseln, und der Ausdruck war verflogen.
Teils um das Thema zu wechseln, teils aus Neugier fragte sie: »Morgead? Kennst du den Vers über die Vision der blinden Jungfer aus der Prophezeiung?«
»Meinst du diesen?« Er zitierte:
***
Vier müssen zwischen Licht und Dunkel stehen.
Vier mit dem blauen Feuer, der Macht in ihrem Blut.
Geboren im Jahr der Vision der blinden Jungfer.
Fehlt von den Vieren eine, siegt das Dunkel.
***
»Ja. Was denkst du, was >geboren im Jahr der Vision der blinden Jungfer< bedeutet?«
Er wirkte ungeduldig. »Nun, damit muss die Jungfer Aradia gemeint sein, richtig?«
»Wer ist das?«, unterbrach Val ihn, und sein muskulöser Körper zitterte förmlich vor Interesse.
Morgead warf Jez einen seiner Tun-wir-es-Val-zuliebe-Blicke zu. »Die Jungfer der Hexen«, erklärte er. »Du weißt doch, das blinde Mädchen? Die Jungfer aus dem Dreigestirn: Jungfer, Mutter und Alte, die über alle Hexen herrschen? Sie ist nur eine der wichtigsten Leute in der Nachtwelt ...«
»Oh, ja. Ich erinnere mich.« Val lehnte sich zurück.
»Du hast recht«, sagte Jez. »Die blinde Jungfer muss Aradia sein. Aber was bedeutet das >Jahr ihrer Vision<? Wie alt ist dieses Kind, das wir uns greifen wollen?«
»Ungefähr acht, denke ich.«
»Hatte Aradia vor acht Jahren irgendeine besondere Vision?«
Morgead starrte jetzt mit gerunzelten Brauen auf die andere Straßenseite. »Woher soll ich das wissen? Sie hat Visionen, seit sie blind geworden ist, okay? Also seit ungefähr siebzehn Jahren. Wer weiß schon, welche Vision diese Prophezeiung meint?«
»Was du meinst, ist Folgendes: Du hast nicht mal versucht, es herauszufinden«, erwiderte Jez schneidend.
Er warf ihr einen bösen Blick zu. »Du bist doch so klug; mach du’s.«
Jez antwortete nichts, aber sie beschloss, genau das zu tun. Aus irgendeinem Grund beunruhigte dieser Vers sie. Aradia war jetzt achtzehn und hatte Visionen, seit sie im Alter von einem Jahr das Augenlicht verloren hatte. Irgendeine konkrete Vision musste etwas Besonderes gewesen sein. Warum sollte sie sonst in der Prophezeiung erwähnt werden?
Es musste wichtig sein. Und ein Teil von Jez machte sich deswegen Sorgen.
Genau in dem Moment sah sie eine Bewegung auf der anderen Straßenseite. Eine braune Metalltür wurde geöffnet, und zwei kleine Gestalten kamen heraus.
Eine mit duftigem, blondem Haar, die andere mit winzigen, dunklen Zöpfen. Sie gingen Hand in Hand.
Etwas in Jez krampfte sich zusammen.
Bleib einfach ruhig, bleib ruhig, beschwor sie sich. Es hat keinen Sinn, darüber nachzudenken, sie zu packen und zur East Bay zu fliehen. Sie würden dir einfach folgen und dich aufspüren. Bleib cool, und du wirst das Kind später befreien können.
Yeah, nach Morgeads kleiner »Prüfung« ...
Aber sie blieb tatsächlich cool und bewegte sich nicht, atmete nur langsam und gleichmäßig ein und aus, während Thistle das Mädchen die Treppe hinunterführte. Als sie den Gehsteig erreichten, ließ Jez ihre Harley an.
Sie gab keine Anweisungen. Sie wusste, dass die anderen ihren Plan befolgen würden wie ein Schwarm gut trainierter Entchen. Jez fuhr direkt auf den Gehsteig zu.
Das Kind war nicht dumm. Als es Jez’ Motorrad auf sich zukommen sah, versuchte es wegzulaufen. Der Fehler war, dass es auch Thistle retten wollte. Es versuchte, das kleine blonde Mädchen mit sich zu ziehen, aber Thistle war plötzlich sehr stark, umfasste mit einer kleinen Hand, die wie Stahl war, den Maschendrahtzaun des Spielplatzes und hielt sie beide dort fest.
Jez preschte heran und fasste ihr Opfer geschickt um die Taille. Sie hörte, wie die Motoren der anderen aufheulten, dann wusste sie die Gang in enger Formation hinter ihr. Jez schwang das Kind auf den Motorradsattel, spürte den Aufprall des kleinen Körpers an ihrer Brust und spürte Hände, die sich automatisch an sie klammerten, weil die Kleine nicht das Gleichgewicht verlieren wollte.
Dann schoss sie an einem geparkten Wagen vorbei und flog davon.
Sie wusste, dass Raven nur noch Thistle aufsammelte und dass die anderen alle folgten. Es gab keinen Schrei oder auch nur irgendein Geräusch aus der Sozialsiedlung.
Sie donnerten die Taylor Street entlang. Sie kamen an der Highschool vorbei. Sie hatten keine Probleme bei der Flucht.
»Halt dich an mir fest, oder du wirst runterfallen und dich verletzen!«, brüllte Jez dem Kind vor ihr zu, während sie so schnell in die Kurve ging, dass ihr Knie beinahe über den Boden schleifte.
Sie wollte weit genug vor den anderen bleiben, damit sie reden konnte.
»Bring mich zurück nach Hause!« Die Kleine schrie sie an, aber nicht hysterisch. Sie hatte nicht einmal gekreischt. Jez schaute auf sie hinab.
Und blickte in dunkle, samtig braune Augen. Ernste Augen. Sie wirkten tadelnd und unglücklich - aber nicht verängstigt.
Jez war verblüfft.
Sie hatte Tränen erwartet, panische Angst, Wut. Aber sie hatte das Gefühl, dass dieses Kind nicht einmal brüllen würde, selbst wenn es die einzige Möglichkeit wäre, sich Gehör zu verschaffen.
Vielleicht hätte ich mir mehr Sorgen machen sollen, was sie uns antun könnte. Vielleicht kann sie blaues Feuer heraufbeschwören, um Leute zu töten. Wie kann sie sonst so gefasst sein, wenn sie gerade gekidnappt wurde?
Aber diese braunen Augen - es waren nicht die Augen einer Person, die gleich angreifen würde. Es waren - Jez wusste nicht, was das für Augen waren. Aber sie zerrissen ihr das Herz.
»Hör mal - Iona, richtig? So heißt du doch?«
Das Kind nickte.
»Hör mal, Iona, ich weiß, das alles kommt dir unheimlich und beängstigend vor - dass dich gerade jemand einfach von der Straße gerissen hat. Und ich kann dir jetzt nicht alles erklären. Aber ich verspreche dir, dass dir nichts passiert. Niemand wird dir wehtun - okay?«
»Ich will nach Hause.«
Oh, Kleine, das will ich auch, dachte Jez plötzlich. Sie musste heftig blinzeln. »Ich werde dich nach Hause bringen - oder zumindest an einen sicheren Ort«, fügte sie hinzu, in einem unerwarteten Anfall von Ehrlichkeit. Das Kind hatte etwas an sich, das sie dazu brachte, nicht lügen zu wollen. »Aber zuerst müssen wir dich in das Haus eines Freundes von mir bringen. Doch hör mal, ganz gleich, wie seltsam all das erscheint, ich will, dass du dich an etwas erinnerst. Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas zustößt. Okay? Glaubst du mir das?«
»Meine Mom wird Angst haben.«
Jez holte tief Luft und fuhr auf die Schnellstraße. »Ich verspreche, dass ich nicht zulassen werde, dass dir irgendjemand etwas antut«, sagte sie noch einmal. Und das war alles, was sie sagen konnte.
Sie fühlte sich wie ein Zentaur, eine Kreatur, die halb Person und halb stählernes Pferd war und die mit der Geschwindigkeit von sechzig Meilen die Stunde ein menschliches Kind davontrug. Es war sinnlos zu versuchen, auf der Schnellstraße ein Gespräch zu führen, und auch Iona sprach erst wieder, als sie zu Morgeads Wohngebäude hinaufpreschten.
»Ich will nicht da rein gehen«, stellte sie lediglich fest.
»Es ist kein schlimmer Ort«, erwiderte Jez, während sie bremste. »Wir gehen aufs Dach hinauf. Dort gibt es einen kleinen Garten.«
In den ernsten, braunen Augen flackerte ein Anflug von Interesse auf. Vier andere Bikes blieben neben Jez stehen.
»Juhu! Wir haben sie!«, brüllte Val und nahm seinen Helm ab.
»Ja, und wir bringen sie besser nach oben, bevor uns irgendjemand sieht«, sagte Raven und warf sich das dunkle Haar ins Gesicht, sodass es ihr wieder über ein Auge fiel.
Thistle kletterte vom Rücksitz von Ravens Motorrad. Jez spürte, wie der kleine Körper vor ihr sich versteifte. Thistle sah Iona an und lächelte ihr scharfzähniges Lächeln.
Iona erwiderte lediglich ihren Blick. Sie sagte kein Wort, aber nach einigen Sekunden errötete Thistle und wandte sich ab.
»Also, jetzt werden wir sie prüfen, richtig? Es ist Zeit, sie zu prüfen, nicht wahr, Morgead?«
Jez hatte Thistles Stimme noch nie so schrill gehört - so gestört. Sie schaute auf das Kind vor ihr hinunter, aber Morgead begann bereits zu sprechen.
»Ja, es ist Zeit, sie zu prüfen«, sagte er und klang unerwartet müde für jemanden, der gerade einen solchen Triumph erlebt hatte. Der gerade eine Wilde Macht gefangen hatte, die ihm eine vollkommen neue Karriere eröffnen würde. »Bringen wir es hinter uns.«