Die Zweistundenfrist, die sie sich einräumte, ließ keine Rückschlüsse darauf zu, wo sie im Moment steckte. In zwei Stunden konnte sie von Calais angefahren kommen. »Ich warte.

Sag mir, was du haben willst, dann gebe ich zwanzig vor acht die Bestellung auf.«

Sie wollte lediglich ein Croissant mit Kaffee, weshalb er im Geist notierte, ihre Bestellung um ein paar Proteine zu ergänzen. Gerade als sie auflegen wollte, sagte er: »Ach übrigens –«

Sie stutzte und fragte: »Ja?«

»Nur falls es dich interessiert: Ich schlafe nackt.«

Lily klappte ihr Handy zu, sah es ungläubig an und ließ sich lachend ins Kissen zurückfallen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so gnadenlos aufgezogen und angeflirtet worden war und ob das überhaupt je passiert war.

Es war ein gutes Gefühl; genauso gut, wie zu lachen. Sie lebte also immer noch. Sie spürte sogar ein paar leichte Gewissensbisse, weil sie lachte, denn Zia würde nie wieder lachen.

Der Gedanke ernüchterte sie schlagartig, und der vertraute Schmerz presste ihr das Herz zusammen. Ganz weggehen würde der Schmerz wohl nie, dachte sie, aber vielleicht würde sie ihn im Lauf der Zeit hin und wieder für ein paar kurze Momente vergessen können. Heute würde sie genau das versuchen.

Sie stand auf, streckte sich und machte dann die Übungen, die sie jeden Tag absolviert hatte, um wieder zu Kräften zu kommen. Sie merkte, wie sie sich allmählich erholte, jeden Tag hielt sie ein bisschen länger durch. Nach dreißig Minuten war sie zwar schweißnass, aber nicht außer Atem; die brave Pumpe hielt, ohne zu mucken, durch. Sie stellte sich unter die Dusche, ohne davor irgendetwas ausziehen zu müssen, denn sie schlief nackt. Sie hatte es für klüger gehalten, Swain anzulügen, und obendrein hatte es Spaß gemacht.

Spaß. Da war das Wort wieder. Irgendwie tauchte es in Verbindung mit ihm verdächtig oft auf.

Bis vorhin hatte sie keinen Gedanken daran verschwendet, ob er nackt schlief, aber jetzt lieferte ihre Fantasie ungewollt reihenweise Bilder, wie er mit stoppligem Kinn aufwachte und sich räkelte. Seine Haut duftete warm und würzig, und seine Morgenerektion ragte steil auf, um Aufmerksamkeit heischend

– Einen Moment meinte sie, seinen warmen Männerduft in der Nase zu haben, und sie war kurz verwirrt, woher sie so genau wusste, wie er roch. Dann fiel ihr wieder ein, wie sie sich an seiner Schulter und in seinen Armen ausgeweint hatte. Dabei musste sie unbewusst seinen Geruch registriert haben, und offenbar hatte ihr Gehirn die Erinnerung gespeichert, um sie jetzt wieder hervorzuholen.

Sie konnte selbst nicht glauben, dass sie sich einverstanden erklärt hatte, den ganzen Tag mit ihm zu verbringen – und noch dazu in Disneyland. Sie hätte es nicht für möglich gehalten, dass sie jemals dorthin zurückkehren würde. Im letzten Sommer hatte sich Zia geweigert, noch einmal ins Disneyland zu fahren; sie sei zu alt für diesen Babykram, hatte sie mit jener Todesverachtung verkündet, die nur eine Dreizehnjährige aufbringen konnte, und dabei hoheitsvoll ignoriert, dass die meisten Besucher dort deutlich älter waren als sie.

Außerdem waren dort immer viele Amerikaner, was Lily noch jedes Mal überrascht hatte, weil sie angenommen hatte, dass Amerikaner, die in einen Disney‐Park gehen wollten, einen in den Vereinigten Staaten besuchten, der mit Sicherheit näher lag als Paris. Aber dadurch würden sie und Swain nicht auffallen; sie wären einfach noch zwei Amerikaner.

Sie föhnte ihr Haar und ertappte sich wenig später dabei, wie sie ihre Schminksachen nach den richtigen Utensilien durchforstete. Sie stylte sich für ihn auf, stellte sie halb amüsiert, halb fassungslos fest – und es machte ihr Spaß.

Natürlich hatte sie sich für ihre Treffen mit Salvatore ebenfalls aufgetakelt, aber das war eher so gewesen, als würde sie eine Theatermaske auflegen. Diesmal kam es ihr vor wie ein echtes Rendezvous, und sie war aufgeregt wie das letzte Mal in der Highschool.

Sie hatte glatte Haut, aber sie hatte auch nie gern in der Sonne gelegen. Eine Grundierung brauchte sie deshalb nicht, aber sie brauchte sehr wohl Mascara, wenn man überhaupt etwas von ihren Wimpern erkennen sollte. Sie hatte zwar lange, schöne Wimpern, aber ohne Mascara waren sie blond und damit praktisch unsichtbar. Erst zog sie die Lider mit einem ganz dünnen Liner nach und trug etwas Lidschatten auf, dann massierte sie einen winzigen Tupfer eines rosenfarbenen Rouges in ihre Wangen und noch etwas davon auf ihre Lippen.

Ein wenig durchsichtiger Puder und der egorettende Mascaraschutzschild bildeten das Finale.

Lily betrachtete sich prüfend im Spiegel und legte die Ohrringe an – kleine goldene Kreolen, die zu einem Tag im Vergnügungspark zu passen schienen. Eine Schönheit würde sie nie werden, aber an guten Tagen sah sie mehr als passabel aus. Und heute war ein guter Tag.

Mit etwas Glück würde er sogar noch besser werden.

19

Je näher sie Disneyland kamen, desto mehr verkrampfte sich Lily; ihre strahlende Vorfreude wurde unaufhaltsam verdrängt von düsteren Erinnerungen, die sich wie Gewitterwolken in den Vordergrund schoben. »Lass uns woandershin fahren«, platzte sie schließlich heraus.

Er zog eine Braue hoch. »Wieso?«

»Zu viele Erinnerungen an Zia.«

»Hast du vor, in Zukunft alles zu meiden, was dich an sie erinnert?«

Er fragte ganz sachlich, nicht provozierend. Lily starrte aus dem Fenster. »Nicht alles. Und nicht bis an mein Lebensende.

Nur … jetzt.«

»Okay. Wo möchtest du stattdessen hinfahren?«

»Ich weiß nicht, ob ich überhaupt irgendwohin fahren möchte. Wir müssen doch irgendwas unternehmen können, bis sich dein Freund über das Sicherheitssystem des Labors schlau gemacht hat.«

»Wir könnten natürlich vor dem Labor auf und ab kreuzen und den Wachposten unser Auto vorführen, bis sie vor Neid platzen, aber sonst fällt mir nichts ein.«

Konnte sich der Mann denn keinen Wagen aussuchen, der halbwegs unauffällig war? Gut, der Renault war silbergrau, genau wie der Jaguar, aber ein Megane Renault Sport war nicht gerade ein Allerweltsauto. Wenigstens hatte er keinen roten genommen.

»Wie viele Wege gibt es denn in ein Gebäude?«, fragte sie sachlich. »Als Erstes wären da Türen und Fenster. Man könnte auch durch ein Loch im Dach einsteigen –«

»Und du glaubst, dass du unbemerkt mit einer Kettensäge über das Dach schleichen kannst?«

»– aber das ist nicht machbar«, beendete sie ihren Satz mit einem giftigen Seitenblick. »Und wie ist es mit dem Untergrund? Irgendwo muss es doch eine Verbindung zur Kanalisation geben.«

Er überlegte. »Das wäre eine Möglichkeit. Der Gedanke gefällt mir nicht, aber es wäre eine Möglichkeit. In den Filmen sieht es immer so aus, als würden sie da unten durch Wasser waten, aber wenn man mal überlegt, was so alles in die Kanalisation wandert, dann wette ich, dass sie in Wirklichkeit in ganz anderen Sachen plantschen.«

»Der historische Stadtkern von Paris ist mit unterirdischen Tunnels durchlöchert wie ein Schweizer Käse, aber das Labor liegt am Stadtrand, wo es wahrscheinlich keine großen Kanäle gibt.«

»Nur mal aus Neugier gefragt: Was für ein Labor ist das eigentlich? Womit beschäftigen die sich?«

»Mit medizinischer Forschung.«

»Und was machen sie mit ihren Abwässern? Werden die nicht

erst

geklärt?

Damit

alle

kleinen

Widerlinge

hundertprozentig gekillt sind?«

Sie seufzte. Dass das Abwasser geklärt wurde, ehe es in die Kanalisation gelangte, wäre nur vernünftig, und dann gäbe es keine direkte Verbindung zwischen dem Laborkomplex und den städtischen Abwässerkanälen. Stattdessen würden die Abwässer in eine Art Tank gepumpt, wo sie gereinigt würden, und erst danach in die Kanalisation gespült. Außerdem wäre es nicht ratsam, in Kontakt mit den ungeklärten Abwässern zu kommen.

»Ich stimme gegen die Kanalisation«, sagte er.

»Einverstanden. Türen und Fenster also. Oder … wir besorgen uns ein paar große Kisten und lassen uns direkt ins Labor liefern.« Der Gedanke war ihr aus heiterem Himmel gekommen.

»Hm.« Er dachte allen Ernstes darüber nach. »Dann müssten wir erst einmal feststellen, ob die eingehende Post nicht geröntgt oder irgendwie anders durchleuchtet wird, ob sie sofort geöffnet wird, ob öfter große Lieferungen eintreffen –

und so weiter. Ich meine, wir würden erst tief in der Nacht aus unseren Kisten steigen wollen, frühestens nach Mitternacht, wenn alle heimgegangen sind. Oder wird dort rund um die Uhr gearbeitet?«

»Das weiß ich nicht, aber dass lässt sich rausfinden. Wir werden das sowieso abklären müssen, selbst wenn wir eine Blaupause des Sicherheitssystems in die Hände bekommen.«

»Dann fahre ich heute Nacht mal vorbei, schau nach, wie viele Autos auf dem Parkplatz stehen, und versuche herauszufinden, wie viele Leute dort nachts arbeiten. Tut mir Leid, ich hätte das schon gestern erledigen sollen«, entschuldigte er sich. »Aber trotzdem bleibt uns der heutige Tag. Disneyland ist gestrichen. Sollen wir umdrehen, in unseren jeweiligen Zimmern verschwinden und bis zum Abend Däumchen drehen? Was könnten wir sonst noch unternehmen? Nachdem du enttarnt worden bist, würde ich davon abraten, durch Paris zu schlendern und shoppen zu gehen.«

Nein, sie wollte nicht in ihr kleines Apartment zurück. Es hatte nicht einmal den Vorzug, alt und gemütlich zu sein; es war nur praktisch und sicher. »Lass uns einfach weiterfahren.

Und wenn wir Hunger bekommen, halten wir irgendwo an und essen.«

Sie fuhren weiter in Richtung Osten, und als sie Paris und den Großstadtverkehr endgültig hinter sich gelassen hatten, bog er auf eine Landstraße ein und ließ den Pferdestärken freien Lauf. Lily war schon ewig nicht mehr nur zum Spaß über Land gebraust, und sie ließ sich, fest angeschnallt, in ihren Sitz zurücksinken, während ihr Puls in leichter Anspannung beschleunigte. Sie fühlte sich wieder wie in ihrer Teenagerzeit, als sie sich zu siebt oder acht in ein Auto gequetscht hatten und den Highway hinuntergejagt waren. Eigentlich war es ein Wunder, dass sie alle lebend durch die Highschool gekommen waren.

»Wie bist du eigentlich in dieses Geschäft gekommen?«, fragte er.

Verdutzt sah sie ihn an. »Du fährst viel zu schnell, um zu quatschen. Schau auf die Straße.«

Grinsend nahm er den Fuß vom Gaspedal, bis sich die Nadel bei hundert Stundenkilometern einpendelte. »Ich kann auch beim Gehen Kaugummi kauen, ohne dass ich über meine Füße stolpere«, protestierte er gutmütig.

»Was beides nicht viel Hirn erfordert. Auto fahren und Reden sind was anderes.«

Er wurde nachdenklich. »Für jemanden, der in seinem Beruf so viele Risiken eingehen muss, bist du nicht besonders risikofreudig, oder?«

Sie blickte auf die vorbeiziehende Landschaft. »Im Grunde meines Herzens bin ich überhaupt nicht risikofreudig. Ich plane meine Einsätze gründlich und gehe nie ein unnötiges Risiko ein.«

»Und wer hat beinah den vergifteten Wein getrunken und dabei riskiert, eine tödliche Dosis zu erwischen? Wer wird überall in Paris gesucht und bleibt doch dort wohnen, weil sie auf einem persönlichen Rachefeldzug ist?«

»Das sind außergewöhnliche Umstände.« Sie erwähnte nicht, dass sie ein unberechenbares Risiko einging, indem sie ihm vertraute, aber er war klug genug, um das selbst zu erkennen.

»Waren es auch außergewöhnliche Umstände, die dich dazu gebracht haben, Menschen zu töten?«

Sie schwieg ein paar Sekunden. »Ich sehe mich nicht als Mörderin«, antwortete sie halblaut. »Ich habe noch nie einen Unschuldigen verletzt. Ich habe nur offiziell genehmigte Einsätze durchgeführt, die mir von meinem Land aufgetragen wurden, und ich glaube nicht, dass die Entscheidung je leichtfertig gefällt wurde. Obwohl ich das strikt abgestritten hätte, als ich jung war, weiß ich inzwischen, dass es Menschen gibt, die zu böse sind, als dass sie es verdient hätten zu leben.

Hitler war kein einmaliges Phänomen, verstehst du? Sieh dir Stalin und Pol Pot an, Idi Amin, Baby Doc oder bin Laden.

Würdest du etwa behaupten, die Welt ist oder wäre ohne sie nicht besser dran?«

»Und ohne unzählige andere Westentaschendiktatoren, Drogenbosse, kriminelle Perverse und Pädophile. Ich weiß. Ich sehe das genauso. Aber hattest du diese Einstellung auch schon, als du deinen ersten Einsatz angetreten hast?«

»Nein.

Achtzehnjährige

sind

meist

keine

großen

Philosophen.«

»Achtzehn. O Mann, das nenne ich jung.«

»Ich weiß. Wahrscheinlich wurde ich genau deshalb ausgewählt. Ich sah aus wie ein unschuldiges Gör.« Ein Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. »Mit frischem, offenem Gesicht und vollkommen unbefleckt, ein richtiges kleines Landei, obwohl ich mir damals ungeheuer cool und abgeklärt vorkam. Ich fühlte mich sogar geschmeichelt, dass man mich ausgesucht hatte.«

Er schüttelte den Kopf über diese naive Einstellung. Als sie nicht weitersprach, drängte er: »Jetzt erzähl schon.«

»Ich war ihnen aufgefallen, weil ich in einen Jagdverein eingetreten war. Der Junge, in den ich damals über beide Ohren verknallt war, war ein begeisterter Jäger, und ich wollte ihn beeindrucken, indem ich über die verschiedenen Jagdwaffen schwadronierte, über Kaliber, Reichweite und so weiter. Aber dann stellte sich heraus, dass ich eine verflucht gute Schützin war; die Pistole fühlte sich in meiner Hand ganz natürlich an. Nach kürzester Zeit war ich quasi die Schützenkönigin im Club. Keine Ahnung, woher ich das habe«, gestand sie und sah dabei auf ihre Hände, als könnten die ihr die Antwort verraten. »Mein Dad hat nie gejagt und war auch nicht beim Militär. Der Vater meiner Mutter war Anwalt und absolut kein Naturmensch, und mein anderer Großvater arbeitete in Detroit bei Ford. Hin und wieder ging er zwar angeln, aber soweit ich weiß, hat er nie gejagt.«

»Wahrscheinlich liegt es einfach in deinen Genen. Vielleicht war dein Vater nicht am Jagen interessiert, aber das bedeutet nicht, dass er deshalb kein Talent zum Schießen gehabt haben kann. Verflucht, du könntest es auch von deiner Mutter geerbt haben.«

Lily blinzelte kurz und lachte dann. »Daran habe ich nie gedacht. Mom ist die geborene Friedensstifterin, aber Persönlichkeit

und

Begabung

müssen

nicht

immer

übereinstimmen, richtig?«

»Nicht dass ich wüsste. Aber zurück zu deinem Jagdverein.«

»Viel mehr gibt es nicht zu erzählen. Jemandem fiel auf, wie gut ich schoss, er erzählte es weiter, und eines Tages kam ein netter Mann zwischen vierzig und fünfzig auf mich zu und wollte mit mir reden. Er erzählte mir von diesem Kerl, was er angestellt hatte und wen er umgebracht hatte, und belegte alles mit Zeitungsausschnitten, Polizeiberichten und so weiter. Als ich angemessen entsetzt war, bot mir der nette Mann einen Haufen Geld. Ich war noch entsetzter und lehnte entrüstet ab, aber was er mir erzählt hatte, ließ mich einfach nicht los. Er muss das geahnt haben, denn zwei Tage später rief er wieder an, und ich versprach, dass ich es machen würde. Ich war achtzehn.«

Sie zuckte die Achseln. »Ich absolvierte einen Crashkurs, bei dem mir gezeigt wurde, was ich zu tun hatte, und ich sah, wie gesagt, so absolut nach einem harmlosen, blauäugigen Baby aus, dass mich niemand für gefährlich halten würde. Ich machte mich ohne jedes Problem an den Kerl heran, erledigte meinen Job und spazierte danach einfach davon. Eine Woche lang musste ich mich jedes Mal übergeben, wenn ich nur daran dachte. Die Albträume verfolgten mich noch viel länger.«

»Aber als der nette Mann wieder einen Auftrag für dich hatte, hast du ihn angenommen.«

»Habe ich. Er erklärte mir, welchen Dienst ich meinem Land erwiesen hätte, und das Entscheidende ist, dass das nicht gelogen war und dass er mich auch nicht manipulieren wollte.

Er meinte das ganz aufrichtig.«

»Und hatte er auch Recht?«

»Ja«, bestätigte sie schlicht. »Was ich getan habe, ist illegal, das weiß ich wohl, und ich muss damit leben, dass ich mich schuldig gemacht habe. Aber er hatte Recht, und letzten Endes hat es mich nicht wirklich gestört, die Schmutzarbeit zu erledigen. Irgendwer muss sie schließlich tun, warum also nicht ich? Nach dem ersten Mal war ich sowieso schon moralisch befleckt.«

Swain nahm ihre Hand, hob sie an seine Lippen und drückte einen weichen Kuss auf ihre Finger.

Lily blinzelte, klappte den Mund zu einer Bemerkung auf und klappte ihn dann wortlos wieder zu, um stattdessen mit großen Augen aus dem Seitenfenster zu starren. Swain lachte halblaut, legte die Hand in ihren Schoß zurück und konzentrierte sich die nächste halbe Stunde darauf, so schnell zu fahren wie nur möglich.

In der nächsten Kleinstadt machten sie Halt und aßen in einem kleinen Straßencafe zu Mittag. Er suchte einen Tisch in einer windstillen, sonnigen Nische aus, wo sie, ohne zu frieren, draußen sitzen konnten. Sie bestellte einen Salat mit gegrilltem Ziegenkäse, er wählte die Lammkoteletts, und beide tranken zu ihrem Essen ein Glas Wein, gefolgt von einem starken Kaffee. Während sie nachdenklich in ihrer Tasse rührte, fragte sie: »Und was ist mit dir? Was gibt es über dich zu erzählen?«

»Nicht viel. Ich bin nur ein verhinderter Cowboy aus Westtexas, der einfach nicht zur Ruhe kommen kann, was eine echte Schande ist, weil ich trotzdem geheiratet und zwei Kinder habe.«

Verdattert sah sie ihn an. »Du bist verheiratet?«

Er schüttelte den Kopf. »Geschieden. Amy – meine Exfrau –

kam irgendwann zu dem Schluss, dass ich nie ruhiger werden würde, und hatte es satt, unsere Kinder allein großzuziehen, während ich mich irgendwo im Ausland herumtrieb und Sachen machte, von denen sie lieber nichts wissen wollte. Ich kann es ihr nicht verübeln. Scheiße, ich hätte mich auch von mir scheiden lassen. Inzwischen bin ich alt genug, um zu wissen, was für ein Esel ich war, und ich könnte mich in den Hintern beißen, weil ich nicht miterlebt habe, wie meine Kinder größer wurden. Diese Jahre sind unwiederbringlich verloren. Gott sei Dank war Amy ihnen eine gute Mutter. Sie haben sich prächtig entwickelt, trotz ihres nutzlosen Vaters.«

Er zückte sein Portemonnaie und zog zwei kleine Fotos heraus, die er vor ihr auf den Tisch legte. Sie zeigten zwei Jugendliche bei ihrer Highschool‐Abschlussfeier, einen Jungen und ein Mädchen, die beide dem Mann ihr gegenüber verblüffend ähnlich sahen. »Meine Tochter Chrissy und mein Sohn Sam.«

»Sie sehen gut aus.«

»Danke«, erwiderte er grinsend. Er wusste ganz genau, wie ähnlich sie ihm sahen. Im nächsten Moment hatte er die Fotos wieder an sich genommen, betrachtete sie kurz und steckte sie in sein Portemonnaie zurück. »Als Chrissy geboren wurde, war ich gerade mal neunzehn. Ich war entschieden zu jung und zu dumm zum Heiraten und erst recht zum Kinderkriegen, aber wer jung und dumm ist, hört natürlich nicht auf Ältere, die es möglicherweise besser wissen. Und wenn ich ehrlich bin, würde ich alles wieder tun, weil ich mir nicht vorstellen könnte, keine Kinder zu haben.«

»Steht ihr euch nahe?«

»Ich werde ihnen wohl nie so nahe sein wie ihre Mutter, denn die war für beide eindeutig wichtiger als ich. Sie war da und ich nicht. Sie mögen mich, sie lieben mich vielleicht sogar, immerhin bin ich ihr Dad, aber sie kennen mich längst nicht so gut wie Amy. Ich war ein lausiger Ehemann und Vater«, bekannte er freimütig. »Nicht dass ich sie geprügelt oder getrunken hätte oder so, aber ich war einfach nie da. Wenn ich mir überhaupt was zugute halten kann, dann dass ich sie immer unterstützt habe.«

»Das ist mehr, als viele Männer von sich behaupten können.«

Er gab halblaut seine Meinung über diese Männer zum Besten, eine längere Tirade, die mit »dämlich« begann und

»Arschlöcher«

endete,

gewürzt

mit

diversen

wenig

schmeichelhaften Ausdrücken.

Es rührte Lily, dass er seine Vergangenheit nicht schönzureden versuchte. Er hatte Fehler gemacht und war inzwischen reif genug, um das zu erkennen und zu bereuen.

Im Lauf der Jahre hatte er begriffen, wie vieles ihm im Leben seiner Kinder entgangen war, und er war seiner Exfrau dankbar, weil sie den Schaden, den er durch seine Abwesenheit angerichtet hatte, so weit wie möglich begrenzt hatte.

»Und

hast

du

inzwischen

vor,

dich

irgendwo

niederzulassen, in die Heimat zurückzukehren und in der Nähe deiner Kinder zu leben? Hast du deshalb Südamerika verlassen?«

»Nein, ich bin weg, weil ich bis zum Arsch im Krokodilsumpf stand und die Viecher verdammt hungrig waren.« Er grinste. »Ich hab nichts gegen ein bisschen Spannung im Leben, aber manchmal sollte man lieber auf einen Baum klettern und sich einen Überblick verschaffen.«

»Und was tust du genau? Beruflich, meine ich.«

»Ich bin so was wie ein Mann für alle Fälle. Wenn jemand will, dass irgendwas passiert, kann er mich anrufen, und es passiert.«

Diese Erklärung ließ eine Menge Raum zur Interpretation, fand sie, aber sie ahnte, dass er nicht deutlicher werden wollte.

Es war ihr ganz angenehm, nicht über jedes Detail Bescheid zu wissen. Sie wusste, dass er seine Kinder liebte, dass er zwielichtige Dinge tat und sich dennoch sein Gewissen bewahrt hatte, dass er eine Schwäche für schnelle Autos hatte und dass er sie zum Lachen bringen konnte. Und er wollte ihr helfen. Fürs Erste reichte ihr das.

Nach dem Mittagessen spazierten sie ein wenig durch die Straßen. Er entdeckte eine kleine Chocolaterie und entwickelte auf der Stelle einen Heißhunger auf Schokolade, obwohl sie gerade vom Essen aufgestanden waren. Und so kaufte er ein Dutzend verschiedene Pralinen, die er abwechselnd ihr und sich selbst in den Mund steckte, bis der letzte Krümel verschwunden war. Irgendwie bekam er unterwegs ihre Hand zu fassen und hielt sie fortan in seiner.

Auf gewisse Weise kam ihr der Tag wie von der Wirklichkeit losgelöst vor, so als schwebten sie in einer riesigen Seifenblase. Statt weiter an ihrem Rachefeldzug gegen Rodrigo zu feilen, bummelte sie durch eine Kleinstadt und studierte die Schaufenster. Sie fühlte sich vollkommen unbeschwert, vollkommen gelöst; ein gut aussehender Mann hielt ihre Hand und plante wahrscheinlich, sie noch vor dem Abend ins Bett zu kriegen. Sie hatte noch nicht entschieden, ob ihr das passte oder nicht, aber das war egal. Swain würde sich bestimmt nicht in einen Schmollwinkel verziehen, nur weil sie ihn abwies. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er schon jemals geschmollt hatte. Er würde einfach achselzuckend nach einer neuen Zerstreuung suchen.

Seit Monaten hatte sie unter ständigem Stress gestanden, doch erst jetzt, da sie sich entspannen konnte, begriff sie, welchen Preis diese Anspannung gefordert hatte. Sie wollte heute nicht mehr nachdenken müssen und auch keine weiteren schmerzvollen Erinnerungen wachrufen. Sie wollte einfach genießen.

Als sie zu ihrem Wagen zurückkamen, stand die Sonne schon tief am Himmel, und die frische Herbstluft war kalt geworden. Sie wollte die Beifahrertür öffnen, aber er fing ihre Hand ab, zog sie behutsam zurück, bis Lily sich umdrehte, und hatte im nächsten Moment ihr Gesicht mit seinen warmen Fingern umfasst, die ihr Kinn anhoben, bis er seinen Mund auf ihren senken konnte.

Sie wehrte sich nicht, sondern ergriff seine Handgelenke und hielt ihn fest, während er sie festhielt. Sein Mund war überraschend weich, der Kuss eher zärtlich als fordernd. Er schmeckte nach Schokolade.

Sie spürte, dass er mit diesem Kuss alles erreicht hatte, was er erreichen wollte, dass er keine weiteren Pläne hatte – fürs Erste jedenfalls. Sie konnte seinen Kuss erwidern, ohne dass er versuchen würde, ihr die Kleider vom Leib zu reißen oder sie gegen das Auto zu pressen. Darum beugte sie sich ein wenig vor, bis sie seine Körperwärme spürte und seine Nähe genießen konnte. Und dann neckte sie ihn ihrerseits mit der Zunge, so als wollte sie um mehr betteln. Er gab nach, nicht energisch, sondern ebenfalls beinahe ironisch, und dann gaben sich beide ganz dem neuen Geschmack, dem neuen Gefühl hin und spürten intensiv, wie perfekt sich ihre Münder zusammenfügten. Schließlich gab er ihre Lippen frei und strich mit der Daumenkuppe über ihren Mund, um gleich darauf die Autotür aufzuziehen, damit sie einsteigen konnte.

»Und wohin jetzt?«, fragte er, als er neben ihr saß. »Zurück nach Paris?«

»Ja«, bestätigte sie mit unüberhörbarem Bedauern. Der Tag war wie ein Traum gewesen, aber er neigte sich dem Ende zu.

Immerhin war sie zu einem wichtigen Entschluss gekommen: Swain konnte unmöglich von der CIA geschickt worden sein, denn sonst wäre sie inzwischen nicht mehr am Leben. Es war immer wieder ein gutes Zeichen, wenn der Typ nach einem Rendezvous nicht versuchte, dich umzulegen.

20

Am Spätnachmittag wurde Georges Blanc erneut von Damone Nervi angerufen. Er wusste, wer am Telefon war, weil sich sein Magen gleich beim ersten Klingeln in einer düsteren Vorahnung zusammenkrampfte. Da er im Auto saß, bestand keine Gefahr, dass er belauscht wurde, was ein wahrer Segen war – der einzige, den er in dieser Situation entdecken konnte.

Er fuhr an den Straßenrand und drückte die Sprechtaste.

Damone klang vollkommen neutral. »Ich bin vielleicht weniger aufbrausend als mein Bruder, aber ich lasse mich trotzdem nicht zum Narren halten. Haben Sie die gewünschten Informationen?«

»Ja, aber –« Blanc zögerte und wagte dann den Sprung ins kalte Wasser. »Ich möchte Ihnen raten und hoffe, dass Sie diese Nummer nicht verwenden.«

Zu Blancs großer Erleichterung klang Damone eher neugierig als verärgert. Er atmete tief durch. Vielleicht gab es ja doch noch Hoffnung. »Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, wie Sie an diese Nummer kommen können – indem jemand von der CIA sie weitergegeben hat. Der Mann, den Sie anrufen möchten, arbeitet für die CIA. Meinen Sie nicht, dass er sich fragen wird, woher Sie seine Nummer haben? Glauben Sie nicht, dass er zwei und zwei zusammenzählen wird? Folglich müssen Sie abwägen, ob er seinem Arbeitgeber gegenüber loyal handeln und den Kontakt weitermelden wird und ob man daraufhin Erkundungen einholen wird. Falls Sie diese Nummer verwenden, Monsieur, könnten Sie damit meinen Verbindungsmann und mich als Informanten verlieren.«

»Ich verstehe.« Im Hörer blieb es kurz still, während Damone die verschiedenen Konsequenzen überdachte. Nach ein paar Sekunden sagte er: »Rodrigo ist zu ungeduldig; ich halte es für besser, wenn er nichts davon erfährt. Manchmal verleitet ihn sein Widerwille gegen jede Untätigkeit zu überstürzten Reaktionen. Ich werde ihm erzählen, dass die betreffende Person in Frankreich ein Handy gemietet hat, aber noch mit niemandem Verbindung aufgenommen hat.«

»Vielen Dank, Monsieur. Danke.« Blanc schloss erleichtert die Augen.

»Aber«, fuhr Damone fort, »ich glaube, dass Sie mir einen Gefallen schulden.«

Damit wollte er Blanc daran erinnern, dass er, so vernünftig er auch klang, immer noch ein Nervi und daher gefährlich war.

Wieder krampfte sich Blancs Magen zusammen. Aber hätte er etwas anderes sagen können, als schweren Herzens: »Ja?«

»Es handelt sich um eine vertrauliche Angelegenheit. Ich möchte, dass Sie etwas für mich tun, etwas, das Sie niemals jemandem erzählen können. Andernfalls werden es Ihre Kinder mit dem Leben bezahlen.«

In Blancs Augen brannten Tränen, die er mit einer energischen Handbewegung wegwischte. Sein Herz klopfte so heftig, dass er befürchtete, jeden Augenblick in Ohnmacht zu fallen. Er hatte nie den Fehler gemacht zu unterschätzen, zu welchen Grausamkeiten die Nervis fähig waren. »Ich habe verstanden. Was soll ich tun?«

Als sie schon fast beim Hotel waren, schlug Swain vor: »Ich bringe dich heim. Du solltest nicht mit der Metro fahren. In einem Auto, das keiner kennt, bist du viel sicherer.«

Lily zögerte, weil sie eigentlich lieber nicht verraten hätte, wo sie wohnte. »Heute Morgen bin ich auch mit der Metro gekommen«, wandte sie ein. »Außerdem geht es schneller.« Sie hatte, wie er ihr geraten hatte, die Haare unter einen Hut gestopft und eine Sonnenbrille aufgesetzt, falls Rodrigo die U‐Bahn überwachen ließ. Es gab zahllose U‐Bahnhöfe in Paris; alle zu überwachen würde viele Leute erfordern, aber natürlich würde Rodrigo die nicht selbst stellen müssen. Er war einflussreich genug, um die Dreckarbeit von anderen erledigen zu lassen.

»Ja, aber heute Morgen hat die Sonne geschienen, und jetzt ist es dunkel. Mit einer Sonnenbrille würdest du umso mehr auffallen.« Er grinste. »Außerdem will ich mir dein Bett ansehen. Ich will sicher sein, dass es breit genug für mich ist.«

Sie verdrehte die Augen. Ein einziger Kuss, und schon erwartete er, dass sie mit ihm ins Bett purzelte? Der Kuss war wirklich schön gewesen, aber sie hatte sich höchstens geschmeichelt gefühlt, ohne dass sie gleich ihr Hirn ausgeknipst hätte. »Ist es nicht«, antwortete sie. »Du brauchst es dir gar nicht anzuschauen.«

»Das kommt darauf an. Ist es zu schmal oder zu kurz? Wenn es nur schmal ist, stört mich das nicht weiter, weil wir sowieso aufeinander liegen werden. Aber wenn es zu kurz ist, dann werde ich mir überlegen müssen, ob ich weiterhin so vernarrt in dich bin, denn mit einer Frau, die ein so kurzes Bett kauft, dass ein Mann seine Beine nicht ausstrecken kann, stimmt was nicht.«

»Es ist beides.« Sie musste ein Kichern unterdrücken. Sie hatte nicht mehr gekichert, seit sie achtzehn gewesen war, aber an das Kitzeln in ihrer Kehle konnte sie sich noch gut erinnern.

»Kurz und schmal. Ich habe es aus einem Kloster.«

»Die Nonnen verkaufen ihre Betten?«

»Sie hatten einen großen Flohmarkt veranstaltet, weil sie dringend Geld brauchten.«

Er warf den Kopf zurück und lachte, ohne ihr die Abfuhr zu verübeln. Seine Kommentare und Vorschläge waren allesamt so unverschämt, dass er sie keinesfalls ernst meinen konnte, aber sie war sicher, dass er, wie die meisten Männer, sofort zu einem Stelldichein bereit war, sobald sie nachgab.

Er hatte von seinem ursprünglichen Vorschlag abgelenkt, aber sie hatte ihn nicht vergessen. Sie musste abwägen, ob es riskanter war, ihm ihre Adresse zu verraten oder die Metro zu nehmen. Manchmal würde es sich nicht vermeiden lassen, dass sie die Metro nahm, aber warum sollte sie ihr Glück öfter herausfordern als unbedingt notwendig? Wer war ihr wohl gefährlicher, Swain oder Rodrigo? Die Antwort lag auf der Hand. Bislang hatte ihr Swain treu zur Seite gestanden, obwohl er, abgesehen von akuter Langeweile und akuter Lust, keinen zwingenden Grund hatte, ihr zu helfen. »Ich wohne am Montmartre«, sagte sie. »Das liegt ganz und gar nicht auf deiner Strecke.«

Er zuckte die Achseln hoch. »Und?«

Wenn es ihm nichts ausmachte, warum sollte es sie dann stören? Der einzige Grund, sich heimfahren zu lassen, war der Sicherheitsfaktor, denn die U‐Bahn war in Paris viel praktischer und schneller, aber dieser Faktor wog so schwer, dass er den Ausschlag gab.

Sie wies ihm den Weg und lehnte sich in ihrem Sitz zurück; sollte er sich doch allein durch den Verkehr kämpfen. Er tat das mit dem üblichen Ungestüm, Beleidigungen brüllend und wild gestikulierend. Schließlich ließ er sich ein wenig zu sehr mitreißen und beschleunigte ausgerechnet dann, als vor ihnen eine Touristengruppe die Straße überqueren wollte. Natürlich beschleunigte auch der Wagen auf der Nebenspur, immerhin waren sie hier in Paris. Beide Autos jagten auf eine stattliche Frau mittleren Alters zu, und Lily stockte der Atem. Die Frau starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die zwei Wagen, die auf sie zugerast kamen.

»Scheiße!«, brüllte Swain. »Dämlicher Vollidiot!« Er zog das Lenkrad herum, als wollte er den Wagen neben ihnen rammen, woraufhin dessen Fahrer ebenfalls das Steuer herumriss und auf die Bremse trat. Swain schaltete einen Gang herunter und schoss in die Lücke zwischen der Passantin und dem schwänzelnden Wagen auf der Nebenspur, während die füllige Touristin ängstlich auf den Bürgersteig zurücktrippelte.

Bremsen quietschten hinter ihnen, und Lily verrenkte sich halb den Kopf, um festzustellen, welches Chaos sie angerichtet hatten. Der Wagen, der ihren Wechsel auf die linke Spur vereitelt hatte, stand quer auf der Straße, umgeben von weiteren Fahrzeugen in jedem nur erdenklichen Winkel.

Hupen blökten, und überall sprangen erboste Fahrer aus ihren Autos, schwenkten die Fäuste und gestikulierten hysterisch.

Da sie aber niemanden auf dem Boden liegen sah, hatten sich die Fußgänger offenbar alle in Sicherheit bringen können.

»Lass mich sofort aussteigen«, fuhr sie ihn wütend an. »Mit dir in einem Auto zu sitzen ist gefährlicher, als mit Rodrigo persönlich in der Metro zu fahren!«

»Ich hatte jede Menge Platz, aber dann hat dieses Arschloch neben mir beschleunigt«, verteidigte er sich betreten.

»Natürlich hat er beschleunigt!«, schnauzte sie ihn an. »Wir sind hier in Paris! Er wäre lieber tot umgefallen, als dich reinzulassen.«

Sie lehnte sich zurück und stieß wütend die Luft aus. Ein paar Sekunden später meinte sie: »Du sollst mich aussteigen lassen, habe ich gesagt.«

»Entschuldige«, bat er zerknirscht, »ab sofort fahre ich vorsichtiger. Ehrenwort.«

Nachdem er keine Anstalten machte, anzuhalten und sie aussteigen zu lassen, blieb ihr nichts anderes übrig, als neben diesem Irrsinnigen sitzen zu bleiben. Andernfalls hätte sie ihn erschießen müssen, was ihr allerdings von Minute zu Minute verlockender erschien. Die arme Frau! Wenn sie ein schwaches Herz gehabt hätte, hätte sie der Schreck ins Grab bringen können. Ausgesehen hatte sie allerdings eher robust, denn sie war sofort wieder auf die Straße getreten, wo sie den Heckleuchten nachgeschimpft und zeternd die Faust geschüttelt hatte, während sie dem Chaos entflohen waren, das Swain angerichtet hatte.

Nach fünfminütiger langsamer Fahrt in absolutem Schweigen meinte Swain unvermittelt: »Hast du ihr Gesicht gesehen?«

Lily prustete los. Es war gemein von ihr, das wusste sie, aber das Gesicht der rotwangigen, cholerischen Frau, der vor Schreck fast die Augen aus dem Kopf fielen, würde sie wohl nie vergessen. Sie versuchte, sich zu beherrschen, weil das, was er da angerichtet hatte, beileibe nicht lustig war und er nicht glauben sollte, dass er damit durchkommen würde.

»Ich kann nicht glauben, dass du darüber lachst«, sagte er tadelnd, aber seine Mundwinkel zuckten verräterisch. »Wie gefühlskalt.«

Das war es wirklich, auch wenn er sie auf den Arm nahm.

Sie schluckte, wischte ihre Augen trocken und zwang sich mit fast übermenschlicher Willenskraft zu einer würdigen Miene.

Dann machte sie den Fehler, ihn anzusehen. Als hätte er nur darauf gewartet, riss er in einer perfekten Imitation der beinahe überfahrenen Matrone die Augen auf, und Lily krümmte sich wieder vor Lachen. Sie presste sich gegen den Gurt und hielt sich den schmerzenden Bauch. Dann schlug sie ihn auf den Arm, um ihn zu bestrafen, aber weil sie so lachen musste, war der Schlag ohne jede Kraft.

Er bog unvermittelt vom Boulevard ab und fand wie durch ein Wunder eine Parklücke. Lily wurde schlagartig ernst. »Was ist los?«, fragte sie erschreckt und sah sich hastig um, während sie sich gleichzeitig zu ihrem Knöchelholster bückte.

Swain schaltete den Motor aus und fasste sie an den Schultern. »Du brauchst keine Waffe«, versprach er heiser und zog sie dabei so weit über die Handbremse, wie es ihr Gurt erlaubte. Dann küsste er sie voller Hunger, voller Lust, ihren Hinterkopf mit seiner Linken haltend, während er mit der Rechten ihre Brüste streichelte und knetete. Nach einem überraschten Aufschrei ließ sich Lily in seine Umarmung sinken. Der Schalthebel drückte gegen ihre Hüfte, ihr Knie war schmerzhaft abgeknickt, aber sie merkte nichts davon.

Sie hatte so lange keine echte Leidenschaft mehr empfunden, dass sie völlig überrascht war – von seiner ebenso wie von ihrer. Erst jetzt spürte sie, wie sehr sie nach Zuneigung gehungert, wie sehr sie sich nach einem solchen Kuss verzehrt hatte. Und dann öffnete sie ihren Mund und schlang die Arme um seinen Hals.

Er liebte so, wie er Auto fuhr, energisch und voller Enthusiasmus. Nur kurz pausierte seine Hand auf ihrer Brust, bevor sie weiterwanderte zwischen ihre Schenkel, um sie zärtlich zu massieren. Instinktiv griff sie nach seinem Handgelenk, aber sie brachte nicht die Kraft auf, ihn wegzuschieben. Er drückte den Daumenballen gegen die Mittelnaht ihres Slips, wo er ihn sacht vor‐ und zurückschob, und Lilys Wille war gebrochen.

Nur die Tatsache, dass sie noch im Auto saßen, rettete sie.

Sie bekam einen Krampf in ihrem abgeknickten Bein, sodass sie sich von seinem Mund losriss und sich unbeholfen wieder wegdrehte, um das Bein auszustrecken, immer noch gefangen in ihrem Gurt und seiner Umarmung. Sie stieß einen heiseren Schmerzensschrei aus und biss dann die Zähne zusammen.

»Was ist denn?«, fragte er ängstlich, während sie sich in ihrem Sitz zurechtzurücken versuchte. Sie bemühten sich, ihre Arme zu entwirren, knallten mit den Ellbogen gegen das Lenkrad, stießen gegen die Gangschaltung oder ans Armaturenbrett und stellten sich alles in allem an wie Vollidioten. Schließlich hatte sich Lily in ihren Sitz zurückgekämpft und streckte das schmerzende Bein unter erleichtertem Stöhnen so weit aus wie nur möglich. Es war nicht weit genug; sie zog an dem Hebel der Sitzhalterung und rutschte bis zum Anschlag zurück.

Keuchend massierte sie ihr Bein und versuchte, wieder zur Ruhe zu kommen. »Krampf«, stöhnte sie zur Erklärung.

Allmählich lösten sich die verknoteten Muskeln, und der Schmerz ließ nach. »Ich bin einfach zu alt für solche Knutschorgien im Auto.« Sie seufzte theatralisch. Dann ließ sie den Kopf gegen die Nackenstütze sinken und lachte müde.

»Hoffentlich hat niemand unsere kleine Komödie gefilmt.«

Er war immer noch ihr zugewandt, das Gesicht halb beleuchtet von den Straßenlaternen. Seine Miene und sein Lächeln wirkten eigenartig zärtlich. »Du glaubst, man könnte uns damit erpressen?«

»Aber sicher. Unser Ruf wäre jedenfalls ruiniert. Was hat das überhaupt ausgelöst?«

Sein Lächeln wurde breiter. »Habe ich schon erwähnt, dass es mich anturnt, wenn du lachst?«

»Nein, hast du nicht. Das hätte ich bestimmt nicht vergessen.« Er täuschte sich; sie hätte ihre Waffe jetzt dringender denn je gebraucht. Sie hätte ihn erschießen sollen, ehe er sie küssen konnte, denn nun wusste sie nicht mehr, ob sie auch nur einen einzigen Tag durchstehen würde, ohne ihn zu schmecken.

Sie zog den Sitz wieder vor und zupfte ihre Haare zurecht.

»Glaubst du, es wäre dir möglich, mich nach Hause zu fahren, ohne dass du weitere Passanten zu Tode erschreckst, uns fast umbringst oder Umwege einschlägst, um über mich herzufallen? Ich wäre gern noch vor Mitternacht daheim.«

»Es gefällt dir, wenn man über dich herfällt. Gibʹs nur zu.«

Er nahm ihre linke Hand und schob seine Finger zwischen ihre.

»Und es hätte dir noch viel besser gefallen, wenn du keinen Krampf im Bein bekommen hättest.«

»Das werden wir nie erfahren, oder?«, fragte sie.

»Wetten dass doch?«

»Selbst wenn es mir gefallen hätte, würde ich nicht mit einem Mann schlafen, den ich erst vor ein paar Tagen kennen gelernt habe. Punktum. Du kannst deine Hoffnungen wieder schrumpfen lassen, und einiges andere ebenso.«

»Zu spät, so oder so.«

Sie verschluckte ein Lachen, indem sie mit aller Kraft ihre Wangen nach innen zog. Er drückte sanft ihre Hand, gab sie dann frei und ließ den Motor wieder an. Ein rasantes Wendemanöver brachte sie zurück auf den Boulevard.

Der Montmartre war immer noch überlaufen von Künstlern aller Art, aber seit der Blütezeit des Viertels waren viele Straßen vernachlässigt. Es waren schmale, gewundene Einbahnstraßen mit einer Abwassermulde in der Mitte, bedrängt von halbhohen Häusern und gesteckt voll mit Touristen auf der Suche nach der berühmten Boheme. Lily dirigierte ihn durch das Labyrinth und sagte schließlich: »Da, die blaue Tür. Dort wohne ich.«

Er hielt direkt vor ihrer Tür. Er konnte den Wagen nirgendwo abstellen, ohne die ganze Straße zu blockieren, was die Frage erübrigte, ob er mit nach oben kommen durfte. Sie beugte sich zu ihm hinüber und drückte erst einen Kuss auf seine Wange und dann noch einen auf seinen Mund. »Vielen Dank für den schönen Tag. Ich hatte viel Spaß.«

»Es war mir ein Vergnügen. Und morgen?«

Sie zögerte und sagte dann: »Ruf mich an. Dann sehen wir weiter.« Vielleicht hatte sein Freund bis dahin schon einen Teil der nötigen Informationen über das Sicherheitssystem im Labor herausgefunden. Natürlich war es genauso gut möglich, dass Swain ihr den nächsten idiotischen Vorschlag machen würde, der ihr aus einem unerfindlichen Grund zusagen würde, wenngleich sie es für sicherer hielt, wenn bei ihrem nächsten Ausflug sie und nicht er fuhr – und ihre Fahrkünste waren gefährlich eingerostet.

Er wartete ab, bis sie im Haus war, und tippte bei der Abfahrt kurz auf die Hupe. Lily kletterte die Treppe hoch, langsamer als früher, aber trotzdem erleichtert, dass sie kaum außer Atem war, als sie im dritten Stock vor ihrer Wohnungstür stand. Sie schloss auf, verriegelte dann die Tür von innen und stieß einen erschöpften Seufzer aus.

Verflucht noch mal. Er hatte alle ihre Abwehrwälle überrannt, und beiden war das klar.

Sobald sich Swain aus dem Straßengewirr von Montmartre herausgearbeitet hatte und sich mit anderen Dingen als dem Straßenverlauf befassen konnte, schaltete er sein Handy ein, um die Mailbox abzuhören. Es gab keine neuen Nachrichten, darum rief er noch im Fahren in Langley an und ließ sich in das Büro von Direktor Vinay durchstellen; vielleicht war ja seine Sekretärin noch im Haus, obwohl es drüben schon kurz vor fünf war. Als er ihre Stimme hörte, fiel ihm ein erster Stein vom Herzen. »Hier ist Lucas Swain. Können Sie mir sagen, wie es dem Direktor geht?« Dann hielt er den Atem an und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass Frank noch am Leben sein möge.

»Sein Zustand ist immer noch kritisch«, antwortete sie. Sie klang erschüttert. »Er hat keine Familie, nur zwei Nichten und einen Neffen, die irgendwo in Oregon wohnen. Ich habe sie angerufen, aber ich weiß nicht, ob jemand kommen kann.«

»Was für eine Prognose geben ihm die Ärzte?« »Die Ärzte meinen, dass sich seine Chancen bessern, wenn er die ersten vierundzwanzig Stunden überlebt.«

»Darf ich morgen wieder anrufen?«

»Natürlich. Ich brauche nicht extra zu erwähnen, dass darüber kein Wort nach außen dringen darf, oder?«

»Nein, Madam.«

Er dankte ihr, legte auf und hauchte dann ein stilles Dankgebet. Er hatte es geschafft, sich selbst und Lily den ganzen Tag lang abzulenken, aber in seinem Hinterkopf hatte stets das Wissen genagt, dass Frank vielleicht sterben würde.

Er hätte nicht sagen können, was er ohne Lily gemacht hätte.

Solange er mit ihr zusammen gewesen war und sich darauf konzentrieren konnte, sie zum Lachen zu bringen, hatte er seine Sorgen vergessen können.

Ihm brach das Herz, wenn er sich vorstellte, wie sie mit achtzehn – genauso alt, wie sein Sohn Sam jetzt war – rekrutiert worden war, um jemanden kaltblütig abzuknallen. Wer das auch getan hatte, gehörte kaltblütig abgeknallt. Dadurch hatte man ihr jede Hoffnung auf ein normales Leben zerstört, und sie war noch zu jung gewesen, um zu überblicken, welchen Preis sie eines Tages dafür zahlen würde. Er sah sie im Geist vor sich, die perfekte Waffe, jung und frisch und unschuldig, aber das änderte nichts daran, dass es ein Verbrechen war. Falls sie ihm je verraten würde, wer das damals gewesen war – und der Kerl keinen Decknamen benutzt hatte –, würde er alles daransetzen, den Drecksack zur Strecke zu bringen.

Sein Handy klingelte. Er stutzte, und sein Herz stockte.

Hoffentlich war es nicht Franks Assistentin, die ihm mitteilen wollte, das Frank gerade gestorben war.

Er zerrte das Handy aus der Sakkotasche und warf einen schnellen Blick auf die Nummer im Display Es war ein französischer Anschluss, und er rätselte, wer ihn da wohl anrief, denn Lily war es nicht – die hätte ihr eigenes Handy genommen –, und sonst hatte niemand seine Nummer.

Er klappte es auf und klemmte es zwischen Schulter und Ohr, bevor er auf die Bremse trat und zur Abwechslung mal einen Gang herunterschaltete. »Ja.«

Ein Mann sagte ruhig und leise: »Im CIA‐Hauptquartier gibt es einen Maulwurf, der für Rodrigo Nervi arbeitet. Ich finde, Sie sollten das wissen.«

»Wer sind Sie?« Natürlich bekam Swain darauf keine Antwort. Die Verbindung war bereits getrennt.

Fluchend klappte er den Apparat wieder zu und ließ ihn in die Tasche zurückgleiten. Ein Maulwurf? Scheiße! Aber daran war nicht zu rütteln, denn woher hätte der Franzose seine Nummer haben sollen? Und der Anrufer war eindeutig Franzose gewesen; er hatte zwar Englisch gesprochen, aber mit französischem Akzent. Wenn auch nicht mit Pariser Akzent; den konnte Swain schon nach einem Tag deutlich heraushören.

Ein eisiger Schauer überlief ihn. Waren alle seine Anfragen direkt an Rodrigo Nervi weitergeleitet worden? Dann konnte alles, was er und Lily ausheckten, in die Katastrophe führen.

21

Swain marschierte in seinem Hotelzimmer auf und ab. Sein Gesichtsausdruck war hart und finster statt wie sonst freundlich und offen. Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte. Er war auf sich allein gestellt. Jeder in Langley konnte der Maulwurf sein: Franks Assistentin; Patrick Washington, der ihm bei ihrem einzigen Telefongespräch so sympathisch erschienen

war;

einer

der

Analysten;

einer

der

Führungsoffiziere – Scheiße, sogar Garvin Reed, der stellvertretende Direktor. Nur einem Menschen vertraute Swain vollkommen, nämlich Frank Vinay, und der lag schwer verletzt im Krankenhaus und würde möglicherweise nicht überleben. Nach diesem mysteriösen Anruf konnte Swain nicht mehr ausschließen, dass Franks Autounfall kein Unfall gewesen war.

Aber wenn sich ihm dieser Gedanke aufdrängte, dann hatten ihn wahrscheinlich tausende in Langley auch gehabt.

Und wenn der Maulwurf praktischerweise auf einem Posten saß, von dem aus er jeden Verdacht von dem Unfall ablenken konnte?

Trotzdem waren Autounfälle eine knifflige Angelegenheit und ganz entschieden nicht die zuverlässigste Methode, um jemanden zu eliminieren; dazu waren schon zu viele Leute unverletzt aus einem total demolierten Auto gestiegen.

Andererseits inszenierte man, wenn man jemanden beseitigen wollte, ohne dass es allzu sehr nach Absicht aussah, vorzugsweise etwas, das nach einem Unfall aussah. Wie gut die Inszenierung war, hing von der Zuverlässigkeit der beteiligten Personen und von der Höhe des investierten Betrages ab.

Aber wie könnte man einen Autounfall inszenieren, bei dem der Direktor für Auslandseinsätze aus dem Verkehr gezogen wurde? Rein logisch gesehen war kaum vorauszuberechnen, wo sich jemand in einem bestimmten Augenblick im Verkehrsgewühl von Washington, D. C, aufhalten würde, denn überall in der Stadt konnte es zu kleinen Auffahrunfällen, Motorschäden oder Reifenpannen kommen, die den Verkehr zum Erliegen brachten oder auf andere Routen umlenkten.

Dazu kam der Faktor Mensch in Form von Verschlafen oder Kaffeepausen. Er konnte sich nicht vorstellen, wie so etwas gehen sollte, wie man alles so perfekt aufeinander abstimmen könnte.

Außerdem hatte Franks Fahrer bestimmt jeden Tag eine andere Route gewählt. So was war selbstverständlich. Frank hätte darauf bestanden.

Also musste – vernünftigerweise – der Unfall genau das sein, wonach es aussah: ein Unfall.

Das Ergebnis blieb das gleiche. Ob Frank nun überlebte oder nicht, er war vorerst außer Dienst und unerreichbar. Swain war schon lange im Einsatz, aber er war tatsächlich im Einsatz gewesen und hatte bei verschiedenen Aufständen oder militärischen Gruppierungen in Südamerika mitgekämpft; dem CIA‐Hauptquartier hatte er nur Stippvisiten abgestattet.

Er kannte dort kaum jemanden, und kaum jemand kannte ihn.

Bislang hatte er es immer als Bonus betrachtet, dass er so selten in die Zentrale musste, aber jetzt waren ihm dadurch die Hände gebunden, weil er dort niemanden gut genug kannte, um ihm bedingungslos zu vertrauen.

Er würde also keine Hilfe aus Langley mehr bekommen und keine Informationen mehr abrufen können. Missmutig versuchte er abzuschätzen, was das in der augenblicklichen Situation bedeutete. So wie er es sah, hatte er zwei Optionen: Er konnte seinen offiziellen Auftrag erfüllen, Lily aus dem Verkehr ziehen und dann zu Gott beten, dass Frank den Unfall überlebte, damit sie anschließend diesen verfluchten Maulwurf aus seinem Loch schwemmen würden, oder er konnte hier abtauchen, Lily helfen, das Sicherheitssystem der Nervis zu überlisten, und von hier aus den Maulwurf zu enttarnen versuchen. So gesehen war hier zu bleiben eindeutig die attraktivere Option. Zum einen war er sowieso schon hier, zum anderen konnten die Sicherheitsvorkehrungen im Labor der Nervis noch so gut sein, sie waren ein Klacks gegen das, was in Langley aufgeboten wurde.

Und dann war da noch Lily. Sie ließ sein Herz aufgehen, sie machte ihn glücklich und reizte ihn wesentlich mehr, als er erwartet hatte. Klar, er hatte sie vom ersten Moment an attraktiv gefunden, aber je länger er mit ihr zusammen war, desto attraktiver kam sie ihm vor. Er war ihr schon jetzt näher gekommen, als er je beabsichtigt hatte, doch ihm erschien das längst nicht nah genug. Er wollte alles.

Darum würde er einfach hier bleiben und sein Bestes versuchen, um den Fall von hier aus aufzurollen. Bislang hatte er Lilys Spiel, in den Laborkomplex einzusteigen, eigentlich nur aus Neugier mitgespielt – und weil er es um jeden Preis in ihr Höschen schaffen wollte –, aber von nun an würde er Ernst machen. Und er war nicht allein; er hatte Lily an seiner Seite, die etwas von der Materie verstand, und er hatte den unbekannten Anrufer. Wer immer der Mann auch war, er saß an einer Stelle, an der er alle wichtigen Entwicklungen mitbekam, und er hatte sich durch seinen Anruf bei Swain endgültig auf die Seite der Guten gestellt.

Dank des kleinen, aber feinen Handyfeatures, das alle eingehenden Anrufe auflistete, hatte Swain die Nummer des Mannes. Heutzutage konnte man praktisch keinen Schritt tun, ohne eine elektronische oder papierene Spur zu hinterlassen.

Das konnte ein Segen und ein Fluch sein, je nachdem, ob man jemanden suchte oder ob man sich verstecken musste.

Möglicherweise wusste der Anrufer sogar, wie der Maulwurf hieß, aber das hielt Swain für wenig wahrscheinlich.

Hätte er die Warnung dann so allgemein gehalten? Wenn er es für richtig hielt, Swain zu warnen, dann hätte er ihm bestimmt auch den Namen verraten, wenn er ihn nur gewusst hätte.

Aber man konnte nie wissen, ob jemand nicht über Informationen verfügte, von denen er selbst nichts ahnte, ob jemand Details und Bruchstücke kannte, die er noch nicht zu einem passenden Ganzen zusammengefügt hatte. Und das ließ sich nur durch Fragen herausfinden.

Er wollte den unbekannten Informanten nicht von seinem Handy aus zurückrufen, denn immerhin bestand die Möglichkeit, dass der Mann nicht mit ihm sprechen wollte und nicht an den Apparat gehen würde, wenn Swains Telefonnummer im Display auftauchte. Und genauso wenig wollte Swain dem Anrufer verraten, dass er im Bristol wohnte; das war einfach sicherer. Gleich nach seiner Ankunft in Frankreich hatte er eine Telefonkarte gekauft, auch wenn er angenommen hatte, dass er sie nie brauchen würde. Dennoch wollte er sie zur Hand haben, falls etwa sein Handyakku unerwartet schlappmachte. Und so ging er aus dem Hotel und am

ersten

öffentlichen

Telefon

vorbei

die

Rue

Faubourg‐Saint‐Honore hinunter bis zu einem, das ihm weit genug entfernt schien.

Er lächelte, als er die Nummer wählte, aber es war ein Lächeln ohne Humor, eher das eines Hais, der eben sein Mittagessen ins Visier genommen hat. Während er den Klingelton hörte, warf er einen kurzen Blick auf die Uhr: ein Uhr dreiundvierzig. Wahrscheinlich holte er den Typen aus dem Bett, aber das hatte er nicht anders verdient, nachdem er so schnell wieder aufgelegt hatte.

»Ja?«

Die Stimme klang misstrauisch, aber Swain erkannte sie sofort. »Hallo«, meldete er sich fröhlich und auf Englisch. »Ich störe doch nicht, oder? Legen Sie nicht wieder auf, okay? Wenn Sie mitspielen, gibt es nur diesen einen Anruf. Wenn Sie auflegen, bekommen Sie Besuch.«

Es blieb kurz still. »Was wollen Sie?« Obwohl ihn Swain auf Englisch angesprochen hatte, antwortete der Mann auf Französisch; Swain war froh, dass er die Sprache gut genug beherrschte, um ihn zu verstehen.

»Nicht viel. Ich will nur alles wissen, was Sie wissen.«

»Einen Augenblick bitte.« Swain hörte den Mann einige leise Sätze mit einer Frau wechseln. Obwohl kaum ein Wort zu verstehen war, da er den Hörer vom Mund weghielt, meinte Swain etwas von »Ich gehe nach unten« zu hören.

Aha. Er war also zu Hause.

Dann meldete sich der Mann wieder und fragte knapp:

»Was kann ich für Sie tun?«

Eine Rauchbombe, um die Frau im Dunkeln zu halten, vermutete Swain. »Mir einen Namen geben, zum Beispiel.«

»Den des Maulwurfs?« Offenbar war er jetzt außer Hörweite seiner Frau, denn er sprach plötzlich Englisch.

»Den auch, aber vorerst dachte ich an Ihren.«

Der Mann überlegte wieder. »Es wäre besser, wenn Sie den nicht wüssten.«

»Besser für Sie bestimmt, aber mir liegt nichts daran, Ihnen das Leben angenehmer zu machen.«

»Mir schon, Monsieur.« Jetzt klang die Stimme fest; der Mann war kein Weichei. »Ich riskiere damit mein Leben und vor allem das meiner Angehörigen. Rodrigo Nervi verzeiht keinen Verrat.«

»Sie arbeiten für ihn?«

»Nein. Nicht im eigentlichen Sinn.«

»Was soll das heißen? Entweder er bezahlt sie, oder er bezahlt Sie nicht. Was denn nun?«

»Solange ich ihm gewisse Informationen zukommen lasse, Monsieur, lässt er meine Familie am Leben. Ja, er bezahlt mich auch; das Geld macht mich noch abhängiger, nicht wahr?«

Seine sonst so ruhige Stimme klang bitter. »Es garantiert, dass ich nicht rede.«

»Ich verstehe.« Swain hörte auf, den harten Burschen zu mimen – oder schaltete zumindest einen Gang herunter –, obwohl er wahrscheinlich gar nicht zu mimen brauchte, so leicht, wie ihm das Spielen fiel. »Eines verwirrt mich. Woher wusste Nervi überhaupt, dass ich hier bin, wieso hat er nach mir gefragt? Ich nehme an, deshalb fiel mein Name und daher haben Sie auch meine Nummer.«

»Er wollte die wahre Identität einer Ihrer Agentinnen erfahren.

Ich

glaube,

sie

wurde

von

einem

Gesichtserkennungsprogramm identifiziert. Der Maulwurf beschaffte ihre Akte und ersah daraus, dass Sie losgeschickt wurden, um das Problem zu beseitigen.«

»Woher wusste er, dass sie unsere Agentin ist?«

»Das wusste er nicht. Er wählte verschiedene Ansätze, sie zu identifizieren.«

So also war Rodrigo zu dem Foto von Lily gekommen, das sie ohne ihre Verkleidung zeigte. Rodrigo wusste also, wie Lily aussah und wie sie hieß. »Weiß Nervi auch, wie ich heiße?«, erkundigte sich Swain.

»Das kann ich nicht sagen. Ich bin seine Verbindungsstelle zur CIA, und ich habe Ihren Namen nicht weitergegeben. Er wollte sich mit Ihnen in Verbindung setzen.«

»Warum, um Gottes willen?«

»Um Ihnen einen Deal vorzuschlagen, nehme ich an. Eine beträchtliche Summe im Austausch gegen alles, was Sie über den Aufenthaltsort der gesuchten Frau in Erfahrung bringen.«

»Wie kommt er darauf, dass ich so einem Deal zustimmen würde?«

»Sie sind doch zu kaufen, oder?«

»Nein«, beschied ihn Swain knapp.

»Sie sind kein Agent?«

»Nein.« Mehr brauchte er nicht zu sagen. Wenn ihn die CIA geschickt hatte und er kein Agent war, dann musste er zur anderen Kategorie gehören: Führungsoffizier. Bestimmt war der

Mann

schlau

genug,

um

sich

das

selbst

zusammenzureimen.

»Aha.« Er hörte, wie der andere scharf einatmete. »Dann war meine Entscheidung richtig.«

»Und zwar?«

»Ihre Telefonnummer nicht weiterzugeben.«

»Obwohl Sie dadurch Ihre Familie in Gefahr bringen?«

»Ich habe mich abgesichert. Es gibt noch einen Nervi, den jüngeren Bruder, Damone, der … ein bisschen aus der Art geschlagen ist. Er ist intelligent und vernünftig. Als ich ihm erklärte, welche Konsequenzen es haben kann, jemanden zu kontaktieren, der für die CIA arbeitet, und als ich ihm darlegte, dass dieser Mensch davon ausgehen muss, dass seine Telefonnummer nur weitergegeben werden konnte, weil jemand in der CIA sie herausgegeben hat – außerdem könnte der Betreffende seinem Land wirklich treu sein –, da erkannte Damone, wie Recht ich mit meinen Bedenken hatte. Er sagte, er würde Rodrigo berichten, dass der Mann von der CIA – also Sie, natürlich – hier ein Handy gemietet und sich noch nicht wieder in der Zentrale gemeldet hat, weshalb es im Augenblick noch keine Nummer gäbe.«

Das klang ganz vernünftig, auch wenn die Erklärung etwas verworren gewesen war. Wahrscheinlich wusste Rodrigo nicht, dass Führungsoffiziere bei einem Einsatz im Ausland entweder ein abhörsicheres internationales Handy oder ein satellitengestütztes Handy verwendeten.

Und schon fügte sich das nächste Steinchen ins Bild. Wenn die Informationen aus der CIA über diesen Mann an Rodrigo Nervi weitergeleitet wurden, musste er einen Posten haben, der es ihm erlaubte, sensible Daten anzufordern – und hatte demnach eine Menge zu verlieren, falls irgendjemand davon erfuhr. »Für wen arbeiten Sie?«, fragte er. »Interpol?«

Er hörte ein kurzes Stocken und dachte triumphierend: Bingo! Ein Schuss ins Schwarze. Es sah so aus, als hätte Salvatore seine schmutzigen Finger in viele Töpfe gesteckt, in denen er nichts verloren hatte.

»Sie wollen es Nervi also heimzahlen«, folgerte er, »ohne dabei Ihre Familie zu gefährden. Sie können sich nicht offen weigern, seine Bitten zu erfüllen, richtig?«

»Ich habe zwei Kinder, Monsieur. Vielleicht verstehen Sie nicht –«

»Ich habe auch zwei Kinder, ich verstehe also sehr gut.«

»Er würde sie, ohne mit der Wimper zu zucken, töten, wenn ich nicht kooperiere. Bei dem Gespräch mit seinem Bruder habe ich mich nicht widersetzt; sein Bruder hat diese Entscheidung selbst gefällt.«

»Aber nachdem Sie meine Nummer schon hatten, dachten Sie, Sie könnten schnell mal durchklingeln, um mich vor dem Maulwurf zu warnen.«

»Oui. Ermittlungen, die auf einem internen Verdacht beruhen, verlaufen anders als solche, die von außen angestoßen werden, nicht wahr?«

»Stimmt.« Der Mann wollte den Maulwurf auffliegen lassen; er wollte die Verbindung kappen. Offenbar hatte er Gewissensbisse, weil er im Lauf der Jahre viele Informationen weitergegeben hatte, und versuchte nun, dafür Buße zu tun.

»Wie viel Schaden wurde denn angerichtet?«

»Keiner, der die nationale Sicherheit beeinträchtigt hätte, Monsieur. Wenn ich eine Anfrage erhielt, musste ich zumindest einen soupgon zuverlässiger Informationen liefern, aber ich habe immer alle sensibleren Punkte verschwiegen.«

Swain gab sich damit zufrieden. Immerhin hatte der Mann ein Gewissen, sonst hätte er nicht angerufen. »Kennen Sie den Namen des Maulwurfs?«

»Nein, wir haben nie Namen verwendet. Er kennt meinen auch nicht. Damit meine ich unsere echten Namen. Natürlich haben wir Codenamen.«

»Und wie erhalten Sie die Informationen? Ich nehme an, er schickt sie nicht über den offiziellen Weg, wo alles, was gefaxt oder gescannt wird, zu Ihren Händen geschickt werden müsste.«

»Ich habe auf meinem Heimcomputer eine fiktive Identität angelegt, der die meisten Informationen gemailt werden. Nur die wenigsten Dinge müssen gefaxt werden. Ein Fax lässt sich immer zurückverfolgen – vorausgesetzt, man weiß, wonach man suchen muss. Aktivieren kann ich den Account auch von meinem … ich weiß nicht, wie das Ding heißt. Der kleine Handcomputer, in den man seine Termine eingibt –«

»Palmtop«, sagte Swain.

»Oui. Den Palmtop.«

»Die Nummer, unter der Sie ihn kontaktieren –«

»Ist eine Handynummer, unter der ich ihn jederzeit erreichen kann.«

»Haben Sie die Nummer überprüfen lassen?«

»Wir ermitteln nicht, Monsieur; wir koordinieren.«

Swain wusste wohl, dass es der Interpol in ihren Statuten untersagt war, eigene Ermittlungen zu führen. Sein Gesprächspartner hatte eben bestätigt, dass er tatsächlich für Interpol arbeitete, was Swain allerdings keine Sekunde lang bezweifelt hatte.

»Das Handy ist garantiert unter einem falschen Namen registriert«, fuhr der Franzose fort. »Ich bin überzeugt, das wäre für ihn kein Problem.«

»So was macht er mit dem kleinen Finger.« Swain kniff sich in den Nasenrücken. Ein falscher Führerschein war kinderleicht zu beschaffen, vor allem für Leute in ihrer Branche.

Lily hatte auf ihrer Flucht vor Rodrigo drei verschiedene Identitäten verwendet. Wie schwer konnte es für jemanden aus der CIA‐Zentrale schon sein, einen falschen Handyvertrag abzuschließen?

Er erwog die verschiedenen Möglichkeiten, diesen Schuft zu schnappen. »Wie oft nehmen Sie Kontakt mit ihm auf?«

»Manchmal monatelang nicht. In den letzten Tagen gleich zweimal.«

»Ein dritter Kontakt so kurz hintereinander wäre also ungewöhnlich?«

»Äußerst ungewöhnlich. Aber ob ihn das misstrauisch machen würde? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Was meinen Sie?«

»Ich meine, Monsieur, dass Sie in einer Zwickmühle stecken und so schnell wie möglich raus wollen. Habe ich Recht?«

»Ich stecke in einer Mühle? Ach so, ich verstehe. O ja, das möchte ich wirklich.«

»Dazu brauche ich eine Aufzeichnung Ihres nächsten Gespräches mit ihm. Wenn Sie möchten, können Sie das Gerät ja ausschalten, während Sie sprechen. Der Inhalt ist unwesentlich, ich brauche nur seine Stimme.«

»Für einen Stimmabgleich.«

»Genau. Dazu brauche ich auch Ihr Aufnahmegerät. Dann muss ich nur noch die passende Stimme finden.« Die Stimmabdruckanalyse war erstaunlich treffsicher; damit und mit dem Gesichtserkennungsprogramm hatte man früher Saddam Hussein von seinen Doubles unterschieden. Die Stimme war das Produkt der menschlichen Kehle und des individuellen Nasen‐ und Rachenraums und daher kaum zu fälschen. Nicht einmal Imitatoren konnten eine Stimme wirklich genau nachahmen. Allerdings konnten die Ergebnisse durch ein anderes Aufnahmegerät, ein anderes Mikrofon oder eine andere Position verfälscht werden. Indem Swain dasselbe Aufnahmegerät verwendete, konnte er diese Verfälschungen minimieren.

»Ich wäre dazu bereit«, sagte der Franzose. »Es ist gefährlich für mich und meine Familie, aber ich glaube, ich kann das Risiko eingehen, wenn Sie mit mir kooperieren.«

»Danke.« Swain meinte das ehrlich. »Wären Sie auch bereit, noch einen Schritt weiter zu gehen und die Bedrohung ganz auszuschalten?«

Daraufhin blieb es lange still; schließlich hörte Swain: »Wie soll das geschehen?«

»Haben Sie Kontaktleute, denen Sie voll und ganz vertrauen?«

»Aber natürlich.«

»Jemand, der sich über die Spezifikationen eines Sicherheitssystems

in

einem

ganz

bestimmten

Gebäudekomplex schlau machen könnte?«

»Spezifi…?«

»Eine Blaupause. Technische Details.«

»Ich nehme an, der Gebäudekomplex gehört zum Nervi‐Konzern?«

»Ganz recht.« Swain nannte ihm den Namen und die Adresse des Labors.

»Ich werde sehen, was ich tun kann.«

22

Lily musste lächeln, als am nächsten Morgen ihr Handy klingelte. Weil sie fest mit einem halb ironisch, halb ernst gemeinten obszönen Anruf von Swain rechnete, prüfte sie nicht einmal die Nummer im Display, ehe sie die Sprechtaste drückte. Um ihm eins auszuwischen, verstellte sie ihre Stimme und bellte mit tiefer, fast maskuliner Stimme ein ungeduldiges

»Hallo!« ins Telefon.

»Mademoiselle Mansfield?« Das war eindeutig nicht Swains Stimme; sondern eine, die elektronisch verzerrt war und sich anhörte, als käme sie aus einer tiefen Trommel.

Lily erstarrte vor Schreck und hätte das Handy im Reflex beinahe wieder ausgeschaltet, aber im nächsten Moment hatte sie sich gefangen. Dass jemand ihre Handynummer hatte, bedeutete noch lange nicht, dass er wusste, wo sie sich aufhielt.

Das Telefon war auf ihren echten Namen registriert; die Wohnung und alles, was damit zusammenhing, lief auf den Namen Claudia Weber. Im Grunde war es beruhigend, dass der Anrufer sie als »Mansfield« angesprochen hatte; demnach war ihre Tarnung als »Claudia« noch nicht aufgeflogen.

Woher hatte der Anrufer ihre Nummer? Es war ihr Privathandy, das sie nur für persönliche Gespräche nutzte.

Natürlich hatten Tina und Averill die Nummer gehabt, und Zia ebenfalls; Swain hatte sie jetzt auch. Wer sonst? Früher hatte sie einen großen Bekanntenkreis gepflegt, aber das war praktisch in der Vor‐Handy‐Zeit gewesen; seit dem Tag, an dem sie Zia gefunden hatte, war der Kreis, weil sie sich ganz ihrem Baby gewidmet hatte, immer kleiner geworden. Und nach dem Debakel mit Dmitri war er bis auf einige magere Überreste abgeschmolzen. Jetzt fiel ihr außer Swain niemand mehr ein, der diese Nummer haben konnte.

»Mademoiselle Mansfield?«, fragte die verzerrte Stimme noch mal.

»Ja?« Lily bemühte sich, ganz ruhig zu klingen. »Woher haben Sie diese Nummer?«

Darauf bekam sie keine Antwort, stattdessen hörte sie auf Französisch: »Sie kennen mich nicht, aber ich kannte Ihre Freunde, die Joubrans.«

Die Worte klangen eigenartig, und nicht nur, weil sie elektronisch verzerrt waren. Sie hörten sich an, als hätte der Anrufer Probleme beim Sprechen. Als Lily die Namen ihrer Freunde hörte, wurde sie noch misstrauischer. »Wer sind Sie?«

»Entschuldigung, aber das kann ich nicht sagen.«

»Warum nicht?«

»Es ist sicherer so.«

»Für wen?«, erkundigte sie sich trocken.

»Für uns beide.«

Na gut, eine ehrliche Antwort hatte sie nicht wirklich erwartet. Aber damit konnte sie leben. »Weshalb rufen Sie an?«

»Ich bin derjenige, der Ihre Freunde damals beauftragt hat, das Labor zu zerstören. Ich hatte nie beabsichtigt, dass das passiert, was dann passiert ist. Niemand sollte dabei umkommen.«

Lily tastete blindlings nach einem Stuhl und ließ sich wie vom Blitz getroffen darauf fallen. Sie hatte nach Antworten gesucht, und nun wurden sie ihr ohne jede Vorwarnung in den Schoß geworfen. Zwei Sprichwörter geisterten ihr im Kopf herum: »Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul«

und »Traue keinem Danaer, auch wenn er Geschenke bringt«.

Was war der Anrufer wohl eher, im übertragenen Sinn natürlich – ein Gaul oder ein Grieche?

»Womit haben Sie die Joubrans damals beauftragt?«, brachte sie schließlich heraus. »Und vor allem, warum rufen Sie mich an?«

»Ihre Freunde haben ihre Mission erfolgreich durchgeführt – aber sie haben sie nicht endgültig abgeschlossen. Leider wurden die Forschungen wieder aufgenommen, und sie müssen unbedingt gestoppt werden. Sie haben einen guten Grund, Erfolg zu suchen: Rache. Darum haben Sie auch Salvatore Nervi umgebracht. Aus diesem Grund möchte ich Sie beauftragen, die Mission Ihrer Freunde zu Ende zu bringen.«

Kalter Schweiß rann ihr Rückgrat entlang. Woher wusste er, dass sie Salvatore umgebracht hatte? Sie fuhr sich mit der Zunge über die plötzlich trockenen Lippen, hakte aber nicht nach. Stattdessen konzentrierte sie sich auf das, was er noch gesagt hatte. Dieser Mann wollte sie dafür bezahlen, das zu tun, was sie ohnehin vorhatte. Die Ironie daran war fast lachhaft, nur dass ihr eher zum Heulen als zum Lachen zumute war.

»Was für eine Mission soll das sein?«

»Es geht um ein Virus, ein Vogelgrippevirus. Dr. Giordano hat es genetisch so manipuliert, dass es auch von Mensch zu Mensch übertragen werden kann, womit er eine weltumspannende Grippeepidemie auslösen will. Diese Pandemie wird wiederum eine immense Nachfrage nach dem Impfserum nach sich ziehen, das er parallel dazu entwickelt. Gegen dieses Virus gibt es keine Immunität; mit diesem bestimmten Virus hatte die Menschheit noch nie zu kämpfen. Um die Panik zusätzlich zu schüren, hat Dr. Giordano das Virus so modifiziert, dass es die Kinder, die kein so entwickeltes Immunsystem haben wie ein Erwachsener, besonders schwer trifft.

Millionen werden sterben, Mademoiselle. Die Epidemie wird schlimmer sein als die von 1918, bei der wahrscheinlich zwischen zwanzig und fünfzig Millionen Menschen starben.«

dass es Kinder besonders schwer trifft. Zia. Lily wurde übel. Sie hatte sich also nicht geirrt; dass Averill und Tina die Notwendigkeit gesehen hatten, einen Einsatz zu übernehmen, der sie letztendlich ihr Leben kosten sollte, hatte etwas mit Zia zu tun gehabt. Sie wollte laut aufschreien, weil das ungerecht war und so gnadenlos ironisch. Sie ballte die Fäuste, versuchte, sich zu beherrschen und den Zorn und Schmerz zu unterdrücken, die wie Lava in ihrer Kehle hochstiegen.

»Der Erreger ist inzwischen fertig. Sobald auch das Impfserum entwickelt wird, werden Pakete in eine oder mehrere südostasiatische Megalopolen verschickt, wo die Menschen auf engstem Raum zusammenleben. Die Grippe wird sich wie ein Lauffeuer ausbreiten.

Bis die ganze Welt in Aufruhr ist, werden schon tausende, vielleicht sogar Millionen gestorben sein. Dann wird Dr. Giordano verkünden, dass er über ein Impfserum gegen die Vogelgrippe verfügt, und der Nervi‐Konzern wird jeden beliebigen Preis dafür verlangen können.

Die Nervis werden unermesslich reich werden.«

O ja, das würden sie. Es war ein klassischer Vorgang. Erst das Angebot kontrollieren, dann die Nachfrage schaffen.

DeBeers machte es mit Diamanten nicht anders; indem der Diamantennachschub auf dem Markt verknappt wurde, wurden die Preise künstlich hoch gehalten. Diamanten waren im Grunde gar nicht so selten, aber das Angebot blieb stark beschränkt. Beim Rohöl und der OPEC verhielt es sich ähnlich, nur dass beim Öl die Nachfrage nicht künstlich hochgetrieben werden musste.

»Woher wissen Sie das alles?«, fragte sie zornig. »Warum haben Sie die Behörden nicht informiert?«

Einen Moment herrschte Stille; dann hörte sie die verzerrte Stimme wieder. »Salvatore Nervi hatte viele politische Verbindungen, in den höchsten Positionen sitzen Menschen, die ihm viel zu verdanken hatten. Dr. Giordanos Labor entwickelt auch das Serum gegen den Erreger, was die Existenz des Virus erklären würde.

Es gibt keine Beweise, die schwerer wiegen würden als sein Einfluss.

Darum war ich gezwungen, jemanden anzuheuern.«

Leider stimmte das; es gab viele einflussreiche Politiker, die in Salvatores Spendierhosen Quartier bezogen hatten, wodurch er so gut wie unantastbar geworden war.

Es stimmte aber auch, dass sie keine Ahnung hatte, mit wem sie da redete, ob der Anrufer die Wahrheit sagte oder ob Rodrigo ihre Handynummer ausfindig gemacht hatte und jetzt diesen Anruf fingierte, um sie aus ihrem Versteck zu locken.

Sie war bestimmt nicht so dumm, dem Unbekannten zu vertrauen, ohne dass sie sich vorher abgesichert hätte.

»Machen Sie es?«, fragte er.

»Wie könnte ich zusagen, wenn ich nicht einmal weiß, wer Sie sind? Wie sollte ich Ihnen vertrauen?«

»Ich verstehe Ihr Problem, aber ich kann es nicht lösen.«

»Ich bin nicht die Einzige, die Sie beauftragen können.«

»Nein, aber Sie haben möglicherweise das stärkste Motiv, und Sie sind verfügbar. Ich habe keine Zeit, mich nach einem anderen Kandidaten umzuhören.«

»Tina Joubran war Expertin für Sicherheitssysteme. Ich bin es nicht.«

»Das ist auch nicht nötig. Ich selbst habe die Joubrans mit allen Komponenten des Sicherheitssystems vertraut gemacht. «

»Seit August wurde die Anlage bestimmt verändert.«

»O ja, das wurde sie. Ich weiß auch, welche Veränderungen vorgenommen wurden.«

»Das kann nur jemand wissen, der im Labor arbeitet. Sie könnten das Virus selbst zerstören.«

»Das kann ich aus mehreren Gründen nicht.«

Wieder fiel ihr diese eigenartig stockende Sprechweise auf.

Ihr kam der Gedanke, dass der Anrufer möglicherweise an einer Behinderung litt.

»Ich zahle Ihnen eine Million Dollar.«

Lily massierte ihre Stirn. Da stimmte was nicht, der Betrag war entschieden zu hoch. Ihre inneren Alarmglocken schrillten.

Als sie nicht antwortete, fuhr der Mann fort: »Da wäre noch etwas. Dr. Giordano muss ebenfalls getötet werden. Falls er überlebt, wird er seine Forschungen wieder aufnehmen. Es muss alles vernichtet werden: der Doktor, seine Forschungsunterlagen, sämtliche Computerdateien, das Virus. Einfach alles. Diesen Fehler habe ich beim ersten Mal gemacht; da waren wir nicht gründlich genug.«

Plötzlich kamen ihr eine Million Dollar gar nicht mehr so übertrieben vor. Was er bislang erzählt hatte, klang durchwegs vernünftig und beantwortete viele der Fragen, die sie sich gestellt hatte, aber ihre angeborene Vorsicht ließ sie zögern. Sie musste sich irgendwie absichern, falls das doch eine Falle war, nur war sie auf dieses Gespräch überhaupt nicht vorbereitet gewesen und hatte deshalb ihre Gedanken nicht ordnen können. Bevor sie ihre Entscheidung traf, musste sie alles gründlich überdenken.

»Ich kann Ihnen noch keine Zusage machen«, sagte sie.

»Dazu gibt es zu vieles zu bedenken.«

»Ich verstehe. Das könnte eine Falle sein. Es ist bestimmt klüger, alle Möglichkeiten zu berücksichtigen, allerdings ist die Zeit ein entscheidender Faktor. Ich glaube, dass der Job, den ich Ihnen anbiete, ohnehin Ihren Zielen entspricht und dass Sie diese Ziele mit meiner Hilfe eher erreichen werden. Je länger Sie warten, desto wahrscheinlicher wird es, dass Rodrigo Nervi Sie aufspürt. Er ist intelligent und skrupellos, und Geld ist für ihn kein Thema. Seine Leute sitzen überall in Paris, überall in Europa, in unzähligen Geschäften und Polizeistellen. Die Zeit arbeitet für ihn, irgendwann wird er Sie finden. Mit dem Geld, das ich Ihnen zahle, könnten Sie ein für alle Mal verschwinden.«

Da konnte sie nicht widersprechen. Eine Million Dollar würde ihr eindeutig weiterhelfen. Trotzdem konnte sie nicht zusagen, ohne sich vorher abzusichern, denn immerhin war es gut möglich, dass der Köder vergiftet war.

»Denken Sie darüber nach. Ich rufe morgen wieder an. Bis dahin brauche ich Ihre Antwort, sonst muss ich andere Wege beschreiten.«

Die Verbindung war unterbrochen. Automatisch sah Lily auf das Display ihres Handys, aber wie nicht anders zu erwarten, war die Nummer unterdrückt worden; ein Mann, der eine Million Dollar lockermachen konnte, um ein Labor in die Luft jagen zu lassen, konnte auch eine Handynummer unterdrücken.

Aber würde ein so reicher Mann tatsächlich in einem Labor arbeiten? Wohl kaum. Woher hatte er also seine Informationen?

Wie war er an die Pläne für das Sicherheitssystem gekommen?

Wer er war und woher er seine Informationen bezog, war die entscheidende Frage. Vielleicht war er an Salvatores Plan beteiligt gewesen und hatte kalte Füße bekommen, als er erkannt hatte, wie viele unschuldige Menschen sterben mussten – obwohl Lily die Erfahrung gemacht hatte, dass Menschen wie die Nervis und ihresgleichen schlicht nicht danach fragten, wer oder wie viele sterben mussten, solange sie nur ihren Willen durchsetzen konnten.

Oder war der Anrufer etwa Rodrigo Nervi gewesen, der ihr die Wahrheit über seine Ziele offenbart hatte, um sie aus der Reserve zu locken? Er war intelligent und dreist genug, um einen solchen Plan zu entwerfen, ihn bis ins letzte Detail auszufeilen und ihn in die Tat umzusetzen, den angeblichen Wunsch nach Dr.

Giordanos Tod eingeschlossen.

Rodrigo Nervi hatte auch Mittel und Wege, ihre Telefonnummer ausfindig zu machen, die sie sicherheitshalber nicht ins Telefonbuch hatte aufnehmen lassen.

Mit zittrigen Fingern tippte sie Swains Nummer ein.

Beim dritten Klingeln hörte sie sein verschlafenes »Guten Morgen, meine Schöne«.

»Es ist was passiert«, erklärte sie ihm gepresst und ohne auf sein Flirten einzugehen. »Ich muss dich sehen.«

»Soll ich dich abholen, oder willst du lieber herkommen?«

Sofort war er hellwach.

»Hol mich ab«, bat sie; die Warnung des unbekannten Anrufers, dass Rodrigos Leute überall waren, hatte sie zutiefst verunsichert. Natürlich hatte sie das gewusst und sich trotzdem sicher gefühlt, als sie mit Sonnenbrille und Kopfbedeckung in der U‐Bahn gestanden hatte. Dass sie aufgespürt worden war, machte sie nervös, vor allem weil der Anrufer mit ungewöhnlich vielen Details vertraut zu sein schien. Die meisten Pariser nahmen die Metro, denn der Straßenverkehr war ein einziger Albtraum. Da war es nur logisch, die Züge beobachten zu lassen, ob jemand mitfuhr, auf den ihre Beschreibung passte.

»Je nach Verkehr müsste ich in … irgendwas zwischen einer Stunde und zwei Tagen da sein.«

»Ruf an, wenn du in der Nähe bist, dann komme ich runter«, wies sie ihn an und legte auf, ohne auf seinen Scherz einzugehen.

Sie duschte und zog dann wie üblich Hose und Schnürschuhe an. Ein Blick aus dem Fenster verriet ihr, dass es zum Glück ein sonniger Tag war, weshalb sie mit ihrer Sonnenbrille nicht weiter auffallen würde. Sie steckte das Haar hoch, damit sie es unter einen Hut schieben konnte, und ließ sich anschließend an dem kleinen Esstisch nieder, wo sie gewissenhaft ihre Waffe kontrollierte und zusätzliche Munition in ihrer Handtasche deponierte. Der Anruf hatte sie eindeutig verschreckt, was ihr sonst nicht oft widerfuhr.

»Ich bin in fünf Minuten da«, kündigte Swain eineinviertel Stunden später an.

»Ich warte«, antwortete Lily. Sie schlüpfte in ihren Mantel, setzte Hut und Sonnenbrille auf, griff sich ihre Tasche und eilte nach unten. Als sie aus der Tür trat, hörte sie schon den kraftvollen Motor viel zu schnell die schmale, gewundene Straße hochschnurren, dann schoss die silberne Schnauze hinter der Ecke hervor, und der Wagen kam quietschend vor ihren Füßen zum Stehen. Noch während sie die Autotür von innen zuzog, fuhr er wieder an.

»Was ist denn?« Swain klang ausnahmsweise todernst. Er trug ebenfalls eine Sonnenbrille und fuhr den Wagen schnell, aber konzentriert und ohne irgendwelche Mätzchen zu versuchen.

»Mich hat jemand auf dem Handy angerufen«, erklärte sie ihm, während sie sich anschnallte. »Weil ich die Nummer niemandem außer dir gegeben habe, bin ich drangegangen, ohne erst aufs Display zu schauen. Genützt hätte das sowieso nichts, weil die Nummer unterdrückt wurde. Es war eine elektronisch

verzerrte

Stimme,

aber

eindeutig

eine

Männerstimme, und sie bot mir eine Million Dollar – US‐Dollar

– an, wenn ich das Labor der Nervis in die Luft jage und den verantwortlichen Forscher töte.«

»Erzähl weiter«, befahl er und schaltete vor einer scharfen Kurve einen Gang herunter.

Sie gab das gesamte Gespräch wieder und blieb dabei so detailgetreu, wie es aus dem Gedächtnis nur möglich war. Als sie ihm von dem Vogelgrippevirus erzählte, brummte er kaum hörbar: »Verfluchter Hurensohn.«

Als sie fertig war, fragte er: »Wie lange habt ihr telefoniert?«

»Fünf Minuten etwa. Vielleicht etwas länger.«

»Also lange genug, um deine Position zu bestimmen.

Vielleicht nicht punktgenau, aber grob. Falls es Nervi war, könnte er dein Viertel mit Leuten überziehen, die dein Foto herumzeigen, bis er irgendwann fündig wird.«

»Ich kenne hier noch niemanden. Die Wohnung hat mir jemand untervermietet, der zurzeit im Ausland ist.«

»Das ist bestimmt von Vorteil. Trotzdem vergisst man deine Augen nicht so schnell. Du musst einen Husky unter deinen Vorfahren haben. Jeder, der dir begegnet ist, wird sich an diese Augen erinnern.«

»Danke«, sagte sie trocken.

»Ich finde, du solltest zurückfahren, das Nötigste einpacken und vorerst zu mir ziehen. Zumindest, bis er wieder anruft.

Falls es wirklich Nervi ist und er dein Telefon erneut zu orten versucht, bist du das nächste Mal in einem ganz anderen Viertel, was ihn erst mal aus der Bahn werfen dürfte.«

»Er wird annehmen, ich ziehe von einem Hotel ins nächste.«

»Wenn wir Glück haben. Vielleicht verhindert die Interferenz der Hotelanlage auch, dass jemand dein Signal zurückverfolgt. Große Gebäude können die Elektronik zum Spinnen bringen.«

Bei ihm einziehen. Das hörte sich durchaus vernünftig an; sie wären zusammen, sie brauchte nicht einzuchecken, und wer würde sie schon in einem Nobelhotel vermuten?

Der Plan hatte mehrere Vorteile und nur einen Nachteil, soweit sie erkennen konnte. Es war albern, sich deswegen den Kopf zu zermartern, aber sie schreckte immer noch davor zurück, mit ihm zu schlafen, und sie war nicht so naiv, anzunehmen, dass sich das vermeiden ließ, wenn sie im selben Bett schliefen. Sie hatte wirklich andere Sorgen als die Frage, ob sie mit ihm schlafen würde, aber sie zögerte dennoch.

Er fixierte sie mit einem klaren, ruhigen Blick, der ihr verriet, dass er ihre Gedanken lesen konnte, aber er machte keine Anstalten zu beteuern, dass er seine Hände bei sich behalten und nicht versuchen würde, Vorteil aus der Situation zu schlagen. Das verstand sich von selbst.

»Na gut«, sagte sie.

Er feixte nicht, er lächelte nicht mal. Er sagte einfach: »Gut.

Und jetzt erzähl mir das mit dem Grippevirus noch einmal ganz genau. Ich kenne zufällig jemanden in Atlanta, der mir erklären kann, ob so was machbar wäre oder nicht, damit wir nicht losstürmen, um die Welt vor einem unausgegorenen Wahnsinnsplan zu retten, der sowieso nie hinhauen würde.«

Während sie alles wiederholte, was ihr im Gedächtnis geblieben war, kreuzte er durch die gewundenen Straßen zurück zu ihrer Wohnung. Als er an den Randstein fuhr, meinte er: »Willst du kurz um den Block fahren, bis ich oben war, um zu kontrollieren, ob in deiner Wohnung jemand ist?«

Lily tippte gegen ihren Stiefelschaft. »Danke, aber das kann ich schon selbst.«

»Dann kreise ich, so gut ich kann, obwohl es hier weit und breit keinen anständigen Häuserblock zu geben scheint. Und währenddessen rufe ich mal kurz in Atlanta an.«

»Hört sich gut an.« Sie stieg die Treppe hoch, die sie vor einer

halben

Stunde

heruntergekommen

war.

Beim

Hinausgehen hatte sie sich ein Haar ausgezupft, es angeleckt und einen Zentimeter über dem Boden über Tür und Türrahmen geklebt. Auf dem Holz war das blonde Haar praktisch unsichtbar. Sie bückte sich, sah nach und atmete erleichtert aus. Das Haar war noch da. Niemand war in ihrer Wohnung gewesen. Sie schloss auf, trat ein und sammelte hastig alles zusammen, was sie wahrscheinlich brauchen würde, vor allem Kleidung und Schminkutensilien. Der Himmel allein wusste, wann oder ob sie jemals zurückkehren würde, um die restlichen Sachen abzuholen.

23

Jeder hatte ein paar alte Freunde, deren Telefonnummer man nie vergaß. Micah Sumner gehörte allerdings nicht dazu, darum hatte Swain, während Lily in ihrer Wohnung war und ihre Sachen zusammensuchte, alle Hände voll zu tun, gleichzeitig durch die schmalen Straßen zu navigieren, rauf-und runterzuschalten und in sein Handy endlose Zahlenfolgen einzutippen, die ihm als roter Faden durch das elektronische Labyrinth des amerikanischen Auskunftssystems dienten.

Dann fehlten ihm Zettel und Stift, um die Nummer aufzuschreiben, und ganz besonders eine vierte Hand, um während des Lenkens, Schaltens und Telefonierens schreiben zu können, weshalb er, als ihn die Computerstimme fragte, ob sie ihn verbinden solle, halblaut »Scheiße, meinetwegen«

grummelte und dann die Ziffer für »Scheiße, meinetwegen«

drückte.

Beim fünften Klingeln kamen Swain leise Zweifel, ob überhaupt jemand ans Telefon gehen würde. Aber beim sechsten Tuten hörte er erst ein Rascheln und dann eine schlafvernebelte Stimme fragen: »Ja, hallo?«

»Micah, hier ist Lucas Swain.«

»Leck mich am Arsch.« Er hörte ein ausgiebiges Gähnen.

»Von dir habe ich ewig nichts mehr gehört. Und ehrlich gesagt würde ich auch jetzt lieber nichts von dir hören. Weißt du eigentlich, wie spät es ist, verdammte Scheiße?«

Swain sah kurz auf die Uhr. »Mal sehen; hier ist es neun Uhr vormittags, also ist es bei euch … drei Uhr früh, stimmtʹs?«

»Nervensäge.« Das kam unter einem zweiten Gähnen. »Na schön, weshalb hast du mich aus meinem wohlverdienten Schlaf gerissen? Ich hoffe, du hast einen guten Grund.«

»Das weiß ich noch nicht.« Swain klemmte das Handy zwischen Kinn und Schulter, um schalten zu können. »Was weißt du über aviäre Influenza?«

»Aviäre Influenza? Du willst mich verscheißern, hab ich Recht?«

»Nein, die Sache ist so ernst wie ein Herzinfarkt. Ist sie gefährlich?«

»Für wild lebende Vögel nicht, aber für Zuchtgeflügel schon.

Kannst du dich noch erinnern, dass vor einigen Jahren … 1997, wenn ich mich recht erinnere … über den Ausbruch der Vogelgrippe in Hongkong berichtet wurde? Damals mussten fast zwei Millionen Hühner geschlachtet werden, um die Seuche einzudämmen.«

»Zu der Zeit war ich in einer Gegend mit sehr eingeschränktem Fernsehempfang. Die Vogelgrippe tötet also Vögel?«

»Ja. Nicht alle, aber die meisten. Das Problem bei der Geschichte ist, dass das Virus mutieren und dann auch auf den Menschen übertragen werden kann.«

»Ist sie gefährlicher als eine normale Grippe?«

»Eindeutig. Wenn es ein mutiertes Virus ist, das der menschliche Organismus nicht kennt, kann ihn das Immunsystem auch nicht abwehren. Krank ist also gar kein Ausdruck. Dann geht es um Leben oder Tod.«

»Wie tröstlich.«

»Bis jetzt haben wir verfluchtes Glück gehabt. Es gab zwar schon mehrmals Mutationen, die eine Übertragung vom Vogel auf den Menschen ermöglicht haben, aber bis heute hat kein Virenstamm den magischen Sprung geschafft, sodass er von einem Menschen auf den anderen übertragbar wäre. Bis heute, wie gesagt. Ein rekombinantes, wirklich fieses Virus ist schon längst überfällig, aber die sporadischen Vogelgrippeausbrüche in Südostasien sehen allesamt nicht nach rekombinanten Viren aus; das scheint die ganz gewöhnliche Vogelgrippe zu sein.

Trotzdem kann sie auch Menschen infizieren. Wenn der Erreger eines Tages den winzigen Mutationssprung schafft, der eine Infektion von Mensch zu Mensch erlaubt, dann stecken wir bis zum Hals in der Scheiße, weil wir dagegen noch weniger widerstandsfähig wären als gegen ein rekombinantes Virus, mit dem wir wenigstens teilweise Bekanntschaft geschlossen haben.«

»Was ist mit Impfstoffen?« Swain fuhr um eine Ecke und konnte Lilys Wohnhaus sehen, aber weil sie nicht am Straßenrand wartete, umgeben von ihren weltlichen Gütern, fuhr er vorbei, um die nächste Schlangenlinienrunde zu drehen.

»Die gibt es nicht. Neue Viren schlagen immer massiv und rasend schnell zu; ein Impfstoff muss erst monatelang getestet und dann an die Bevölkerung verteilt werden. Bis wir einen effektiven Impfstoff gegen ein Vogelgrippevirus entwickelt hätten, wäre ein Haufen Leute über den Jordan gegangen. Ein Vakzin gegen einen Vogelgrippeerreger ist übrigens besonders schwer herzustellen, weil Vakzine generell in Eiern kultiviert werden und – wer hätte das gedacht – der Vogelgrippeerreger die Eier absterben lässt.«

»Macht sich die Gesundheitsbehörde deswegen ernsthaft Sorgen?«

»Du machst Witze, oder? Schon die ganz normale Grippe tötet zigfach mehr Menschen als sämtliche exotischen Krankheiten wie hämorrhagische Fieber zusammen, für die sich die Presse so begeistert.«

»Wenn also ein Labor erst einen Impfstoff entwickeln und anschließend den Erreger auf die Menschheit loslassen würde, dann könnte es einen Haufen Geld verdienen, richtig?«

»Einen Augenblick mal.« Micah klang ganz und gar nicht mehr schläfrig. »Swain, erzählst du mir da gerade, was ich glaube, dass du mir erzählst? Das könnte ein Szenario sein?«

»Es ist mir gerade erst zu Ohren gekommen; ich habe es noch nicht überprüft. Ich weiß also nicht, ob an der Sache was dran ist. Erst mal wollte ich wissen, ob so was überhaupt machbar wäre.«

»›Machbar‹? Der Plan ist brillant und ein verfluchter Albtraum obendrein. In den letzten Jahren ist die Kugel immer knapp an uns vorbeigeschrammt, und nur gewöhnliche Grippeviren haben sich breit gemacht, aber wir suchen immer noch krampfhaft nach einer zuverlässigen Methode, ein Impfserum zu produzieren, ehe eines dieser widerlichen Viecher

auf

uns

überspringt.

Trotz

aller

Antivirenmedikamente

und

Mittel

gegen

typische

Grippekomplikationen würden weltweit Millionen Menschen sterben.«

»Und Kinder wären besonders stark betroffen?«

»Aber sicher. Kinder haben verglichen mit Erwachsenen noch kein voll entwickeltes Immunsystem. Sie waren noch nicht so vielen Krankheitserregern ausgesetzt.«

»Danke, Micah, damit weiß ich alles, was ich wissen wollte.«

Es war nicht das gewesen, was er gern gehört hätte, aber wenigstens wusste er jetzt, womit sie es zu tun hatten.

»Leg nicht auf! Swain, was wird da gespielt? Du musst es mir. verraten, Mann, du kannst nicht zulassen, dass uns so eine Katastrophe völlig unvorbereitet erwischt.«

»Das werde ich auch nicht.« Hoffentlich; er würde ein paar unfehlbare Vorsichtsmaßnahmen treffen müssen. »Noch ist es nur ein Gerücht, nichts Konkretes. Die Grippesaison hat doch schon begonnen, oder?«

»Ja, bis jetzt sieht es nach einem ganz normalen Jahr aus.

Aber wenn du rausfinden solltest, dass da irgendein Irrer mit einem manipulierten Virus ein Vermögen machen will, dann müssen wir das wissen.«

»Du wirst der Erste sein, der es erfährt«, log Swain. »Ich rufe nächste Woche wieder an und lasse dich auf jeden Fall wissen, was da gespielt wird.« Er würde Micah tatsächlich anrufen, aber nicht als Ersten.

»Hauptsache, es ist nicht wieder um drei Uhr früh«, knurrte Micah.

»Versprochen. Danke, mein Freund.«

Swain legte auf und ließ das Handy in die Sakkotasche gleiten. Verflucht. Na schön, dann war der Plan, von dem der unbekannte Anrufer erzählt hatte, nicht nur machbar, sondern hochgefährlich. Swain zermarterte sich das Hirn nach einer anderen Lösung für ihr Problem. In Langley konnte er nicht anrufen, weil Frank im Krankenhaus lag und irgendwo ein verfluchter Maulwurf hockte, der Rodrigo Nervi mit Informationen fütterte, weshalb Swain keine Ahnung hatte, wem er noch trauen konnte. Wenn Frank da gewesen wäre …

dann hätte ein einziger Anruf genügt, und das ganze verdammte Labor wäre bis morgen früh Vergangenheit, aber Frank war nicht da, darum musste Swain die Sache selbst in die Hand nehmen. Irgendwie.

Er hätte Micah mit weiteren Einzelheiten versorgen können, aber was sollte die Gesundheitsbehörde schon unternehmen?

Die konnte höchstens die WHO informieren. Und selbst wenn die Weltgesundheitsorganisation das Labor durchsuchen ließ, ohne dass jemand aus der Pariser Polizei die Nervis vorab informierte, dann würden sie wohl das Virus finden, aber nachdem das Nervi‐Labor an einem Impfstoff gegen dieses Virus arbeitete, brauchte man natürlich auch das Virus, um das Serum zu testen und so weiter. Der Plan war wasserdicht, sogar für die Tatwaffe gab es eine logische Erklärung. Wirklich bewundernswert.

Er kam wieder zu Lilys Wohnung zurück, und diesmal stand sie vor der Tür, beladen mit zwei Reisetaschen und einer vertraut

wirkenden

Umhängetasche.

Als

er

die

Umhängetasche sah, musste er grinsen. Ohne sie hätte er Lily vielleicht nie gefunden.

Er stieg aus, um ihre Taschen einzuladen. Sie waren verdammt schwer, und ihm fiel auf, dass sie außer Atem war, was ihm wieder ins Gedächtnis rief, wie sie ihm erklärt hatte, dass das Gift ihrer Herzklappe geschadet hatte. Immerhin waren erst zwei Wochen vergangen, seit sie Salvatore Nervi umgebracht hatte und dabei um ein Haar selbst gestorben wäre, auch wenn er nur selten daran dachte, weil sie sich ihre Schwäche nie anmerken ließ. Auch wenn der Schaden an ihrem Herzen nur minimal war, konnte sie sich in so kurzer Zeit unmöglich ganz davon erholt haben.

Er musterte sie, während er ihr die Autotür aufhielt. Ihre Lippen waren nicht blau angelaufen, und die unlackierten Fingernägel waren rosa. Sauerstoff bekam sie also genug. Sie hatte sich beeilt, war drei Stockwerke hinauf‐ und hinab gehetzt, da war es kein Wunder, dass sie außer Atem war. Er wäre das auch. Erleichtert hielt er sie am Arm zurück, als sie einsteigen wollte. Sie sah fragend zu ihm auf, und er küsste sie.

Ihr Mund war weich, und sie schmiegte sich mit so selbstverständlicher Hingabe an ihn, dass sein Puls zu galoppieren begann. Aber weil die Straße kein Platz für einen Kuss war, wie er ihm vorschwebte, gab er sich mit einer kurzen Kostprobe zufrieden. Sie schenkte ihm eines jener absolut weiblichen Lächeln, die jeden Mann aus dem Gleichgewicht brachten und trunken und glücklich gleichzeitig machten, ließ sich dann auf dem Sitz nieder und zog die Tür zu.

»Scheiße«, stellte er fest, als er neben ihr saß.

»Wahrscheinlich muss ich auch diesen Wagen wieder abstoßen.«

»Weil mich vielleicht jemand beim Einsteigen beobachtet hat?«

»Genau. Wir sehen zwar aus wie ein Pärchen auf dem Weg in den Urlaub, aber ich möchte lieber kein Risiko eingehen.

Und was soll ich mir jetzt zulegen?«

»Vielleicht einen Wagen, der nicht ganz so auffällig ist –

einen roten Lamborghini, zum Beispiel?« Das war unfair, denn der Megane Renault fuhr in einer ganz anderen Klasse als ein Lamborghini, aber er war als Auto trotzdem auffällig.

Er lachte über ihren Seitenhieb. »Ich mag eben schnelle Autos. Was gibtʹs daran auszusetzen?«

»Hast du deinen Freund in den Staaten erreicht?«

»Ja, auch wenn er wegen der Zeitverschiebung rumzicken wollte. Die schlechte Nachricht ist, dass ein solches Virus nicht nur machbar ist, sondern den schlimmsten Albtraum der Gesundheitsbehörde darstellt.«

»Und die gute Nachricht?«

»Gibt es nicht. Höchstens dass Nervi das Virus erst freisetzen wird, nachdem der Impfstoff fertig ist, denn natürlich wird er sich als Erster spritzen lassen wollen, nicht wahr? Und einen Impfstoff zu entwickeln dauert Monate. Da deine Freunde das Programm im August erheblich zurückgeworfen haben und der gute Onkel Doktor wahrscheinlich ganz von vorn anfangen musste, können wir wohl davon ausgehen, dass sie das Virus in dieser Grippesaison nicht mehr freisetzen werden. Sie werden bis nächstes Jahr warten.«

Sie atmete erleichtert durch. »Das klingt vernünftig.« Sie zögerte. »Ich habe nachgedacht. Das mit dem Virus wusste ich nicht, aber jetzt … Wir müssen nicht allein bleiben. Auch wenn ich im Moment nicht auf bestem Fuß mit der CIA stehe, könnte ich immer noch von einer Telefonzelle aus meinen früheren Führungsoffizier anrufen und ihm erzählen, was hier passiert.

Die CIA kann etwas in dieser Größenordnung viel besser bewältigen, als wir zwei es können.«

Swain hätte vor Schreck fast das Auto an einen Laternenmast gesetzt. »Um Gottes willen, nur das nicht!« Der Vorschlag war im Grunde vernünftig, aber sie wusste ja auch nichts von dem Maulwurf, und er konnte ihr nicht davon erzählen, ohne sich zu verraten.

»Warum nicht?« Sie klang eher neugierig als misstrauisch, aber er spürte, wie sich ihre blassblauen Augen mit Laserblicken in ihn bohrten. Mit ihrem Blick konnte man Stahl schneiden.

Ihm fiel auf die Schnelle kein guter Grund ein, und einen Sekundenbruchteil lang fürchtete er, ihm würde gleich seine ganze Tarnung um die Ohren fliegen, aber dann durchzuckte ihn ein Geistesblitz. Er konnte ihr alles Wichtige sagen, ohne dass er sich dabei verriet. Die Kunst lag allein in der Formulierung. »Du weißt doch, dass Nervi dort Kontakte und Einfluss hat.«

»Er steht auf ihrer Informantenliste, aber –«

»Er ist auch ein äußerst wohlhabender Mann. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass dort drüben jemand auf seiner Gehaltsliste steht?« Es war eine schlichte Erklärung und wahr obendrein. Er verschwieg lediglich ein paar Details.

Sie drehte sich in ihrem Sitz zur Seite und sah ihn finster an.

»Ziemlich hoch. Salvatore war sehr gründlich, und Rodrigo übertrifft seinen Vater in dieser Beziehung noch. Wir können uns also an niemanden wenden, richtig?«

»Niemanden, der mir eingefallen wäre und den er keinesfalls auf seiner Gehaltsliste hat. Weder die französische Polizei noch Interpol …« Er ließ den Satz unvollendet und zuckte die Achseln. »Ich nehme an, wir müssen ganz allein die Welt retten.«

»Ich will nicht die Welt retten«, widersprach sie mürrisch.

»Ich habe es lieber eine Nummer kleiner. Ich nehme die Sache sehr persönlich.«

Er lachte, weil er genau wusste, wie sie das meinte. Bis zu diesem Moment hatte sie den Nervi‐Konzern in die Knie zwingen wollen; jetzt musste sie es schaffen.

Der Job würde wesentlich anspruchsvoller werden, als er anfangs angenommen hatte. Wo ein aggressives Virus in Schach

gehalten

werden

musste,

würden

die

Sicherheitsvorkehrungen jenen in der Gesundheitsbehörde in Atlanta entsprechen. Um hineinzukommen, brauchten sie mehr als nur Informationen über das Sicherheitssystem; sie würden Hilfe von drinnen brauchen. Der Haken war nur, an diese Hilfe heranzukommen.

»Vielleicht werden wir uns darauf verlassen müssen, dass der Kerl, der dich angerufen hat, es ehrlich meint«, stellte er fest. »Sonst sind wir am Arsch.«

»Den Gedanken hatte ich auch schon«, erwiderte sie zu seiner Überraschung. Manchmal war es fast gespenstisch, wie ähnlich ihre Gehirne zu arbeiten schienen. »Wegen des Erregers werden sie ein mehrstufiges Sicherheitssystem installiert haben, und das Virus selbst muss unter strikter Quarantäne gehalten werden. Wir brauchen Hilfe von drinnen.«

»Du wirst dich mit dem Typen treffen müssen. Nur so können wir sichergehen, dass er nicht Rodrigo Nervi ist. Wenn es Rodrigo ist, wird er sich die einmalige Chance, dich in seine Gewalt zu bekommen, keinesfalls durch die Lappen gehen lassen. Er weiß nicht, dass es mich gibt – na schön, nach der Schießerei neulich wird er so eine Ahnung haben –, aber er weiß nicht, wie ich aussehe und so – ich kann dir also Rückendeckung geben.«

Sie lächelte freudlos. »Wenn es tatsächlich Rodrigo ist, dann wird er so viele Männer postiert haben, dass du absolut nichts unternehmen kannst. Andererseits glaube ich auch, dass uns gar nichts anderes übrig bleibt. Aber falls es doch Rodrigo ist und er mich schnappt, dann tu mir einen Gefallen und töte mich. Du darfst nicht zulassen, dass er mich lebend in die Finger kriegt, denn ich bin überzeugt, dass Rodrigo ein paar grausige Spiele mit mir treiben will, bevor er mich umbringt.

Und ich habe keine Lust mitzuspielen.«

Swains Magen verkrampfte sich bei der Vorstellung, dass Nervi Lily in seine Hände bekommen könnte. Swain musste oft schwierige Entscheidungen treffen, aber die hier fiel ihm leicht.

»Das lasse ich keinesfalls zu«, versprach er ruhig.

»Danke.« Ihr Lächeln hellte sich ein wenig auf, so als hätte er ihr ein Geschenk gemacht, und sein Magen verkrampfte sich noch mehr.

Keiner von beiden hatte gefrühstückt, darum hielten sie an einem Cafe am Straßenrand, wo sie sich beide, Lily mit Hut und Sonnenbrille, je ein Croissant und einen Cafe au lait einverleibten. Er sah ihr beim Essen zu, und sein Herz begann protestierend zu donnern, als er sich fragte, ob dies wohl sein letzter Tag mit ihr zusammen war. Er hatte geglaubt, die Sache noch länger hinziehen zu können, aber die Umstände sprachen dagegen. Falls Rodrigo Nervi hinter dem anonymen Anruf steckte, dann würden sie das erst bei dem Treffen feststellen können, und dann wäre es zu spät.

Er wünschte, sie hätten eine andere Wahl, aber die hatten sie nicht. Die Begegnung war unvermeidlich. Wenn der Kerl morgen anrief, musste sie seinen Vorschlag annehmen, ein Treffen mit ihm vereinbaren und dort auftauchen. Dann …

würde sich erweisen, ob der Anrufer Rodrigo Nervi war oder nicht. O Gott, er betete, dass es jemand anderer sein möge. Er wollte mehr als nur einen weiteren Tag mit ihr erleben. Er wollte mehr als nur eine Nacht.

Er selbst hatte sich immer, wenn er einen Job angenommen hatte, vor Augen gehalten, dass es sein letzter Einsatz sein könnte, denn wer mit Menschen zu tun hatte, die zur Gewalt neigten, konnte dabei gewaltig eins auf die Nase bekommen.

Bei Lily war das ganz ähnlich; sie hatte stets an vorderster Front gekämpft und den damit verbundenen Gefahren offen ins Auge geblickt. Doch das Wissen, dass sie aus freien Stücken hier war, machte die Sache nicht einfacher.

Aber falls Nervi und seine Schläger zu dem Treffen erschienen und er Lily verlieren würde, dann würde der Drecksack dafür bezahlen, das schwor er sich.

24

Swain gab den Megane zurück und mietete, da Lily nicht umzustimmen war, bei einer anderen Autovermietung einen kleinen blauen Fiat mit vier Zylindern. »Nein!«, hatte er entsetzt aufgestöhnt, als sie ihm erklärte, was sie von ihm erwartete. »Lass uns wenigstens einen Mercedes nehmen.

Damit fällt man wirklich nicht auf.« Er begann zu strahlen. »Ich weiß was. Wir holen uns einen Porsche. Vielleicht brauchen wir die Pferdestärken. Oder einen BMW. Du hast die Wahl.«

»Fiat«, wiederholte sie.

»Gesundheit.«

Ihre Lippen zuckten, aber sie schaffte es, nicht zu lächeln.

»Wir wollen auf keinen Fall ein Auto, das irgendwie auffällt.«

»Ich schon«, widersprach er eigensinnig. »Es ist doch egal, ob ich auffalle. Mich kennt hier sowieso keiner. Wenn ich jemanden suchen würde, würde ich nach Leuten Ausschau halten, die Fiat fahren, denn genau so einen Wagen besorgt man sich, wenn man nicht auffallen will.«

Die gleiche Theorie hatte sie auch angewandt, als sie sich mit einer knallroten Perücke verkleidet hatte, daher war das Argument nicht völlig aus der Luft gegriffen. Aber inzwischen stach sie der Hafer: Sie wollte ihn mindestens einen Tag lang hinter dem Lenkrad eines kleinen Fiats erleben, nur um zu hören, wie kreativ er in seinen Klagen und Verwünschungen werden konnte.

»Erst bist du im Jaguar aufgetaucht, und heute hast du mich in einem Megane abgeholt – falls uns jemand gesehen hat und jetzt nach dir Ausschau hält, wüsste er jedenfalls, dass du eine Schwäche für schnelle Autos hast. In einem Fiat würde er dich auf keinen Fall vermuten.«

»Ach was«, grummelte er.

»Fiat baut gute Autos. Wir können einen dreitürigen Stilo nehmen; der ist eher sportlich –«

»Ich

kann

nicht

nur

zwanzig,

sondern

dreißig

Stundenkilometer fahren, wenn ich mich richtig abstrample?«

Sie musste sich auf die Zunge beißen, um nicht loszuprusten, so lächerlich war die Vorstellung von ihm auf einem Dreirad, die langen Beine fast über den Ohren angewinkelt, während er wie wild in die Pedale trat.

Er bockte so sehr, dass er nicht einmal an den Schalter der Autovermietung treten wollte, bis sie sich umdrehte und ihn anzischte: »Willst du vielleicht, dass ich den Wagen auf meine Kreditkarte miete? Dann wüsste Rodrigo in fünf Minuten Bescheid.«

»Meine Kreditkarte könnte sich vor Scham ungültig stellen, weil sie auf keinen Fall für so was herhalten möchte«, fauchte er zurück, straffte aber dann die Schultern und trat mannhaft vor. Er zuckte nicht einmal, als der Wagen vorgefahren wurde und sie die Einweisung erhielten. Der Fiat Stilo war ein wendiger Kleinwagen mit passabler Beschleunigung, aber sie sah Swain an der Nasenspitze an, dass er ihn für traurig untermotorisiert hielt.

Er stellte ihre Taschen in den Kofferraum, während Lily auf der Beifahrerseite einstieg und den Gurt anlegte. Swain schob den Fahrersitz bis zum Anschlag zurück, um Platz für seine Beine zu schaffen, und ließ sich dann hinter dem Steuer nieder.

Dann drehte er den Zündschlüssel und ließ den Motor an.

»Er hat ein Navigationssystem«, bemerkte Lily.

»Ich brauche kein Navigationssystem. Ich kann Karten lesen.« Er legte den Gang ein und stieß, als er aufs Gaspedal trat, ein hohes, näselndes Jaulen aus. Leider entsprach das Jaulen genau dem Motorengeräusch, und Lily verlor den Kampf gegen das Kitzeln in ihrer Kehle. Sie versuchte, ihr Lachen zu verbergen, indem sie ihren Nasenrücken zusammenkniff und angestrengt aus dem Seitenfenster schaute, aber natürlich fielen ihm ihre zuckenden Schultern auf. »Freut mich, dass einer von uns das lustig findet. Immerhin wohne ich im Bristol; glaubst du nicht, dass man es merkwürdig finden wird, wenn ich einen Fiat fahre?«

»Du bist so ein Autosnob. Viele Menschen mieten Kleinwagen, um Benzin zu sparen. Das ist nur vernünftig.«

»Es sei denn, sie müssen Hals über Kopf fliehen und werden von Autos verfolgt, die wesentlich stärkere Motoren haben.« Er starrte grimmig geradeaus. »Ich komme mir entmannt vor.

Wahrscheinlich kriege ich keinen mehr hoch, bis ich diese Karre wieder los bin.«

»Keine Angst«, tröstete sie ihn. »Wenn das stimmt, kannst du dir morgen jedes Auto holen, das dir gefällt.«

Wie durch Zauberei hellte sich sein Gesicht auf, und ein Lächeln erstrahlte, das sich im nächsten Moment in eine Schmerzgrimasse verwandelte, als ihm aufging, vor welche Alternativen sie ihn gerade gestellt hatte. »O Scheiße«, stöhnte er, »das ist ja diabolisch. Für dieses Angebot kommst du bestimmt in die Hölle.«

Sie sah ihn treuherzig an und zog eine Schulter zu einem stummen »Na und?« hoch. Er selbst hatte das Thema in eine erotische Richtung gelenkt; sie konnte nichts dafür, wenn er nicht froh darüber war, wohin es führte.

Sie war erstaunt, dass sie trotz der Aufgabe, die vor ihnen lag, so viel Spaß haben konnte, aber es war, als hätten sie sich stillschweigend darauf geeinigt, heute alles Unangenehme auszuklammern, weil sie vielleicht nicht mehr Zeit bekommen würden als diesen heutigen Tag. Sie hatte Profikiller kennen gelernt, die aufgrund ihrer Arbeit nur im Hier und Jetzt lebten.

Sie selbst hatte nie dazugehört, aber heute verstand sie, wie reizvoll es sein konnte, nicht an ein Morgen zu denken. Als sie sein Gesicht betrachtete, entdeckte sie in seiner Miene eine Intensität, die sie bis ins Mark traf und die ihr deutlich machte, dass er sehr wohl wusste, was zwischen ihnen sein könnte, wenn ihre Gefühle nur Zeit zum Wachsen gehabt hätten. In seiner Nähe durchströmte sie ein warmes Gefühl der Zuneigung, das so viel zu versprechen schien, dass es ihr fast unheimlich war. Sie hätte sich in ihn verlieben können, erkannte sie. Vielleicht hatte sie es schon getan, ein bisschen wenigstens, vor allem in seinen Humor und seine ungebremste joie de vivre, mit der er Licht in ihre düstere Gefühlswelt gebracht hatte. Ihr hatte das Lachen gefehlt, und er hatte es ihr zurückgebracht.

»Wir müssen noch mal neu verhandeln«, beschwerte er sich.

»Wenn ich ihn doch hochkriege, darf ich mir zur Belohnung morgen ein neues Auto aussuchen.«

»Und wenn nicht, musst du weiterhin den hier fahren?«

Er schnaubte und meinte eingebildet: »Klar, als würde es dazu kommen.«

»Und was gibt es daran zu verhandeln?« Sie streichelte den Sitz. »Mir gefällt der Wagen. Ich habe ihn richtig lieb gewonnen. Im Gegensatz zu dir hängt meine Sexualität nicht von irgendwelchen mechanischen Gerätschaften ab.«

»Bei uns Männern ist das eben so. Wir werden mit einem Schaltknüppel geboren, und der ist unser Lieblingsspielzeug, sobald unsere Arme lang genug sind, ihn zu erreichen.«

»Das Auto hat einen Schaltknüppel«, merkte sie an.

»Höchstens rein technisch betrachtet. Dem Auto fehlt es an Testosteron.« Er jaulte wieder durch die Nase. »Hörst du? Der reinste Sopran. Ein Vierzylindersopran.«

»Es ist ein ideales Stadtauto. Praktisch, wendig, sparsam, zuverlässig.«

Er kapitulierte. »Na schön. Du hast gewonnen. Ich werde ihn fahren, aber ich brauche danach eine Therapie, damit mir keine emotionalen Schäden bleiben.«

Sie sah nach vorn durch die Windschutzscheibe. »Eine Massagetherapie?«

»Hm.« Er ließ sich das durch den Kopf gehen. »Ja, das könnte klappen. Aber du wirst ganz schön lang massieren müssen.«

»Ich glaube, damit werde ich schon fertig.«

Er grinste sie augenzwinkernd an, und ihr dämmerte, dass sie sich möglicherweise selbst überlistet und zu etwas bereit erklärt hatte, wozu sie eigentlich nicht hundertprozentig bereit gewesen war. Achtundneunzigprozentig schon, aber nicht hundertprozentig. Das altbekannte Misstrauen begann wieder, an ihr zu nagen.

Sein untrügliches Gespür dafür, auf welcher Wellenlänge sie gerade war, ließ ihn unvermittelt ernst werden. »Ich will dich zu nichts drängen, was du nicht wirklich tun willst«, versprach er ruhig. »Wenn du nicht mit mir schlafen willst, brauchst du es nur zu sagen.«

Sie sah aus dem Fenster. »Hast du dir schon jemals etwas gewünscht und gleichzeitig Angst davor gehabt?«

»Du meinst wie bei einer Achterbahn, wenn du unbedingt mitfahren willst, aber dir der Magen schon bei dem Gedanken an die erste Abfahrt in der Kehle hängt?«

Sogar über seine Ängste sprach er mit Witz, dachte sie und lächelte. »Als ich das letzte Mal mit jemandem zusammen war, wollte er mich hinterher umbringen.« Sie sagte das ganz beiläufig, aber die Angst und Anspannung, die ihr bis zu diesem Tag das Herz zusammenpressten, waren ganz und gar nicht beiläufig.

Er pfiff. »Das kann einem echt den Tag versauen. War er krankhaft eifersüchtig oder so?«

»Nein, er hatte den Auftrag dazu.«

»Ach, Schätzchen«, sagte er tieftraurig, als würde er sie bemitleiden, »das tut mir aber Leid. Ich kann verstehen, dass dich das vorsichtig gemacht hat.«

»Das ist noch untertrieben«, murmelte sie.

»Enthaltsam?«

»Schon eher.«

Er zögerte, als wüsste er selbst nicht, wie viel er wissen wollte. »Und wie lange?«

Achselzuckend antwortete sie: »Sechs Jahre lang.«

Das Lenkrad zuckte in seinen Händen, der Wagen brach kurz aus, und der Fahrer auf der Nebenspur drückte warnend auf die Hupe. »Sechs – Jahre?« Er klang fassungslos. »Du warst seit sechs Jahren mit niemandem mehr zusammen? Heilige Scheiße. Das … das nenne ich echt vorsichtig.«

In seinen Augen war es das vielleicht, aber er war auch nicht um ein Haar von jemandem getötet worden, den er liebte. Bis zu Zias Tod war sie überzeugt gewesen, dass nichts schlimmer sein konnte als Dmitris Verrat.

Er überlegte kurz und sagte dann: »Ich fühle mich geehrt.«

»Dazu besteht kein Grund. Hätten uns nicht die Umstände zusammengeführt, dann hätte ich mich bestimmt nicht mit dir eingelassen«, bemerkte sie. »Wenn wir uns unter normalen Umständen begegnet wären, hätte ich dich sofort in den Wind geschossen.«

Er kratzte sich am Nasenflügel. »Und ich hätte dich nicht mit meinem Charme betören können?«

Sie schnaubte unwillig. »Du wärst mir gar nicht so nahe gekommen, dass ich deinen Charme gespürt hätte.«

»Es mag gefühllos klingen, aber wenn die Sache so liegt, dann bin ich froh, dass man neulich auf dich geschossen hat.

Falls es so was wie Schicksal gibt, dann war es uns garantiert vorbestimmt, dass ich ganz allein dort saß, als du gerade dabei warst, eine Schießerei zu verlieren.«

»Vielleicht war es auch reiner Zufall. Es wird sich erst noch herausstellen müssen, ob das Glück oder Pech war – für dich, meine ich.« Vielleicht auch für sie, obwohl sie sich wahrscheinlich glücklich schätzen konnte, denn so hatte sie, selbst wenn alles den Bach runterging, wenigstens noch einmal lachen dürfen.

»Ich weiß das jetzt schon.« Seine Stimme klang dunkel und träge. »Für mich war es das größte Glück seit langem.«

Sie sah ihn an und fragte sich, wie sich so ein Leben wohl anfühlte, wie es wohl sein mochte, so optimistisch und so mit sich im Reinen zu sein. Sie konnte sich nicht entsinnen, dass sie je etwas Ähnliches empfunden hatte, nicht einmal während der glücklichen Jahre mit Zia.

Nach Zias Tod waren innerer Friede und inneres Glück für sie in weite Ferne gerückt. Sie hatte sich auf ein einziges Ziel konzentriert, sie hatte nur noch ihre Freunde und Zia rächen wollen. Jetzt war Swain in ihr Leben getreten, und aus ihrem persönlichen Rachefeldzug war ein so ungeheuer wichtiges Unternehmen geworden, dass sie es noch nicht ganz überschauen konnte. Ihre persönlichen Gefühle waren nicht länger von Bedeutung, stattdessen war sie gezwungen, die Dinge aus einer völlig anderen Perspektive zu betrachten. Sie wusste, dass die Trauer um einen geliebten Angehörigen zwar nie ganz erlosch, aber von scharfer, alles zerfetzender Qual über dumpfen Schmerz bis hin zu Akzeptanz und der Erinnerung an die schönen Zeiten schwanken konnte – und dass sich all diese Empfindungen in kürzester Zeit und ohne bestimmte Reihenfolge abwechselten. Plötzlich konzentrierte sie sich nicht mehr auf sich selbst und ihren Verlust, sondern auf etwas, das außerhalb ihrer selbst lag, und mit diesem Wechsel hatte sich auch der Schmerz verändert, den sie seither nicht mehr als so unmittelbar und lähmend empfand.

Sie vermochte nicht zu sagen, wie lange diese Erholungspause anhalten würde, aber sie war für jede Sekunde dankbar. Ihr war bewusst, dass Swain, einfach durch seine dreiste, uramerikanische Art, zu einem großen Teil dafür verantwortlich war. Natürlich brauchte er nur in seinem lässigen Schlendergang über die Straße zu spazieren, um bei fast jeder Frau die Laune zu heben. Sie wusste das genau, sie hatte beobachtet, wie ihm die Frauen nachsahen, und sie wusste vor allem, wie er auf sie wirkte.

Er nahm ihre Hand und drückte sie. »Hör auf, dir so viele Sorgen zu machen. Alles wird gut.«

Sie lachte ironisch. »Du meinst: Es wird sich herausstellen, dass der geheimnisvolle Anrufer nicht Rodrigo ist; er kann uns alles sagen, was wir über das Sicherheitssystem im Labor wissen müssen; wir kommen problemlos hinein, können das Virus komplett ausradieren, gleichzeitig Dr. Giordano töten, damit er nicht noch mal von vorn anfangen kann, und zum Schluss wieder abhauen, ohne dass jemand uns bemerkt?«

Er ließ sich das durch den Kopf gehen. »Vielleicht nicht alles; das ist eine verdammt lange Wunschliste. Aber du musst fest daran glauben, dass sich irgendwie alles richten wird. Wir dürfen nicht versagen, also werden wir auch nicht versagen.«

»Die Kraft des positiven Denkens?«

»Mach dich ruhig darüber lustig. Ich fahre bis jetzt ganz gut damit. Zum Beispiel war ich von der ersten Sekunde an überzeugt, dass ich dich ins Bett kriegen würde, und jetzt sieh uns an.«

Wieder waren sie zur Untätigkeit verdammt, hatten tausend Dinge zu erledigen und konnten doch nichts tun. Swains Experte

für

Sicherheitssysteme

hatte

nicht

wieder

zurückgerufen, dabei ahnten sie, seit ihnen bewusst war, wogegen sie kämpften, dass vor Ort wesentlich ausgefeiltere Sicherheitsmaßnahmen installiert sein würden, als sie der durchschnittliche Sicherheitsexperte je zu Gesicht bekam.

Nur um sich ein wenig schlauer zu machen, recherchierten sie, bevor sie ins Hotel zurückkehrten, in einem Internetcafe zum Thema Influenza. Es gab so viel Material darüber, dass sie zwei Computer mieteten und die Fundstellen untereinander aufteilten, um Zeit zu sparen.

Irgendwann am Nachmittag zückte Swain nach einem kurzen Blick auf seine Uhr das Handy und wählte eine ewig lange Nummer. Was er sagte, konnte Lily von ihrem Computer aus nicht verstehen, aber er wirkte sehr ernst dabei. Nach dem kurzen Gespräch massierte er sich die Stirn, als hätte er Kopfschmerzen.

Während ihr Computer damit beschäftigt war, eine besonders große Datei zu laden, ging sie zu ihm hinüber. »Ist irgendwas?«

»Ein Freund aus den Staaten hatte einen schweren Verkehrsunfall. Ich habe mich gerade nach seinem Befinden erkundigt.«

»Und wie geht es ihm?«

»Unverändert. Die Ärzte meinen, das sei ein gutes Zeichen.

Nachdem er die ersten vierundzwanzig Stunden überlebt hat, sind sie etwas optimistischer als zuvor.« Er drehte die Hand hin und her. »Es könnte immer noch so oder so ausgehen.«

»Musst du zu ihm?«, fragte sie. Sie wusste nicht, was sie ohne ihn anfangen würde, aber wenn es ein guter Freund von ihm war – »Ich kann nicht«, war die knappe Auskunft.

Sie fasste das so auf, dass er nicht in die USA fliegen konnte, dass er dort unerwünscht war und von der Einreisebehörde abgewiesen würde. Mitfühlend legte sie die Hand auf seine Schulter, denn sie konnte sich vorstellen, wie er sich fühlte.

Wahrscheinlich würde sie ebenfalls nie wieder nach Hause fliegen können.

Er scrollte gerade durch die Webseite der amerikanischen Gesundheitsbehörde. Als er sie zum ersten Mal aufgerufen hatte, hatte er nichts Interessantes entdeckt, aber dann hatte er die dort angegebenen Links angeklickt, und jetzt grunzte er zufrieden, als eine lange Liste auf dem Bildschirm erschien.

»Na endlich.« Er klickte auf »Drucken«.

»Was hast du da?« Lily beugte sich vor und sah ihm über die Schulter.

Er senkte die Stimme, damit niemand sie belauschen konnte.

»Eine Liste von ansteckenden Krankheitserregern und den Sicherheitsvorkehrungen, die jeweils getroffen werden müssen.« Er nickte zu dem Computer hin, der ihre Datei lud.

»Und was hast du?«

»Eine Hochrechnung, wie viele Menschen während der nächsten Grippeepidemie erkranken und sterben werden.

Nichts, was uns wirklich weiterbringt, fürchte ich.«

»Hierin sollten wir alles finden, was wir wissen müssen.

Falls nicht, kann uns mein Freund in Atlanta weiterhelfen. Ein paar von diesen Fragen hätte ich ihm schon heute Morgen stellen sollen, aber da hatte ich noch keine Zeit, sie mir zu überlegen. Außerdem war ich viel zu beschäftigt damit, mich von ihm beschimpfen zu lassen, weil ich ihn um drei Uhr morgens aus den Federn gerissen habe.«

»Verständlich.«

»Fand ich auch.« Weil ihre Hand immer noch auf seiner Schulter lag, legte er seine darüber. »Am besten nehmen wir das ganze Zeug zum Lesen mit ins Hotel. Wir können uns was beim Zimmerservice bestellen, und du kannst auspacken und dich einrichten.«

»Wir werden am Empfang melden müssen, dass wir jetzt zu zweit in deinem Zimmer wohnen.«

»Ich werde einfach sagen, dass meine Frau angekommen ist.

Kein Problem. Du behältst die Sonnenbrille auf und lässt dir von niemandem in die Augen sehen, dann dürfte eigentlich nichts passieren.«

»Mit einer Sonnenbrille sehe ich im Hotelfoyer reichlich dämlich aus. Farbige Kontaktlinsen wären besser.«

»Nicht nur deine Augen sind unverkennbar. Sondern du bist es, von der Haarfarbe angefangen bis zu deinem Gesicht.

Verschwinde einfach im Bad, wenn das Essen aufs Zimmer gebracht wird. Und abgesehen von dem Zimmermädchen wird uns niemand stören.« Er loggte sich aus und sammelte die ausgedruckten Blätter ein. Dann ging er zahlen, während Lily ihren Computer runterfuhr und es ihm nachtat.

Sie traten auf die Straße, wo sie sofort von einer Bö erwischt wurden. Es war zwar sonnig, aber kühl, und der Wind immerhin so kalt, dass viele Menschen Hut und Schal trugen.

Auf dem Weg zu ihrem Auto zog Lily den Hut so tief wie möglich nach unten, damit er ihre Haare abdeckte. Swain schien erstaunliches Glück bei der Parkplatzsuche in dieser Stadt zu haben, die für ihre fehlenden Parkplätze berüchtigt war, aber allmählich begann sie zu glauben, dass Swain einfach unter einem besonderen Glücksstern geboren war. Selbst wenn er einen Tanklastzug gemietet hätte, hätte er irgendwo eine Parklücke gefunden.

Er verkniff sich alle weiteren herablassenden Kommentare über den Fiat, obwohl sie ihn ein paarmal dabei ertappte, wie er halblaut das hohe Jaulen imitierte. Die Tage waren inzwischen merklich kürzer, der Winter war nur noch wenige Wochen entfernt, und als sie vor dem Hotel ankamen, war die Sonne bereits untergegangen und Lilys Sonnenbrille im schwachen Dämmerlicht überflüssig. Nachdem sie die Gläser abgesetzt hatte, fiel ihr die rosa Brille wieder ein, die sie in London zur Verkleidung aufgesetzt hatte, und sie holte sie aus ihrer Tasche. Die Tönung war stark genug, um ihre Augenfarbe zu überdecken, aber noch so schwach, dass sie auch im Dunklen etwas erkennen konnte und nicht vollkommen idiotisch aussah, weil sie mitten in der Nacht mit einer Sonnenbrille herumlief.

Sie setzte sie auf und sah Swain an. »Und wie sehe ich aus?«

»Schick und sexy.« Er streckte einen Daumen hoch. »Halt einfach die Lider auf Halbmast, so als hättest du einen Jetlag, dann kann uns gar nichts passieren.«

Er hatte Recht; niemand beachtete sie, als er ihr voran die Reisetaschen durch die Lobby schleppte. Sobald sie in seinem Zimmer waren, rief er am Empfang an, um mitzuteilen, dass seine Frau eingetroffen sei und sie daher zu zweit in seinem Zimmer wohnen würden; man solle doch bitte zusätzliche Handtücher bringen. Lily war mit Auspacken beschäftigt, verstaute ihre Sachen in den freien Schubladen, hängte ihre Kleider in den Schrank neben Swains Anzüge und baute ihre Wasch‐ und Schminkutensilien im Bad auf.

Als sie ihre Schuhe unten im Schrank neben seine stellte, durchzuckte sie es. Der Anblick hatte etwas ungeheuer Intimes.

Ihre Schuhe waren so viel kleiner und zierlicher als seine.

Plötzlich wurde ihr wieder bewusst, dass sie von nun an mit ihm zusammenlebte, und zwar mit allen Konsequenzen.

Sie sah auf und merkte an seinem Blick, dass er ihr die Verlegenheit anmerkte.

»Alles wird gut«, sagte er sanft und öffnete die Arme für sie.

25

Lily ließ sich in seine Umarmung sinken, schmiegte sich in die tröstende Wärme seines Körpers, barg ihren Kopf an seiner Schulter und spürte, wie ihre Anspannung nachließ, sobald er die Arme um sie schloss. Er küsste sie auf den Scheitel. »Ich wiederhole, wir müssen heute Abend nicht miteinander schlafen. Wenn dir der Gedanke unangenehm ist, können wir auch warten.«

»Können wir das?«, fragte sie leise. »Normalerweise würde ich viel länger warten, denn zwei Küsse und einmal Anfassen machen noch keine Beziehung –«

Er lachte dunkel. »Das nicht, aber obwohl mein Kopf mir sagt, dass wir einander erst vor ein paar Tagen begegnet sind, habe ich das Gefühl, dich schon viel länger zu kennen. Eine ganze Woche vielleicht«, neckte er sie. »Habe ich dich wirklich nur ein einziges Mal angefasst?«

»Soweit ich mich erinnern kann.«

»Dann war es eindeutig nur ein einziges Mal, denn wenn ich dich anfasse, wirst du das garantiert nicht vergessen.« Er rieb mit einer Hand über ihren Rücken, bis sich ihre verspannten Muskeln lockerten.

»Vielleicht wird dies die einzige Nacht sein, die wir miteinander haben.« Sie gab sich alle Mühe, möglichst locker zu klingen, aber sie merkte, wie sich die Sehnsucht in ihre Stimme schlich. Diese Wahrheit hatte den ganzen Tag in ihrem Hinterkopf gelauert. Sie hatte nicht die Möglichkeit, sich Zeit zu lassen, ihn erst kennen zu lernen, eine Beziehung zu beginnen. In diesem Licht betrachtet, war die Entscheidung ganz einfach; es war gut möglich, dass sie morgen sterben würde, und sie wollte ihre letzte Nacht auf Erden nicht allein verbringen. Sie wollte nicht sterben, ohne mit ihm geschlafen zu haben, ohne so eng in seinen Armen gelegen zu haben, dass sie seinen Herzschlag hören konnte. Er sollte ihre Liebe sein, selbst wenn sie keine Chance hätte zu entdecken, ob er ihre große Liebe war. Zumindest durfte sie hoffen, dass er es war.

»Hey«, tadelte er, »vergiss nicht die Kraft des positiven Denkens. Das heute wird unsere erste Nacht, nicht die einzige Nacht.«

»Warst du schon immer so ein unverbesserlicher Optimist?«

»Unverbesserliche Optimisten sehen in allem etwas Gutes.

In dem Fiat sehe ich ganz und gar nichts Gutes.«

Sein abrupter Themenwechsel überraschte sie so, dass sie kichern musste. »Ich schon. Deine Reaktion darauf hat mich zum Lachen gebracht.«

Er richtete sich auf. »Soll das heißen, du hast den Fiat absichtlich ausgesucht, nur um mich die Kette spüren zu lassen?«

Sie machte sich nicht mal die Mühe, das abzustreiten, sondern rieb mit einem zufriedenen Seufzen ihre Wange an seiner Brust. »Ich wollte dich einfach mal darin erleben. An dem Auto ist nichts auszusetzen; ich hatte mal einen Fiat und weiß, wie zuverlässig und praktisch sie sind, auch wenn du dich aufführst, als würde ich dich halb zu Tode foltern.«

»Dafür wirst du bezahlen«, kommentierte er kopfschüttelnd.

»Und zwar nicht nur mit den versprochenen Massagen. Du bist wirklich bösartig. Da muss ich erst gründlich nachdenken.«

»Lass dir nicht allzu lange Zeit.«

»Heute Abend wirst du es erfahren«, versprach er und hob ihren Kopf an, um ihr einen Kuss zu geben, der kein Ende nehmen wollte und dabei immer inniger und tiefer wurde.

Anders als am Vorabend nahm er sich alle Zeit, ihre Brüste zu streicheln, sie zu umfassen und durch die Kleiderschichten hindurch ihre Brustwarzen zu massieren. Lily rechnete halb damit, im nächsten Moment rücklings auf dem Bett zu liegen, aber er schob nicht einmal die Hand unter ihr Top. Sie war froh darüber; sie war kein bisschen erregt. Trotzdem lösten seine Liebkosungen wohlige Schauer aus, und sie war, als er sie schließlich freigab, wärmer und feuchter als zuvor.

Ein energisches Klopfen verriet die Ankunft des Zimmermädchens mit einer Armladung Handtücher. Swain ging an die Tür, wo er mit einer einzigen Bewegung die Handtücher entgegennahm und ein Trinkgeld aushändigte, ohne dabei das Mädchen ins Zimmer zu lassen, das andernfalls die Handtücher ins Bad gebracht hätte.

»Lesen wir mal nach, was wir alles gefunden haben«, sagte er, nachdem er die Handtücher verstaut hatte, und deutete dabei auf die Ausdrucke aus dem Internetcafe. »In den Artikeln steht bestimmt viel überflüssiges Zeug, das uns nicht weiterbringt.«

Es gefiel ihr, dass er die Arbeit vor das Vergnügen stellte, und so kam sie zu ihm in die Sitzecke, wo er die Papiere auf dem Tisch ausgebreitet hatte.

»Ebola … Marburg … Das brauchen wir alles nicht.« Unter halblautem Murmeln ließ er Seite um Seite auf den Boden segeln. Lily nahm sich ebenfalls einen Stapel und sah ihn auf der Suche nach verwertbaren Informationen über Grippeviren durch.

»Hier«, sagte sie wenig später. »›Wie Grippeerreger unter Laborbedingungen konserviert werden‹. Mal sehen … ›Über Infektionen innerhalb des Laborbetriebs ist nichts bekannt‹ –

aber hüte dich vor den Wieseln.«

»Wie bitte?« Er sah sie verdattert an.

»Das steht hier. Offenbar wird das Virus von infizierten Wieseln problemlos auf Menschen übertragen und umgekehrt.

Sie machen uns krank, wir machen sie krank. Nur gerecht«, meinte sie bedächtig. »Was sonst …? ›Ein genetisch modifizierter

Erreger

unbekanntes

Potenzial‹.

Sicherheitslabore der Stufe zwei sind erforderlich? Was bedeutet Stufe zwei?«

»Das habe ich hier … irgendwo.« Eilig blätterte er in seinem Stapel. »Da. Okay. Wird als mäßig gefährlich eingestuft. ›Das Laborpersonal muss im Umgang mit dem Virus geschult sein, während der Arbeiten am Virusmaterial ist der Zugang zum Labor eingeschränkt‹ aber ich würde meinen, dass der Zugang zum Nervi‐Labor rund um die Uhr eingeschränkt ist.

›Händewaschen ist vorgeschrieben … keine Speisen oder Getränke

im

Forschungsbereich

Abfälle

müssen

dekontaminiert werden‹ – gut zu wissen. Wahrscheinlich hätten wir doch durch den Kanal einsteigen können.«

»Ich bin froh, dass wir es nicht getan haben.«

»Vielleicht werden wir es müssen.«

Sie rümpfte die Nase. Auch wenn sie die Idee mit der Kanalisation gehabt hatte und sie diese Route nehmen würde, wenn es absolut keine andere Möglichkeit gab, würde sie jeden anderen Weg vorziehen.

»›Warnschilder müssen angebracht werden‹«, fuhr er fort.

»›Besondere Vorsicht ist im Umgang mit scharfkantigen Instrumenten geboten‹ – ach nein –, das sind ausschließlich Vorsichtsmaßnahmen für das Laborpersonal, das mit den lästigen Krabbelviechern arbeiten muss. ›Der Laborbereich muss mit verschließbaren Türen gesichert sein, ein spezielles Entlüftungssystem ist nicht erforderlich‹ Hm.« Er legte die Papiere wieder hin und kratzte sich am Kinn. »Das hört sich nach einem ganz gewöhnlichen Labor ohne Luftschleusen, Irisscan, Fingerabdruckerkennungssystemen oder sonstigem Sicherheitshightech an. Sieht so aus, als hätten wir uns unnötig Sorgen gemacht, denn wenn sich Dr. Giordano an diese Anweisungen hält, dann steht uns nur ein ganz normales Türschloss im Weg.«

»Und ein Haufen bewaffneter Wachen.«

Er machte eine wegwerfende Geste. »Mit denen werden wir schon fertig.« Dann ließ er die Papiere auf den Couchtisch fallen, lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Das überrascht mich. Ich dachte, wer mit ansteckenden Viren zu tun hat, müsste durch alle möglichen Reifen springen, aber hier sind im Grunde nur die Schutzvorkehrungen für die Angestellten, nicht die äußeren Sicherheitsmaßnahmen geregelt.«

Sie sahen einander an und zuckten dann wie auf Kommando die Achseln. »Damit wären wir wieder ganz am Anfang«, meinte Lily. »Wir brauchen Informationen über die Sicherheitssysteme. Wenn wir erst mal drin sind, brauchen wir nur nach der Tür mit dem Biogefährdungszeichen Ausschau zu halten.«

»Womit uns die lästige Sucherei erspart bleibt«, pflichtete er bei. Ganz so einfach würde es nicht werden, das war ihnen beiden bewusst; schon allein, weil sich das Labor überall in dem Gebäudekomplex befinden konnte. Vielleicht war es sogar ein unterirdischer Raum, was die möglichen Fluchtwege deutlich einschränken würde.

Nachdem sie alles herausgefunden hatten, was sie wissen mussten, was wesentlich weniger war als erwartet, gab es keinen Grund mehr, die ausgedruckten Kopien zu behalten.

Swain sammelte alles vom Boden auf, was er vorhin hatte heruntersegeln lassen, während Lily die übrigen Blätter zusammensuchte; dann warfen sie alles in den Müll.

Plötzlich hatten sie nichts mehr zu tun. Es war immer noch ziemlich früh; sie hatten noch nicht mal zu Abend gegessen. Sie wollte noch nicht duschen, und auch er schien, Gott sei Dank, nicht darauf aus zu sein, sie sofort ins Bett zu befördern.

Schließlich nahm sie das Buch, das sie von zu Hause mitgenommen hatte, trat sich die Schuhe von den Füßen und kuschelte sich zum Lesen in eine Sofaecke.

Swain griff nach dem Zimmerschlüssel. »Ich gehe kurz runter in die Lobby und kaufe ein paar Zeitungen. Soll ich dir irgendwas mitbringen?«

»Nein danke.«

Im nächsten Moment war er draußen. Lily zählte still bis dreißig, stand dann auf und durchsuchte schnell und gründlich seine Sachen. Seine Unterwäsche lag säuberlich aufgestapelt in einer Schublade, ohne dass irgendwas zwischen den gefalteten Boxershorts versteckt gewesen wäre. Sie tastete an allen Anziehsachen im Schrank die Taschen ab, ohne etwas zu finden. Einen Aktenkoffer besaß er offenbar nicht, aber sie zog seine Lederreisetasche hervor und durchsuchte sie. Auch hier konnte sie keine Geheimtaschen oder doppelten Böden entdecken; nur seine Neun‐Millimeter‐Heckler & Koch steckte ordentlich in ihrem Holster. In der Nachttischschublade stieß sie auf einen Thriller mit einer eingeknickten Seite etwa in der Mitte des Romans. Sie blätterte das Buch kurz auf, aber auch hier war nichts zwischen den Seiten verborgen.

Anschließend fuhr sie mit der Hand unter die Matratze und arbeitete sich rund um das Bett vor, um abschließend einen Blick darunterzuwerfen. Der Ledermantel lag noch genauso auf dem Bett, wie er ihn hingeworfen hatte. Sie durchsuchte die Taschen und entdeckte in einer Reißverschlusstasche seinen Pass, den sie allerdings schon kontrolliert hatte und deshalb stecken ließ.

Nichts deutete darauf hin, dass er nicht das war, was er zu sein behauptete. Erleichtert kuschelte sie sich wieder auf das Sofa und begann von neuem zu lesen.

Fünf Minuten später schloss er die Zimmertür auf und trat ein, beladen mit zwei dicken Zeitungen und einer kleinen Plastiktüte. »Nach der Geburt meines zweiten Kindes habe ich mich sterilisieren lassen«, verkündete er aus heiterem Himmel.

»Trotzdem habe ich ein paar Kondome gekauft, falls du dich damit sicherer fühlst.«

Seine Fürsorge rührte sie. »Hast du irgendwelche riskanten Spiele getrieben? Sexuelle Spiele, meine ich.«

»Ich hab es einmal im Stehen in der Hängematte versucht, aber da war ich siebzehn.«

»Das hast du nicht. In einer Hängematte vielleicht, aber keinesfalls im Stehen. «

Er grinste. »Die Hängematte schmiss uns nach kürzester Zeit runter, um die Wahrheit zu sagen, und ich landete so schmerzhaft auf meinem Arsch, dass ich es seither nicht noch mal probiert habe. Der Sturz war ein echter Stimmungstöter.

An dem Tag kam ich nicht mehr zum Zug.«

»Kann ich mir vorstellen. Sie muss sich halb totgelacht haben.«

»Nein, sie hat wie blöd rumgezickt. Gelacht habe nur ich.

Und nicht einmal ein Siebzehnjähriger kann eine Latte halten, wenn er sich vor Lachen auf dem Boden krümmt. Ganz abgesehen davon sah ich aus wie ein Idiot, und Mädchen in diesem Alter sind höchst empfindlich, wenn es um ihr Image und solche Sachen geht. Sie fand mich extrem uncool und hat mich in den Wind geschossen.«

Sie hätte sich denken können, dass er gelacht hatte.

Lächelnd stützte sie das Kinn in die Hand. »Und sonst?«

Er ließ sich in den Sessel neben dem Sofa fallen, streckte die Beine aus und legte die Füße auf den Couchtisch. »Mal sehen.

Kurz nach dieser Geschichte kam ich mit Amy zusammen, und ich war ihr vom ersten Tag bis zu unserer Scheidung treu.

Seither hatte ich ein paar Freundinnen, ein paar Beziehungen zwischen ein paar Monaten bis zu zwei Jahren, aber keine One‐Night‐Stands. Die meiste Zeit steckte ich in Gegenden, wo sich das wilde Nachtleben auf vier‐ und sechsbeinige Teilnehmer beschränkt. Und wenn ich mal in eine zivilisierte Gegend kam, wollte ich meine Zeit nicht in irgendwelchen Nightclubs totschlagen.«

»Für jemanden, der jahrelang im Dschungel gelebt hat, wirkst du sehr weltmännisch«, murmelte sie. Dass ihr dieser Gegensatz erst jetzt auffiel, war ihr ein bisschen unangenehm.

Aber auch wenn sie das schon früher hätte bemerken müssen, zerbrach sie sich deswegen nicht den Kopf, denn seine Waffe steckte – anders als ihre – in der Reisetasche im Schrank.

»Weil ich Französisch spreche und in Luxushotels absteige?

Ich wohne gern in vornehmen Hotels, wenn ich kann, weil ich oft genug nur Luft zwischen mir und dem Himmel hatte. Ich fahre gern schicke Autos, weil ich manchmal nur auf dem Pferd weiterkam – wenn eines da war.«

»Trotzdem glaube ich nicht, dass man in Südamerika viel Französisch spricht.«

»Du würdest dich wundern. Französisch habe ich größtenteils in Kolumbien gelernt, und zwar von einem Exilfranzosen. Natürlich spreche ich besser Spanisch als Französisch, und außerdem kann ich noch Portugiesisch und ein paar Brocken Deutsch.« Er schenkte ihr ein schiefes Grinsen.

»Wir Söldner sind notwendigerweise ein polyglottes Völkchen.«

Auch wenn sie natürlich angenommen hatte, dass er ein Söldner oder etwas Ähnliches sein musste, hatte er bis dahin noch nie offen ausgesprochen, womit er sein Geld verdiente.

Sie hatte nicht eine Sekunde lang geglaubt, dass er von feindlichen Firmenübernahmen sprach, als er gesagt hatte:

»Die Menschen rufen mich an, wenn was passieren soll.« Ihr flaues Gefühl legte sich wieder; natürlich musste er mehrere Fremdsprachen beherrschen.

»Mit dir verheiratet zu sein muss die Hölle gewesen sein«, stellte sie fest und sah dabei in Gedanken seine Exfrau mit zwei kleinen Kindern zu Hause sitzen, ohne die leiseste Ahnung, wo er war und was er tat, ob er je wieder heimkehrte oder ob er irgendwo verenden würde, ohne dass man jemals seinen Leichnam fand.

»Vielen Dank.« Ein Grinsen strahlte auf. Seine blauen Augen funkelten sie an. »Aber wenn ich mal heimkomme, bin ich ausgesprochen amüsant.«

Daran zweifelte sie nicht. Aus einem Impuls heraus stand sie auf, setzte sich auf seinen Schoß, ließ die Hand in seinen Kragen gleiten und umfasste seinen Nacken, während sie sich langsam vorbeugte. Seine Haut war warm und sein Nacken fest und muskulös. Er stützte sie mit dem linken Arm am Rücken, während seine Rechte sofort ihren Schenkel und ihre Hüfte zu streicheln begann. Sie küsste ihn unter dem Kinn, wo sie seine rauen Bartstoppeln an ihren Lippen spürte und seinen Duft einatmete, eine Mischung aus Mann und einem schwachen Hauch des Aftershaves, das er am Morgen aufgetragen hatte.

»Wofür war das?«, fragte er, wartete aber ihre Antwort nicht ab, bevor er ihr einen dieser langsamen, tiefen Küsse gab, bei denen regelmäßig ihre Knochen schmolzen.

»Dafür, dass du so amüsant bist«, murmelte sie, als er seinen Mund von ihrem löste; dann holte sie sich einen Nachschlag.

Diesmal waren seine Lippen energischer, seine Zunge fordernder. Seine Hand glitt unter ihre Bluse und umschloss ihre Brüste. Als er ihren BH hochschob und die nackte Brust umfasste, stockte ihr der Atem. Heiß spürte sie seine Hand auf ihrer kühlen Haut, und sanft umkreiste seine Daumenkuppe ihren Nippel.

Sie löste mühsam ihren Mund von seinem, atmete tief durch und vergrub ihr Gesicht in seiner Halsbeuge, während sich ihr Unterleib in warmer Wollust zusammenzuziehen begann. Sie hatte schon so lange keine Begierde mehr gespürt, dass sie beinahe vergessen hatte, wie sich die Lust langsam entfalten konnte, wie sie die Haut überempfindlich machte, bis Lily sich wie eine rollige Katze an ihm reiben wollte.

Sie wünschte sich, er würde sich nicht so viel Zeit lassen, er würde dieses peinliche erste Mal schnell über die Bühne bringen, damit sie sich endlich entspannen konnte, aber obwohl er sonst so ein Geschwindigkeitsfanatiker war, schien er es jetzt gar nicht eilig zu haben. Er streichelte ihre Brüste, bis sie so empfindlich waren, dass jede Berührung an Quälerei grenzte; dann schob er sie zurück in den BH und drückte Lily an seine Brust. Sie spürte, wie erregt er war; oder er hatte eine Ersatzpistole in der Tasche, dem Gefühl nach ein fettes, zehnschüssiges Teil mit .45er‐Kaliber. Aber er schob sie ein Stück von sich weg, küsste sie auf die Nasenspitze und sagte:

»Nur keine Eile, erst wollen wir essen und ein wenig entspannen. Ein paar Stunden mehr werden mich nicht umbringen.«

»Aber mich vielleicht«, fuhr sie ihn an, setzte sich auf und sah ihn wütend an.

Seine Mundwinkel zuckten. »Nur Geduld. Kennst du das Sprichwort: ›Der Geduldige kommt stets zuerst ans Ziel‹? Ich habe meine eigene Version.«

»Ach ja? Und wie geht die?«

»Der Geduldige kommt irre gut.«

Er hatte eine Ohrfeige verdient, ganz im Ernst. »Ich werde dich daran erinnern«, versprach sie und stand auf. Dann griff sie nach der Speisekarte des Zimmerservices und warf sie in seinen Schoß. »Du bestellst.«

Das tat er auch, Hummer und Muscheln, eine Flasche gekühlten weißen Beaujolais und als Dessert warme Apfeltorte.

Weil sie entschlossen war, die Sache genauso locker zu nehmen wie er, las sie weiter, während sie darauf warteten, dass das Essen gebracht wurde. Er blätterte währenddessen beide Zeitungen durch und rief anschließend von seinem Handy aus in den Staaten an, um sich zu erkundigen, wie es seinem Freund ging, der in den Unfall verwickelt worden war –

unverändert, woraufhin sich tiefe Sorgenfalten in seine Stirn gruben.

Er war keineswegs so unbekümmert, wie er tat, dachte sie, als sie sein Gesicht sah. Seine Gefühle waren beileibe nicht oberflächlich, so gern er auch lachte und Lily aufzog. Mitunter verlor er sich vollkommen in seinen Gedanken, und dann war kein Funken Humor mehr in seiner Miene oder seinen Augen; stattdessen

hatte

sie

oft

genug

kalte,

grimmige

Entschlossenheit

aufblitzen

sehen.

Er

war

kein

Schönwetterheld, sonst hätte er in seinem Beruf nicht lange überlebt. Allerdings wusste sie nicht, ob man sich dazu entschloss, Söldner zu werden, oder ob man in diesen Beruf hineinrutschte. Ganz offensichtlich hatte er bei seinen Einsätzen gut verdient, was beinhaltete, dass er gut sein musste. Die sympathische, offene Art war nur ein Aspekt seines Wesens; der Rest war wohl blitzschnell und tödlich.

Lily hatte jahrelang vor einer Beziehung zu einem normalen Mann mit einem normalen Job und normalen Sorgen zurückgescheut. Zum einen würde so jemand nie verstehen, warum sie ihr Leben so führte, wie sie es tat, zum anderen hatte sie immer Bedenken gehabt, dass sie so einen Mann in einer Beziehung erdrücken könnte. Sie musste energisch sein und Entscheidungen fällen, und das konnte sie nicht an‐ und abdrehen wie einen Wasserhahn. In einer Romanze wollte sie nicht dominieren, sondern Partnerin sein, und das bedeutete notwendigerweise, dass sie jemanden brauchte, der genauso stark war wie sie. Swain war so selbstbewusst und in sich ruhend, dass er eine starke Partnerin nicht als bedrohlich empfinden würde. Sie brauchte nicht seinem Ego zu schmeicheln oder sich zurückzunehmen, damit sie ihn nicht einschüchterte. Sie konnte sich nur schwer vorstellen, dass sich Swain überhaupt einschüchtern ließ. Wahrscheinlich war er schon als Dreikäsehoch tapfer und unbeugsam gewesen.

Je länger sie ihn beobachtete, desto mehr respektierte sie ihn.

Sie merkte, wie sie ihm verfiel, eindeutig und unwiderruflich und ohne dass irgendwo ein Netz gespannt war.

26

Nach dem Essen schauten sie eine Weile fern, und Lily las noch ein paar Seiten. Sie hätten schon ein paar Jahre verheiratet sein können, so geduldig zeigte er sich, aber sie hatte die Erektion an ihrer Hüfte nicht vergessen. Kein Mann wurde so hart, wenn er nicht interessiert war. Er ließ ihr Zeit, sich zu entspannen, ohne dass er sie bedrängte; natürlich wusste er, dass sie irgendwann ins Bett gehen mussten und das Unausweichliche geschehen würde. Sie wusste es ebenfalls, und dieses Wissen war an sich schon verführerisch. Sie konnte ihn nicht ansehen, ohne daran zu denken, dass er bald nackt sein würde, genau wie sie, dass sie ihn bald in ihrem Körper spüren und dass sich seine kraftvolle Anspannung dann in ihr lösen würde.

Um zehn sagte sie: »Ich gehe jetzt duschen« und ließ ihn allein vor dem Fernseher sitzen. Die vom Hotel gestellten Seifen und Shampoos waren Markenprodukte und rochen himmlisch. Sie ließ sich Zeit, wusch ihre Haare, rasierte Achseln und Beine, fönte dann die Haare trocken und putzte ihre Zähne. Nachdem sie sich so bereit fühlte, wie sie sich in dieser Situation nur fühlen konnte, und außerdem fast eine Stunde totgeschlagen hatte, schlüpfte sie in einen der dicken Hotelbademäntel und zog den Gürtel zu, um schließlich barfuß ins Zimmer zurückzugehen.

»Andere Leute wollen auch mal ins Bad«, erklärte er ihr vorwurfsvoll, wobei er den Fernseher ausschaltete und aufstand. Sein Blick wanderte von ihren glänzenden Haaren abwärts zu ihren Zehenspitzen. »Ich dachte, du kommst im Pyjama wieder raus. Ich habe mir seit Tagen ausgemalt, wie ich ihn dir ausziehe.«

»Ich habe keinen Pyjama«, antwortete sie gähnend.

Seine Brauen zogen sich zusammen. »Du hast erzählt, du hättest einen Pyjama an.«

»Das war gelogen. Ich schlafe nackt.«

»Soll das heißen, du hast meine schönsten schmutzigen Fantasien sabotiert, nur um mich zu ärgern?«

»Was ich im Bett anhabe, ging dich überhaupt nichts an.« Sie bedachte ihn mit einem überheblichen Lächeln und ließ sich dann auf dem Sofa nieder, wo sie ihr Buch aufnahm und die Beine unter ihren Po zog. Sie war ziemlich sicher, dass sie ihm dabei einen tiefen Einblick gewährte – jedenfalls gab sie sich alle Mühe –, denn er machte auf dem Absatz kehrt und verschwand ohne ein weiteres Wort im Bad, wo keine dreißig Sekunden später die Dusche rauschte. Offenbar hatte er es eilig.

Sie warf einen Blick auf die Nachttischuhr, um seine Zeit zu nehmen. Das Duschen dauerte knapp zwei Minuten. Dann hörte sie siebenundvierzig Sekunden lang den Wasserhahn laufen. Zweiundzwanzig Sekunden später kam er aus dem Bad, ein Handtuch um die Taille geschlungen und ansonsten splitternackt.

Lily musterte kritisch sein frisch rasiertes Kinn. »Kaum zu glauben, wie schnell du dich rasieren kannst. Ein Wunder, dass du dir dabei nicht die Kehle aufgeschlitzt hast.«

»Was ist ein durchtrennter Kehlkopf gegen die Aussicht, dich ins Bett zu kriegen?« Er kam zum Sofa, nahm ihre Hand und zog sie hoch. Dann knipste er die Stehlampe aus und zog sie hinter sich her zum Bett, nicht ohne unterwegs alle Lichter auszuschalten, bis das Zimmer, abgesehen von seiner Nachttischlampe, im Dunkeln lag. Er schlug die Bettdecke zurück und drehte sich zu ihr um.

Dann nahm er, noch neben dem Bett stehend, ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie. Sie schmeckte Zahnpasta; irgendwie hatte er es bei seinem Schweinsgalopp durchs Badezimmer geschafft, auch die Zähne zu putzen. Sie musste seine Geschick bewundern, denn wenn er sich schon nicht beim Rasieren die Kehle aufgeschlitzt hatte, so hätte er sich bei diesem Tempo doch mindestens mit der Zahnbürste ein Auge ausstechen müssen.

Obwohl er es vorhin so eilig gehabt hatte, ließ er sich beim Küssen alle Zeit der Welt. Sie legte die Arme um ihn und drückte ihre Hände an seinen Rücken, wo sie die glatte, feuchte Haut über seinen beweglichen Muskeln spürte. Während des Küssens glitt sein Handtuch zu Boden, und der Knoten in ihrem Bademantelgürtel löste sich wie durch Zauberhand.

Kaum ließ Lily die Arme sinken, da rutschte der Bademantel über ihre Schultern und sammelte sich in einem Haufen zu ihren Füßen. Und als nichts mehr zwischen ihnen war als ein leises Seufzen und atemlose Spannung, schaltete er auch das letzte Licht aus und drückte sie sanft, aber bestimmt auf das kühle Laken nieder.

Sie tastete nach ihm, noch bevor er neben ihr lag, und versuchte, ihn mit den Händen zu erkunden, bis sich ihre Augen an das Dunkel gewöhnt hatten. Sie spürte drahtige Haare auf seiner Brust, einen muskulösen Bauch und glatte Lenden, und dann wanderten ihre Hände an seinen muskulösen Armen aufwärts bis zu den breiten, runden Schultern. Währenddessen war er gleichfalls damit beschäftigt, sie zu erforschen, ihren Hintern und ihre Schenkel zu streicheln, um sie anschließend auf den Rücken zu rollen. Im nächsten Moment zog er eine Perlenschnur von Küssen über ihr Kinn bis zu ihrem Hals, von wo aus seine geöffneten Lippen unerträglich langsam über ihre Brust wanderten, bis sie einen sehnsüchtig wartenden Nippel umschlossen. Er lutschte sanft und genüsslich daran, und Lily hörte, wie ein leises, wohliges Stöhnen aus ihrer Kehle stieg.

»Ich mag das«, flüsterte sie und legte eine Hand auf seinen Hinterkopf, um ihn dort zu halten.

»Ich merke es.« Er widmete sich genauso ausgiebig dem anderen Nippel, bis beide nass und fest aufragten wie Beeren nach einem Regen.

»Und was magst du?« Sie strich leicht über seinen Bauch, ließ ihre Fingerspitze um die Spitze seines steil aufragenden Penis kreisen, wechselte dann die Richtung und suchte nach seinen kleinen Brustwarzen, um sie zu reizen, bis sie wie winzige Knöpfe hochstanden.

»Ja.« Seine Stimme war rau. »Das alles.« Er schauderte unter den Wellen der Erregung, die ihn kurz nacheinander überliefen. Ohne jede falsche Schüchternheit nahm er ihre Hand und legte sie dorthin, wo er sie haben wollte. Sie schloss die Finger um sein Glied, es zuckte und begann in ihrer Hand zu pochen. Probeweise strich sie ein paarmal auf und ab; ihre Finger konnten ihn nur knapp umfassen, und ihre inneren Muskeln spannten sich in Erwartung dieser Maße an.

Er keuchte hörbar und nahm ihre Hand wieder weg. Lily knurrte protestierend und fasste mit der anderen Hand nach ihm, um wieder mehrmals auf und ab zu streichen, bis er auch die andere Hand wegnahm. »Gönn mir eine Pause, sonst ist es vorbei, ehe es überhaupt angefangen hat.«

»Erst klopfst du große Sprüche, und dann stehst du nur eine einzige Runde durch?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin enttäuscht.«

»Du willst frech werden?« Er drückte ihre Hände links und rechts neben ihrem Kopf in die Kissen und hielt sich knapp über ihr. »Dir werde ich zeigen, was bei mir eine Runde heißt.«

Endlich, endlich senkte sich sein Körper auf sie nieder, und ihre Beine öffneten sich wie von selbst, um ihn aufzunehmen und festzuhalten, indem sich ihre Waden über seiner Hüfte schlossen. Sie spürte, dass sie bereit war; er gab ihre linke Hand frei, fasste nach unten und brachte sich in die richtige Position. Sie spürte den Druck an ihrer Öffnung und hob sich ihm entgegen, weil sie sich nach diesem ersten, alles durchbohrenden Gleiten seines Fleisches in ihr Fleisch verzehrte, aber der Druck steigerte sich zu einem Brennen, ohne dass irgendwas vorwärts ging. Er zog sich ein winziges bisschen zurück und drückte dann von neuem. Als sich ihre Scheide auch diesmal weigerte, ihn aufzunehmen, entfuhr ihr unwillkürlich ein kurzes, schmerzliches Luftschnappen.

Im nächsten Moment spürte sie, wie ihr Gesicht vor Scham und Kummer zu brennen begann. »Es tut mir Leid.« Dass sie so trocken war, war ihr aus unerklärlichen Gründen peinlich. »Ich hatte schon immer Schwierigkeiten, mich gehen zu lassen.

Irgendwie kann ich mein Gehirn nicht abschalten.«

Sie spürte, wie sein kurzes, schnaubendes Lachen durch ihre Haare fuhr. Dann drückte er seine Wange gegen ihre Schläfe.

»Wenn man dazu unbedingt das Gehirn abschalten muss, dann mache ich was verkehrt, weil ich mich nicht erinnern kann, dass ich je zu denken aufgehört hätte. Nein, das nehme ich zurück. Ungefähr zehn Sekunden lang denke ich definitiv nicht.« Seine Lippen wanderten weiter an ihr Ohrläppchen, das er vorsichtig zwischen die Zähne nahm. »Ich sollte mich bei dir entschuldigen, meine Süße, weil ich dich so bedrängt habe.«

Plötzlich sprach er mit hörbarem Akzent, einem tiefen, texanischen Singsang, der ihn langsamer reden ließ. »Eine Frau, die seit sechs Jahren keinen Mann mehr hatte, braucht vor allem Zeit und Zärtlichkeit, und ich habe eben ein paar mächtig wichtige Schritte ausgelassen.«

»Schritte?« Bei ihm hörte sich das an, als wollte er einen Tanzkurs absolvieren. Sie spielte mit dem Gedanken, ihn entrüstet wegzuschubsen, aber die kleinen Liebesbisse, die er ihrem Ohr angedeihen ließ, verhinderten jede Konzentration.

»Hm.« Jetzt knabberte er an ihrem Hals, und gleich darauf an ihrem Schlüsselbein. »Oder eher Punkte. Wie den hier zum Beispiel.« Seine Zähne spielten zärtlich an dem straffen Muskel zwischen Schulter und Hals, und Lily hielt den Atem an, als ein ganz und gar unerwartetes Wohlgefühl sie durchströmte.

Sie hielt sich an seiner Taille fest. »Noch mal!«

Er gehorchte bereitwillig und überzog ihre Halsbeuge mit Küssen und kleinen Liebesbissen, bis sie sich ihm entgegenwölbte und ihr Atem in abgehackten Stößen kam. Die kleinen Bisse waren so erregend, dass sie glaubte, allein davon zum Höhepunkt zu kommen. Er kniff ihren Nippel so hart und fest, dass es noch vor wenigen Sekunden schmerzhaft gewesen wäre. Jetzt trieb sie das Gefühl zum Wahnsinn und ließ sie stöhnen und ihre Brust in seine Hand pressen.

Er wanderte an ihrem Leib abwärts, erforschte dabei mit der Spitze seines kleinen Fingers ihren Nabel, knabberte erst an ihrer Taille, dann an ihrer Hüfte und fuhr zuletzt mit den Händen unter ihren Hintern, um beide Backen rhythmisch zu drücken. Sie tastete nach ihm, um ihm etwas von der Lust zurückzugeben, die er ihr bescherte, aber er schob ihre Hand weg. »O nein«, wehrte er sie rau und schwer atmend ab. »Bei mir gibt es nur einen einzigen Schritt, und um den kümmere ich mich selbst.«

»Und der wäre?«, stieß sie aus, obwohl es fast übermenschlich anstrengend war, sich auf das Gespräch zu konzentrieren.

»Atmen.«

Sie konnte nicht anders, sie musste einfach lachen, wofür er sie mit einem Biss in die Innenseite ihres Schenkels bestrafte, was wiederum dazu führte, dass ihr der Atem stockte und sich ihre Beine unwillkürlich noch weiter öffneten. Sie wusste, was gleich kommen würde, und sie war, während er sich langsam nach unten vorgearbeitet hatte, fast gestorben vor Anspannung, aber trotzdem durchschoss sie beim ersten Zungenschlag ein beinahe elektrischer Schlag. Sie schrie auf, bohrte die Fersen in die Matratze und hob das Becken an. Er fing sie ein, zog sie näher, um sie noch besser schmecken zu können, und wagte sich mit Zunge und Fingern tiefer vor. Das Gefühl, durchbohrt zu werden, raubte ihr alle Sinne, setzte sämtliche Nervenenden wie unter winzige Stromstöße, die bei jedem langsamen Eindringen und Hinausgleiten intensiver wurden.

Oh, er war gut. Auch als sie bereit war, als sie die Nässe zwischen ihren Beinen spürte, schien es ihm zu genügen, sie mit Küssen und Zärtlichkeiten zu liebkosen, bis sie sich auf dem Bett hin‐ und herwarf und ihn wortlos anbettelte, aufzuhören oder nicht aufzuhören, was dasselbe zu sein schien.

Schließlich packte sie ihn an den Ohren und keuchte: »Ich bin bereit«, nur für den Fall, dass er noch Zweifel hatte.

Er drehte den Kopf zur Seite und fuhr mit der Zunge über ihre Handfläche. »Ganz bestimmt?«

Wütend setzte sie sich auf. »Entweder du kommst jetzt, oder du kommst heute gar nicht mehr! Du treibst mich zum Wahnsinn!«

Er lachte und warf sie wieder aufs Bett zurück. Ehe sie sich orientiert hatte, war er über ihr und drang mit einem langsamen, nicht endenden Stoß in sie ein, der ihr die Luft aus den Lungen trieb. Sie blieb reglos liegen und versuchte, mit geschlossenen Augen die verschiedenen Empfindungen wahrzunehmen, den Druck, die Hitze, die süße Last.

Langsam,

behutsam

begann

er,

sich

vor‐

und

zurückzubewegen, als wollte er sie wiegen. Instinktiv spannte sie sich an und zog die Muskeln in ihrem Inneren zusammen, um ihn festzuhalten und seine Bewegungen zu kontrollieren.

Er stöhnte auf, erstarrte und keuchte dann: »Mach das noch mal.« Diesmal hielt er völlig still, während sie ihn innerlich umklammert hielt. Die Konzentration darauf, die Muskeln im Wechsel anzuspannen und dann ganz bewusst zu entspannen, brachte sie fast zum Höhepunkt – aber eben nur fast.

Er hakte die Ellbogen unter ihre Knie, zog ihre Beine nach oben und übernahm wieder die Kontrolle. In dieser Position hatte sie keinerlei Einfluss mehr darauf, wie tief er eindrang, konnte

sie

sich

seinem

Eindringen

nicht

mehr

entgegenstemmen, konnte sie sich nur noch passiv den langsamen, tiefen Stößen überlassen, die jetzt immer regelmäßiger und rhythmischer wurden. Er hielt sich gerade hoch genug, in der perfekten Position, um sie maximal auszufüllen, aber die Minuten verstrichen, und der Höhepunkt blieb zum Greifen nah, ohne dass sie sich in ihm verlor. Lily fühlte sich, als würde sie auseinander gerissen, so intensiv war die Anspannung, die sie ergriffen hatte. Seine Arme begannen zu zittern, sein ganzer Körper zitterte, und sie wäre beinahe in Tränen ausgebrochen, als ihr klar wurde, dass er nicht mehr lange durchhalten würde und sie immer noch nicht gekommen war.

»Ich will dich von hinten nehmen«, murmelte er und zog sich aus ihr zurück. Bevor sie sich umdrehen konnte, lag er schon neben ihr und zog sie mit dem Rücken auf seinen Bauch, sodass ihr Kopf über seiner linken Schulter hing. Sein heißer Atem liebkoste ihr Ohr, und seine Hände strichen über ihre Brüste abwärts an ihrem Bauch entlang. Er schob ihre Schenkel auseinander, legte sie an seine Beine und fasste dann nach unten, damit er seinen Penis in Position halten konnte, wenn er in sie eindrang. Sie stöhnte, als sich sein dickes, langes Glied in ihre Scheide zwängte, und erbebte unter einem Schaudern, das sie bis kurz vor die Erfüllung trug, aber im entscheidenden Moment wieder verebbte. So auf ihm liegend, fühlte sie sich noch viel nackter als zuvor. Kühle Luft wehte über ihren erhitzten Leib, ihre Beine waren weit gespreizt, und weil ihr Kopf nach unten hing, fühlte sie sich seltsam orientierungslos und aus der Balance gebracht.

»Psst, ich halte dich«, hörte sie sein zuversichtliches Brummen, und sie begriff, das sie einen Angstlaut von sich gegeben haben musste. Seine Hüfte bog und wand sich unter ihr, während er in ihr vor‐ und zurückglitt. In dieser Position spürte sie ihn intensiver, übertrug sich jede noch so kleine Bewegung auf sie. Er ließ seine Rechte über ihren Bauch abwärts wandern, schob die Finger zwischen ihre Beine und nahm ihre Klitoris zwischen Zeige‐ und Mittelfinger. Er hielt sie fest, während sie sich unter seinen Stößen auf und ab, vor und zurück bewegte und sich die heiße Lust in ihrem Unterleib in weiße Glut steigerte.

Sie gab ein ersticktes Keuchen von sich und stemmte bebend die Fersen in die Matratze, damit sie die Hüfte abknicken konnte, um ihn so tief aufzunehmen, wie es ihr überhaupt möglich war, doch schon im nächsten Moment warf sie sich nach oben gegen diese Finger, die sie zum Wahnsinn trieben.

Sie zitterte von Kopf bis Fuß, ihre Schenkel schlotterten, ihr Atem war zu kehligem Schluchzen erstorben. Immer näher, immer näher …

Ein Schrei löste sich aus ihrer Kehle, und dann wurde sie unwiderruflich über die Klippe geschleudert. Pulsierende Wogen rollten, von ihren Lenden ausgehend, durch ihren Körper und raubten ihr den letzten Rest an Selbstkontrolle.

Endlich, endlich – hatte sie es geschafft, endlich passierte es, und es war machtvoller als je in ihrer Erinnerung, alles ausblendend außer ihrer Lust, die sie gefesselt und durchbohrt hielt.

Irgendwann begriff sie, dass sie weinte, ohne dass sie gewusst hätte, warum. Sie zitterte immer noch und fühlte sich zu ausgelaugt und zu schlaff, um auch nur eine Hand zu heben.

Nicht dass das nötig gewesen wäre. Swain glitt aus ihr heraus, war im nächsten Moment wieder über ihr und nahm sie rücksichtslos von neuem. Mit schnellen, festen Stößen versenkte er sich wieder und wieder bis zur Wurzel in ihrer Scheide. Schweiß überzog seine Haut, und er zitterte, so wie sie gerade eben gezittert hatte, mit jedem einzelnen Muskel, ohne je mit seinen tiefen Stößen innezuhalten, die nun allein seiner Lust dienten. Dann wurde sein Rhythmus unsicher, brach in sich zusammen, und ein langes, tiefes Stöhnen entrang sich erst seiner Brust und dann seiner Kehle, bis er mit einem heiseren Aufschrei den Rücken durchstreckte und in ihr zu pulsieren begann, wobei er sie gleichzeitig so fest an der Hüfte packte, dass seine Finger Abdrücke auf ihrer Haut hinterließen. Nach einer Weile sank er, immer noch zitternd und zuckend, mit geschlossenen Augen auf ihr zusammen, fast als würden seine bebenden Arme unter seinem Gewicht einknicken.

Seine Lunge pumpte wie ein Blasebalg, in kraftvollen Schüben strömte die Luft aus seinem Mund. Lily versuchte, ebenfalls nach Luft ringend, ihre Glieder wieder unter Kontrolle zu bekommen, während ihr geschwächtes Herz so wild klopfte, dass sie schon befürchten musste, in Ohnmacht zu fallen. Bis in die Fingerspitzen konnte sie ihren Puls spüren.

Halb kam ihr in den Sinn, dass dies, falls es ihr letzter Orgasmus auf dieser Welt sein sollte, wenigstens ein Weltklasseorgasmus gewesen war.

Schließlich schaffte sie es, die Hand zu heben und mühsam die Tränen von ihren Wangen zu wischen. Warum, um Himmels willen, musste sie weinen? Dorthin zu kommen hatte zwar herkulische Anstrengung gekostet, aber letzten Endes hatte sich die Mühe gelohnt.

Sie hörte Swain, der mit dem Gesicht nach unten neben ihrem linken Ohr lag, stöhnen. »O Mann. Den hab ich bis in die Zehenspitzen gespürt.« Er wuchtete sich nicht hoch, sondern blieb einfach liegen und wurde nur immer schwerer. Lily störte das nicht. Sie schlang die Arme um ihn und hielt ihn so fest, wie sie konnte.