Buch

Sie ist effizient, professionell und ohne falsche Skrupel: Lily Mansfield ist die Frau für höchstgefährliche Einsätze in einer verdeckt arbeitenden Spezialeinheit der CIA. Ihre Zielpersonen: Täter, die Selbstjustiz geübt haben, weil man sie über den Tisch gezogen hat, Delinquenten, die sich auf Gesetzeslücken spezialisiert haben, oder solche, die betrogen wurden und nun auf Rache sinnen. Doch eines Tages wird Lily selbst an ihrer Achillesferse getroffen: Während sie gerade einen waghalsigen Geheimauftrag erfüllt, wird ihre Adoptivtochter zusammen mit dem sie betreuenden Ehepaar ermordet. Lily ist außer sich und will die Mörder auf eigene Faust stellen. Das missfällt allerdings ihren Vorgesetzten, die befürchten, dass Lily unvorsichtig handeln und dadurch die ganze Einheit in Gefahr bringen könnte. Sie schicken einen Kollegen los – Lucas Swain, der erkennt, dass Lily traumatisiert ist und sich daher viel zu großer Gefahr aussetzt. Er hat den Auftrag, Lily vor sich selbst zu schützen und sie notfalls aus dem Verkehr zu ziehen. Aber Lily ist ein Racheengel, der kein bisschen Lust hat, sich die Flügel stutzen zu lassen. Schon gar nicht von diesem unverschämt attraktiven Lucas …

Autorin

Linda Howard hat sich mit ihren historischen und modernen Romanen, die mehrfach ausgezeichnet wurden, eine riesige Fangemeinde erobert und weltweit mehr als fünf Millionen Exemplare verkauft. Sie lebt als freie Schriftstellerin mit ihrem Mann auf einer Farm bei Alabama.

Als Blanvalet Taschenbuch von Linda Howard lieferbar: Auch Engel mögenʹs heiß (35778)

Gefährliche Begegnung (35731)

Mister Perfekt (35700)

Vorjahr und Tag (35152)

Wie Tau auf meiner Haut (35036)

Ein tödlicher Verehrer (35916)

Ein gefährlicher Liebhaber (36008)

Heiße Spur (35967)

Linda Howard

Mörderische Küsse

Roman

Aus dem Amerikanischen von Christoph Göhler BLANVALET

Die Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel »Kiss me While I Sleep« bei Ballentine Books, New York.

Umwelthinweis:

Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend.

Der Blanvalet Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung April 2005

Copyright © der Originalausgabe 2004 by Linda Howington Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2005

by Blanvalet Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Design Team München

Umschlagfoto: ifa Judith Rothenbusch

LW Redaktion: Ilse Wagner

Satz: deutschtürkischer fotosatz, Berlin

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

Verlagsnummer: 35968

Herstellung: Heidrun Nawrot

Made in Germany

Ebook Version 1.0, Mai 2008

ISBN 3‐442‐35‐968‐6

www.blanvalet‐verlag.de

1

Paris

Lily neigte den Kopf und lächelte ihren Begleiter Salvatore Nervi an, während ihr der Ober schweigend und mit vollendeter Eleganz einen Stuhl am besten Tisch im Restaurant herauszog; zumindest ihr Lächeln war echt, wenn schon sonst so gut wie nichts an ihr echt war. Das blasse Eisblau ihrer Augen wurde von farbigen Kontaktlinsen zu einem weichen Haselnussbraun erwärmt; ihr blondes Haar war zu einem vollen Nerzbraun abgedunkelt und mit dezenten Highlights durchsetzt. Sie frischte den Haaransatz alle paar Tage auf, damit sich kein verräterisches Blond zeigen konnte. Für Salvatore Nervi hieß sie Denise Morel, ein Nachname, der aufgrund der zahlreichen Morels in Frankreich nicht allzu außergewöhnlich, aber auch nicht so gewöhnlich war, dass er unterbewusst Alarm ausgelöst hätte. Salvatore Nervi war von Natur aus misstrauisch, ein Charakterzug, der ihm schon so oft das Leben gerettet hatte, dass er das Zählen wahrscheinlich längst aufgegeben hatte. Aber wenn heute Abend alles glatt ging, würde sie ihn trotzdem zu packen kriegen – und zwar an seinem Schwanz. Was für eine Ironie.

Ihre selbst fabrizierte Vergangenheit reichte nur ein paar Schichten tief; mehr hatte sie in der kurzen Zeit nicht präparieren können. Sie hatte einfach darauf gesetzt, dass er seine Leute nicht allzu tief graben lassen und nicht die Geduld aufbringen würde, alle Ergebnisse abzuwarten, ehe er zur Tat schritt. Normalerweise übernahm es die Zentrale in Langley, sie mit einer fiktiven Vergangenheit zu versehen, aber diesmal war sie auf sich allein gestellt. Sie hatte in der knappen Zeit, die ihr zur Verfügung stand, ihr Bestes versucht. Wahrscheinlich wühlte Rodrigo, Salvatores ältester Sohn und die Nummer zwei im Nervi‐Clan, immer noch; ihr blieb nicht allzu viel Zeit, bis er erkennen musste, dass diese geheimnisvolle Denise Morel vor wenigen Monaten aus dem Nichts aufgetaucht war.

»Ah!« Salvatore ließ sich mit einem zufriedenen Seufzen in seinen Stuhl zurücksinken und erwiderte ihr Lächeln. Er war ein gut aussehender Mann von Anfang fünfzig und vom Aussehen her ein typischer Italiener mit glänzendem, dunklem Haar und flinken, dunklen Augen über einem sinnlichen Mund. Er legte großen Wert darauf, in Form zu bleiben, und hatte noch kein einziges graues Haar – entweder das, oder er war genauso geschickt im Auffrischen wie sie. »Sie sehen heute Abend besonders bezaubernd aus; habe ich Ihnen das schon gesagt?«

Auch sein Charme war klassisch italienisch. Zu dumm, dass er ein kaltblütiger Killer war. Na ja, das war sie auch. Darin waren sie einander ebenbürtig, wobei sie allerdings hoffte, dass sie sich nicht genau ebenbürtig waren. Ein Vorteil, so klein er auch sein mochte, käme ihr sehr gelegen.

»Das haben Sie«, antwortete sie mit warmem Blick. Sie sprach mit Pariser Akzent, den sie lang und mühsam einstudiert hatte. »Nochmals vielen Dank.«

Der Geschäftsführer des Restaurants, M. Durand, kam an ihren Tisch und verneigte sich höflich. »Es ist mir eine Ehre, Sie wieder bei uns begrüßen zu dürfen, Monsieur. Ich habe eine sehr gute Nachricht für Sie: Es ist uns gelungen, eine Flasche 82er Chateau Maximilien zu erstehen. Sie ist gestern eingetroffen, und ich habe sie sofort beiseite gelegt, als ich Ihren Namen auf der Gästeliste sah.«

»Exzellent!« Salvatore strahlte vor Glück. Der 82er Bordeaux war ein außergewöhnlicher Jahrgang, von dem nur noch wenige Flaschen im Umlauf waren. Und für diese wenigen Flaschen wurden exorbitante Preise verlangt. Salvatore war Weinkenner und bereit, für einen seltenen Wein fast jeden Preis zu zahlen. Damit nicht genug, er war ein echter Weinliebhaber; wenn er einen guten Wein trank, zelebrierte er jeden Schluck, indem er in den höchsten Tönen von dem Bukett und den verschiedenen Aromen schwärmte. Er strahlte Lily glückselig an. »Dieser Wein ist das reinste Ambrosia; Sie werden sehen.«

»Wohl kaum«, erwiderte sie gelassen. »Mir hat noch kein Wein geschmeckt.« Von Anfang an hatte sie klar gemacht, dass sie mit ihrer Abneigung gegen jeden Wein eine recht untypische Französin war. Ihre Geschmacksnerven waren geradezu schändlich plebejisch. In Wahrheit hatte Lily nichts gegen ein Glas Wein einzuwenden, aber wenn sie mit Salvatore zusammen war, war sie nicht Lily; dann war sie Denise Morel, und Denise trank ausschließlich Kaffee oder Mineralwasser.

Salvatore lachte leise und sagte: »Wir werden sehen.«

Trotzdem bestellte er einen Kaffee für sie.

Dies war ihr dritter Abend mit Salvatore; sie hatte sich vom ersten Moment an deutlich mehr geziert, als ihm lieb war, und ihn zweimal abblitzen lassen, ehe sie auch nur mit ihm ausgegangen war. Es war ein kalkuliertes Risiko gewesen, um ihn in Sicherheit zu wiegen. Salvatore war es gewohnt, dass die Menschen seine Nähe, seine Gunst suchten; dass ihn jemand abwies, war er ganz und gar nicht gewohnt. Ihr scheinbares Desinteresse hatte im Gegenzug sein Interesse gesteigert, denn so war das bei allen mächtigen Menschen: Sie erwarteten, dass ihre Mitmenschen um sie buhlten. Außerdem war Denise Morel nicht gewillt, sich seinem Geschmack anzupassen, wie zum Beispiel beim Wein. Bei ihren beiden vorangegangenen Treffen hatte er jedes Mal versucht, sie zu einem Schlückchen Wein zu überreden, aber sie hatte sich eisern verweigert. Weil er noch nie mit einer Frau zusammen gewesen war, die nicht automatisch versucht hatte, ihm zu gefallen, reizte ihn ihre reservierte Art umso mehr.

Lily konnte es nur mit Mühe ertragen, in seiner Nähe zu sein, ihn anzulächeln, mit ihm zu plaudern, seine beiläufigen Berührungen zu erdulden. Meist schaffte sie es, ihren Groll im Zaum zu halten, indem sie sich ausschließlich auf ihren Plan konzentrierte, aber manchmal wurde ihr vor Zorn und Schmerz richtig speiübel, sodass sie sich nur mit größter Mühe beherrschen konnte und ihm am liebsten mit bloßen Händen an die Gurgel gegangen wäre.

Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie ihn einfach abgeknallt, aber Salvatore wurde professionell abgeschirmt. Sie wurde regelmäßig von Kopf bis Fuß abgetastet, bevor man sie zu ihm ließ; die beiden ersten Male hatten sie sich bei gesellschaftlichen Anlässen getroffen, wo alle Gäste vorsorglich durchsucht worden waren. Niemals stieg Salvatore im Freien in ein Auto; das Auto wurde stets unter ein schützendes Vordach gefahren, bevor Salvatore aus dem Haus trat, und er fuhr nirgendwohin, wo er ungeschützt aus dem Wagen steigen musste. Im Zweifelsfall fuhr er eben nicht. Lily war sicher, dass es in seinem Haus in Paris einen geschützten Geheimausgang gab, durch den er ungesehen verschwinden konnte, aber falls dem so war, dann hatte sie ihn noch nicht entdeckt.

Dieses Restaurant zog er allen anderen vor, weil es hier einen überdachten Seiteneingang gab, der von fast allen Gästen benutzt wurde. Außerdem war es ein höchst exklusives Lokal; die Warteliste war lang und wurde kaum je berücksichtigt. Die Gäste zahlten gut, um ungestört an einem sicheren Ort speisen zu können, und der Geschäftsführer scheute keine Mühe, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. So gab es beispielsweise keine Fenstertische; stattdessen waren in allen Fensterlaibungen Blumenkästen aufgestellt. Überall im Essbereich erhoben sich gemauerte Säulen, die alle Sichtachsen von den Fenstern aus zerteilten. Die Atmosphäre war gleichzeitig gemütlich und nobel. Ein Geschwader schwarz befrackter Kellner schwebte zwischen den Tischen herum, füllte Wein nach, leerte Aschenbecher, fegte Krümel zusammen und erfüllte möglichst jeden Wunsch, noch bevor er ausgesprochen war. Draußen reihten sich am Straßenrand die Limousinen mit verstärkten Stahltüren,

kugelsicheren

Scheiben

und

gepanzerten

Unterböden. In den Autos saßen bewaffnete Leibwächter, die mit scharfem Blick die Straße und die Fenster der umliegenden Gebäude beobachteten, ob von dort Gefahr drohte, real oder imaginär.

Die sicherste Methode, dieses Restaurant und all seine berüchtigten Gäste auszuradieren, wäre eine ferngelenkte Rakete gewesen. Alles mit einem kleineren Kaliber erforderte eine große Portion Glück und war bestenfalls unberechenbar.

Zu schade, dass sie keine ferngelenkte Rakete besaß.

Das Gift war in dem Bordeaux, der gleich serviert würde, und es war so stark, dass schon ein halbes Glas Wein tödlich wirkte. Der Geschäftsführer hatte keine Mühe gescheut, diesen Wein für Salvatore zu besorgen, und Lily hatte keine Mühe gescheut, die Flasche vor ihm in die Hand zu bekommen und dafür zu sorgen, dass M. Durand davon erfuhr. Erst als sie sicher gewesen war, dass sie und Salvatore hier speisen würden, hatte sie die Flasche liefern lassen.

Salvatore würde bestimmt versuchen, sie zu einem Gläschen Wein zu überreden, aber er würde nicht ernsthaft damit rechnen, dass er Erfolg haben würde.

Dafür rechnete er wahrscheinlich sehr wohl damit, dass sie heute Nacht sein Bett teilte, aber auch darin würde er ein weiteres Mal enttäuscht werden. Ihr Hass war so ätzend, dass sie sich kaum überwinden konnte, seine Küsse zu ertragen und mit gespielter Erregung auf seine Berührungen zu reagieren.

Um keinen Preis der Welt würde sie ihn noch näher an sich heranlassen. Außerdem wollte sie nicht in seiner Nähe sein, wenn das Gift zu wirken begann, was vier bis acht Stunden nach der Einnahme geschehen würde, wenn Dr. Speer richtig geschätzt hatte; bis dahin wollte sie möglichst schon außer Landes sein.

Bis Salvatore merkte, dass etwas nicht stimmte, wäre es bereits zu spät; bis dahin hätte das Gift bereits seine Wirkung entfaltet, seine Nieren und die Leber zerstört und das Herz angegriffen.

Er

würde

an

mehrfachem

massivem

Organversagen krepieren. Vielleicht hätte er noch ein paar Stunden zu leben, möglicherweise sogar einen vollen Tag, bevor sein Körper endgültig den Geist aufgeben würde.

Rodrigo würde ganz Frankreich durchkämmen lassen, um Denise Morel aufzuspüren, aber die hätte sich in Luft aufgelöst

– zumindest vorübergehend. Sie hatte keineswegs vor, unsichtbar zu bleiben.

Gift war normalerweise nicht das Mittel ihrer Wahl; dazu hatte sie Salvatores Sicherheitsfanatismus gezwungen. Am liebsten setzte sie die Pistole ein, und das hätte sie sogar getan, auch wenn sie gewusst hätte, dass sie daraufhin selbst niedergeschossen worden wäre, aber sie hatte keine Möglichkeit gesehen, mit einer Waffe nahe genug an ihn heranzukommen. Wenn sie nicht allein gearbeitet hätte, dann vielleicht … aber vielleicht auch nicht. Salvatore hatte schon mehrere Attentate überlebt und aus jedem eine Lehre gezogen.

Nicht einmal ein Scharfschütze konnte ihn ins Visier nehmen.

Wenn sie Salvatore Nervi umbringen wollte, musste sie entweder Gift einsetzen oder eine Waffe mit enormer Sprengkraft, die auch die Menschen in seiner Umgebung töten würde. Lily hätte keine Skrupel gehabt, Rodrigo oder irgendeinen anderen aus Salvatores Organisation ins Jenseits zu befördern, aber Salvatore war schlau genug, sich immer auch mit Unschuldigen zu umgeben. So gewissenlos und unterschiedslos zu morden brachte Lily nicht fertig; darin unterschied sie sich von Salvatore. Vielleicht war es der einzige Unterschied, aber diesen Unterschied musste sie um jeden Preis bewahren, wenn sie nicht den Verstand verlieren wollte.

Sie war siebenunddreißig. Sie arbeitete in diesem Job, seit sie achtzehn war, damit war sie über die Hälfte ihres Lebens eine Auftragsmörderin gewesen, und zwar eine verdammt gute, sonst hätte sie in diesem Geschäft nicht so lange überlebt.

Anfangs war ihre Jugend von Vorteil gewesen: Sie hatte so frisch und unschuldig gewirkt, dass niemand sie als Bedrohung wahrgenommen hatte. Diesen Vorteil hatte sie nicht mehr, aber das machte sie durch ihre Erfahrung wett.

Allerdings zehrte die Erfahrung auch an ihr, weshalb sie sich manchmal spröde wie eine angeknackste Eierschale fühlte; ein letzter Schlag, und sie würde zerbrechen.

Falls sie nicht bereits zerbrochen war und es nur noch nicht gemerkt hatte. Sie wusste, dass sie sich fühlte, als wäre ihr nichts mehr geblieben, als wäre ihr Leben eine öde Wüste. Nur ein einziges Ziel stand ihr noch vor Augen: Salvatore Nervi sollte untergehen, und mit ihm seine ganze Organisation. Er war der erste, der wichtigste Punkt auf ihrer Liste, denn er hatte den Befehl gegeben, die Menschen umzubringen, die sie mehr liebte als alle anderen. Dieses Ziel war so übermächtig, dass sie nichts anderes mehr sehen konnte, keine Hoffnung, kein Lachen, keinen Sonnenschein. Dass sie ihre selbst gestellte Aufgabe wahrscheinlich mit dem Leben bezahlen würde, zählte kaum.

Das bedeutete aber nicht, dass sie einfach aufgeben würde.

Sie spürte keine Todessehnsucht; im Gegenteil, ihre Berufsehre gebot, dass sie nicht nur ihren Job erledigte, sondern auch noch damit durchkam. Und in ihrem Herzen flackerte immer noch die allzu menschliche Hoffnung, dass sie nicht nur überleben, sondern dass eines Tages dieser namenlose Schmerz nachlassen und sie wieder Freude am Leben finden würde. Die Hoffnung war nur eine kleine Flamme, aber sie leuchtete hell.

Lily vermutete, dass es genau diese Hoffnung war, weswegen die meisten Menschen selbst im Angesicht nackter Verzweiflung unverdrossen weiterrackerten, weswegen so wenige tatsächlich aufgaben.

Trotzdem machte sie sich keine Illusionen über die Schwierigkeiten bei ihrem Vorhaben und über ihre Überlebenschancen währenddessen und danach. Nachdem sie diesen Job erledigt hätte, würde sie spurlos verschwinden müssen, vorausgesetzt, sie war dann noch am Leben. Die Schreibtischhengste in Washington wären bestimmt nicht begeistert, wenn sie Nervi abservierte. Nicht nur Rodrigo würde nach ihr suchen, sondern auch ihre eigenen Leute, und sie wusste nicht, ob es einen Unterschied machte, wer sie letztendlich aufspürte. Sie hatte sozusagen die schützende Hand abgeschüttelt, und das bedeutete, dass sie nicht nur entbehrlich war – das war sie immer gewesen –, sondern dass man kein Interesse mehr an ihrem Weiterleben hatte. Alles in allem eine eher unerfreuliche Situation.

Nach Hause konnte sie auf keinen Fall, und das nicht nur, weil sie längst kein Heim mehr hatte. Sie durfte ihre Mutter und Schwester nicht in Gefahr bringen, von der Familie ihrer Schwester ganz zu schweigen. Außerdem hatte sie seit zwei, drei Jahren nicht mehr mit ihren Verwandten gesprochen …

nein, inzwischen waren mindestens vier Jahre vergangen, seit sie zum letzten Mal mit ihrer Mutter telefoniert hatte. Oder fünf. Sie wusste, dass alle wohlauf waren, weil sie sich regelmäßig darüber informierte, aber die nackte Wahrheit war, dass sie nicht mehr in jene Welt gehörte und dass ihre Mutter und Schwester Lilys Welt genauso wenig verstehen würden.

Gesehen hatte sie ihre Verwandten seit einem knappen Jahrzehnt nicht mehr. Sie gehörten dem »Zuvor« an, während sie selbst unwiderruflich im »Danach« lebte. Ihre Freunde in der Firma waren ihre neue Familie gewesen – und die hatte man abgeschlachtet.

Von jenem Zeitpunkt an, als sich herumgesprochen hatte, dass Salvatore Nervi hinter dem Tod ihrer Freunde steckte, hatte sie sich nur noch auf ein einziges Ziel konzentriert: Salvatore so nahe zu kommen, dass sie ihn töten konnte. Er hatte kein Hehl daraus gemacht, dass er den Mord befohlen hatte; stattdessen hatte er die Tat dazu genutzt, allen vor Augen zu führen, dass man ihm besser nicht in die Quere kam.

Die Polizei brauchte er nicht zu fürchten; dank seiner zahlreichen Verbindungen war er von dieser Front her nicht angreifbar. Salvatore hatte nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa so viele einflussreiche Menschen in der Hand, dass er tun und lassen konnte, was ihm gerade einfiel.

Ihr wurde bewusst, dass Salvatore etwas zu ihr gesagt hatte und sie jetzt verärgert ansah, weil sie ihm so offensichtlich nicht zugehört hatte. »Verzeih mir«, entschuldigte sie sich. »Ich mache mir Sorgen um meine Mutter. Sie hat heute angerufen und mir erzählt, dass sie die Treppe hinuntergefallen ist. Sie behauptet, sie hätte sich nichts getan, aber ich glaube, ich sollte mich selbst davon überzeugen. Sie ist schließlich schon über siebzig, und alte Leute brechen sich leicht etwas, nicht wahr?«

Es war eine gewitzte Lüge, und das nicht nur, weil sie tatsächlich gerade an ihre Mutter gedacht hatte. Salvatore war Italiener bis ins Mark; er hatte seine Mutter abgöttisch verehrt und besaß einen ausgeprägten Familiensinn. Umgehend sah er sie bestürzt an. »Aber natürlich musst du zu ihr. Wo lebt sie denn?«

»In Toulouse.« Die Stadt lag in Südfrankreich und damit so weit wie möglich von Paris entfernt. Falls Salvatore seinem Sohn von ihrer Mutter in Toulouse erzählen sollte, konnte sie sich damit ein paar Stunden erkaufen, während Rodrigo den Süden nach ihr durchkämmte. Natürlich war es genauso gut möglich, dass Rodrigo annahm, sie hätte Toulouse nur erwähnt, um ihn in die Irre zu führen; ob ihr Plan aufging oder nicht, war ein Schuss ins Blaue. Sie hatte

keine Zeit

vorauszuberechnen, mit welchen Winkelzügen ihr Gegner auf ihre eigenen Winkelzüge reagieren würde. Sie würde einfach ihrem Plan folgen und darauf bauen, dass er funktionierte.

»Wann kommst du zurück?«

Ȇbermorgen, vorausgesetzt, ihr ist nichts passiert.

Andernfalls –« Sie zuckte die Achseln.

»Dann müssen wir diese Nacht bis zur Neige auskosten.«

Das Glühen in seinen dunklen Augen verriet nur zu deutlich, woran er dabei dachte.

Sie verstellte sich nicht. Stattdessen wich sie kaum merklich zurück und zog die Brauen hoch. »Vielleicht«, meinte sie kühl.

»Vielleicht auch nicht.« Ihr Tonfall ließ erkennen, dass sie nicht allzu scharf darauf war, mit ihm zu schlafen.

Wenn überhaupt, dann heizte ihre Abfuhr sein Interesse zusätzlich an; sofort glühten seine Augen noch intensiver.

Vielleicht erinnerte ihn ihr Zögern an seine unbeschwerte Jugendzeit, als er seine inzwischen verstorbene Gemahlin umworben hatte, die Mutter seiner Kinder. Zu seiner Zeit hatten die jungen Italienerinnen ihre Tugend noch sorgsam gehütet; möglicherweise war das auch heute noch so, das wusste sie nicht. Sie hatte kaum Kontakt zu jungen Frauen aus irgendeinem Land.

Zwei Ober kamen an ihren Tisch, von denen einer die bestellte Weinflasche präsentierte wie eine kostbare Trophäe, während der andere ihren Kaffee servierte. Sie lächelte zum Dank, als der Kaffee vor ihr abgestellt wurde, und war dann damit beschäftigt, dicke Sahne in ihre Tasse zu gießen, scheinbar ohne Salvatore zu beachten, für den der andere Ober mit großen Gesten die Flasche entkorkte und dann den Korken zum Beriechen hinhielt. In Wahrheit richtete sie ihre gesamte Aufmerksamkeit auf die Flasche und das balzartige Ritual, das vor ihr aufgeführt wurde. Weinkenner machten ein großes Getue um dieses Ritual; ihr persönlich war es völlig egal.

Einschenken und Austrinken waren für sie die einzig wichtigen Rituale beim Weintrinken. Sie hatte nicht die geringste Lust, an einem Korken zu schnüffeln.

Nachdem Salvatore wohlgefällig genickt hatte, schenkte der Ober mit ernster Miene und großer Geste den Wein in Salvatores Glas. Mit angehaltenem Atem verfolgte Lily, wie Salvatore den roten Bordeaux im Kelch kreisen ließ, sein Bukett erschnupperte und dann vorsichtig kostete. »Ah!«, urteilte er nach

einer

halben

Ewigkeit

und

mit

genießerisch

geschlossenen Augen. »Exzellent.«

Der Ober verbeugte sich, als wäre die Qualität des Weines allein sein Verdienst, stellte die Flasche in den Weinständer auf ihrem Tisch und entfernte sich.

»Den musst du probieren«, sagte Salvatore zu Lily.

»Das wäre Verschwendung.« Sie trank einen Schluck Kaffee.

»Mir schmeckt der hier wesentlich besser.« Sie deutete auf ihre Tasse. »Wein … igitt!«

»Dieser Wein wird dich bekehren, das verspreche ich dir.«

»Das haben mir schon viele versprochen. Und alle haben sich geirrt.«

»Nur ein winziges Schlückchen, nur für den Geschmack«, gurrte er, und zum ersten Mal sah sie so etwas wie Unwillen in seinen Augen aufflackern. Er war Salvatore Nervi, er war es nicht gewohnt, dass ihm jemand widersprach, und schon gar nicht eine Frau, die er mit seiner Aufmerksamkeit beehrt hatte.

»Ich kann Wein nicht ausstehen –«

»Diesen Wein hast du noch nicht probiert«, sagte er, griff nach der Flasche, schenkte einen Fingerbreit in ein zweites Glas und reichte es ihr dann über den Tisch. »Wenn du den hier nicht für göttlich hältst, werde ich dich nie wieder bitten, einen Wein zu kosten. Darauf gebe ich dir mein Wort.«

Damit hatte er unbestreitbar Recht, denn dann wäre er tot.

Und sie auch, wenn sie jetzt von dem Wein trank.

Als sie den Kopf schüttelte, wurde er wirklich zornig und stellte das Glas hart auf der Tischplatte ab. »Nie tust du das, was ich möchte.« Wütend sah er sie an. »Ich würde gern wissen, warum du überhaupt hier bist. Vielleicht sollte ich dich von meiner Gesellschaft erlösen und den Abend beenden, hm?«

Nichts hätte ihr besser gefallen – wenn er nur schon mehr Wein getrunken hätte. Sie glaubte nicht, dass ein kleiner Schluck genug Gift enthielt, um ihn zu erledigen. Das Gift war angeblich hochwirksam, und sie hatte genug davon durch den Korken in die Flasche injiziert, um mit dieser Flasche sämtliche Ober im Restaurant abzuservieren. Aber was würde mit der entkorkten Weinflasche passieren, wenn er jetzt wutentbrannt aufstand? Würde er sie mitnehmen, oder würde er sie auf dem Tisch stehen lassen und aus dem Restaurant stürmen? Der Wein war viel zu teuer, als dass man ihn wegschütten würde, so viel war klar. Nein, entweder würde man ihn glasweise an die anderen Gästen verkaufen, oder die Belegschaft würde ihn unter sich aufteilen.

»Na gut«, gab sie sich geschlagen und griff nach dem Glas.

Ohne zu zögern, setzte sie es an den Mund und kippte es, bis der Wein ihre zusammengekniffenen Lippen benetzte, aber ohne dass sie auch nur einen Tropfen geschluckt hätte. Wirkte das Gift auch durch die Haut? Sie war fast sicher, dass es so war; immerhin hatte Dr. Speer sie ermahnt, Latexhandschuhe zu tragen, wenn sie damit hantierte. Die folgende Nacht könnte äußerst interessant werden, befürchtete sie, und zwar auf ganz andere Art als geplant, aber ihr blieb kein anderer Ausweg. Sie konnte die Flasche nicht einmal auf den Boden fegen, weil das Personal beim Aufputzen unweigerlich in Kontakt mit dem Wein kommen würde.

Sie gab sich keine Mühe, das Schaudern zu unterdrücken, das sie bei diesem Gedanken durchlief, und setzte hastig das Glas wieder ab, um anschließend ihre Lippen mit der Serviette abzutupfen, bevor sie das Tuch sorgsam so zusammenfaltete, dass sie den feuchten Fleck nicht berührte.

»Und?«, fragte Salvatore ungeduldig, obwohl er ihr Schaudern bemerkt haben musste.

»Faule Trauben«, sagte sie und schüttelte sich wieder.

Er sah sie an wie vom Donner gerührt. »Faule –?« Er konnte einfach nicht fassen, dass sie diesen fantastischen Tropfen nicht zu schätzen wusste.

»Genau. Wenn du mich fragst, lassen das Aroma, das Bukett sowie sämtliche Haupt‐ und Nebennoten auf verfaulte Trauben schließen. Bist du jetzt zufrieden?« Sie ließ in ihren Augen ebenfalls zornige Blitze aufblinken. »Ich mag es nicht, wenn man mich zu etwas zwingt.«

»Ich habe dich doch nicht –«

»O doch. Indem du mir gedroht hast, dich nicht mehr mit mir zu treffen.«

Er nahm wieder einen Schluck, auch um Zeit zu gewinnen.

»Entschuldige bitte«, antwortete er dann vorsichtig. »Ich bin es nicht gewohnt, dass man –«

»Dir widerspricht?«, nahm sie ihm das Wort aus dem Mund und imitierte ihn dann, indem sie einen Schluck Kaffee trank.

Würde durch das Koffein das Gift schneller wirken? Oder würde die fette Sahne es abschwächen?

Sie wäre bereit gewesen, ihr Leben zu opfern, wenn sie dafür einen gut gezielten Schuss auf seinen Kopf frei gehabt hätte; im Grunde war das hier nichts anderes. Sie hatte das Risiko so weit minimiert wie nur möglich, aber ein Restrisiko blieb immer, und ein Gifttod war ausgesprochen unangenehm.

Er zog die stämmigen Schultern hoch und sah sie betreten an. »Genau«, bestätigte er und ließ dabei seinen legendären Charme spielen. Er konnte ausgesprochen charmant sein, wenn es ihm gefiel. Wenn sie nicht gewusst hätte, wer er wirklich war, hätte sie sich vielleicht täuschen lassen; wenn sie nicht an jenen drei Gräbern gestanden hätte, in denen zwei enge Freunde und ihre Adoptivtochter gelegen hatten, hätte sie vielleicht philosophisch geschlossen, dass in ihrer Branche der Tod zum Berufsrisiko gehörte. Averill und Tina hatten gewusst, welches Wagnis sie eingingen, als sie sich auf dieses Spiel eingelassen hatten; aber die dreizehnjährige Zia war vollkommen unschuldig gewesen. Dass Zia gestorben war, konnte Lily nicht vergessen und schon gar nicht vergeben. Da half alles Philosophieren nichts.

Als sie drei Stunden später aufstanden und gingen, hatten sie ein luxuriöses Mahl verzehrt, und der gesamte Inhalt der Weinflasche schwappte in Salvatores Bauch. Es war kurz nach Mitternacht, und der Novemberhimmel spuckte wirbelnde Schneeflocken aus, die bei der ersten Berührung mit dem nassen Asphalt zerschmolzen. Lily fühlte sich elendig, aber das konnte genauso an der ständigen Anspannung liegen wie an dem Gift, das sich angeblich erst nach deutlich mehr als drei Stunden bemerkbar machen sollte.

»Ich glaube, mir ist irgendwas nicht bekommen«, sagte sie, als sie im Auto saßen.

Salvatore seufzte schwer. »Du brauchst dich nicht krank zu stellen, nur damit du nicht mitkommen musst.«

»Ich spiele dir nichts vor«, erwiderte sie scharf. Er drehte den Kopf zur Seite und starrte auf die vorbeiziehenden Lichter der Großstadt. Es war gut, dass er die ganze Flasche getrunken hatte, denn sie war ziemlich sicher, dass er sie nach diesem Abend endgültig abgeschrieben hatte.

Sie ließ den Kopf gegen die Nackenstütze sinken und schloss die Augen. Nein, das war keine Anspannung. Ihr wurde von Sekunde zu Sekunde schlechter. Sie spürte, wie der Druck in ihrem Hals zunahm, und sagte: »Lass bitte anhalten, mir wird schlecht!«

Der Chauffeur trat auf die Bremse – wie eigenartig, dass er angesichts dieser Drohung automatisch sein gesamtes Sicherheitstraining vergaß –, sie stieß die Tür auf, noch ehe der Wagen ganz ausgerollt war, beugte sich hinaus und übergab sich in den Rinnstein. Sie spürte Salvatores Hand auf ihrem Rücken und eine zweite als Stütze auf ihrem Arm, wobei er immer darauf achtete, sich nicht so weit nach vorn zu beugen, dass er von außen zu sehen war.

Nachdem sie unter Krämpfen ihren Magen entleert hatte, sank sie in den Wagen zurück und wischte sich den Mund mit dem Taschentuch ab, das ihr Salvatore schweigend reichte.

»Ich muss dich um Verzeihung bitten.« Sie erschrak, als sie hörte, wie schwach und zittrig sie klang.

»Nein, ich muss dich um Verzeihung bitten«, widersprach er.

»Ich habe dir nicht geglaubt, dass dir wirklich schlecht ist. Soll ich dich zu einem Arzt bringen? Ich könnte meinen Arzt anrufen –«

»Nein, es geht schon wieder«, log sie. »Bitte bring mich nur heim.«

Das tat er, unter vielen fürsorglichen Angeboten und dem Versprechen, sie gleich morgen früh anzurufen. Als der Fahrer endlich vor dem Gebäude hielt, in dem sie eine Wohnung gemietet hatte, tätschelte sie Salvatores Hand und sagte: »Ja, bitte ruf mich morgen früh an, aber küss mich nicht; vielleicht habe ich mir ein Virus eingefangen.« Mit dieser praktischen Entschuldigung zog sie ihren Mantel fester um sich und eilte durch die dichter fallenden Flocken zu ihrer Haustür, ohne sich ein letztes Mal nach dem anfahrenden Wagen umzudrehen.

Mit Mühe schaffte sie es in ihre Wohnung, wo sie im nächsten Sessel zusammenbrach. Sie konnte unmöglich ihre Habseligkeiten zusammenraffen und zum nächsten Flughafen rasen, wie sie es ursprünglich vorgehabt hatte. Vielleicht war es am besten so. Sich selbst in Gefahr zu bringen war manchmal die beste Tarnung. Wenn sie ebenfalls an Vergiftungserscheinungen litt, würde Rodrigo sie nicht verdächtigen und sich vielleicht nicht dafür interessieren, was aus ihr wurde, nachdem sie sich erholt hatte.

Vorausgesetzt, sie überlebte.

Ganz ruhig wartete sie ab, dass passieren würde, was passieren sollte.

2

Kurz nach neun Uhr am nächsten Morgen zersplitterte ihre Tür unter lautem Krachen. Drei Männer stürmten mit gezogenen Waffen herein. Lily versuchte, den Kopf zu heben, ließ ihn dann aber mit einem schwachen Stöhnen zurücksinken auf den Teppich, der das dunkel lackierte Parkett bedeckte.

Mit verschwommenem Blick bekam sie mit, dass einer der Männer neben ihr niederkniete und ihren Kopf grob zur Seite drehte. Blinzelnd versuchte sie, das Gesicht zu fixieren.

Rodrigo. Sie schluckte und streckte in einer wortlosen Bitte eine zitternde Hand nach ihm aus.

Das war nicht gespielt. Die Nacht war lang und elend gewesen. Sie hatte sich mehrmals übergeben und war von heißkalten Schüttelfrostattacken gebeutelt worden. Wie Messerstiche hatten sich die Schmerzen durch ihren Magen gebohrt, bis sie sich zu einem kleinen Ball zusammengerollt und nur noch kläglich gewimmert hatte. Schreckliche Stunden lang hatte sie geglaubt, doch eine tödliche Dosis abbekommen zu haben, aber jetzt endlich schienen die Schmerzen abzunehmen. Ihr war immer noch zu flau und viel zu übel, um vom Boden auf die Couch zu klettern oder um auch nur telefonisch Hilfe zu holen. Einmal hatte sie gestern Nacht versucht, ans Telefon zu kommen, doch da war es bereits zu spät gewesen. Der Apparat war knapp außerhalb ihrer Reichweite geblieben.

Rodrigo zischte einen italienischen Fluch, schob die Waffe in das Holster und gab einem seiner Männer eine knappe, energische Anweisung.

Lily nahm ihre ganze Kraft zusammen und flüsterte leise:

»Komm mir … nicht zu nah. Vielleicht ist es … ansteckend.«

»Nein«, widersprach er in seinem ausgezeichneten Französisch. »Ansteckend ist das nicht.« Sekunden später verschwand ihr Körper unter einer weichen Decke, die Rodrigo energisch um sie wickelte, bevor er Lily auf die Arme nahm und sie fast mühelos hochhob.

Er eilte aus der Wohnung die Treppe hinunter und durch eine Reihe von Hinterhöfen in eine Nebenstraße, wo sein Wagen mit laufendem Motor wartete. Sobald der Fahrer Rodrigo kommen sah, sprang er aus dem Wagen und riss die Hecktür auf.

Lily wurde wenig liebevoll in den Wagen verfrachtet, flankiert von Rodrigo und einem seiner Männer. Ihr Kopf kippte sofort gegen die Kopfstütze im Fond, und sie schloss wimmernd die Augen, weil sie schon wieder einen scharfen Stich in der Magengrube spürte. Sie hatte nicht die Kraft, sich aufrecht zu halten, und merkte, wie sie langsam zur Seite sank.

Rodrigo schnaufte verärgert, setzte sich aber dicht neben sie, damit sie sich an ihn lehnen konnte.

Eigentlich war sie vollauf mit ihrem körperlichen Elend beschäftigt, aber ein kühler, klarer Punkt in ihrem Geist blieb davon unbehelligt und hellwach. Noch war sie nicht über den Berg, weder was das Gift noch was Rodrigo anging. Er hatte sein Urteil vorerst ausgesetzt, mehr nicht. Immerhin brachte er sie irgendwohin, wo sie behandelt wurde – hoffte sie.

Wahrscheinlich würde er sie nicht quer durch die Stadt karren, nur um sie irgendwo abzuknallen und um ihre Leiche zu verscharren, denn es wäre für ihn viel einfacher gewesen, sie in ihrer Wohnung zu erledigen und danach zu verschwinden. Sie wusste nicht, ob jemand beobachtet hatte, wie er sie aus dem Haus getragen hatte, aber das war gut möglich, auch wenn er nicht den Hauptausgang genommen hatte. Nicht dass es ihm etwas ausgemacht hätte, wenn er beobachtet worden wäre, oder wenigstens nicht viel. Sie nahm an, dass Salvatore entweder schon tot war oder im Sterben lag und Rodrigo von nun an über das Nervi‐Imperium herrschte; damit verfügte er über unvorstellbare Macht, finanziell wie politisch. Salvatore hatte eine Menge Leute in der Hand gehabt.

Sie kämpfte darum, die Augen offen zu halten, sich die Route einzuprägen, die der Fahrer einschlug, aber ihre Lider schlössen sich immer wieder. Schließlich hatte sie den Kampf satt und gab sich geschlagen. Wohin Rodrigo sie auch bringen würde, sie konnte sowieso nichts daran ändern.

Die Männer im Wagen schwiegen eisern; kein einziges Wort wurde gesprochen. Die Atmosphäre war gedrückt und angespannt vor Trauer oder Sorge oder auch Zorn. Genau konnte sie das nicht erspüren, und da niemand etwas sagte, gab es auch nichts zu belauschen. Selbst der Straßenlärm schien abzunehmen, bis irgendwann nur noch Schweigen herrschte.

Das Tor zum Gelände glitt bereits auf, als sich der Wagen näherte, und Tadeo, der Fahrer, rollte mit dem Mercedes durch den Spalt, sobald auf beiden Seiten eine knappe Handbreit Zwischenraum war. Rodrigo wartete, bis sie unter dem Vordach angehalten hatten und Tadeo herausgesprungen war, um die hintere Tür zu öffnen, ehe er Denise Morel zurechtrückte. Ihr Kopf rollte nach hinten; offenbar war sie bewusstlos. Ihr Teint war teigig und gelbweiß, die Augen lagen tief in ihren Höhlen, und sie dünstete einen eigenartigen Geruch aus – den gleichen Geruch, der ihm auch an seinem Vater aufgefallen war.

Rodrigos Magen krampfte sich zusammen, doch er rang die aufsteigenden Tränen rücksichtslos nieder. Er konnte es immer noch nicht wirklich begreifen – Salvatore war tot. Einfach so von ihnen gegangen. Noch hatte sich die Neuigkeit nicht herumgesprochen, aber das war nur eine Frage der Zeit.

Rodrigo konnte sich nicht den Luxus gestatten, um Salvatore zu trauern; er musste sofort handeln, seine Position festigen und die Zügel in die Hand nehmen, ehe ihre zahllosen Rivalen wie eine Horde Schakale den Leichnam zu fleddern versuchten.

Als ihr Familienarzt erklärt hatte, Salvatores Beschwerden sähen nach einer Pilzvergiftung aus, hatte Rodrigo sofort reagiert. Er hatte drei Männer losgeschickt, die M. Durand aus seinem Restaurant geholt und ihn ins Haus gebracht hatten, während er selbst, gefahren von Tadeo, zusammen mit Lamberto und Cesare zu Denise Morel gerast war. Sie war die Letzte, mit der sein Vater gespeist hatte, und Gift war eine sehr weibliche Waffe, indirekt und ungezielt und mit zahllosen Mutmaßungen und Unwägbarkeiten verbunden. In diesem Fall hatte sie sich allerdings als äußerst effektiv erwiesen.

Aber falls ihr Vater durch ihre Hand gestorben war, dann hatte sie sich ebenfalls vergiftet, statt außer Landes zu fliehen.

Er hatte eigentlich nicht damit gerechnet, sie in ihrer Wohnung zu finden, da Salvatore ihm erzählt hatte, sie würde nach Toulouse fahren, um ihre bettlägrige Mutter zu besuchen; Rodrigo hatte das für eine ziemlich praktische Ausrede gehalten. Anscheinend hatte er sich geirrt – oder zumindest war die Möglichkeit eines Irrtums so groß, dass er die Frau nicht auf der Stelle erschossen hatte.

Er rutschte aus dem Wagen, hakte die Arme unter ihre Achseln und hob sie von dem Sitz herab. Tadeo half ihm, sie aufrecht zu halten, bis Rodrigo einen Arm unter ihre Knie geschoben und sie an seine Brust gedrückt hatte. Sie war durchschnittlich groß, knapp unter eins siebzig, aber von der Statur her eher schlaksig; obwohl sie wie tot in seinen Armen hing, trug er sie mit Leichtigkeit ins Haus.

»Ist Dr. Giordano noch da?«, fragte er, was ihm bestätigt wurde. »Sag ihm, dass ich ihn brauche.« Er brachte sie nach oben in eines der Gästezimmer. In einem Krankenhaus wäre sie besser aufgehoben, aber Rodrigo war nicht in der Stimmung, Fragen zu beantworten. Diese Bürokraten konnten so verflucht bürokratisch werden. Und wenn sie starb, dann würde sie eben sterben; er hatte alles unternommen, wozu er bereit war. Immerhin war Vincenzo Giordano ein echter Arzt, auch wenn er keine Praxis mehr führte und seine gesamte Zeit in jenem Labor am Stadtrand von Paris verbrachte, das ihm Salvatore finanziert hatte – obwohl Salvatore möglicherweise noch am Leben wäre, wenn er früher Hilfe gesucht und darum gebeten hätte, in ein Krankenhaus gebracht zu werden.

Trotzdem hatte Rodrigo die Entscheidung seines Vaters, Dr.

Giordano zu holen, nicht in Zweifel gezogen und sogar verstanden. Gerade wenn man angreifbar war, war Diskretion überlebenswichtig.

Er legte Denise aufs Bett, betrachtete sie nachdenklich und rätselte, was sein Vater an dieser Frau so faszinierend gefunden hatte. Zwar hatte Salvatore immer einen Blick für schöne Frauen gehabt, aber diese Frau stach wirklich nicht aus der Masse heraus. Natürlich sah sie heute mit ihren strähnigen, ungekämmten Haaren und einem Teint, als wäre sie schon tot, besonders unansehnlich aus, aber selbst in ihren besten Momenten war sie nicht wirklich schön. Ihr Gesicht war ein bisschen zu hager, zu streng, und sie hatte einen leichten Überbiss. Immerhin hatte dieser Makel zur Folge, dass die Oberlippe voller wirkte als die Unterlippe, und das allein verlieh ihren Zügen etwas Pikantes, das ihr sonst völlig gefehlt hätte.

Paris war voller Frauen, die besser aussahen und mehr Stil hatten als diese Denise Morel, aber Salvatore hatte sich auf sie versteift, und zwar so sehr, dass er vor lauter Ungeduld darauf verzichtet hatte, sie gründlich durchleuchten zu lassen, ehe er sich ihr näherte. Zu Salvatores großem Erstaunen hatte sie seine ersten beiden Einladungen ausgeschlagen, woraufhin sich seine Ungeduld zur Besessenheit gesteigert hatte. War er aus lauter Gier unvorsichtig geworden? War diese Frau indirekt für seinen Tod verantwortlich?

Rodrigo war rasend vor Zorn und Schmerz. Der bloße Gedanke an diese Möglichkeit genügte, um sie erwürgen zu wollen, aber unter diesen Gefühlen warnte ihn eine kühle Stimme, dass sie ihm möglicherweise etwas erzählen konnte, das ihm bei seinen Nachforschungen weiterhelfen würde.

Er musste herausfinden, wer seinen Vater vergiftet hatte, und ihn – oder sie – eliminieren. Die Organisation konnte einen solchen Frevel nicht ohne Vergeltung hinnehmen, sonst würde Rodrigos Ruf leiden: Und da er eben dabei war, in Salvatores Fußstapfen zu treten, konnte er sich keine Zweifel an seinen Fähigkeiten oder seiner Entschlossenheit leisten. Er musste den Täter ausfindig machen. Leider gab es da unzählige Kandidaten. Wenn man mit Tod und Geld handelte, war praktisch alle Welt betroffen. Und da auch Denise vergiftet worden war, musste er auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass der Täter eine eifersüchtige ehemalige Geliebte seines Vaters war – oder einer von Denises Exliebhabern.

Dr. Vincenzo Giordano klopfte höflich gegen den Holzrahmen der offenen Tür und trat dann ein. Rodrigo warf ihm einen kurzen Blick zu; der Mann sah abgezehrt aus, und seine sonst so ordentlichen grau melierten Locken wirkten zerzaust, so als hätte er sich die Haare gerauft. Der gute Doktor war seit seiner Jugend mit seinem Vater befreundet gewesen und hatte hemmungslos geweint, als Salvatore vor nicht einmal zwei Stunden dahingeschieden war.

»Warum ist sie nicht auch tot?« Rodrigo deutete auf die Frau im Bett.

Vincenzo nahm Denises Puls und hörte ihr Herz ab. »Sie könnte durchaus noch sterben«, sagte er und fuhr sich mit der Hand über das müde Gesicht. »Ihr Puls geht zu schnell und zu schwach. Aber vielleicht hat sie weniger von dem Gift abbekommen als Ihr Vater.«

»Glauben Sie immer noch, dass es Pilze waren?«

»Ich sagte, es sieht aus wie eine Pilzvergiftung – im Wesentlichen. Aber es gibt auch Unterschiede. Zum einen die Geschwindigkeit, mit der die Wirkung eingetreten ist.

Salvatore war ein großer, kräftig gebauter Mann; als er gestern Nacht um eins nach Hause kam, fühlte er sich noch ausgezeichnet. Keine sechs Stunden später war er tot. Pilze wirken langsamer; selbst die giftigsten töten erst nach etwa zwei Tagen. Die Symptome waren demnach ähnlich; das Tempo nicht.«

»Und es war kein Cyanid oder Strichnin?«

»Strichnin war es auf keinen Fall. Das äußert sich ganz anders. Und Cyanid tötet innerhalb weniger Minuten und löst dabei starke Krämpfe aus. Salvatore hatte keine Krämpfe. Bei einer Arsenvergiftung sind die Symptome zwar ähnlich, aber sie weichen doch so weit ab, dass man Arsen ebenfalls ausschließen kann.«

»Können Sie irgendwie genau feststellen, was man ihm gegeben hat?«

Vincenzo seufzte. »Ich bin nicht einmal sicher, dass es tatsächlich ein Gift war. Es könnte auch ein Virus gewesen sein, dem wir dann aber alle ausgesetzt gewesen wären.«

»Und warum ist Salvatores Fahrer nichts passiert? Wenn dieses Virus schon nach wenigen Stunden wirkt, dann müsste er inzwischen ebenfalls krank sein.«

»Ich sagte, dass es ein Virus sein könnte, nicht dass es eines ist. Ich kann ein paar Tests machen oder mit Ihrer Erlaubnis Salvatores Leber und Nieren sezieren. Ich kann sein Blutbild mit dem der Frau vergleichen – wie heißt sie noch mal?«

»Denise Morel.«

»Ach ja, ich entsinne mich. Er hat mir von ihr erzählt.«

Vincenzos dunkle Augen wurden traurig. »Ich glaube, er war verliebt.«

»Pah. Irgendwann hätte er das Interesse an ihr verloren. So wie immer.« Rodrigo schüttelte den Kopf, als wollte er ihn klar bekommen. »Das genügt. Können Sie sie retten?«

»Nein. Entweder sie überlebt, oder sie stirbt. Ich kann da gar nichts machen.«

Rodrigo überließ Vincenzo seinen Tests und ging in den Kellerraum, in dem seine Männer M. Durand gefangen hielten.

Der Franzose sah mitgenommen aus, aus seiner Nase mäanderten dünne Blutrinnsale, aber ansonsten hatten Rodrigos Männer ihre Schläge auf den Rumpf beschränkt, wo sie schmerzhafter und weniger sichtbar waren.

»Monsieur Nervi«, krächzte der Wirt, als er Rodrigo sah, und begann vor Erleichterung zu weinen. »Ich flehe Sie an!

Was auch passiert ist, ich weiß nichts! Ehrenwort!«

Rodrigo zog einen Stuhl heran, setzte sich M. Durand gegenüber, lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. »Mein Vater hat gestern Abend in Ihrem Restaurant etwas gegessen, das ihm nicht bekommen ist.« Das war eindeutig untertrieben.

Auf dem Gesicht des Franzosen zeichneten sich völlige Fassungslosigkeit und Verständnislosigkeit ab. Rodrigo konnte seine Gedanken lesen: Er wurde zu Brei geschlagen, weil Salvatore Nervi eine Magenverstimmung hatte? »Aber – aber –«, stotterte M. Durand. »Natürlich werde ich ihn entschädigen, er hätte doch nur zu fragen brauchen.« Dann erdreistete er sich zu sagen: »Das war wirklich nicht notwendig.«

»Hat er Pilze gegessen?«, fragte Rodrigo.

Wieder ein verständnisloser Blick. »Er weiß sehr gut, dass er keine Pilze gegessen hat. Für sich hat er Coq au vin mit Spargelspitzen bestellt, und Mademoiselle Morel hatte den Heilbutt. Zu keinem dieser Gerichte gab es Pilze.«

Einer der Männer im Raum war Salvatores Stammfahrer Fronte; er beugte sich vor und flüsterte Rodrigo etwas ins Ohr.

Rodrigo nickte.

»Fronte sagt, dass Mademoiselle Morel sich übergeben musste, nachdem sie aus Ihrem Restaurant kam.« Sie hatte das Gift als Erste gespürt, erkannte Rodrigo. Hatte sie es demnach auch als Erste eingenommen? Oder hatte es bei ihr schneller gewirkt, weil sie leichter war als Salvatore?

»Das kann nicht an meinem Essen liegen, Monsieur.«

Durand fühlte sich zutiefst getroffen. »Kein anderer Gast wurde krank oder hat sich beschwert. Der Heilbutt war auf keinen Fall schlecht, und selbst wenn es so gewesen wäre, hatte Monsieur Nervi nichts davon gegessen.«

»Was haben sie denn gemeinsam gegessen?«

»Gar nichts«, erwiderte M. Durand wie aus der Pistole geschossen. »Höchstens etwas Brot, obwohl mir nicht aufgefallen ist, dass Mademoiselle Morel welches genommen hat. Monsieur hatte eine Flasche Wein, einen ganz außerordentlichen Bordeaux Chateau Maximilien Jahrgang 1982, während Mademoiselle wie gewöhnlich Kaffee trank.

Monsieur hat auf sie eingewirkt, den Wein zu probieren, aber er war nicht nach ihrem Geschmack.«

»Den Wein haben sie also gemeinsam getrunken.«

»Sie hat nur einen einzigen Schluck genommen. Wie gesagt, er schmeckte ihr nicht. Mademoiselle trinkt keinen Wein.«

Durands typisch gallisches Achselzucken ließ erkennen, dass er diese Eigenart nicht nachvollziehen konnte, aber was wollte man da machen?

Und doch hatte sie gestern Abend Wein getrunken, wenn auch nur einen kleinen Schluck. War das Gift so hochwirksam, dass schon ein einziger Schluck lebensbedrohlich wirken konnte?

»Blieb etwas von dem Wein übrig?«

»Nein. Monsieur Nervi trank alles aus.«

Das war nicht ungewöhnlich. Salvatore war bemerkenswert standfest gewesen und hatte demzufolge auch mehr getrunken als die meisten Italiener.

»Die Flasche. Haben Sie die Flasche noch?«

»Die liegt bestimmt schon in der Altglastonne. Hinter dem Restaurant.«

Rodrigo befahl zweien seiner Männer, die Tonne nach der leeren Bordeauxflasche zu durchwühlen, und wandte sich dann wieder an M. Durand. »Na schön. Sie bleiben mein Gast«

– er schenkte ihm ein freudloses Lächeln –, »bis diese Flasche und die Weinreste analysiert sind.«

»Aber das kann –«

»Tage dauern, genau. Sie werden das bestimmt verstehen.«

Vielleicht würde Vincenzo in seinem eigenen Labor schneller zu einem Ergebnis kommen.

Mr. Durand wurde unsicher. »Ist Ihr Vater … sehr krank?«

»Nein.« Rodrigo stand auf. »Er ist tot.« Und wieder bohrten sich die Worte direkt in sein Herz.

Am nächsten Tag spürte Lily, dass sie überleben würde; Dr.

Giordano brauchte zwei weitere Tage, um die gleiche Prognose zu stellen. Es dauerte drei Tage, bis sie sich so weit erholt fühlte, dass sie aus dem Bett aufstehen und das dringend nötige Bad nehmen konnte. Ihre Beine waren immer noch so wacklig, dass sie sich auf dem Weg ins Bad von einem Möbelstück zum nächsten hangeln musste, mit dröhnendem Schädel und leicht verschwommenem Blick, aber sie wusste, dass sie das Schlimmste überstanden hatte.

Sie hatte verzweifelt darum gekämpft, nicht das Bewusstsein zu verlieren, und standhaft alle Mittel verweigert, die Dr. Giordano ihr gegen die Schmerzen oder für einen ruhigeren Schlaf geben wollte. Obwohl sie auf ihrer Fahrt hierher, offenbar der Familiensitz der Nervis, in Ohnmacht gefallen war, hatte sie sich keine Medikamente geben lassen, die ihren Verstand trübten. Sie sprach zwar exzellent Französisch, aber es war nicht ihre Muttersprache; wenn sie unter starken Beruhigungsmitteln stand, konnten ihr unversehens ein paar englische Wörter mit amerikanischem Akzent entschlüpfen. Darum hatte sie vorgegeben, sie hätte Angst, im Schlaf zu sterben, und außerdem das Gefühl, dass sie das Gift besser bekämpfen könnte, wenn sie bei Sinnen war, und obwohl Dr. Giordano wusste, dass das aus medizinischer Sicht unsinnig war, hatte er sich ihren Wünschen gebeugt.

Manchmal, hatte er erklärt, sei die geistige Verfassung eines Patienten entscheidender für seine Erholung als die körperliche. Dass ihr anfangs immer wieder die Augen zugefallen waren, hatte sich als Glücksfall erwiesen, denn er hatte deshalb darauf verzichtet, ihre Pupillen zu untersuchen, wobei ihm mit Sicherheit die Kontaktlinsen aufgefallen wären.

Als sie sich langsam und unter Aufbietung aller Kräfte aus dem verschwenderisch ausgestatteten Bad in ihr Zimmer zurückkämpfte, saß Rodrigo bereits auf dem Stuhl neben dem Bett und wartete auf sie. Er war vom Rollkragenpullover bis zu den Schuhen in Schwarz gekleidet und wirkte in dem weiß und eierschalengelb eingerichteten Zimmer wie ein düsteres Omen.

Sofort wechselten alle ihre Instinkte auf eine höhere Alarmstufe. Rodrigo würde sich nicht so leicht manipulieren lassen wie Salvatore. Zum einen war Salvatore zwar gerissen gewesen, aber sein Sohn war schlauer, härter, verschlagener –

und das wollte einiges heißen –, zum anderen hatte Salvatore einen Narren an ihr gefressen und Rodrigo nicht. Für den Vater war sie eine junge Frau gewesen, eine Eroberung, aber sie war drei Jahre älter als Rodrigo, der stets genug zu erobern gehabt hatte.

Sie trug ihren eigenen Pyjama, den man ihr gestern aus ihrer Wohnung geholt hatte, aber sie war dankbar für den zusätzlichen Schutz des dicken türkischen Morgenmantels, der an einem Haken im Bad gehangen hatte. Rodrigo gehörte zu jenen aggressiv erotischen Männern, deren Ausstrahlung sich keine Frau entziehen kann, und sie war durchaus empfänglich für diese Facette seiner Persönlichkeit, obwohl sie eigentlich genug über ihn wusste, um sich innerlich vor Abscheu zu schütteln. Er war an den meisten Sünden Salvatores nicht unschuldig, obwohl er tatsächlich unschuldig an den Morden war, die sie auf ihren Rachefeldzug getrieben hatten; zu jener Zeit hatte sich Rodrigo zufällig in Südamerika aufgehalten.

Sie kämpfte sich zum Bett vor, ließ sich auf die Matratze sinken und klammerte sich an einem Bettpfosten fest, um nicht umzukippen. Dann schluckte sie und sagte: »Sie haben mir das Leben gerettet.« Ihre Stimme war dünn und schwach. Sie war dünn und schwach und eindeutig nicht in der Lage, sich zu verteidigen.

Er zuckte die Achseln. »Das war ich nicht. Vincenzo – Dr.

Giordano – sagt, er hätte Ihnen sowieso nicht helfen können.

Sie haben sich von ganz allein erholt, aber Sie haben einen Schaden davongetragen. Eine Herzklappe, sagte er, wenn ich mich recht erinnere.«

Das wusste sie bereits, weil Dr. Giordano ihr am Morgen das Gleiche gesagt hatte. Sie hatte gewusst, was ihr passieren konnte, als sie diesen Plan gefasst hatte.

»Ihre Leber wird sich hingegen erholen. Sie sehen schon viel besser aus.«

»Niemand hat mir erklären können, was eigentlich passiert ist. Woher wussten Sie, dass ich krank war? War Salvatore auch krank?«

»Ja«, bestätigte er. »Er hat sich nicht wieder erholt.«

Ganz offensichtlich wurde eine andere Reaktion als »Na endlich« von ihr erwartet, darum dachte Lily mit aller Kraft an Averill und Tina und vor allem an die pubertär schlaksige Zia mit

ihrem

offenen,

fröhlichen

Gesicht

und

dem

ununterbrochenen Geschnatter. O Gott, wie vermisste sie Zia; der Schmerz saß genau in ihrem Herzen. Tränen traten ihr in die Augen, und sie ließ sie über ihre Wangen rinnen.

»Es war Gift«, sagte Rodrigo mit so gelassener Miene und Stimme, als spräche er über das Wetter. Sie ließ sich nicht irreführen; bestimmt zerfraß ihn der Zorn. »In der Weinflasche des Restaurants. Es scheint ein synthetisches, sehr wirksames Designergift zu sein; wenn die ersten Symptome auftreten, ist es bereits zu spät. Monsieur Durand aus dem Restaurant sagte, Sie hätten von dem Wein gekostet.«

»Ja, einen Schluck.« Sie wischte die Tränen von ihren Wangen. »Ich mag keinen Wein, aber Salvatore gab keine Ruhe und wurde wütend, weil ich nicht probieren wollte, darum kostete ich … aber nur einen kleinen Schluck, ihm zuliebe. Es schmeckte widerlich.«

»Sie haben Glück gehabt. Vincenzo sagt, das Gift ist so wirksam, dass sie jetzt tot wären, wenn sie mehr getrunken hätten oder der Schluck nicht ganz so klein gewesen wäre.«

Sie schauderte, weil sie an die Schmerzen und die Übelkeit denken musste; das Gift hatte sie krank gemacht, obwohl sie den Wein gar nicht getrunken, sondern nur ihre Lippen damit benetzt hatte. »Wer hat das getan? Jeder hätte diesen Wein trinken können; war es ein Terrorist, dem es egal war, wen er umbringen würde?«

»Ich glaube, der Täter hatte es durchaus auf meinen Vater abgesehen; dass er Weinliebhaber war, war überall bekannt.

Der zweiundachtziger Chateau Maximilien ist sehr selten, und doch bekam Monsieur Durand auf mysteriöse Weise eine Flasche angeboten, und zwar genau einen Tag, bevor mein Vater einen Tisch in seinem Restaurant reserviert hatte.«

»Aber er hätte diesen Wein doch auch jedem anderen Gast anbieten können.«

»Und damit das Risiko eingehen, dass mein Vater davon erfährt und wütend wird, weil dieser seltene Wein nicht ihm angeboten wurde? Ich glaube nicht. Das sagt mir, dass der Attentäter sehr vertraut mit Monsieur Durand und seinem Restaurant und seinen Gästen ist.«

»Und wie soll er das bewerkstelligt haben? Die Flasche wurde vor unseren Augen entkorkt. Wie soll er den Wein vergiftet haben?«

»Ich könnte mir vorstellen, dass das Gift mithilfe einer sehr dünnen Nadel durch den Korken injiziert wurde. Das hätte niemand bemerkt. Oder die Flasche wurde erst geöffnet und anschließend wieder verkorkt, wozu nur das geeignete Werkzeug nötig gewesen wäre. Monsieur Durand schätzt sich überglücklich, weil ich weder ihn noch den Ober, der Sie bedient hat, für schuldig halte.«

Lily saß inzwischen schon so lange, dass sie vor Schwäche zitterte. Rodrigo bemerkte das leise Zittern, das ihren Körper überlief. »Sie können hier bleiben, bis Sie sich wieder erholt haben«, bot er ihr höflich an und erhob sich. »Falls Sie irgendetwas brauchen sollten, dann lassen Sie es mich wissen.«

»Vielen Dank«, sagte sie und rang sich dann zur größten Lüge ihres Lebens durch: »Rodrigo, das mit Salvatore tut mir so unendlich Leid. Er war so … so …« Ein gewissenloser, über Leichen gehender Hurensohn, aber jetzt war er ein toter gewissenloser, über Leichen gehender Hurensohn. Sie rang sich eine letzte Träne ab, indem sie an Zias kleines Gesicht dachte.

»Vielen Dank für Ihr Mitgefühl«, sagte er ausdruckslos und ging aus dem Raum.

Sie führte keinen Freudentanz auf; dazu war sie zu schwach, und sie konnte nicht sicher sein, dass es im Zimmer keine versteckten Kameras gab. Stattdessen kletterte sie in ihr Bett zurück und suchte Zuflucht in einem kräftigenden Schlaf, doch sie war zu euphorisch und konnte nur dösen.

Den ersten Teil ihrer Mission hatte sie erfüllt. Jetzt musste sie sich nur noch in Luft auflösen, ehe Rodrigo entdeckte, dass es keine Denise Morel gab.

3

Zwei Tage später stand Rodrigo neben seinem jüngeren Bruder Damone am Grab ihrer Eltern in ihrer italienischen Heimat.

Ihre Mutter und ihr Vater waren im Tod wieder vereint, so wie sie es im Leben gewesen waren. Salvatores Grab war mit Kränzen überhäuft, aber Rodrigo und Damone hatten gemeinsam einige Gestecke aussortiert und sie auf dem Grab ihrer Mutter platziert.

Es war kühl, aber sonnig, und ein leichter Wind wehte.

Damone schob die Hände in die Taschen und blickte, das markante Gesicht von Gram gezeichnet, in den blauen Himmel.

»Was wirst du jetzt machen?«, fragte er.

»Denjenigen finden, der das getan hat, und ihn umbringen«, antwortete Rodrigo, ohne zu zögern. Gemeinsam drehten sie sich um und gingen von der Grabstätte weg. »Außerdem werde ich eine Pressemitteilung über Papas Tod herausgeben; länger lässt es sich nicht geheim halten. Die Nachricht wird einige Leute nervös machen, man wird sich fragen, wie es um diverse Abmachungen steht, nachdem ich die Geschäfte übernommen habe, deshalb werde ich mich zuerst mit unseren Partnern befassen müssen. Unter Umständen werden uns Einkünfte verloren gehen, aber nicht so viele, dass wir es nicht verschmerzen könnten. Außerdem werden die Verluste zeitlich begrenzt sein, und die Einkünfte durch den Impfstoff werden sie mehr als ausgleichen. Deutlich mehr sogar.«

Damone fragte: »Vincenzo konnte die verlorene Zeit wieder hereinarbeiten?« Weil sein Geschäftssinn noch ausgeprägter war als Rodrigos, verwaltete er von seinem Wohnsitz in der Schweiz aus die Mehrheit ihrer Finanzen.

»Nicht ganz, aber die Arbeit macht Fortschritte. Er hat mir versichert, dass er bis nächsten Sommer fertig ist.«

»Dann geht es besser voran, als ich angenommen hatte, wenn man bedenkt, wie viel ihm verloren gegangen ist.« Ein Zwischenfall in Vincenzos Labor hatte sein derzeitiges Forschungsprojekt weit zurückgeworfen.

»Er und seine Leute arbeiten praktisch rund um die Uhr.«

Und würden noch länger arbeiten, falls Rodrigo feststellen sollte, dass sie in Verzug gerieten. Das Impfserum war zu wichtig, als dass Vincenzo den Einführungstermin platzen lassen durfte.

»Halte mich auf dem Laufenden«, bat Damone. Sie hatten vereinbart, dass sie sich sicherheitshalber nicht mehr sehen würden, bis der Attentäter identifiziert und ausgeschaltet war.

Er drehte sich noch einmal um und blickte auf das frische Grab, und in seinen dunklen Augen stand der gleiche Kummer und Zorn, der auch Rodrigo peinigte. »Ich kann es immer noch nicht glauben«, sagte er fast unhörbar.

»Ich weiß.« Die beiden Brüder umarmten sich, ohne sich ihrer Gefühle zu schämen, und stiegen dann in verschiedene Autos, um getrennt zu ihrem Privatflughafen zurückzufahren, von wo aus jeder in einem eigenen Firmenflugzeug nach Hause fliegen würde. Rodrigo hatte aus dem Treffen mit seinem jüngeren Bruder, aus dem Zusammensein mit seinem einzigen noch lebenden Angehörigen, neue Kraft geschöpft.

Obwohl

sie

aus

einem

so

traurigen

Anlass

zusammengekommen waren, hatte ihnen die brüderliche Nähe Trost gespendet. Jetzt kehrten beide in ihre miteinander verwobenen und gleichzeitig eigenständigen Imperien zurück, Damone, um ihre Gelder zu mehren, Rodrigo, um ihren ermordeten Vater zu rächen. Rodrigo wusste genau, dass Damone ihn bei allen Schritten, zu denen er sich entschloss, unterstützen würde.

Trotzdem war nicht daran zu rütteln, dass er auf der Suche nach dem Mörder seines Vaters noch keinen Millimeter vorangekommen war. Vincenzo war immer noch damit beschäftigt, das Gift zu analysieren, weil ihnen das Aufschluss über seine Herkunft geben könnte, während Rodrigo seine Rivalen im Auge behalten hatte, ob sich einer von ihren irgendwie anders verhielt als sonst und dadurch erkennen ließ, dass er von Salvatores Tod wusste. Man hätte meinen können, dass ihre weniger gesetzestreuen Geschäftspartner am ehesten zu einem Mord fähig waren, aber Rodrigo nahm niemanden von seinem Verdacht aus. Möglicherweise steckte sogar jemand aus ihrer eigenen Organisation oder jemand aus der Regierung hinter dem Attentat. Salvatore hatte von vielen Tellern genascht, und ganz offenbar war jemand gierig geworden und hatte seinen Teller lieber für sich allein haben wollen. Rodrigo musste nur noch herausfinden, wer das war.

»Bring Mademoiselle Morel nach Hause«, befahl Rodrigo seinem Fahrer Tadeo, nachdem sie eine Woche bei ihm gewesen war. Inzwischen konnte sie sich besser auf den Beinen halten, und obwohl sie so gut wie nie aus ihrem Zimmer kam, war ihm nicht wohl dabei, eine Fremde unter seinem Dach zu beherbergen. Schließlich war er immer noch damit beschäftigt, seine Position zu festigen – leider hatten einige Leute gemeint, er könne seinem Vater nicht das Wasser reichen, und sich deshalb berufen gefühlt, Rodrigos Autorität anzuzweifeln, woraufhin er sich berufen gefühlt hatte, ihre Zweifel unwiderruflich auszuräumen –, und es geschahen Dinge, die kein Fremder mitbekommen sollte. Er würde sich besser fühlen, wenn sein Haus wieder ein sicherer Hafen war.

Es dauerte nur wenige Minuten, bis der Wagen vorgefahren war und die Frau und ihre wenigen Habseligkeiten eingeladen waren. Nachdem Tadeo mit der Französin abgefahren war, verschwand Rodrigo in Salvatores Arbeitszimmer – jetzt seinem eigenen Arbeitszimmer – und setzte sich hinter den ausladenden, reich gedrechselten Schreibtisch, den Salvatore so geliebt hatte. Vor ihm lag Vincenzos Bericht über das Gift, das er aus dem Bodensatz der aus der Altglastonne geborgenen Weinflasche extrahiert hatte. Rodrigo hatte den Bericht kurz überflogen, als er ihn vorgefunden hatte, aber jetzt nahm er ihn noch einmal in die Hand und studierte ihn gründlich und in allen Einzelheiten.

Vincenzo zufolge handelte es sich um ein synthetisch erzeugtes

Gift.

Es

zeigte

typische

Merkmale

des

Orellanin‐Giftes, das im orangefüchsigen Rauhkopfpilz vorkam, weshalb der Arzt anfänglich auf eine Pilzvergiftung getippt hatte. Das Orellanin griff verschiedene innere Organe gleichzeitig an, vor allem Leber, Nieren, Herz und Nervensystem, und war berüchtigt für seine verzögerte Wirkung. Meist zeigten sich erst nach zehn oder noch mehr Stunden die ersten Symptome, danach schien sich das Opfer wieder zu erholen, bevor es, oft Monate später, elend zugrunde ging. Es war kein Heilmittel oder Gegengift gegen Orellanin bekannt.

Das

verwendete

Gift

hatte

außerdem

charakteristische Eigenschaften des Minoxidil gezeigt, das Herzrasen, Herzstillstand, Bluthochdruck und Atemlähmung auslöste – wodurch mit tödlicher Sicherheit verhindert wurde, dass sich das Opfer von dem Orellanin‐ähnlichen Gift erholen konnte. Minoxidil wirkte schnell, Orellanin langsam; irgendwie waren die beiden Komponenten so vermischt worden, dass die Wirkung verzögert eintrat, allerdings nur um ein paar Stunden.

Vincenzo zufolge gab es weltweit nur eine Hand voll Chemiker, die zu einer solchen Synthese fähig waren, und keiner davon arbeitete in Industrie und Forschung. Aufgrund ihrer Spezialisierung waren sie sehr teuer und schwierig zu kontaktieren. Dieses besondere Gift in so hoher Konzentration herzustellen, dass es einen siebzig Kilo schweren Mann – oder eine genauso schwere Frau – töten konnte, würde ein kleines Vermögen kosten.

Rodrigo legte die Fingerspitzen aneinander und tippte gedankenversunken gegen seine Lippen. Die Vernunft sagte ihm, dass der Killer höchstwahrscheinlich von einem Geschäftsrivalen beauftragt worden war oder dass sich jemand für ein erlittenes Leid rächen wollte, aber sein Instinkt verwies ihn immer wieder zu Denise Morel zurück. Etwas an ihr ließ ihm einfach keine Ruhe. Er konnte nicht genau sagen, was ihm solches

Unbehagen

bereitete;

bislang

hatten

seine

Nachforschungen ergeben, dass sie genau die Frau war, die sie zu sein behauptete. Außerdem war auch sie vergiftet worden und wäre um ein Haar gestorben, was bei logischer Betrachtung mehr oder weniger bewies, dass sie nicht schuldig war. Und sie hatte geweint, als er ihr von Salvatores Tod erzählt hatte.

Nichts deutete auf sie hin. Der Ober, der den Wein serviert hatte, war da schon viel verdächtiger, aber selbst die ausführlichste Befragung von M. Durand und seinem Ober hatte Rodrigo nur die Auskunft eingetragen, dass M. Durand die Flasche persönlich an den Ober übergeben hatte, der sie dann unter den Augen seines Chefs ohne jeden Umweg an Salvatores Tisch gebracht hatte. Nein, zuallererst musste Rodrigo herausfinden, wer M. Durand darauf aufmerksam gemacht hatte, dass dieser Wein zu kaufen war, und bis jetzt hatte er noch keine Spur von dieser Person entdecken können.

Die Flasche war von einem Unternehmen erworben worden, das gar nicht existierte.

Demzufolge war der Mörder ziemlich erfahren in seinem Geschäft, sonst hätte er weder das Gift noch den Wein beschaffen können. Er – Rodrigo bezeichnete ihn der Einfachheit halber als »Er«, obwohl es sich auch um eine Frau handeln konnte – hatte sich genau über sein Opfer und dessen Angewohnheiten kundig gemacht; er hatte gewusst, dass Salvatore oft in diesem Restaurant verkehrte, er hatte gewusst, dass er an jenem Abend einen Tisch reserviert hatte, und er hatte mit einiger Sicherheit gewusst, dass M. Durand diese Flasche Wein für seinen wichtigsten Gast zurückhalten würde.

Der Mörder war obendrein in der Lage gewesen, kurzfristig eine Scheinfirma ins Leben zu rufen. All das ließ einen Grad an Professionalität erkennen, der praktisch »Konkurrent« schrie.

Trotzdem konnte er nicht ausschließen, dass Denise damit zu tun hatte.

Es konnte sich ebenfalls, so unwahrscheinlich das auch war, um ein Verbrechen aus Leidenschaft handeln. Bis er mit Sicherheit wusste, wer seinen Vater umgebracht hatte, war einfach jeder verdächtig. Vielleicht hatte ja ein anderer Mann das Gleiche in Denise gesehen, was seinen Vater so an ihr gereizt hatte, und vielleicht war dieser Mann genauso besessen von ihr.

Was den Reigen von Salvatores ehemaligen Geliebten anging … den hatte Rodrigo bereits im Geist durchtanzt und der Reihe nach ausgeschlossen. Zum einen war Salvatore wie eine Biene von Blüte zu Blüte geschwebt und nie lang genug bei einer Frau geblieben, um eine echte Beziehung aufzubauen.

Seit dem Tod seiner Frau vor gut zwanzig Jahren war er erstaunlich aktiv in Herzensangelegenheiten gewesen, aber keine Frau hatte ihm auch nur annähernd Rodrigos und Damones Mutter ersetzen können.

Noch dazu hatte Rodrigo jede Frau durchleuchtet, mit der sein Vater zusammen gewesen war. Keine davon hatte Anzeichen einer obsessiven Verhaltensstörung erkennen lassen, und keine davon hätte das nötige Wissen zur Herstellung eines so exotischen Giftes gehabt oder es erwerben können, von dem sündteuren Wein ganz zu schweigen. Er würde jede noch einmal unter die Lupe nehmen, nur um ganz sicherzugehen, aber es war anzunehmen, dass sich keine weitere Spur finden würde. Was war aber mit den Männern in Denises Vergangenheit?

Er hatte sie danach gefragt, aber sie hatte ihm keine Namen geliefert, sondern nur geantwortet: »Nein, da gibt es niemanden.«

Bedeutete das, dass sie bis zum heutigen Tag in nonnenhafter Keuschheit gelebt hatte? Das traute er ihr kaum zu, auch wenn sie Salvatores Avancen unmissverständlich abgewiesen hatte. Oder sollte es bedeuten, dass sie früher sehr wohl männliche Freunde gehabt hatte, denen sie aber eine solche Tat nicht zutraute? Es war ihm gleichgültig, was sie dachte; er wollte seine eigenen Schlüsse ziehen.

Ah, jetzt kam er der Sache näher. Warum wollte sie ihm nichts über ihre Vergangenheit erzählen? Warum war sie eine solche Geheimniskrämerin? Das störte ihn so an ihr; eigentlich hatte sie keinen Grund, ihm nicht den Namen jedes einzelnen Mannes zu verraten, mit dem sie seit ihrer Pubertät zusammen gewesen war. Wollte sie jemanden schützen? Hatte sie am Ende eine Ahnung, wer das Gift in die Flasche gefüllt haben könnte? Gab es jemanden, der, weil er ihre Abneigung gegen Wein kannte, sich nicht hätte träumen lassen, dass sie davon trinken würde?

Rodrigo hatte sie nicht so gründlich durchleuchten können, wie ihm lieb gewesen wäre; anfangs hatte Salvatore nicht warten wollen, und dann waren ihre Treffen so ereignislos verlaufen – von dem letzten einmal abgesehen –, dass Rodrigo die Sache mehr oder weniger zu den Akten gelegt hatte. Jetzt allerdings würde er alles herausfinden, was es über Denise Morel zu wissen gab; falls sie je auch nur daran gedacht hatte, mit einem Mann zu schlafen, würde er es erfahren. Falls irgendwer in diese Frau verliebt war, würde er ihn aufspüren.

Er griff zum Telefon und wählte eine Nummer. »Ich möchte, dass Mademoiselle Morel rund um die Uhr überwacht wird.

Sobald sie einen Fuß vor die Tür setzt, möchte ich es erfahren.

Wenn sie angerufen wird oder jemanden anruft, möchte ich die Nummer wissen. Haben wir uns verstanden? Gut.«

In der Abgeschiedenheit des kleinen Bades neben ihrem Gästezimmer hatte Lily verbissen daran gearbeitet, wieder zu Kräften zu kommen. Bei ihrer minutiösen Untersuchung des Raumes hatte sie weder eine Kamera noch ein Mikrofon entdecken können, darum nahm sie an, dass sie dort unbeobachtet war. Anfangs hatte sie nur ein paar zaghafte Stretching‐Übungen durchführen können, aber sie hatte sich keine Ruhe gegönnt und war schon wenig später auf der Stelle gejoggt, obwohl sie sich dabei am Badschrank festhalten musste, um nicht umzukippen. Ein paar Tage später war sie zu Sit‐Ups und Liegestützen übergegangen. Sie zwang sich, so viel wie möglich zu essen, weil das die Erholung beschleunigte.

Sie wusste, dass es gefährlich war, sich so zu quälen, nachdem ihre Herzklappe beschädigt war, aber sie war bereit, ein kalkuliertes Risiko einzugehen – wie fast immer in ihrem Leben.

Sobald sie wieder in ihrer Wohnung war, durchsuchte sie die Räume ebenso gründlich wie das Gästebad auf dem Familiensitz der Nervis. Zu ihrer Erleichterung fand sie nichts.

Offenbar hatte Rodrigo sie nicht in Verdacht, sonst hätte er ihre Wohnung seit dem letzten Sonntag von oben bis unten verwanzt. Nein, sonst hätte er sie einfach umgebracht.

Das bedeutete allerdings nicht, dass ihr keine Gefahr drohte.

Sobald er sie nach ihren ehemaligen Liebhabern gefragt hatte, war ihr klar gewesen, dass ihr nur ein paar Tage zur Flucht blieben, weil er von nun an so lange in Denises Vergangenheit wühlen würde, bis er feststellen würde, dass es keine Vergangenheit gab.

Falls ihre Wohnung durchsucht worden war – und davon musste sie ausgehen –, dann waren Rodrigos Leute äußerst gründlich vorgegangen. Trotzdem hatten sie ihr geheimes Fluchtgepäck nicht gefunden, sonst stünde sie jetzt nicht hier.

Das alte Gebäude war früher mit Kaminen beheizt worden, die irgendwann nach dem Zweiten Weltkrieg durch eine Zentralheizung ersetzt worden waren. Der Kamin in ihrer Wohnung war zugemauert worden, dann hatte man eine Kommode davorgeschoben. Sie hatte einen billigen Vorleger unter die Kommode gelegt, nicht um den Holzboden zu schonen, sondern damit sie die Kommode verrücken konnte, indem sie am Teppich zog. Jetzt zerrte sie den Teppich von der Wand weg und legte sich auf den Bauch, um die Ziegel zu inspizieren. Ihre Ausbesserungsarbeiten waren nicht zu erkennen; immerhin hatte sie den Mörtel mit Schmutz bestrichen, damit er genauso alt aussah wie der übrige Mörtel.

Auch auf dem Boden lag kein Mörtelstaub, der verraten hätte, dass jemand an den Ziegeln herumgeklopft hatte.

Sie holte Hammer und Meißel, legte sich wieder auf den Bauch und begann behutsam, den Mörtel um einen der Ziegel zu lösen. Nachdem sie den Stein gelockert hatte, nestelte sie erst ihn und dann einen zweiten und dritten aus der Wand.

Dann steckte sie die Hand in den ehemaligen Kamin und holte ein ganzes Sortiment von Schachteln und Tüten heraus, wobei jedes Stück sorgfältig in Plastik eingehüllt war, damit es nicht schmutzig wurde.

Eine kleine Schachtel enthielt ihre gefälschten Papiere: Pässe, Kreditkarten, Führerscheine, Ausweise, je nachdem, für welche Nationalität sie sich entschied. In einer Tüte lagen drei verschiedene Perücken. Es gab verschiedene Outfits, die sie in diesem Versteck aufbewahrte, weil sie so auffällig waren.

Schuhe hatte sie keine hier drin; die hatte sie einfach in ihren Schrank geworfen, auf einen großen Haufen mit ihren anderen Schuhen. Welcher Mann würde sich schon mit einem Schuhberg beschäftigen? Außerdem hatte sie sich einen Notvorrat an Bargeld in Euro, britischen Pfund und Dollar zurückgelegt.

In der letzten Schachtel lag ein abhörsicheres Handy. Sie schaltete es ein und prüfte den Ladezustand. LEER. Also holte sie auch das Ladekabel heraus, stöpselte es in die Steckdose und hängte das Telefon an.

Sie war völlig erschöpft, und ihre Stirn war schweißnass.

Morgen würde sie noch nicht untertauchen können, erkannte sie; dazu war sie noch zu schwach. Aber spätestens übermorgen musste sie die Fliege machen, sonst würde die Klatsche sie erwischen.

Bis jetzt hatte sie Glück gehabt. Rodrigo hatte die Nachricht vom Tod seines Vaters mehrere Tage zurückgehalten, wodurch er ihr etwas Zeit erkauft hatte, aber mit jeder verstreichenden Minute wuchs die Gefahr, dass in Langley ein Foto von Denise Morel auftauchte, eingescannt wurde und der Computer daraufhin meldete, dass Denise Morels Gesichtszüge, von Haar‐ und Augenfarbe einmal abgesehen, sich genau mit denen von Liliane Mansfield, Agentin für die US Central Intelligence Agency, deckten. Dann hätte sie nicht nur die Nervis, sondern auch die CIA an den Hacken, und die verfügte über Ressourcen, von denen Rodrigo nur träumen konnte. Aus wenig edlen Gründen hatte die Zentrale in Langley stets ihre schützende Hand über Salvatore gehalten; niemand wäre begeistert darüber, dass Lily ihn abserviert hatte.

Es stand fünfzig zu fünfzig, wer sich zuerst an ihre Fersen heften würde, Rodrigo oder jemand von der CIA. Gegen Rodrigo hatte sie noch eher eine Chance, denn der würde sie höchstwahrscheinlich unterschätzen. Die CIA würde diesen Fehler bestimmt nicht machen.

Weil es merkwürdig gewirkt hätte, wenn sie zu lange in ihrer Wohnung geblieben wäre, und weil sie feststellen wollte, ob sie observiert wurde, zog sie sich gegen die Kälte warm an und machte sich auf den Weg zum Supermarkt an der Ecke.

Einen Beschatter entdeckte sie, als sie aus der Tür kam; er saß zwischen ihrem Haus und der Straßenecke in einem unauffälligen grauen Wagen und hob die Zeitung vors Gesicht, als sie auf den Gehsteig trat. Amateur. Aber wenn vorn einer war, würde hinten ein zweiter sein, das stand so gut wie fest.

Immerhin war im Treppenhaus niemand postiert, was ihre geplante Flucht deutlich erschwert hätte. So schwach, wie sie war, wollte sie sich nur ungern aus einem Fenster im dritten Stock hangeln müssen.

Sie trug eine Leinentasche bei sich, in die sie verschiedene Lebensmittel und etwas Obst packte. Ein italienisch aussehender Mann – der nicht weiter auffiel, solange man nicht eigens nach so jemandem Ausschau hielt – schlenderte hinter ihr durch die Gänge, ohne sie je aus den Augen zu verlieren.

Gut, also waren sie zu dritt. Drei reichten aus, um sie lückenlos zu überwachen, aber es waren nicht so viele, dass sie nicht mit ihnen fertig werden konnte.

Nachdem sie ihre Einkäufe bezahlt hatte, kehrte sie zu ihrer Wohnung zurück, wobei sie betont schwerfällig und langsam ging. Sie schlurfte mit gesenktem Kopf dahin, ein Bild der Mutlosigkeit, ganz und gar nicht wie jemand, der auf der Hut war. Ihre Beobachter sollten glauben, sie hätte sie noch nicht bemerkt und sei noch so geschwächt, dass sie sich kaum aufrecht halten konnte. Da ihre Bewacher nicht besonders erfahren zu sein schienen, konnte Lily darauf hoffen, dass die Männer, ohne es zu merken, nachlässig würden, weil ihr Zielobjekt kaum eine Herausforderung darstellte.

Als ihr Handy aufgeladen war, ging sie damit ins Bad und drehte den Wasserhahn auf, um ihre Stimme zu übertönen, falls ein Parabolmikrofon auf ihre Wohnung gerichtet war.

Natürlich war das eher unwahrscheinlich, aber in ihrem Gewerbe hatte eine paranoide Grundhaltung schon vielen das Leben gerettet. Sie buchte einen Flug erster Klasse nach London, beendete das Gespräch, rief dann wieder an und buchte unter einem anderen Namen einen weiteren Flug, dreißig Minuten nach ihrer Landung, von London nach Paris, wo absolut niemand sie vermuten würde. Danach würde sie weitersehen, aber sie hoffte, sich durch dieses kleine Manöver etwas Zeit erkauft zu haben.

Langley, Virginia

Früh am nächsten Morgen blickte eine Junioranalystin namens Susie

Pollard

staunend

auf

die

Meldung

des

Gesichtserkennungsprogramms, die gerade auf ihrem Computerbildschirm erschienen war. Sie druckte den Bericht aus und suchte dann ihren Weg durch das Labyrinth von Stellwänden, bis sie schließlich ihren Kopf in ein winziges Kabuff steckte. »Das sollten wir uns vielleicht näher ansehen«, sagte sie und überreichte den Bericht an eine Senioranalystin namens Wilona Jackson.

Wilona setzte ihre Lesebrille auf und überflog das Dokument. »Stimmt«, sagte sie. »Guter Fang, Susie. Ich gebe das sofort nach oben weiter.« Sie erhob sich, eine knapp einen Meter achtzig große Schwarze mit einer an ihrem Mann und fünf

halbstarken

Söhnen

gestählten

Haltung,

die

unmissverständlich klar machte, dass mit ihr nicht zu spaßen war. Ohne den Beistand einer weiteren Frau im Haushalt, erklärte Wilona gern, durfte sie die Zügel keine Sekunde lang schleifen lassen. Diese Haltung übertrug sich auch auf ihre Arbeit, wo sie keinerlei Unfug duldete. Alles, was von ihr nach oben weitergegeben wurde, wurde postwendend geprüft und begutachtet, sonst gab es Ärger.

Bis zum Mittag hatte Franklin Vinay, der Direktor der Abteilung Auslandseinsätze, den Bericht gelesen. Salvatore Nervi, der Kopf der Nervi‐Familie – er weigerte sich, diese Organisation als Unternehmen zu bezeichnen, obwohl mehrere Unternehmen darin verstrickt waren –, war an einem unbekannten Leiden verschieden. Das genaue Todesdatum war nicht bekannt, weil die beiden Söhne ihren Vater in ihrer italienischen Heimat beerdigt hatten, ehe sie die Meldung herausgegeben hatten. Zum letzten Mal hatte man ihn vier Tage vor der Bekanntgabe seines Todes in einem Pariser Restaurant gesehen. Da war er allem Anschein noch bei bester Gesundheit gewesen, das unbekannte Leiden musste ihn demnach erstaunlich schnell dahingerafft haben. Natürlich kam so was immer wieder vor; jeden Tag wurden scheinbar kerngesunde Menschen von einem Herzinfarkt oder Schlaganfall gefällt.

Was alle Alarmglocken zum Schrillen brachte, war die Meldung des Gesichtserkennungsprogramms, das ohne den Hauch eines Zweifels gemeldet hatte, dass Nervis letzte Flamme niemand anderes war als eine der fähigsten Agentinnen der CIA, die Nervi undercover begleitet hatte.

Liliane Mansfield hatte ihr weizenblondes Haar dunkel getönt und dunkle Kontaktlinsen eingesetzt, um ihre unverkennbaren blassblauen Augen zu verbergen, aber es bestand nicht der geringste Zweifel, dass sie es war.

Noch panischer schrillten die Alarmglocken, weil vor wenigen Monaten zwei ihrer engsten Freunde sowie ihre Adoptivtochter auf Nervis Befehl hin ermordet worden waren.

Alles deutete darauf hin, dass Lily aus dem lenkenden Geschirr ausgebrochen war und die Angelegenheit selbst in die Hand genommen hatte.

Sie hatte wissen müssen, dass die CIA diese Liquidierung nicht gutheißen würde. Salvatore Nervi war ein extrem abstoßendes Exemplar der menschlichen Gattung und hatte den Tod durchaus verdient, aber er war schlau genug gewesen, alle Seiten gegeneinander auszuspielen und sich allseits unentbehrlich zu machen, um sich gegen ein solches Vorkommnis abzusichern. Zu diesem Zweck hatte er extrem nützliche Informationen weitergeleitet, und zwar schon seit Jahren. Diese Informationspipeline war nun versiegt, möglicherweise unwiderruflich; im besten Fall würden sie mehrere Jahre brauchen, um eine ähnliche Beziehung zu dem designierten Thronerben aufzubauen. Rodrigo Nervi war für sein krankhaftes Misstrauen berüchtigt und nicht besonders scharf darauf, neue Partnerschaften einzugehen. Frank konnte nur hoffen, dass Rodrigo ebenso pragmatisch denken würde wie sein Vater.

Frank hasste es, mit den Nervis zusammenzuarbeiten. Gut, sie

tummelten

sich

in

verschiedenen

legalen

Geschäftsbereichen, aber ihre Engagements waren allesamt janusköpfig: Was sie taten, hatte grundsätzlich zwei Gesichter, ein gutes und ein schlechtes. Wenn ihre Forscher an der Entwicklung eines Mittels gegen Krebs arbeiteten, konnte man darauf wetten, dass im selben Gebäude ein anderes Team an einer biologischen Waffe forschte. Sie spendeten ungeheure Summen an Wohltätigkeitsorganisationen, die viel Gutes bewirkten,

aber

sie

unterstützten

gleichzeitig

Terroristenbanden, die rücksichts‐ und gewissenlos mordeten.

Wer in der Weltpolitik mitspielen wollte, musste bereit sein, im Abwasserkanal zu plantschen. Man musste in Kauf nehmen, dass man sich dabei schmutzig machte. Privat war Frank ganz und gar nicht unglücklich über Salvatore Nervis frühzeitiges Ableben. Doch als Chef der Abteilung für Auslandseinsätze musste er etwas unternehmen, falls Liliane Mansfield tatsächlich hinter Nervis Tod steckte.

Er holte das Geheimdossier über sie heraus und las es durch.

Ihrem psychologischen Gutachten zufolge stand sie schon seit mehreren Jahren unter wachsendem Stress. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass es zwei Sorten von Agenten gab: Die einen verrichteten ihre Arbeit mit genauso wenig Gefühl, als würden sie Ungeziefer ausrotten, die anderen waren überzeugt, dass sie etwas Gutes bewirkten, und deren Seelen litten unter der ständigen Beanspruchung. Lily gehörte zur zweiten Gruppe. Sie war sehr gut, eine Spitzenkraft, aber jeder einzelne Einsatz hatte bei ihr Spuren hinterlassen.

Dass sie seit Jahren keinen Kontakt mehr mit ihrer Familie hatte, war jedenfalls kein gutes Zeichen. Bestimmt fühlte sie sich allein gelassen, abgeschnitten von jener Welt, die sie eigentlich beschützen wollte. Unter diesen Umständen waren ihre Freunde in der Branche für sie mehr geworden als nur Freunde, sie waren eine Art Ersatzfamilie. Als sie brutal hingerichtet wurden, hatte Lilys lädierte Seele möglicherweise den entscheidenden Schlag bekommen.

Frank wusste, dass einige seiner Kollegen ihn auslachen würden, wenn sie wüssten, dass er in Begriffen wie »Seele«

dachte, aber er war schon lange in diesem Geschäft, darum kapierte er nicht nur, was er sah, er verstand es.

Arme Lily Eigentlich hätte er sie sofort aus dem Bereich abziehen sollen, als sie die ersten Anzeichen einer psychischen Überlastung zeigte, aber dafür war es nun zu spät.

Er musste auf die Situation reagieren, wie sie sich jetzt darstellte.

Seufzend griff er zum Telefon und befahl seiner Assistentin, Lucas Swain aufzuspüren, der sich, Wunder über Wunder, wahrhaftig in der Zentrale aufhielt. Fortuna, diese wankelmütige Göttin, hatte anscheinend entschieden, ihm ausnahmsweise hold zu sein.

Keine Dreiviertelstunde später meldete seine Assistentin über die Gegensprechanlage. »Mr. Swain ist hier.«

»Schicken Sie ihn rein.«

Die Tür ging auf, und Swain kam hereingeschlendert.

Eigentlich hatte ihn Frank noch nie anders gehen sehen. Er ging wie ein Cowboy, der nirgendwohin musste und es nicht eilig hatte, irgendwo anzukommen. Die Damen schienen das an ihm zu mögen.

Swain gehörte zu jenen attraktiven Menschen, die ständig gute Laune zu haben schienen. Ein argloses Lächeln leuchtete auf seinem Gesicht, als er Frank begrüßte und auf dem Stuhl Platz nahm, auf den sein Chef deutete. Aus irgendeinem Grund hatte sein Lächeln die gleiche Wirkung wie sein Gang: Die Menschen mochten ihn. Er war ein unerhört effektiver Führungsoffizier, weil ihm niemand diesen Beruf zugetraut hätte. Er mochte ein glücklicher Mensch sein und seine Bewegungen mochten wie die Definition von Lässigkeit wirken, aber er hatte bis jetzt noch jeden Auftrag erfolgreich abgeschlossen. Seit fast zehn Jahren war er nun schon in Südamerika tätig, und das erklärte auch sein braunes Gesicht und die muskulöse, sehnige Statur.

Natürlich begann man ihm das Alter anzusehen, dachte Frank, aber wer blieb davon verschont? Das erste Grau zeigte sich an den Schläfen und am Ansatz der braunen Haare, die er immer ganz kurz schnitt, weil er sonst die eigensinnige Stirnlocke nicht zügeln konnte. Feine Fältchen umrahmten seine Augen und durchzogen seine Stirn, tiefere Furchen teilten seine Wangen, aber bei Swains Glück fanden die Damen das wahrscheinlich genauso süß wie seinen Gang. Süß. Es war kein gutes Zeichen, sinnierte Frank, wenn er einen seiner besten männlichen Führungsoffiziere im Geist als süß beschrieb.

»Was gibtʹs?« Swain streckte lässig die langen Beine aus und schmiegte seinen Rücken in den Stuhl. Formalitäten waren nicht gerade Swains starke Seite.

»Eine delikate Angelegenheit in Europa. Eine Einsatzkraft hat auf eigene Faust einen wertvollen Informanten ausgeschaltet. Wir müssen sie stoppen.«

»Sie?«

Frank reichte ihm das Dossier über den Schreibtisch. Swain nahm es ihm aus der Hand, überflog es und gab es wieder zurück. »Das Kind ist doch schon in den Brunnen gefallen. Was gibt es da noch zu stoppen?«

»Neben Salvatore Nervi waren noch andere an den Ereignissen beteiligt, die zum Tod von Lilys Freunden geführt haben. Falls sie einen Rachefeldzug gegen die Mörder ihrer Freunde führen will, könnte sie unser ganzes Netzwerk auffliegen lassen. Sie hat schon gehörigen Schaden angerichtet, indem sie Nervi eliminiert hat.«

Swain verzog das Gesicht und rieb es dann mit beiden Händen wieder glatt. »Und du hast nicht irgendwo einen grimmigen, raubeinigen Agenten in petto, der aus einem mysteriösen Grund seit Jahren untergetaucht ist und über besondere Fähigkeiten verfügt, die es ihm als Einzigem ermöglichen, Ms. Mansfield aufzuspüren und sie auf den rechten Weg zurückzuführen?«

Frank biss sich innen auf die Wange, um sich ein Lächeln zu verkneifen. »Glaubst du, wir sind hier in Hollywood?«

»Man darf wohl noch hoffen.«

»Mach dir keine Hoffungen.«

»Na gut, wie ist es dann mit John Medina?« Aus Swains blauen Augen sprühte das Lachen, er fand immer mehr Spaß daran, Frank zu ärgern.

»John hat im Nahen Osten zu tun«, antwortete Frank ruhig.

Seine Antwort bewirkte, dass sich Swain abrupt aufsetzte, ganz und gar nicht mehr entspannt. »Moment mal. Soll das heißen, es gibt tatsächlich einen Medina?«

»Es gibt tatsächlich einen Medina.«

»Aber ihr habt keine Akte über ihn –«, setzte Swain an, brach dann unvermittelt ab und sagte grinsend: »Hoppla.«

»Das heißt, du hast nachgeforscht.«

»Ach Scheiße, wer in der Branche hat da noch nicht nachgeforscht?«

»Und genau deshalb haben wir keine Akte in unseren Computern. Zu seinem Schutz. Also, wie gesagt, John arbeitet undercover im Nahen Osten, und außerdem würde ich ihn nicht für so eine Aufgabe einsetzen.«

»Anders ausgedrückt, er ist wichtiger als ich.« Swain zeigte wieder jenes arglose Grinsen, das erkennen ließ, dass ihm das egal war.

»Oder er hat andere Fähigkeiten. Ich will genau dich haben, und deshalb wirst du noch heute Abend in einem Flieger nach Paris sitzen. Lass dir erklären, was du zu tun hast.«

4

Nachdem Lily einen ganzen Tag nur gegessen, geruht und ein leichtes Training zur Stärkung ihrer Ausdauer absolviert hatte, fühlte sie sich schon bedeutend besser, als sie am Morgen ihrer

Abreise

aufstand.

Sie

packte

sorgfältig

ihre

Umhängetasche und die kleine Reisetasche und überzeugte sich ein letztes Mal, dass sie nichts Wichtiges zurückgelassen hatte. Das meiste ihrer Kleidung war im Schrank geblieben; und an den Wänden hingen immer noch die wenigen Fotos von irgendwelchen Fremden, die sie in billige Rahmen gesteckt und überall in der Wohnung verteilt hatte, um die Illusion einer Vergangenheit zu schaffen.

Das Bett zog sie nicht ab, aber dafür spülte sie die Schüssel und den Löffel, mit denen sie gefrühstückt hatte, und machte sich die Mühe, die ganze Wohnung mit einem Fett lösenden Desinfektionsmittel

abzuwischen,

weil

sie

keine

Fingerabdrücke hinterlassen wollte. Dieses Ritual war ihr zu einer selbstverständlichen Angewohnheit geworden; kein Wunder, immerhin absolvierte sie es seit inzwischen neunzehn Jahren. Sie stellte sich oft vor, dass ein uneingeweihter Beobachter sie für reichlich zwanghaft halten musste, aber dafür war ihre Wohnung immer tipptopp geputzt. Sie hatte sogar ihr Zimmer ausgewischt, ehe sie den Familiensitz der Nervis

verlassen

hatte,

nur

hatte

sie

dabei

kein

Desinfektionsmittel

verwendet.

Außerdem

hatte

sie

regelmäßig ihr Besteck und ihr Glas mit einer Serviette abgewischt, ehe es abgetragen worden war, und sie hatte allmorgendlich die Haarbürste gereinigt und alle losen Haare, die sich zwischen den Borsten verfangen hatten, in die Toilette geworfen.

Ihr war natürlich bewusst, dass ihr Dr. Giordano mehrere Blutproben abgenommen hatte, die sie nicht mehr vernichten konnte, aber die DNA‐Analyse wurde noch nicht so oft zur Identifikation eingesetzt wie die Fingerabdrücke; noch gab es dafür kaum Datenbanken. Ihre Fingerabdrücke waren in der Zentrale in Langley, aber nirgendwo sonst gespeichert; abgesehen von einem Mordanschlag hier und da war sie eine mustergültige Staatsbürgerin gewesen. Und die schönsten Fingerabdrücke waren nutzlos, wenn es keine Akte gab, mit der sie abgeglichen werden konnten. Ein einmaliger Ausrutscher blieb folgenlos. Zwei reichten aus, um jemanden zu identifizieren. Darum bemühte sie sich nach Kräften, nicht einmal einen Ausgangspunkt zu bieten.

Wahrscheinlich würde es Dr. Giordano extrem merkwürdig finden, wenn sie ihn anrief und bat, ihr alle Blutproben zurückzuschicken. Wären sie in Kalifornien gewesen, hätte sie behaupten können, sie gehöre einer wenig bekannten Sekte an und brauchte ihr Blut, um dereinst ins Himmelreich aufzusteigen, oder sie sei eine Vampirin, und man hätte ihr mit ziemlicher Sicherheit alle Blutproben ausgehändigt.

Bei dem makaberen Gedanken verzog sich ihr Mund zu einem leeren Lächeln, und sie wünschte sich, sie könnte ihn mit Zia teilen, die einen ausgeprägten Sinn fürs Absurde gehabt hatte. Mit Averill und Tina und vor allem mit Zia hatte sie entspannen und ab und zu herumalbern können wie ein ganz normaler Mensch. Für jemanden in ihrer Branche war jede Entspannung ein Luxus, den man ausschließlich in der Gesellschaft von Berufskollegen fand.

Das stille Lächeln verblasste. Die drei hatten ein so riesiges Loch in ihrem Leben hinterlassen, dass es wohl kaum je wieder gefüllt werden konnte. Im Lauf der Jahre hatte Lily ihre Zuneigung einem immer kleiner werdenden Kreis Menschen geschenkt, bis schließlich nur noch fünf Personen übrig geblieben waren: ihre Mutter und Schwester – die sie nicht mehr zu besuchen wagte, weil sie Angst hatte, die Gefahren, die ihr Job mit sich brachte, in deren Heim einzuschleppen wie eine ansteckende Krankheit – und drei Freunde.

Averill war anfangs ihr Geliebter gewesen; für kurze Zeit hatten sie gemeinsam die Einsamkeit abgewehrt. Dann hatten sich ihre Wege getrennt, und sie hatte bei einem Einsatz, der zwei Agentinnen erforderte, Tina kennen gelernt. Nie zuvor hatte sie so schnell einen Draht zu jemandem gefunden wie zu Tina, fast als wären sie Zwillinge, die sich zum ersten Mal begegneten. Sie brauchten einander nur anzusehen, um zu wissen, dass sie zur gleichen Zeit das Gleiche dachten. Sie hatten den gleichen Humor, und sie hatten die gleichen albernen Träume: Dass sie eines Tages, wenn sie mit dieser Art von Arbeit abgeschlossen hätten, heiraten, ein eigenes Unternehmen gründen und vielleicht sogar ein, zwei Kinder bekommen würden – wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.

Dieser Tag war für Tina gekommen, als sich ihr Weg und Averills gekreuzt hatten wie die zweier Heliumballons in einem geschlossenen Zimmer. Lily und Tina hatten zwar vieles gemeinsam, aber die Chemie gehörte nicht dazu; Averill brauchte nur einen einzigen Blick auf die schlanke, brünette Tina zu werfen und war bis über beide Ohren verliebt, und seine Gefühle wurden augenblicklich erwidert. Anfangs hatten sie oft zu dritt herumgehangen und dabei meistens mächtig einen draufgemacht. Sie waren jung und gesund und gut im Geschäft; zugegeben, ihre mörderische Profession gab ihnen das Gefühl, hart und unverwundbar zu sein. Sie waren zu professionell, als dass sie mit ihrer Arbeit geprahlt hätten, aber jung genug, um den Kick zu spüren.

Dann wurde Tina angeschossen, und die Wirklichkeit meldete sich mit Macht zurück. Der Job war lebensgefährlich.

Der Rausch war verflogen. Ihre Sterblichkeit stand ihnen wie ein Menetekel vor Augen.

Averill und Tina reagierten darauf, indem sie heirateten, sobald Tina sich so weit erholt hatte, um ohne Krücke zum Altar schreiten zu können. Sie zogen zusammen, erst in eine Wohnung in der Pariser Innenstadt und später in ein kleines Häuschen in einem Vorort, und übernahmen immer weniger Einsätze.

Lily besuchte die beiden, so oft sie konnte, und bei einem dieser Besuche brachte sie Zia mit. Sie hatte das Baby, allein gelassen und halb verhungert, in Kroatien gefunden, kurz nachdem sich das Land vom damaligen Jugoslawien losgesagt hatte und die serbische Armee am Anfang eines erbitterten Krieges tief ins Gebiet des neuen Staates eingefallen war.

Niemand, den Lily gefragt hatte, schien ihr etwas über die Mutter des Babys sagen zu können oder zu wollen, und niemand schien an dem Schicksal des kleinen Kindes Anteil zu nehmen. Entweder musste Lily das Baby mitnehmen, oder es würde elendig verenden.

Schon nach zwei Tagen liebte sie die Kleine so innig, als hätte sie das Kind selbst zur Welt gebracht. Es war nicht gerade einfach gewesen, Kroatien zu verlassen, vor allem, da sie ein Baby aus dem Land bringen musste. Sie musste Milch und Windeln und Decken auftreiben. Über irgendwelche Kleidung hatte sie sich damals keine Gedanken gemacht, solange sie etwas, irgendwas fand, womit sie das Kind satt und trocken und warm halten konnte. Sie taufte die Kleine Zia, einfach weil ihr der Name gefiel.

Als Nächstes stand sie vor dem Problem, Papiere für Zia zu beschaffen, einen brauchbaren Fälscher aufzutreiben und das Mädchen über die italienische Grenze zu schmuggeln.

Nachdem sie Kroatien erst hinter sich gelassen hatte, wurde es einfacher, Zia zu versorgen, denn in Italien gab es überall alles zu kaufen. Trotzdem war es nie wirklich einfach, für Zia zu sorgen. Das Baby zappelte und versteifte sich, sobald Lily es berührte, und spie nach dem Trinken fast die ganze Milch wieder aus. Lily beschloss, vorübergehend in Italien zu bleiben, um das kleine Wesen, das in seinem kurzen Leben praktisch keine Fixpunkte kennen gelernt hatte, nicht noch weiter herumzuzerren.

Lily nahm an, dass Zia erst ein paar Wochen alt gewesen war, als sie sie gefunden hatte, obwohl es durchaus möglich war, dass das Baby, halb verhungert und vernachlässigt, wie es war, im Wachstum zurückgeblieben war. Doch schon nach den ersten drei Monaten in Italien hatte die kleine Zia genug Gewicht angesetzt, um Grübchen in den speckigen kleinen Händchen und Füßchen zu haben und unablässig zu sabbern, weil die ersten Zähnchen durchbrachen, und sie beobachtete Lily mit weit aufgerissenem Mund und großen Augen, aus denen jene reine Freude sprach, die nur die Allerkleinsten ausstrahlen können, ohne dass sie dabei wie Vollidioten aussehen.

Schließlich brachte sie Zia nach Frankreich und nahm sie mit zu Onkel Averill und Tante Tina.

Der Wechsel der Pflegefamilie vollzog sich ganz allmählich.

Immer wenn Lily im Einsatz war, ließ sie Zia bei den beiden; Averill und Tina liebten das Baby, und Zia fühlte sich bei ihnen wohl, nur Lily brach jedes Mal das Herz, wenn sie die Kleine allein lassen musste. Sie lebte dann immer nur für jenen Augenblick, an dem sie heimkam und Zia wiedersah. Dann leuchtete das kleine Gesicht auf, und Zia quietschte vor Freude; Lily war überzeugt, nie ein schöneres Geräusch gehört zu haben.

Doch dann geschah das Unausweichliche: Zia wurde größer.

Sie musste in die Schule. Lily war mitunter wochenlang unterwegs. Logischerweise verbrachte Zia immer mehr Zeit mit Averill und Tina, bis schließlich allen dreien klar war, dass es an der Zeit war, neue Papiere zu fälschen, in denen die beiden als Zias Eltern aufgeführt wurden.

Noch vor Zias viertem Geburtstag waren Averill und Tina zu Daddy und Mom geworden, und Lily war Tante Lil.

Dreizehn Jahre lang war Zia das Zentrum von Lilys Gefühlswelt gewesen, und nun war sie tot.

Was, in aller Welt, hatte Averill und Tina dazu bewogen, wieder in ein Spiel einzusteigen, aus dem sie sich längst verabschiedet hatten? Waren sie in Geldnot geraten? Bestimmt war ihnen bewusst gewesen, dass sie Lily nur hätten fragen müssen, und schon hätte sie ihren Freunden all ihre Euros und Dollars gegeben – die, nach neunzehn Jahren äußerst lukrativer Arbeit, auf einem satt gefüllten Schweizer Bankkonto lagen.

Aber irgendwas hatte das Paar wieder zurück aufs Spielfeld gelockt, und diesmal hatten sie mit ihrem Leben bezahlt. Und mit Zias.

Inzwischen hatte Lily ihre Ersparnisse größtenteils aufgebraucht, um das Gift zu beschaffen und um ihre Falle zu präparieren. Gute Papiere kosteten gutes Geld, und je besser sie sein sollten, desto mehr kosteten sie. Sie hatte die Wohnung anmieten und sich einen Job besorgen müssen – denn es hätte bestimmt Verdacht erregt, wenn sie keinen gehabt hätte –, und sie hatte sich in Salvatore Nervis Nähe vorarbeiten müssen, in der Hoffnung, dass er den Köder schluckte. Was keineswegs sicher gewesen war. Wenn sie sich richtig herausputzte, konnte sie ziemlich attraktiv wirken, aber sie war keine Schönheit, das wusste sie selbst. Wenn dieser Plan nicht geklappt hätte, hätte sie sich einen neuen ausdenken müssen; so wie immer. Aber er hatte geklappt, und zwar wie am Schnürchen, bis zu jenem Augenblick, in dem Salvatore darauf beharrt hatte, dass sie den Wein kosten sollte.

Jetzt verfügte sie nur noch über ein Zehntel dessen, was sie früher mal besessen hatte, litt an einer ramponierten Herzklappe, die, wie Dr. Giordano ihr erklärt hatte, irgendwann operiert werden musste, von Ausdauer konnte nicht die Rede sein, und Zeit blieb ihr auch keine mehr.

Nüchtern und logisch betrachtet, standen ihre Chancen miserabel. Nicht genug, dass sie diesmal keine Unterstützung aus Langley bekommen würde, im Gegenteil, die CIA würde ihr ebenfalls im Nacken sitzen. Sie konnte sich in keinen ihrer bekannten Schlupfwinkel zurückziehen, sie konnte sich nicht abberufen oder austauschen lassen, und sie musste auf der Hut sein vor … vor allem und jedem. Sie hatte keine Ahnung, wen die Zentrale auf sie ansetzen würde; vielleicht würde man sie einfach aufspüren und von einem Scharfschützen aus dem Verkehr ziehen lassen, was ihr noch am wenigsten Kopfzerbrechen bereitete, weil sie sich unmöglich vor etwas schützen konnte, das sie nicht einmal sehen konnte. Sie hieß schließlich nicht Salvatore Nervi, sie besaß keine Flotte von gepanzerten Limousinen und konnte sich nicht nur in Häusern mit überdachten Eingängen aufhalten. Ihre einzige Hoffnung war, dass man sie gar nicht erst aufspürte.

Für sie sprach andererseits … Im Grunde sprach nichts für sie.

Das sollte nicht bedeuten, dass sie sich auf den Präsentierteller legen und passiv ihr Schicksal erwarten würde.

Vielleicht würde man sie irgendwann erwischen, aber sie würde es ihren Verfolgern so schwer wie möglich machen. Ihre Berufsehre stand auf dem Spiel. Und nachdem man ihr Zia und ihre Freunde geraubt hatte, war die Berufsehre so ziemlich alles, was ihr noch geblieben war.

Sie wartete bis zum letzten Augenblick, ehe sie über Handy ein Taxi zum Flughafen bestellte. Sie durfte erst auf den allerletzten Drücker losfahren, damit Rodrigo möglichst wenig Zeit hatte, seine Leute zu postieren. Anfangs würden die Männer, die er auf sie angesetzt hatte, nicht wissen, wohin sie wollte, aber sobald sie begriffen, dass sie zum Flughafen fuhr, würden sie Rodrigo anrufen, um weitere Instruktionen einzuholen. Die Chance, dass Rodrigo am Flughafen einen –

oder mehrere – Informanten hatte, stand mindestens fünfzig zu fünfzig, aber zum Glück war der Flughafen de Gaulle riesig, darum würde es nicht einfach werden, sie abzufangen, solange niemand wusste, mit welcher Fluglinie sie fliegen wollte. Ihre Verfolger würde ihr immer nur folgen können, und das auch nur bis zum Security‐Check.

Es würde Rodrigo auch wenig helfen, wenn er die Passagierlisten überprüfen ließ, denn sie flog weder unter dem Namen Denise Morel noch unter ihrem eigenen Namen. Und überprüfen würde er die Liste bestimmt lassen; die Frage war nur, wie schnell er auf den Gedanken kam. Anfangs würde er vielleicht so wenig Misstrauen schöpfen, dass er sie lediglich beobachten ließ.

Dass sie so unverhohlen und mit so wenig Gepäck abreiste, würde ihn bestimmt neugierig, aber hoffentlich nicht misstrauisch machen, wenigstens, bis sie Zeit genug zum Untertauchen gehabt hatte.

Falls ihr die Götter gnädig waren, würde er nicht einmal besonders argwöhnisch werden, wenn seine Männer sie im Gedrängel des Flughafens Heathrow aus den Augen verloren.

Er würde sich vielleicht wundern, dass sie flog, statt eine Fähre oder den Channel‐Tunnel zu nehmen, aber viele Pariser nahmen, wenn sie unter Zeitdruck standen, das Flugzeug für den kurzen Sprung nach London und zurück.

Im bestmöglichen Szenario würde er mehrere Tage lang nichts Böses über ihre Reise denken – bis sie nicht wieder auftauchte. Im schlimmstmöglichen Szenario würden seine Männer sie noch auf dem Flughafen de Gaulle verschleppen, ohne sich um die zahllosen Zeugen oder um die drohenden Konsequenzen zu scheren. Vor beidem würde Rodrigo nicht zurückschrecken. Sie setzte einfach darauf, dass er nicht so weit gehen würde; bis jetzt wusste er offenbar noch nicht, dass sie nicht diejenige war, die zu sein sie vorgab, sonst hätte er schon längst ihre Wohnung stürmen lassen. Solange er nichts von ihrer falschen Identität ahnte, hatte er auch keinen Grund, unnötig Aufsehen zu erregen.

Lily ging nach unten, um auf das Taxi zu warten, und stellte sich so in den Hausgang, dass sie auf die Straße sehen konnte, ohne von ihren Beschattern entdeckt zu werden. Sie hatte mit dem Gedanken gespielt, zu einem Taxistand ein paar Straßen weiter zu gehen und sich dort einfach anzustellen, aber damit hätte sie Rodrigo Zeit gegeben, die sie ihm nicht gewähren wollte, ganz abgesehen davon, dass der Marsch sie unnötig ermüdet hätte. Früher mal – bis vor gut einer Woche – hätte sie die Distanz im Sprint zurückgelegt, ohne auch nur aus der Puste zu kommen.

Vielleicht war ihr Herz nur leicht beschädigt worden, gerade so weit, dass Dr. Giordano ein leises Murmeln entdeckt hatte, und diese heimtückische Schwäche würde irgendwann vergehen. Gute drei Tage lang hatte sie absolut flachgelegen, ohne auch nur einen Bissen zu sich nehmen zu können. Der menschliche Körper baute seine Kräfte viel schneller ab als auf.

Sie würde sich noch einen Monat geben; wenn sie bis dahin nicht wieder auf dem Damm war, würde sie ihr Herz testen lassen. Wo sie das tun oder womit sie dafür bezahlen würde, wusste sie noch nicht, aber sie würde das schon irgendwie hinbekommen.

Wobei sie natürlich von der Annahme ausging, dass sie in einem Monat noch am Leben war. Dazu musste sie erst Rodrigo und anschließend ihrem ehemaligen Arbeitgeber entkommen. Die Chancen dafür hatte sie bisher noch nicht einmal überschlagen; sie wollte sich nicht alle Illusionen rauben.

Draußen hielt ein schwarzes Taxi. Lily packte ihre kleine Reisetasche, murmelte: »Showtime«, und trat seelenruhig auf den Bürgersteig. Sie bewegte sich gelassen und ohne jede Nervosität. Doch sobald sie hinten im Auto Platz genommen hatte, holte sie ihren Schminkspiegel aus der Umhängetasche und hielt ihn so, dass sie ihre Beschatter beobachten konnte.

Als das Taxi losfuhr, löste sich auch ein silberner Mercedes vom Straßenrand. Er wurde kurz langsamer, ein Mann spurtete über den Gehsteig und hechtete auf den Beifahrersitz, woraufhin der Mercedes beschleunigte, bis er genau hinter dem Taxi fuhr. Im Spiegel konnte Lily erkennen, dass der Beifahrer aufgeregt in ein Handy sprach.

Der Flughafen lag etwa dreißig Kilometer außerhalb der Stadt; der Mercedes klebte die ganze Zeit über an der Stoßstange ihres Taxis. Lily wusste nicht, ob sie nicht vielleicht beleidigt sein sollte; glaubte Rodrigo etwa, sie sei zu dumm, um irgendwas zu merken, oder meinte er, sie würde sich nicht daran stören, dass sie verfolgt wurde? Andererseits überprüfte kein normaler Mensch beim Taxifahren, ob er gerade verfolgt wurde, also deutete die Tatsache, dass ihre Verfolger so wenig Hehl aus ihren Absichten machten, vielleicht darauf hin, dass Rodrigo sie nicht wirklich verdächtigte, auch wenn er sie observieren und verfolgen ließ. So wie sie ihn bisher einschätzte, würde er die Beschattung aufrechterhalten, bis er herausgefunden hatte, wer seinen Vater auf dem Gewissen hatte. Rodrigo war viel zu pingelig, als dass er zugelassen hätte, dass irgendwo ein loser Faden blieb.

Als sie am Flughafen angekommen waren, spazierte sie seelenruhig zum Schalter von British Airways, um einzuchecken. Ihrem Pass zufolge war sie Alexandra Wesley, Bürgerin des Vereinigten Königreiches, und das Passfoto zeigte sie in ihrer augenblicklichen Haarfarbe. Sie flog erster Klasse, sie gab kein Gepäck auf, und sie hatte diese Identität jahrelang aufgebaut, indem sie unter diesem Namen die verschiedensten Reisen in visapflichtige Länder unternommen hatte. Sie verfügte über mehrere solcher falscher Identitäten, die sie klugerweise und für genau solche Notfälle vor ihren Kontaktleuten in Langley geheim gehalten hatte.

Der Flug war bereits aufgerufen, bis sie sämtliche Sicherheitschecks durchlaufen hatte und vor dem Abfluggate stand. Sie drehte sich kein einziges Mal um, suchte ihre Umgebung aber gründlich aus dem Augenwinkel ab. Ja, der Mann dort drüben; er beobachtete sie und hielt dabei ein Handy an sein Ohr.

Er kam ihr nicht näher, sondern telefonierte einfach weiter.

Ihr Glück blieb ihr hold.

Dann saß sie wohlbehalten im Flugzeug und befand sich damit quasi unter den Fittichen der britischen Regierung. Sie hatte einen Fensterplatz; der Sitz am Gang war bereits belegt von einer elegant gekleideten Frau von Ende zwanzig oder Anfang dreißig. Mit einer gemurmelten Entschuldigung schob sich Lily an ihr vorbei auf ihren Sitz.

Nach nicht einmal dreißig Minuten befanden sie sich in der Luft und auf dem etwa einstündigen Flug nach London. Lily tauschte mit ihrer Sitznachbarin ein paar Höflichkeiten aus, wobei sie ihren englischen Privatschulakzent mobilisierte, der ihrer Nachbarin ausgesprochen sympathisch zu sein schien.

Selbst nach den vielen Jahren in Frankreich fiel ihr der britische Akzent wesentlich leichter als der französische, weshalb sie innerlich erleichtert aufseufzte, weil sich ihr Hirn endlich entspannen durfte. Erschöpft von dem langen Marsch durch den riesigen Flughafen, döste sie ein.

Etwa eine Viertelstunde vor der Landung beugte sie sich nach vorn und zerrte ihre Umhängetasche unter dem Sitz hervor. »Bitte entschuldigen Sie«, meinte sie zaghaft zu ihrer Sitznachbarin, »aber könnten Sie mir vielleicht bei einem kleinen Problem behilflich sein?«

»Ja bitte?«, erwiderte die Frau höflich.

»Ich heiße Alexandra Wesley – vielleicht haben Sie ja schon von Wesley Engineering gehört? Die Firma gehört meinem Mann Gerald. Die Sache ist so –« Lily blickte scheinbar verlegen zu Boden. »Also, die Sache ist so, ich möchte ihn verlassen, was er gar nicht gut aufgenommen hat. Er lässt mich verfolgen, und ich habe Angst, dass seine Männer mich verschleppen könnten. Er neigt zur Gewalttätigkeit, alles muss nach seinem Willen gehen, und … ich kann einfach nicht zu ihm zurück.«

Die Frau sah sie verlegen und neugierig an, als wäre sie einerseits peinlich berührt, von einer Fremden so intime Dinge zu hören, aber gleichzeitig auch fasziniert. »Sie Ärmste.

Natürlich können Sie nicht zu ihm zurück. Aber wie kann ich Ihnen da helfen?«

»Könnten Sie nach der Landung diese Tasche für mich aus dem Flugzeug bringen und auf der nächsten Toilette abstellen?

Ich werde Ihnen folgen und sie dort wieder übernehmen. Ich habe meine Verkleidung darin«, erklärte sie hastig, als die Frau sie erschrocken ansah, denn im Zeitalter weltweiter Terrorangst ließ sich niemand gern eine fremde Tasche andrehen. »Schauen Sie sich alles an.« Eilig zog sie den Reißverschluss auf. »Kleider, Schuhe, Perücken. Sonst nichts.

Die Sache ist, seine Leute könnten so was vermuten – dass ich mich verkleide, meine ich – und darauf achten, welche Taschen ich mit auf die Toilette nehme. Ich habe einen Ratgeber für Frauen gelesen, die von einem Stalker verfolgt werden, und darin wurde das erwähnt. Bestimmt erwarten mich seine Leute schon in Heathrow, da bin ich ganz sicher; sobald ich durch die Kontrollen bin, werden sie mich schnappen.« Sie rang die Hände, in der Hoffnung, angemessen verängstigt auszusehen.

Dass ihr Gesicht nach den letzten Tagen so schmal und ausgezehrt war, machte ihr Mienenspiel noch überzeugender, und nachdem sie sowieso eher schlaksig gebaut war, wirkte sie noch zerbrechlicher als sonst.

Die Frau nahm Lily die Tasche ab und begutachtete ausgiebig jeden einzelnen Gegenstand darin. Als sie eine der Perücken untersuchte, leuchtete ein Lächeln auf ihrem Gesicht auf. »Auffälligkeit ist oft die beste Tarnung, nicht wahr?«

Lily erwiderte ihr Lächeln. »Hoffentlich klappt es.«

»Wir werden sehen. Andernfalls fahren Sie mit mir im Taxi.

Uns beide können sie schlecht entführen.« Die Abenteuerlust der Frau war geweckt.

Hätte sie nicht neben einer Frau gesessen, hätte Lily improvisieren oder auf ihr Glück bauen müssen, aber dieses kleine Wechselspiel erhöhte ihre Chancen ein wenig, und im Moment war sie dankbar für jeden noch so kleinen Vorteil. Im Flughafen erwarteten sie möglicherweise nicht nur Rodrigos Schläger, sondern auch Leute von der CIA, und die wären nicht so leicht zu übertölpeln.

Falls man in Langley die Nase voll von diesen Versteckspielchen hatte, konnte man Lily verhaften lassen, sobald sie aus dem Flugzeug stieg, wogegen sie nicht das Geringste unternehmen konnte. Normalerweise ging man in Langley allerdings deutlich diskreter vor. Man würde es so lange wie möglich vermeiden, die britische Regierung in etwas hineinzuziehen,

das

im

Wesentlichen

als

interne

Reinigungsaktion angesehen wurde.

Das Flugzeug landete und rollte direkt ans Gate. Lily atmete tief durch, und ihre neu gewonnene Kameradin tätschelte ihr beruhigend die Hand. »Keine Angst«, sagte sie fröhlich. »Das wird schon, Sie werden sehen. Woran kann ich erkennen, ob man Sie entdeckt hat?«

»Ich werde Ihnen die Männer zeigen. Ich werde nach ihnen Ausschau halten, bevor ich auf die Toilette gehe. Dann gehe ich vor Ihnen wieder hinaus, und wenn sie hinterher immer noch auf ihrem Posten stehen, wissen Sie, dass alles geklappt hat.«

»Ach, wie aufregend!«

Lily hoffte auf das Gegenteil.

Die Frau nahm die Tasche an sich und verließ das Flugzeug kurz vor Lily. Sie ging schnell, den Blick fest auf die Schilder und weniger auf die Menschen hinter der Absperrung gerichtet. Braves Mädchen, dachte Lily und verkniff sich ein Lächeln. Ein echtes Naturtalent.

Zwei Männer warteten bereits auf sie, und auch hier gaben sie sich kaum Mühe, ihr Interesse an Lily zu verbergen.

Schadenfreude erblühte in ihr. Rodrigo hatte immer noch keinen Verdacht geschöpft, er glaubte immer noch nicht, dass es ihr auffallen würde, wenn man sie verfolgte. Vielleicht klappte ihr Plan ja tatsächlich.

Die beiden Männer schlenderten ihr im Abstand von gut zehn Metern hinterher. Weiter vorn bog ihre Verbündete in die erste öffentliche Toilette ein. Lily blieb kurz an einem Wasserspender stehen, damit ihre Verfolger Zeit hatten, Position zu beziehen, und folgte ihr dann.

Die Frau wartete gleich hinter der Tür und überreichte ihr sofort die Umhängetasche. »Hat er jemanden geschickt?«, fragte sie atemlos.

Lily nickte. »Sie sind zu zweit. Einer ist etwa einen Meter achtzig groß, eher untersetzt und trägt einen grauen Anzug. Er lehnt genau gegenüber der Tür an der Wand. Der andere ist kleiner, hat kurze dunkle Haare, trägt einen zweireihigen blauen Anzug und steht etwa fünf Meter weiter vorn.«

»Ziehen Sie sich schnell um. Ich kann es kaum erwarten.«

Lily verschwand in einer Kabine und wechselte hastig ihre Identität. Das strenge dunkle Kostüm und die flachen Schuhe verschwanden; sie wurden ersetzt von einem knallrosa Tanktop,

grell

gemusterten

türkisfarbenen

Leggings,

kniehohen

Stiefeln

mit

Stilettoabsätzen,

einem

fransenbesetzten,

türkisfarbenen

Jäckchen

und

einer

rothaarigen Stachelhaarperücke. Sie stopfte die ausgezogenen Sachen in die Tasche und trat wieder aus der Kabine.

Ein breites Lächeln erstrahlte auf dem Gesicht ihrer Verbündeten,

und

sie

klatschte

begeistert

Beifall.

»Unglaublich!«

Lily musste unwillkürlich grinsen. Mit ein paar schnellen Strichen trug sie etwas Rouge auf ihre fahlen Wangen auf, deckte die Lippen mit dickem rosa Gloss ab und steckte sich gefiederte Kreolen durch die Ohrläppchen. Nachdem sie eine rosa Sonnenbrille aufgesetzt hatte, sagte sie: »Und wie finden Sie es?«

»Nicht einmal ich hätte Sie wieder erkannt, und ich wusste immerhin, was Sie vorhatten. Ich heiße übrigens Rebecca.

Rebecca Scott.«

Sie gaben sich die Hände, beide aus unterschiedlichen Gründen hocherfreut. Lily atmete tief durch. »Dann mal los«, murmelte sie und stolzierte hoch erhobenen Hauptes aus der Toilette.

Beide Beschatter starrten sie unwillkürlich an – genau wie jeder andere Mann. Lily schaute knapp an dem Dunkelhaarigen im Gang vorbei und winkte enthusiastisch.

»Hallihallo!«, jubelte sie niemand Bestimmtem zu, was in dem Gedränge aber nur schwer zu überblicken war. Diesmal sprach sie mit unüberhörbarem amerikanischem Akzent, und dann eilte sie an ihren Verfolgern vorbei, als wolle sie jemanden begrüßen.

Als sie an dem Dunkelhaarigen vorbeistürmte, bemerkte sie, dass er erschrocken wieder zur Toilettentür hinsah, so als fürchte er, sein Opfer könnte in diesem kurzen Moment der Unaufmerksamkeit entwischt sein.

Lily ging, so schnell sie konnte, bis sie in der Menge untergetaucht war. Auf ihren Zehn‐Zentimeter‐Absätzen war sie fast einen Meter achtzig groß, aber diese Schuhe würde sie nur so lange wie unbedingt nötig tragen. Kurz vor ihrem Abfluggate ging sie in die nächste Toilette und legte die auffällige Verkleidung wieder ab. Als sie erneut herauskam, hatte sie lange schwarze Haare und trug schwarze Jeans zu einem schwarzen Rollkragenpullover, und an den Füßen hatte sie die gleichen flachen Schuhe wie während des Hinfluges.

Den rosa Gloss hatte sie abgewischt und durch roten Lippenstift ersetzt, und der rosa Lidschatten war grauem gewichen. Die Papiere auf den Namen Alexandra Wesley lagen tief unten in ihrer Tasche, denn das Ticket und der Pass in ihrer Hand lauteten auf den Namen Mariel St. Clair.

Kurz darauf saß sie in einem Flieger zurück nach Paris, diesmal allerdings in der Economy‐Klasse. Erleichtert ließ sie den Kopf an die Rückenlehne sinken und schloss die Augen.

So weit, so gut.

5

Rodrigo tobte. Gefährlich leise fragte er: »Und wie genau haben Sie es geschafft, sie zu verlieren?«

»Sie wurde von dem Augenblick an beschattet, in dem sie aus dem Flugzeug stieg«, antwortete die britische Stimme am Telefon. »Dann verschwand sie in einer Toilette und tauchte nicht wieder auf.«

»Haben Sie jemanden reingeschickt, um nach ihr zu sehen?«

»Nach einiger Zeit.«

»Nach wie viel Zeit genau?«

»Bis meine Männer wirklich Verdacht schöpften, vergingen vielleicht zwanzig Minuten, Sir. Dann mussten sie warten, bis eine Kollegin zugegen war, die die Damentoilette durchsuchen konnte.«

Rodrigo schloss die Augen und zwang sich zur Ruhe. Diese Kretins! Bestimmt hatten sich die Dumpfbacken, die Denise beschattet hatten, ablenken lassen, sodass sie unbemerkt aus der Toilette kommen konnte. Es gab dort keinen anderen Ausgang, keine Fenster, keine Müllschlucker oder sonst irgendwas. Sie konnte nur durch die Tür herausgekommen sein, durch die sie hineingegangen war, und trotzdem hatten diese Idioten sie übersehen.

Die Sache war nicht wirklich entscheidend, trotzdem fand er ein derart inkompetentes Verhalten ärgerlich. Bis er alle gewünschten Informationen über Denises Vergangenheit erhalten hatte, wollte er genau wissen, wo sie steckte und was sie tat. Eigentlich hätte er die angeforderten Informationen schon gestern bekommen sollen, aber die Bürokratie erwies sich wie üblich als träge und unfähig.

»Eines ist merkwürdig, Sir.«

»Und das wäre?«

»Sobald meine Männer sie verloren hatten, fragte ich bei der Fluglinie nach, aber dort war ihr Name unbekannt.«

Rodrigo setzte sich auf. Seine Brauen zogen sich blitzschnell zusammen. »Was soll das heißen?«

»Das heißt, dass sie wie vom Erdboden verschluckt ist.

Als ich die Passagierliste des ankommenden Fluges durchging, war dort keine Denise Morel aufgeführt. Wir sahen sie aus dem Flugzeug kommen, aber seither ist sie unauffindbar. Die einzig mögliche Erklärung wäre, dass sie einen Anschlussflug genommen hat, aber auch darüber haben wir keine Unterlagen.«

Die Alarmglocken in Rodrigos Kopf schrillten so laut, dass er Mühe hatte, den Anrufer zu verstehen. Ihn schauderte, wie ein Blitz durchzuckte ihn ein schrecklicher Verdacht.

»Überprüfen Sie die Daten noch mal, Mr. Murray. Sie muss ein anderes Flugzeug genommen haben.«

»Ich habe die Passagierlisten bereits mehrfach überprüft, Sir.

Nirgendwo ist eine Denise Morel verzeichnet, die in London angekommen oder abgeflogen wäre. Und ich bin sehr gründlich vorgegangen.«

»Danke«, sagte Rodrigo knapp und legte auf. Er war so aufgebracht, dass ihm unter der Wucht seiner Gefühle fast schwindlig wurde. Die kleine Schlampe hatte ihn nach Strich und Faden verarscht!

Nur um ganz sicherzugehen, rief er seinen Kontaktmann im Ministerium an. »Ich brauche die Informationen jetzt gleich«, raunzte er, ohne seinen Namen oder die gewünschte Information zu nennen. Das war auch nicht nötig.

»Ja, natürlich, nur gibt es da ein Problem.«

»Sie wissen nicht, ob diese Denise Morel überhaupt existiert?«, fragte Rodrigo sarkastisch.

»Woher wissen Sie das? Ich bin sicher, dass ich –«

»Sparen Sie sich die Mühe. Sie werden sie nicht finden.«

Rodrigo sah seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Er knallte den Hörer auf den Apparat und versuchte, hinter seinem Schreibtisch sitzend, den Hass zu bezähmen, der ihn erfasste. Er musste klar denken, aber das war im Moment eindeutig zu viel verlangt.

Sie hatte seinen Vater vergiftet. Wie geschickt von ihr, das Gift ebenfalls zu nehmen, wenn auch nur so wenig, dass sie zwar einige Tage leiden, aber letztendlich überleben würde.

Eventuell hatte sie auch gar nicht vorgehabt, von dem Wein zu probieren, aber sein Vater hatte so lange insistiert, bis sie versehentlich einen größeren Schluck als beabsichtigt genommen hatte. Wie sich die Sache genau abgespielt hatte, tat nichts zur Sache; letzten Endes zählte nur, dass es ihr gelungen war, seinen Vater zu ermorden.

Er konnte nicht fassen, wie geschickt sie ihn und alle seine Leute an der Nase herumgeführt hatte. Ihre Papiere waren, soweit er das beurteilen konnte, perfekt gewesen. Jetzt, wo es zu spät war, durchschaute er ihr Spiel glasklar. Seinen Vater hatte sie eingelullt, indem sie sich seinen Avancen gegenüber gleichgültig gezeigt hatte, bis er unvorsichtig geworden war, und auch Rodrigo selbst hatte sich erlaubt, seine Wachsamkeit erlahmen zu lassen, nachdem die ersten Treffen zwischen Salvatore und ihr so ereignislos verlaufen waren. Hätte sie erkennen lassen, dass ihr etwas an der Gesellschaft ihres Vaters lag, hätte er viel energischer nach Antworten verlangt, aber sie hatte sie alle an die Wand gespielt.

Ganz offensichtlich war sie ein Profi und stand auf der Gehaltsliste eines seiner Rivalen. Als Profi verfügte sie wahrscheinlich über mehrere Identitäten, die sie einsetzen konnte, um nach dem Mord unterzutauchen, oder sie hatte schlicht und ergreifend ihren richtigen Namen verwendet, da Denise Morel ein Pseudonym war. Ganz eindeutig hatte sie in dem Flugzeug nach London gesessen – das hatten seine Männer beobachtet –, und das bedeutete, dass sie auf der Passagierliste stehen musste. Er musste nur herausfinden, unter welchem Namen sie geflogen war, und die Spur von dort aus wieder aufnehmen. Die vor ihm – oder genauer gesagt vor seinen Leuten – liegende Aufgabe war allem Anschein nach kaum zu bewältigen, aber er hatte einen ersten Anhaltspunkt.

Er würde jeden einzelnen Passagier überprüfen lassen, der an Bord dieses Flugzeugs gewesen war, bis er sie schließlich gefunden hatte.

Und er würde sie finden, ganz gleich, wie lange es dauern mochte. Und dann würde er sie wesentlich schlimmer leiden lassen, als sein armer Vater gelitten hatte. Bis er mit ihr fertig war, würde sie ihm nicht nur alles verraten, was sie über ihren Auftraggeber wusste, sie würde auch ihre eigene Mutter dafür verfluchen, dass sie ihr jemals das Leben geschenkt hatte. Das schwor er beim Grab seines Vaters.

Lucas Swain schlich lautlos durch die Wohnung, die Liliane Mansfield, auch bekannt unter dem Namen Denise Morel, aufgegeben hatte.

O ja, ihre Kleider waren noch da, wenigstens zum größten Teil. In den Küchenschränken lagerten noch Lebensmittel, und in der Spüle stand eine benutzte Schüssel mit Löffel. Es sah so aus, als wäre sie nur zur Arbeit oder eben mal einkaufen gegangen, aber er wusste, dass es nicht so war. Er erkannte die Arbeit eines Profis auf den ersten Blick. In der ganzen Wohnung, war kein einziger Fingerabdruck zu entdecken, nicht einmal auf dem Löffel in der Spüle. Sie hatte keine Spuren hinterlassen.

Nach dem Dossier, das er über sie gelesen hatte, passten die zurückgelassenen Kleider sowieso nicht zu ihrem Typ. Diese Kleider gehörten Denise Morel, und Lily hatte diese Denise, nachdem sie ihren Zweck erfüllt hatte, abgestreift wie eine alte Schlangenhaut. Salvatore Nervi war tot; damit hatte Denise ihre Existenzberechtigung verloren.

Ihn wunderte nur, dass sie so lange hier geblieben war. Der alte Nervi war allem Anschein nach vor über einer Woche gestorben, und dennoch hatte ihm der Vermieter erklärt, Mademoiselle Morel sei erst heute Morgen mit dem Taxi weggefahren. Nein, er wisse nicht, wohin, aber sie habe nur eine kleine Reisetasche dabeigehabt. Vielleicht war sie ja übers Wochenende weggefahren.

Stunden. Er hatte sie nur um wenige Stunden verpasst.

Natürlich hatte ihn der Vermieter nicht in die Wohnung gelassen. Swain hatte sich ins Haus schleichen und das Schloss an der Wohnungstür knacken müssen. Immerhin hatte ihm der Vermieter verraten, in welcher Wohnung sie wohnte, womit er Swain die Mühe erspart hatte, nachts in seinem Büro einzubrechen und in seinen Unterlagen nachzusehen, was ihn noch mehr Zeit gekostet hätte.

So wie es aussah, hatte er trotzdem nur seine Zeit vergeudet.

Sie war nicht mehr da, und sie würde auch nicht zurückkommen.

Auf dem Tisch stand eine Obstschüssel. Er suchte sich einen Apfel aus, polierte ihn an seinem Hemd glatt und biss hinein.

Verflucht, er hatte Hunger, und wenn sie den Apfel selbst gewollt hätte, hätte sie ihn mitgenommen. Aus reiner Neugier warf er einen Blick in den Kühlschrank, um festzustellen, was noch Essbares da war, und schlug enttäuscht die Tür wieder zu.

Nur Frauensachen: Obst, ein bisschen Gemüse und etwas vergammelten Käse oder Joghurt. Warum hatten weibliche Singles nie was Richtiges zu essen im Haus? Er hätte alles getan für eine Pizza mit Pepperoni. Oder ein dickes Steak mit einer Riesenkartoffel voller Butter und Sauerrahm dazu. So was war für ihn Essen.

Während er überlegte, was er als Nächstes unternehmen sollte, aß er einen zweiten Apfel.

Laut ihrem Dossier fühlte sich Lily in Frankreich wie zu Hause und sprach Französisch ohne jeden Akzent. Offenbar besaß sie eine natürliche Akzentbegabung. Zwar hatte sie einige Zeit in Italien gelebt und die ganze zivilisierte Welt bereist, aber immer wenn sie eine Ruhepause eingelegt hatte, zog sie sich nach Frankreich oder England zurück, wo sie sich am wohlsten fühlte. Der Logik nach hätte sie schnellstens das Weite suchen müssen, was bedeutete, dass sie längst nicht mehr in Frankreich weilte. Damit blieb Großbritannien als wahrscheinlichster Aufenthaltsort.

Natürlich war es auch möglich, dass sie, raffiniert, wie sie war, diesen logischen Schluss vorausgesehen und ganz woandershin verschwunden war, etwa nach Japan. Er verzog das Gesicht. Er konnte es gar nicht leiden, wenn er sich selbst überlistete. Also gut, am besten ging er Schritt für Schritt vor und fing mit dem wahrscheinlichsten Aufenthaltsort an; selbst ein blindes Huhn trank ab und zu einen Korn.

Es gab drei Verkehrsmittel über den Kanal: Fähre, Zug oder Flugzeug. Er entschied sich für den Luftweg, weil es der schnellste war und sie bestimmt so schnell wie möglich so weit wie möglich von den Nervis wegkommen wollte.

Selbstverständlich hätte sie auch in eine andere Stadt als London fliegen können, aber London war der nächste Flughafen, und sie wollte ihren Verfolgern bestimmt möglichst wenig Zeit lassen, ihren Empfang zu organisieren.

Informationen reisten heute mit Lichtgeschwindigkeit, Menschen brauchten immer noch ein wenig länger. Deshalb war London das logischste Ziel, womit ihm zwei große Flughäfen blieben, Heathrow und Gatwick. Er würde mit Heathrow beginnen, weil er größer und unübersichtlicher war.

Er ließ sich in ihrem gemütlichen kleinen Wohnzimmer nieder – kein einziger Fernsehsessel, verflucht noch mal – und zog sein gutes altes abhörsicheres Handy aus der Tasche.

Nachdem er eine endlos lange Nummer eingetippt hatte, drückte er auf ANRUFEN und wartete auf eine Verbindung.

Nach einer Weile meldete sich eine kühle britische Stimme:

»Murray.«

»Swain. Ich brauchte ein paar Informationen. Eine Frau namens Denise Morel ist heute vielleicht –«

»Das nenne ich einen Zufall.«

Adrenalin schoss in Swains Adern, es war der Kick, den jeder Jäger spürt, wenn er auf die gesuchte Fährte stößt. »Es hat sich schon jemand nach ihr erkundigt?«

»Rodrigo Nervi persönlich. Er hat uns gebeten, sie zu beschatten, sobald sie aus dem Flugzeug steigt. Ich hatte zwei Männer auf sie angesetzt, die sie aber bei der ersten Flughafentoilette verloren. Sie ging hinein und kam nicht wieder heraus. Sie kam nicht durch den Zoll, und mir liegen auch keine Daten darüber vor, dass sie auf einen anderen Flug umgestiegen wäre. Sie scheint sehr gewitzt zu sein.«

»Gewitzter, als Sie sich vorstellen können«, bestätigte Swain.

»Haben Sie das alles auch Nervi erzählt?«

»Ja. Ich habe Order, mit ihm zu kooperieren – innerhalb gewisser Grenzen. Er wollte sie immerhin nicht umbringen, sondern nur verfolgen lassen.«

Aber die Tatsache, dass sie so plötzlich verschwunden war, musste Nervi vor Augen geführt haben, wozu diese Frau in der Lage war; bestimmt sah er sie inzwischen in einem ganz neuen Licht. Mittlerweile hatte Nervi mit Sicherheit entdeckt, dass es gar keine Denise Morel gab, auf die seine Beschreibung passte, was den Schluss nahe legte, dass sie die Mörderin seines Vaters war. Das Feuer, das er Lily unter dem Arsch machen würde, war eben um ein paar tausend Grad heißer geworden.

Wie war sie in Heathrow entwischt? Durch einen Notausgang? Dazu musste sie erst einmal unerkannt aus der Toilette entkommen, und das bedeutete, dass sie sich verkleidet hatte. Eine findige Frau wie Lily hätte dafür garantiert einen Weg gefunden und sich entsprechend vorbereitet. Und sie besaß mit Sicherheit einen zweiten Satz von falschen Papieren.

»Eine Verkleidung«, sagte er.

»Das dachte ich mir auch schon, allerdings habe ich Mr.

Nervi nicht darauf hingewiesen. Er ist nicht auf den Kopf gefallen, folglich wird er irgendwann ebenfalls zu diesem Schluss

gelangen,

auch

wenn

er

nicht

aus

der

Flughafen‐Sicherung kommt. Dann wird er bestimmt wollen, dass ich mir alle Filme ansehe.«

»Haben Sie das schon getan?« Wenn Murray darauf nicht mit Ja antwortete, dann hatte er deutlich nachgelassen.

»Sobald sie meinen Männern entwischt war. Ich kann den beiden allerdings keinen Vorwurf machen, denn ich habe mir das Band aus der Kamera vor der Toilette zweimal angesehen und sie ebenfalls nicht entdecken können.«

»Ich komme mit dem nächsten freien Flug.«

Wegen der umständlichen Fahrt zum Flughafen, der wenigen freien Plätze und so weiter war das erst etwa sechs Stunden später. Swain überbrückte die Zeit mit einem kleinen Nickerchen, auch wenn ihm durchaus bewusst war, dass jede verstreichende Minute Lily zugute kam. Sie wusste genau, wie man bei der CIA vorging und aus welchen Quellen man dort schöpfen konnte; sie würde sich währenddessen ein hübsches kleines Schlupfloch graben und es liebevoll tarnen. Die Verzögerung gab ihr außerdem Gelegenheit, Geld von dem geheimen Bankkonto abzuheben, das sie garantiert besaß.

Wenn er in ihrem Bereich gearbeitet hätte, hätte er sich jedenfalls ein ganzes Sortiment von Nummernkonten zugelegt.

Schließlich verwahrte auch er einen kleinen goldenen Notnagel auf einem Konto in Übersee. Man konnte nie wissen, wann man darauf zurückgreifen musste. Und wenn nicht, tja, dann würde er einem den Ruhestand vergolden. Swain hielt sehr viel von einem goldenen Ruhestand.

Wie versprochen wartete Charles Murray bereits am Gate, als Swain endlich in Heathrow landete. Murray war mittelgroß, gut in Form und trug einen kurzen eisengrauen Mecki über seinen mittelbraunen Augen. Seine Haltung verriet seine militärische Vergangenheit; er blieb stets gefasst und kompetent. Seit sieben Jahren stand er inoffiziell auf Nervis Gehaltsliste, auf der Gehaltsliste der Regierung stand er schon viel länger. Im Lauf der Jahre hatte Swain schon mehrmals mit Murray zu tun gehabt, immerhin so oft, dass sie einen halbwegs kumpelhaften Umgang pflegten. Halbwegs hieß, dass Swain sich kumpelhaft verhielt; Murray war durch und durch Brite.

»Hier entlang«, sagte Murray, nachdem sie sich die Hand gegeben hatten.

»Wie gehtʹs Frau und Kindern?«, fragte Swain in Murrays Rücken, während er hinter dem Briten herschlenderte.

»Victoria ist so schön wie immer. Die Kinder sind Teenager.«

»Damit wäre alles gesagt.«

»Stimmt. Und bei Ihnen?«

»Chrissy ist in ihrem zweiten Collegejahr, Sam im ersten.

Beide kommen gut zurecht. Rein rechnerisch ist Sam auch noch ein Teenager, aber er ist wohl aus dem Gröbsten raus.« Im Gegenteil, beide hatten sich verflucht gut gemacht, wenn man bedachte, dass ihre Eltern seit über zehn Jahren geschieden waren und ihr Vater die meiste Zeit im Ausland lebte. Dass sie so gut geraten waren, war auch darauf zurückzuführen, dass ihre Mutter, was ihr hoch anzurechnen war, sich nach der Trennung eisern geweigert hatte, ihn als Alleinschuldigen darzustellen. Er und Amy hatten sich mit den Kindern zusammengesetzt, ihnen erzählt, dass ihre Trennung verschiedene Gründe hatte, unter anderem, dass sie viel zu früh geheiratet hätten, bla bla bla. Was alles stimmte. Trotzdem lief es letzten Endes darauf hinaus, dass Amy es leid geworden war, mit jemandem verheiratet zu sein, der praktisch nie zu Hause war. Sie hatte frei sein wollen, sich nach jemand anderem umzusehen. Ironischerweise hatte sie seither zwar mehrere Affären gehabt, aber nicht wieder geheiratet. Das Leben der Kinder hatte sich, verglichen mit damals, als er und Amy verheiratet waren, nicht wesentlich verändert: Sie wohnten weiterhin im selben Haus, gingen in dieselbe Schule und sahen ihren Vater etwa genauso oft wie zuvor.

Wenn er und Amy bei ihrer Heirat älter und klüger gewesen wären, dann hätten sie wohl niemals Kinder bekommen, weil sie sich ausgerechnet hätten, dass sich seine Arbeit nicht mit der Rolle als Ehemann und Vater vertrug, aber leider schien ein gewisses Maß an Klugheit mit einem gewissen Alter verbunden zu sein, darum war es, als sie ihren Fehler endlich erkannten, längst zu spät. Trotzdem hatte er es noch keine Sekunde lang bereut, Kinder zu haben. Er liebte sie mit jeder Faser seines Körpers, auch wenn er sie nur ein paarmal im Jahr sah, und er fügte sich in sein Schicksal, neben ihrer Mutter in ihrem Leben nur eine Statistenrolle zu spielen.

»Man kann nur sein Bestes versuchen und darum beten, dass sich die Dämonenbrut irgendwann wieder in menschliche Wesen zurückverwandelt«, bemerkte Murray und bog in einen kurzen Gang ein. »Da sind wir.« Er verbarg mit seinem Körper den Blick auf ein Tastenfeld und tippte einen Code ein, auf den hin sich eine schlichte Stahltür öffnete. Dahinter befand sich eine Monitorwand, beobachtet von den scharfen Augen des Sicherheitspersonals, welches das Kommen und Gehen der Menschen in dem riesigen Gebäudekomplex überwachte.

Von dort aus ging es weiter in einen kleineren Raum, wo es ebenfalls mehrere Monitore sowie diverse Geräte zum Abspielen der gespeicherten Aufzeichnungen aus den zahllosen Kameras gab. Murray ließ sich in einen blauen Bürostuhl mit Rollen fallen und bedeutete Swain, sich ebenfalls einen Stuhl heranzuziehen. Dann tippte er auf der Tastatur einen Befehl ein, woraufhin ein Monitor zum Leben erwachte.

Er zeigte Lily Mansfield als Standbild, wie sie am Morgen aus dem Flugzeug von Paris getreten war.

Swain studierte das Bild genau, wobei ihm auffiel, dass sie keinerlei Schmuck trug, nicht einmal eine Armbanduhr. Kluges Mädchen. Manchmal vergaßen Menschen beim Verkleiden, ihre Armbanduhr abzulegen, und verrieten sich dann durch dieses kleine Detail. Sie trug ein schlichtes dunkles Kostüm und Pumps mit flachem Absatz. Er fand, dass sie dünn und blass aussah, so als wäre sie krank gewesen.

Sie sah weder nach links noch rechts, sondern schwamm im Strom der Aussteigenden mit, allerdings nur bis zur ersten Toilette, in der sie verschwand. Im weiteren Verlauf des Bandes traten immer wieder Frauen aus der Toilette, aber keine davon sah aus wie Lily »Verflucht noch mal«, knurrte er.

»Lassen Sie es noch mal ablaufen. In Zeitlupe.«

Gehorsam setzte Murray das Band zum Anfang zurück.

Swain sah Lily aus dem Flugzeug kommen, eine mittelgroße schwarze Reisetasche in der Hand haltend, die absolut unauffällig wirkte, weil Millionen Frauen sie jeden Tag trugen.

Er konzentrierte sich auf die Reisetasche, um sie so genau wie möglich zu identifizieren: die Schnalle, wie die Träger vernäht waren, alles. Nachdem Lily in der Toilette verschwunden war, hielt er nur noch nach der Tasche Ausschau. Er sah eine ganze Reihe von schwarzen Taschen in jeder Größe und Gestalt, aber nur eine davon sah aus wie die, die er suchte. Sie wurde von einer ausgesprochen großen Frau getragen, deren Kleidung, Frisur und Make‐up zu schreien schienen: »Schaut mich an!«

Aber sie trug nicht nur die kleine Reisetasche, sondern auch eine Umhängetasche, und die hatte Lily zuvor nicht dabeigehabt.

Häh?

»Noch mal«, befahl er. »Von Anfang an. Ich will jeden sehen, der aus diesem Flieger gestiegen ist.«

Murray kam seiner Bitte nach. Swain studierte jedes einzelne Gesicht und merkte sich genau, wer welche Tasche trug.

Dann entdeckte er sie. »Da!« Er beugte sich über den Bildschirm.

Murray drückte auf Pause. »Was ist denn? Sie ist doch noch gar nicht zu sehen.«

»Nein, aber sehen Sie sich diese Frau an.« Swain stieß mit dem Finger gegen den Monitor. »Behalten Sie diese Tasche im Kopf. Okay, dann wollen wir mal sehen, was sie als Nächstes macht.«

Die elegant gekleidete Frau war Lily ein paar Meter voraus.

Sie ging geradewegs in die Toilette, was an sich nicht ungewöhnlich war. Eine ganze Reihe von Frauen aus dem Flugzeug taten das. Swain beobachtete das Video, bis die Frau die Toilette verließ – ohne Tasche.

»Bingo!«, triumphierte er. »Sie hat die Tasche mit reingenommen; die Verkleidungssachen waren da drin. Fahren Sie das Band ein kurzes Stück zurück. Da. Das ist unser Mädchen. Sie hat jetzt die Tasche.«

Murray starrte blinzelnd die fantasievolle Kreatur auf dem Bildschirm an. »Meine Güte«, murmelte er. »Sind Sie ganz sicher?«

»Haben Sie diese Frau in die Toilette hineingehen sehen?«

»Nein, aber ich habe auch nicht auf sie geachtet.« Murray stutzte. »Andererseits hätte man sie kaum übersehen können, nicht wahr?«

»Nicht in dieser Aufmachung.« Allein die gefiederten Ohrringe hätten seine Blicke angezogen. Von den roten Stachelhaaren bis zu den Stilettostiefeln war die Frau ein einziges Ausrufezeichen. Wenn Murray nicht gesehen hatte, wie sie die Toilette betrat, dann nur, weil sie nie hineingegangen war. Andererseits war es kein Wunder, dass Murrays Männer ihre Verkleidung nicht durchschaut hatten; wie viele Leute würden, wenn sie untertauchen wollten, schon absichtlich alle Blicke auf sich lenken?

»Sehen Sie sich Nase und Mund an. Das ist sie.« Lily hatte nicht gerade eine Hakennase, aber die Nasenspitze war so gebogen, dass sie nur mit knapper Not als feminin durchgehen konnte. Die Nasenflügel waren dünn und kräftig und wirkten in Kombination mit diesem Mund und der vollen Oberlippe eigenartig erotisch.

»Unzweifelhaft.« Murray schüttelte den Kopf. »Ich bin einfach nicht mehr in Form, sonst hätte ich sie erkennen müssen.«

»Es ist eine exzellente Tarnung. Schlau. Okay, dann wollen wir mal sehen, wohin unser Technicolorgirl verschwindet.«

Murray gab ein paar Befehle ein, bis der Bildschirm Lilys Weg durch den Flughafen nachzeichnete. Sie marschierte durch mehrere Gänge und verschwand wenig später wieder in einer Toilette. Aus der sie ebenfalls nicht wieder herauskam.

Swain rieb sich die Augen. »Das Ganze noch mal. Wir müssen uns auf diese Taschen konzentrieren.«

Weil die vielen Passanten gelegentlich den Blick auf die Toilettentür versperrten, mussten sie das Band mehrmals zurückspulen, bis sie die Liste der infrage kommenden Frauen auf drei eingegrenzt hatten, die sie jeweils verfolgen mussten, bis sie richtig zu erkennen waren. Zuletzt hatten sie Lily dennoch aufgespürt. Sie hatte jetzt schwarze Haare und trug einen schwarzen Rollkragenpulli über einer schwarzen Hose.

Ohne ihre Pfennigabsätze war sie deutlich kleiner. Auch hatte sie eine andere Sonnenbrille aufgesetzt und die gefiederten Ohrringe durch Goldkreolen ausgetauscht. Trotzdem hatte sie immer noch die zwei unverkennbaren Taschen dabei.

Die Kameras verfolgten sie bis zu einem weiteren Gate, wo sie in ein weiteres Flugzeug stieg. Murray überprüfte kurz, welcher Flug an jenem Gate abgefertigt worden war. »Paris«, sagte er.

»Heilige Scheiße«, brummelte Swain verdattert. Sie war wieder zurückgeflogen. »Können Sie mir die Passagierliste besorgen?« Das war eine rhetorische Frage; natürlich konnte Murray. Wenige Minuten später hielt Swain sie in Händen. Er überflog die Namen und stellte fest, dass weder eine Denise Morel noch eine Lily Mansfield aufgeführt waren, was bedeutete, dass sie auf eine dritte Identität zurückgegriffen hatte.

Jetzt wurde es lustig, denn er musste zurück nach Paris und mit den Behörden im Flughafen de Gaulle die gleiche Prozedur durchlaufen. Die empfindlichen Franzosen wären unter Umständen nicht so zuvorkommend wie Murray, aber Swain hatte Mittel und Wege, das auszugleichen.

»Tun Sie mir einen Gefallen«, sagte er zu Murray »Geben Sie diese Informationen nicht an Rodrigo Nervi weiter.« Er wollte nicht, dass ihm die Nervi‐Sippe dazwischenfunkte, außerdem hatte er eine natürliche Abneigung dagegen, solchen Menschen zuzuarbeiten. Vielleicht war die amerikanische Regierung gelegentlich gezwungen, alle Augen zuzudrücken, wenn die Nervis schmutzige Geschäfte machten, aber er würde ihnen trotzdem nicht helfen.

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.« Murray sah ihn verständnislos an. »Was für Informationen?«

Natürlich würde die Rückkehr über den Kanal genauso aufwendig werden wie die Hinreise nach London. Er konnte nicht einfach aus einem Flugzeug aussteigen und das nächste, das zurückflog, nehmen, so wie sie es getan hatte; o nein, so einfach war es nie. Sie hatte alles im Voraus geplant; er stolperte ihr hinterher und musste mühsam nach einem freien Platz suchen. Natürlich hatte sie genau gewusst, wie sie ihre Verfolger verwirren und abschütteln konnte.

Trotzdem war es deprimierend zu erfahren, dass er sich auf eine lange Wartezeit einstellen musste, ehe er nach Paris zurückfliegen konnte.

Murray schlug ihm auf die Schulter. »Ich kenne jemanden, der sie viel schneller rüberbringen könnte.«

»Gott sei Dank«, seufzte Swain erleichtert. »Bringen Sie ihn her.«

»Es macht Ihnen doch nichts aus, im Kopilotensitz zu fliegen, oder? Er ist NATO‐Pilot.«

»Heilige Scheiße«, platzte Swain heraus, »Sie wollen mich in einen Düsenjäger setzen?«

»Ich sagte ›viel schneller‹ oder etwa nicht?«

6

Lily schloss die Tür zu der Wohnung in Montmartre auf, die sie vor mehreren Monaten, noch vor ihrer Verwandlung in Denise Morel, als Untermieterin angemietet hatte. Die Wohnung war winzig, eigentlich nur ein Apartment, aber sie hatte immerhin ein Minibad. Hier bewahrte sie ein paar Klamotten auf, hier war sie ungestört und relativ sicher. Weil sie die Wohnung angemietet hatte, noch ehe Denise aufgetaucht war, würde wahrscheinlich keine Computersuche so weit zurückreichen, dass ihr Name auf irgendeiner Liste erschien; um ganz sicherzugehen, hatte sie sich trotzdem eine weitere Identität geschaffen: als Claudia Weber, Deutsche.

Weil Claudia blond war, hatte Lily bei einem Friseursalon Station gemacht und die dunkle Tönung aus ihren Haaren entfernen lassen. Normalerweise hätte sie das Mittel einfach gekauft und die Sache selbst erledigt, aber eine Tönung zu entfernen war viel komplizierter, als sie aufzutragen, und sie hatte Angst gehabt, ihren Haaren möglicherweise Schaden zuzufügen. Auch mussten sie um ein, zwei Zentimeter geschnitten werden, um die vom Bleichen ausgetrockneten Spitzen zu kappen.

Aber als sie in den Spiegel sah, erblickte sie endlich wieder sich selbst. Die getönten Kontaktlinsen waren verschwunden, ihre eigenen blassblauen Augen schauten sie an. Ihr glattes Haar war wieder weizenblond und reichte ihr wie zuvor bis auf die Schultern. Sie konnte direkt an Rodrigo Nervi vorbeispazieren, ohne dass er sie wieder erkennen würde – so hoffte sie inständig, denn sie würde möglicherweise genau das tun.

Müde ließ sie die Taschen auf das gemachte Ausklappbett fallen und plumpste dann daneben. Eigentlich hätte sie als Erstes kontrollieren sollen, ob die Wohnung während ihrer Abwesenheit verwanzt worden war, aber sie hatte den ganzen Tag ihre Reserven strapaziert und zitterte inzwischen vor Erschöpfung. Wenn sie sich nur eine Stunde Schlaf gönnte, würde die Welt wieder ganz anders aussehen.

Alles in allem war sie trotzdem erleichtert, dass sie so gut durchgehalten hatte. Sie war todmüde, das schon, aber sie japste nicht nach Luft, wie Dr. Giordano prognostiziert hatte, falls die Herzklappe schweren Schaden genommen hätte.

Natürlich hatte sie sich auch nicht übermäßig angestrengt und keine Sprints hingelegt. Insofern war das letzte Wort über diese ganz spezielle Herzgeschichte noch nicht gesprochen.

Sie schloss die Augen und konzentrierte sich in der Stille auf ihren Herzschlag; ihr kam er ganz normal vor. Poch‐poch, poch‐poch. Vielleicht hatte Dr. Giordano in seinem Stethoskop ein Murmeln gehört, aber sie hatte kein Stethoskop, und soweit sie es beurteilen konnte, klang ihr Herz so wie immer.

Vielleicht war der Schaden nicht tragisch, gerade so groß, dass ein leises Rauschen oder Murmeln zu hören war. Vorerst musste sie sich über andere Dinge den Kopf zerbrechen.

Sie sank in einen Halbschlaf, in dem ihr Körper entspannte, während ihre Gedanken um ihre momentane Lage zu kreisen begannen, bis sie alle ihr bekannten Fakten sortiert und neu angeordnet hatte, um endlich eine Antwort auf die ihr unbekannten Faktoren zu finden.

Sie wusste immer noch nicht, worauf Averill und Tina gestoßen waren oder was man ihnen erzählt hatte, aber jedenfalls war ihnen die Sache so nahe gegangen, dass sie in ein Geschäft zurückgekehrt waren, das sie längst aufgegeben hatten. Wer sie damals beauftragt hatte, wusste sie genauso wenig. Die CIA war es nicht gewesen, davon war sie überzeugt.

Der englische MI‐6 wahrscheinlich auch nicht. Die beiden Geheimdienste waren zwar voneinander unabhängig, aber die beiden Regierungen und ihre jeweiligen Dienste kooperierten häufig, und außerdem hatten sie zahllose aktive Agenten, sodass keine Notwendigkeit bestanden hätte, zwei Exagenten zu reaktivieren.

Tatsächlich war es ziemlich unwahrscheinlich, dass die beiden von irgendeinem Geheimdienst angeheuert worden waren, die Aktion sah eher nach einem privaten Auftraggeber aus. Irgendwann – Quatsch, ständig – war Salvatore Nervi während seines Aufstiegs anderen Leuten auf die Zehen getreten, hatte Menschen eingeschüchtert und aus dem Weg geräumt. Feinde von Salvatore Nervi zu finden war kein Problem; sie alle zu überprüfen, das konnte hingegen Jahre dauern. Aber wer davon hatte sich wohl die Mühe gemacht, zwei Profis, wenn auch ehemalige Profis, für einen Gegenschlag anzuwerben? Und zweitens, wer hatte von der Vergangenheit ihrer Freunde gewusst? Averill und Tina hatten ein durch und durch bürgerliches Leben geführt, und sie hatten alles getan, um Zia genau dieses Leben zu bieten; sie hatten definitiv nicht mit ihrer Vergangenheit herumgeprahlt.

Trotzdem hatte jemand über sie und ihre Fähigkeiten Bescheid gewusst. Das ließ auf jemanden aus der Branche schließen, dachte Lily, oder es war zumindest jemand in einer Position gewesen, in der man Zugriff auf die Namen aller Agenten hatte. Der‐ oder diejenige war auch erfahren genug gewesen, keine aktiven Agenten anzusprechen, um keine unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Stattdessen hatte er oder sie Averill und Tina genommen, weil … ja, warum nur? Warum ausgerechnet sie? Und warum hatten die beiden, die doch auch an Zia denken mussten, dieses Angebot angenommen?

Immerhin waren ihre Freunde jung genug gewesen, um noch in Form zu sein – sonst konnte Lily sich keinen Grund denken, warum die Wahl auf sie gefallen war. Außerdem waren sie kompetent, besonnen und erfahren. Lily konnte nachvollziehen, warum man sie angesprochen hatte, aber was hatte sie nur dazu getrieben mitzumachen?

Geld? Sie waren gut über die Runden gekommen, auch wenn sie nicht reich gewesen waren, so hatten sie doch nicht jeden Cent umdrehen müssen. Eine geradezu astronomische Summe hätte sie vielleicht verleiten können, aber im Lauf der Jahre hatten Averill und Tina allen finanziellen Fragen gegenüber die gleiche Gelassenheit entwickelt wie Lily. Von dem Zeitpunkt an, als Lily ihren Job angetreten hatte, hatte sie immer genug Geld gehabt. Sie kannte keine Geldsorgen, genauso wenig wie Averill und Tina. Sie wusste hundertprozentig,

dass

ihre

beiden

Freunde

genug

zurückgelegt hatten, um bis an ihr Lebensende in relativem Wohlstand leben zu können, und außerdem hatte Averill mit seinem Computershop ziemlich gut verdient.

Hätte doch nur einer von beiden zum Telefon gegriffen und angerufen, um Lily zu erzählen, was sie vorhatten. Sie mussten ein zwingendes Motiv gehabt haben, und Lily wollte zu gern wissen, was das gewesen war, denn dann hätte sie auch gewusst, wie sie zurückschlagen konnte. Mit dem Mord an Salvatore hatte sie ihre Rache noch längst nicht vollstreckt; das war nur der erste Akt gewesen. Sie würde sich erst zufrieden geben, wenn sie herausgefunden hatte, was so schlimm gewesen war, dass es ihre Freunde zum Eingreifen gezwungen hatte – in der Hoffnung, dass es die ganze Welt gegen den Nervi‐Clan Partei ergreifen lassen würde, bis sogar all die Menschen an den Schaltstellen der Macht, die Salvatore Nervi bestochen oder erpresst hatte, sich eiligst von ihnen distanzieren würden. Sie wollte das ganze verrottete Tragwerk zum Einsturz bringen.

Ihr kam der flüchtige Gedanke, dass sie möglicherweise ebenfalls eingegriffen hätte, wenn Tina ihr von dem Job erzählt hätte. Schließlich musste es ein höchst wichtiger Auftrag gewesen sein, sonst hätten ihn die beiden nicht übernommen.

Vielleicht hätten ihre Freunde mit ihrer Hilfe den Einsatz erfolgreich durchführen können – oder Lily läge jetzt tot neben ihnen.

Aber die beiden hatten mit keiner Silbe über ihr Vorhaben gesprochen, obwohl sie nur eine Woche vor dem Mord mit Lily zu Abend gegessen hatten. Gut, Lily hatte einen Einsatz gehabt und ein paar Tage verreisen müssen, doch sie hatte ihnen erklärt, wann sie zurück sein würde. Hatten Averill und Tina da schon von ihrem Job gewusst, oder war der Job völlig unerwartet angeboten worden und hatte sofort erledigt werden müssen? Normalerweise operierten Tina und Averill nicht so. Lily auch nicht. Alles, was mit dem Nervi‐Clan zu tun hatte, erforderte minutiöse Vorarbeit und Planung, denn die Bande verfügte über einen fast lückenlosen Schutz.

All das hatte sie seit dem Tod der beiden in vielen schlaflosen Nächten unzählige Male durchgekaut. Manchmal, wenn Zias fröhliches kleines Gesicht vor ihr auftauchte, begann sie so heftig zu weinen, dass es ihr selbst Angst machte.

Denn in ihrer bodenlosen Trauer hätte sie am liebsten augenblicklich zurück‐ und der Schlange das Haupt abgeschlagen. Letzteres hatte sie inzwischen erledigt, nachdem sie sich drei Monate lang auf nichts anderes konzentriert hatte, und nun würde sie den Rest erledigen.

Erst musste sie herausfinden, wer Averill und Tina angeheuert hatte. Wenn es ein Privatmann gewesen war, musste er über viel Geld verfügen … oder auch nicht. Vielleicht hatte etwas ganz anderes dahinter gesteckt. Vielleicht hatten die zwei einen Hinweis auf ein besonders grässliches Verbrechen bekommen, das Salvatore geplant hatte. Bei Salvatore konnte sie nichts ausschließen; so wie sie ihn einschätzte, konnte nichts so ekelhaft oder schmutzig sein, dass er davor zurückschrecken würde. Wenigstens nicht, solange er dabei Geld verdiente.

Averill und Tina hingegen waren im Grunde ihres Herzens Idealisten gewesen. Lily konnte sich gut vorstellen, dass es Dinge gab, die ihnen das Gefühl vermittelten, einschreiten zu müssen, obwohl sie in ihren früheren Jobs so viele Gräuel gesehen hatten, dass sie nur noch schwer zu schockieren waren.

Was mochten sie nur erfahren haben?

Zia. Irgendwas, das Zia bedrohte. Um sie zu schützen, hätten sie mit bloßen Händen einen Tiger niedergerungen. Dass ihr Adoptivkind betroffen war, würde erklären, weshalb sie in ihren Job zurückgekehrt waren.

Lily setzte sich blinzelnd auf. Natürlich. Warum hatte sie das nicht schon früher erkannt? Wenn nicht das Geld den Ausschlag gegeben hatte, was konnte ihnen dann noch wichtig genug gewesen sein? Ihre Ehe, ihre Liebe, vielleicht auch Lily … aber vor allem anderen Zia.

Sie hatte keinen wirklichen Beweis dafür, aber den brauchte sie auch nicht. Sie kannte ihre Freunde, sie wusste, wie sehr sie ihre Tochter geliebt hatten und was ihnen im Leben wirklich wichtig war. Es war eine rein intuitive Schlussfolgerung, aber sie fühlte sich richtig an. Richtiger als jede andere Möglichkeit.

Damit hatte Lily zumindest einen Ansatzpunkt. Bei den Unternehmen im Besitz der Nervis gab es mehrere Labore, die in der medizinischen, chemischen und biologischen Forschung arbeiteten. Da Averill und Tina offenkundig der Meinung gewesen waren, sofort reagieren zu müssen, musste eine unmittelbare Bedrohung bestanden haben. Aber obwohl sie bei ihrem Einsatz gescheitert waren, wollte Lily nichts einfallen, was seither Ungewöhnliches geschehen war; in der näheren Umgebung hatten sich keine nennenswerten Katastrophen ereignet. Es hatte nur die üblichen terroristischen Anschläge gegeben, für die es anscheinend keinen Grund brauchte.

Vielleicht waren sie ja gar nicht gescheitert. Vielleicht hatten sie ihre Mission erfolgreich abgeschlossen, bevor ihnen Salvatore auf die Spur gekommen war und sie umbringen ließ, zur Mahnung an alle anderen, sich nicht mit den Nervis anzulegen.

Vielleicht hatten sie auch gar kein Labor im Visier gehabt, wenngleich ein Labor das wahrscheinlichste Ziel war.

Salvatore herrschte über zahllose, über ganz Europa verstreute Unternehmungen. Sie würde die Lokalseiten zahlloser Zeitungen durchschauen müssen, um festzustellen, ob in der Woche zwischen ihrem letzten Abendessen mit ihren Freunden und deren Tod irgendwo ein Vorfall in einem Unternehmen der Nervis gemeldet worden war. Salvatore war mächtig genug gewesen, um die Medien zu steuern, sie notfalls sogar ganz zum Schweigen zu bringen, aber vielleicht war dennoch irgendwo etwas erwähnt worden … irgendwas.

Ihre Freunde waren vor ihrem Tod nirgendwohin gefahren.

Lily hatte sich mit mehreren Nachbarn unterhalten; Averill und Tina waren zu Hause geblieben, Zia war zur Schule gegangen. Was auch passiert war, es musste in Paris oder wenigstens in der Nähe geschehen sein.

Gleich morgen würde sie in ein Internet‐Cafe gehen und Recherchen anstellen. Sie hätte das auch sofort tun können, aber die Vernunft riet ihr, nach einem so langen Tag erst neue Kraft zu schöpfen. Sie war hier relativ sicher, sogar vor der CIA.

Niemand wusste von Claudia Weber, und Lily würde nichts tun, was irgendwie Aufmerksamkeit erregte. In kluger Voraussicht hatte sie noch auf dem Flughafen etwas gegessen, weil sie gewusst hatte, dass sie lange beim Friseur sitzen würde, und außerdem ein paar Kleinigkeiten für heute Abend sowie etwas Kaffee für morgen früh eingekauft. Vorerst war sie versorgt. Erst morgen musste sie wieder einkaufen, was sie am besten ganz früh machen würde. Anschließend würde sie in einem

Internet‐Cafe

einkehren

und

Nachforschungen

anstellen.

Das Internet war eine fantastische Erfindung, davon war Rodrigo überzeugt. Wenn man – wie er – die richtigen Leute kannte, konnte man damit fast alles in Erfahrung bringen.

Erst hatten seine Leute eine Liste von allen Chemikern erstellt, deren Ruf nicht ganz einwandfrei war, die für freie Auftraggeber verfügbar und die erfahren genug waren, ein so gefährliches Gift zusammenzubrauen. Dieses letzte Kriterium ließ die Liste von mehreren hundert Kandidaten auf neun zusammenschrumpfen,

was

eine

wesentlich

leichter

handhabbare Anzahl darstellte.

Danach mussten nur noch die finanziellen Verhältnisse der Betreffenden überprüft werden. Irgendwer musste vor kurzem eine beträchtliche Summe eingenommen haben. Vielleicht war der Betreffende klug genug, das Geld auf einem Nummernkonto verschwinden zu lassen, vielleicht aber auch nicht. So oder so würde es Hinweise darauf geben, dass die Einnahmen deutlich angestiegen waren.

Auf genau solche Hinweise stieß er bei Dr. Walter Speer, einem deutschen Chemiker mit Wohnsitz in Amsterdam. Dr.

Speer war erst von einer angesehenen Firma in Berlin und wenig später von einer nicht ganz so angesehenen Firma in Hamburg an die Luft gesetzt worden. Daraufhin war er nach Amsterdam umgezogen, wo er sich seither über Wasser gehalten, aber bestimmt keine Reichtümer gescheffelt hatte.

Trotzdem hatte sich Dr. Speer kürzlich einen silbernen Porsche zugelegt,

den

er

bar

bezahlt

hatte.

Dr.

Speers

Bankverbindungen auszuforschen war ein Kinderspiel, und es war für die Hacker in Rodrigos Mannschaft nur wenig schwieriger, das Computersystem der Bank zu knacken. Vor gut einem Monat hatte Dr. Speer eine Million amerikanische Dollar eingezahlt. Dank des günstigen Wechselkurses war er ein sehr glücklicher Mann.

Dollar. Rodrigo war erstaunt. Die Amerikaner hatten für den Mord an seinem Vater bezahlt? Das ergab keinen Sinn. Die Zusammenarbeit mit den Nervis war den Amerikanern viel zu wichtig, als dass sie ihnen ins Geschäft pfuschen würden, dafür hatte Salvatore schon gesorgt. Rodrigo war nicht immer einverstanden mit den Abkommen gewesen, die sein Vater mit den Amerikanern geschlossen hatte, aber sie hatten jahrelang gehalten, ohne dass jemals der Status quo gefährdet gewesen wäre.

Denise – oder wie sie in Wahrheit auch heißen mochte – war zwar seit heute Morgen wie vom Erdboden verschluckt, aber damit hatte er einen neuen Ansatzpunkt, um herauszufinden, wer sie wirklich war und für wen sie arbeitete.

Rodrigo verschwendete niemals unnötig Zeit; noch am selben Abend flog er in seinem Privatjet nach Amsterdam. Dr.

Speers Wohnung ausfindig zu machen war ein Leichtes, und das Schloss an der Tür zu knacken war genauso einfach. Er wartete im Dunkeln, bis Dr. Walter Speer endlich heimkam.

Schon als die Wohnungstür aufging, roch Rodrigo die Alkoholfahne und sah Dr. Speer bei dem Versuch, eine Stehlampe anzuschalten, leicht straucheln.

Einen Sekundenbruchteil später versetzte ihm Rodrigo einen Hieb in den Rücken, rammte ihn gegen die Wand, um ihn zu überrumpeln, und warf ihn dann zu Boden, wo er sich rittlings auf ihn setzte und abwechselnd mit beiden Fäusten das Gesicht des Doktors bearbeitete. Unerwartete, explosive Gewalt lähmt jeden unerfahrenen Gegner, sie verwirrt und erschreckt ihn derart, dass er praktisch hilflos ist. Dr. Speer war nicht nur unerfahren, sondern auch schwer angetrunken. Er schaffte es nicht einmal, die Hände schützend vor sein Gesicht zu heben, was ihm allerdings auch wenig geholfen hätte.

Rodrigo war größer, jünger und schneller, und er wusste genau, was er tat.

Rodrigo zerrte den Doktor halb hoch und schleuderte ihn gegen die Wand, wobei er dafür sorgte, dass der Kopf noch einmal mit Wucht aufprallte. Dann packte er ihn am Kragen und zog ihn vor sein Gesicht. Was er sah, gefiel ihm gut.

Schon jetzt erblühten mächtige rote Flecken auf dem Gesicht des Doktors, und aus Nase und Mund floss Blut. Die Brille war zersplittert und hing schief an einem Ohr. Die Augen sahen ihn absolut verständnislos an.

Abgesehen davon schien Dr. Speer Anfang vierzig zu sein.

Er hatte einen dichten braunen Haarschopf und war eher untersetzt, was seinem Aussehen etwas Bärenhaftes verlieh.

Vor Rodrigos künstlerischer Bearbeitung waren seine Gesichtszüge wahrscheinlich ganz normal gewesen.

»Darf ich mich vorstellen?«, fragte Rodrigo auf Deutsch, wenn auch mit deutlichem Akzent. Er sprach nicht gut Deutsch, aber er konnte sich durchaus verständlich machen. »Ich bin Rodrigo Nervi.« Der Doktor sollte genau wissen, mit wem er es zu tun hatte. Er sah, wie sich die Augen des Doktors panisch weiteten; er war also nicht so betrunken, dass er gar nichts mehr begriffen hätte.

»Vor einem Monat haben Sie eine Million Dollar erhalten.

Von wem und wofür?«

»Ich‐ich … was?«, stammelte Dr. Speer.

»Das Geld. Wer hat es Ihnen gegeben?«

»Eine Frau. Ich weiß nicht, wie sie heißt.«

Rodrigo schüttelte Dr. Speer derart durch, dass sein Kopf auf dem Hals hin und her wackelte und ihm die zerbrochene Brille von der Nase flog. »Ganz sicher?«

»Sie – sie hat mir nicht verraten, wie sie heißt«, keuchte Dr.

Speer.

»Wie sah sie aus?«

»Ah …« Blinzelnd versuchte Dr. Speer, seine Gedanken zu sammeln. »Braunes Haar. Braune Augen, glaube ich. Es war mir egal, wie sie aussieht, verstehen Sie?«

»Alt? Jung?«

Wieder musste Dr. Speer mehrmals blinzeln. »Um die dreißig?«, antwortete er in einer halben Gegenfrage, als würde er seiner Erinnerung nicht recht trauen.

Aha. Er hatte die Million also eindeutig von Denise erhalten.

Natürlich wusste Speer nicht, wer ihr das Geld gegeben hatte –

dieser Spur würde Rodrigo selbst folgen müssen –, trotzdem war damit alles klar. Sobald sie untergetaucht war, hatte Rodrigo instinktiv begriffen, dass sie seinen Vater ermordet hatte, aber trotzdem war es gut, die Gewissheit zu haben, dass er keine Zeit vergeudete, indem er einer falschen Fährte folgte.

»Sie haben ein Gift für sie gemacht.«

Speer schluckte krampfhaft, aber in seinem glasigen Blick leuchtete ein Funken von Berufsstolz auf. Er stritt das gar nicht erst ab, sondern wurde im Gegenteil erstaunlich eloquent. »Ein Meisterstück, wenn ich so sagen darf. Es kombiniert die Eigenschaften diverser tödlicher Toxine. Schon bei einer Dosis von fünfzehn Millilitern ist es hundertprozentig todbringend.

Bis sich die verzögert auftretenden Symptome zeigen, ist der zugefügte Schaden bereits so schwer, dass effektiv keine Heilung mehr möglich ist. Vermutlich könnte man es mit einer Mehrfachorgantransplantation probieren, vorausgesetzt, es wären zufällig zum benötigten Zeitpunkt genügend geeignete transplantationsfähige Organe vorhanden, aber wenn auch nur ein kleiner Rest des Toxins im Blutkreislauf zurückbliebe, würden auch diese Organe angegriffen. Nein, ich glaube nicht, dass das funktionieren würde.«

»Vielen Dank, Doktor.« Rodrigo zeigte ihm ein eisiges Lächeln, das dem Doktor, wäre er ein wenig nüchterner gewesen, Todesangst eingejagt hätte. Stattdessen lächelte er ebenfalls.

»Keine Ursache«, sagte er. Die Worte hallten noch im Raum nach, als Rodrigo ihm das Genick brach und ihn wie eine Lumpenpuppe zu Boden plumpsen ließ.

7

Swain lag in seinem Hotelbett, starrte an die Decke und versuchte,

eine

logische

Verbindung

zwischen

den

verschiedenen Punkten zu entdecken. Draußen prasselte ein morgendlicher, kalter Novemberregen gegen die Fenster; er war immer noch das viel wärmere Klima Südamerikas gewohnt und spürte ein leichtes Frösteln, obwohl er bis zum Hals zugedeckt im Bett lag. Bei diesem Regen und seinem Jetlag hatte er definitiv eine Ruhepause verdient. Außerdem dümpelte er nicht nur dösend in den Daunen; er machte sich Gedanken.

Er kannte Lily nicht persönlich, darum konnte er nur bedingt vorausberechnen, wie sie reagieren würde. Bis jetzt hatte er sie als kreativ, kühn und kühl kalkulierend kennen gelernt; er würde zur Topform auflaufen müssen, wenn er sie überlisten wollte. Aber er liebte Herausforderungen; darum würde er bestimmt nicht mit einem Foto von ihr durch Paris rennen und die Passanten befragen, ob sie diese Frau gesehen hatten – na sicher, als würde so was klappen –, sondern versuchte zu ergründen, was sie als Nächstes unternehmen würde, damit er ihr jenen halben Schritt voraus sein konnte, den er brauchte, um sie zu kriegen.

Er listete im Geist alles auf, was er bislang in Erfahrung gebracht hatte. Es wurde keine lange Liste.

A: Salvatore Nervi hatte ihre Freunde ermordet.

B: Daraufhin hatte sie Salvatore Nervi ermordet.

Eigentlich müsste der Fall damit erledigt sein. Sie hatte ihre Mission erfolgreich abgeschlossen, bis auf das letzte kleine Detail, Rodrigo Nervi lebend zu entkommen. Aber selbst das hatte sie inzwischen geschafft; sie war nach London geflohen, hatte dort diese irre Bäumchen‐wechsle‐dich‐Nummer durchgezogen und war sofort wieder zurückgeflogen.

Möglicherweise war sie hier in Paris untergeschlüpft, wobei sie auf eine weitere Identität aus ihrem scheinbar endlosen Vorrat zurückgegriffen hatte. Möglicherweise hatte sie nur kurz den Flughafen verlassen und sich irgendwo noch mal verkleidet, um dann sofort wieder umzudrehen und mit dem nächsten Flugzeug zu verschwinden. Sie musste wissen, dass in einem Flughafen alles aufgezeichnet wurde, was ein Passagier außerhalb der Toilette tat, weshalb sie sich ausrechnen konnte, dass jeder, der ihr auf den Fersen war, irgendwann ihre Artistennummer

durchschauen

und

daraufhin

die

Passagierlisten durchforsten würde, bis er wusste, unter welcher Identität sie jeweils gereist war. Sie war zu den schnellen Wechseln gezwungen gewesen, um Rodrigo Nervi abzuschütteln und sich Zeit zu erkaufen, auch wenn das bedeutet hatte, dass sie drei ihrer Wechselidentitäten verbraucht hatte, die sie nicht wieder verwenden konnte, ohne dass überall rote Alarmlampen aufleuchteten und sie geschnappt wurde. Allerdings konnte sie in der gleichen Zeit auch den Flughafen verlassen und einen weiteren Namen angenommen haben, verbunden mit einem neuen Aussehen, das von keiner Kamera aufgezeichnet worden war. Sie hatte exzellent gefälschte Papiere; offenbar kannte sie ein paar talentierte Künstler. Sie würde alle Kontrollen und Grenzen problemlos überwinden. Inzwischen konnte sie überall sein.

Sie konnte in diesem Moment in London Tee trinken, auf einem Nachtflug nach Amerika vor sich hin dösen oder auch schlafend im Zimmer nebenan liegen.

Sie war nach Paris zurückgekommen. Das musste etwas zu bedeuten haben. Vom logistischen Standpunkt her war es ein geschickter Schachzug; weil die Flugzeit so kurz war, konnte sie landen und abtauchen, bevor ihre Verfolger das Videoband analysiert hatten, um festzustellen, wie sie ausgetrickst worden waren, und dann durch mühsames Ausstreichen der Namen auf der Passagierliste ihren Decknamen herausgefunden hatten.

Indem sie nach Paris zurückgekehrt war, war sie zudem in den Zuständigkeitsbereich einer weiteren Regierung und neuer Behörden geflohen, wodurch sie ihren Verfolgern die Arbeit zusätzlich erschwert hatte. Allerdings hätte sie das gleiche Ergebnis auch erzielt, wenn sie in irgendein anderes europäisches Land geflogen wäre. Der Flug London‐Paris dauerte zwar nur eine Stunde, aber nach Brüssel ging es noch schneller. Genauso wie nach Amsterdam oder Den Haag.

Swain verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte düster die Decke an. In seiner logischen Kette klaffte ein riesiges schwarzes Loch. Sie hätte in London genauso gut durch den Zoll und aus dem Flughafen spazieren können, ehe irgendwer Gelegenheit gehabt hätte, die Überwachungsbänder zu prüfen und herauszufinden, welche Verkleidung sie verwendet hatte. Falls sie nicht in London bleiben wollte, hätte sie irgendwo in der Stadt erneut die Verkleidung wechseln und ein paar Stunden später zurückkehren können, um einen weiteren Flug zu nehmen, und absolut niemand hätte ihre Flucht nachvollziehen können. Sie hätte ihre Verfolger endgültig abgehängt. Tatsächlich wäre das viel schlauer gewesen, als im Flughafen zu bleiben, wo überall Überwachungskameras hingen. Warum hatte sie sich trotzdem dafür entschieden? Entweder glaubte sie, dass niemand ihr Kabinettstückchen durchschauen würde, oder sie hatte einen zwingenden Grund, so schnell wie möglich nach Paris zurückzukehren.

Natürlich war sie keine Führungsoffizierin und auch keine ausgebildete Spionin; Agenten wie sie wurden für jeweils einen Einsatz angeworben und immer nur ausgeschickt, um einen eng umrissenen Auftrag zu erledigen. In ihrem Dossier stand nichts darüber, dass sie eine Schulung in Tarnung oder Untergrundtechniken erhalten hätte. Sie musste wissen, dass sich die CIA an ihre Fersen heften würde, nachdem sie der Zentrale mit dem Mord an Nervi dazwischengepfuscht hatte, aber vielleicht wusste sie nicht, wie intensiv alle größeren Flughäfen überwacht wurden.

Seinen Kopf würde er keinesfalls darauf verwetten.

Dafür war sie viel zu gewitzt, viel zu gut informiert.

Bestimmt hatte sie gewusst, dass jeder Wimpernschlag, den sie im Flughafen machte, auf Band gebannt wurde, obwohl sie genug Haken geschlagen hatte, um sie alle eine Weile hinzuhalten. Und vielleicht war sie zu dem Schluss gekommen, dass sie ihren Verfolgern nicht noch mehr Zeit geben wollte, indem sie Heathrow verließ und erst später wiederkam, weil sie damit Gelegenheit gehabt hätten … ja, wozu eigentlich? Das war

ihm

ein

Rätsel.

Ihr

Gesicht

in

eine

Gesichtserkennungsdatenbank einzuspeichern? Sie war in der Datenbank der Agentur gespeichert, aber nirgendwo sonst.

Falls allerdings jemand ihre Gesichtszüge in die Interpol-Datenbank eingescannt hätte, dann hätten die Kameras im Eingangsbereich des Flughafens sie identifizieren können, ehe sie bei ihrem Gate angekommen war. Ja, so konnte es gewesen sein. Vielleicht hatte sie Angst gehabt, Rodrigo Nervi könnte versuchen, ihre Daten in das Computersystem von Interpol einzugeben.

Wie hätte sie das vermeiden können? Durch eine kosmetische Operation natürlich. Auch das wäre für eine Frau auf der Flucht eine kluge Entscheidung gewesen. Trotzdem hatte sie darauf verzichtet; stattdessen war sie nach Paris zurückgekehrt. Vielleicht hätte es zu lange gedauert, bis sie nach einer kosmetischen Operation ihr Versteck hätte verlassen können. Vielleicht gab es einen engen Zeitrahmen, in dem sie irgendwas erledigen wollte.

Und was? Disneyland Paris besuchen? Den Louvre besichtigen?

Vielleicht war der Mord an Salvatore Nervi gar nicht das große Finale, sondern nur die Ouvertüre gewesen. Vielleicht wusste sie, dass die Besten der Besten in der CIA – namentlich er selbst, obwohl sie ihn natürlich nicht namentlich kannte –

auf sie angesetzt waren und es daher nur eine Frage der Zeit war, bis sie dran war. Bei dem Gedanken, dass sie so viel Respekt vor seinen Fähigkeiten haben könnte, wurde ihm ganz warm ums Herz. Einmal angenommen, er war mit diesen Schlussfolgerungen auf dem richtigen Dampfer: Dann musste es etwas geben, das sie noch erledigen wollte und bei dem es auf jede Stunde ankam, weshalb sie Angst hatte, dass ihr die Zeit knapp werden könnte.

Stöhnend setzte sich Swain auf und fuhr mit den Händen über sein Gesicht. Auch dieser Dampfer hatte ein gewaltiges Leck im Kiel. Was immer sie auch vorhatte, sie hätte wesentlich bessere Chancen, wenn sie erst einmal untertauchte und sich operieren ließ. Daran war einfach nicht zu rütteln. Ihre Aktionen ergaben nur dann einen Sinn, wenn irgendwo eine metaphorische Zeitbombe tickte, wenn Lily Mansfield aus irgendeinem Grund nicht monatelang warten konnte, sondern jetzt gleich oder zumindest bald zuschlagen musste. Wenn es allerdings wirklich einen so zwingenden Grund gab, wenn wirklich die ganze Welt in Gefahr war, dann hätte sie doch nur zum Telefon greifen und in Langley anzurufen brauchen, und schon hätte sich ein ganzes Bataillon von Experten der Sache angenommen, ohne dass sie sich als einsame Rächerin aufspielen musste.

Damit schied »globale Bedrohung« als Motiv aus.

Folglich ging es um etwas Persönliches. Etwas, das sie selbst erledigen wollte und um jeden Preis so bald wie möglich erledigt haben musste.

Er rief sich den Inhalt ihres Dossiers ins Gedächtnis.

Salvatore Nervi hatte sie ermordet, weil er wenige Monate zuvor ihre Freunde und deren Adoptivtochter hatte umbringen lassen. Sie war klug genug gewesen, nichts zu überstürzen, und hatte in aller Ruhe ihre Falle aufgebaut, bis sie Nervi nahe genug gekommen war, um ihn zu erledigen.

Warum ging sie diesmal nicht wieder so vor? Warum benahm sich eine gerissene, erfahrene Agentin auf einmal so tölpelhaft, dass sie letzten Endes erwischt werden musste?

Vergiss alle möglichen Motive, dachte er plötzlich. Er war ein Mann; er würde noch durchdrehen, wenn er nachzuvollziehen versuchte, was im Kopf einer Frau vorging.

Wenn er das wahrscheinlichste Szenario wählen musste, würde er sagen, sie war mit den Nervis noch nicht fertig. Sie hatte ihnen eins vor den Latz geknallt, und nun schlich sie sich noch einmal von hinten an, um ihnen ordentlich in die Kniekehlen zu treten. Die Nervis hatten ihr übel mitgespielt, und dafür würden sie bezahlen müssen.

Er seufzte zufrieden auf. So, das fühlte sich schon besser an.

Außerdem stellte es, verflucht noch mal, ein exzellentes Motiv dar. Sie hatte mehrere geliebte Menschen verloren, und darum schlug sie nun zurück, wie teuer sie die Rache auch zu stehen kam. Er konnte das verstehen. Es war eine schlichte, geradlinige

Schlussfolgerung,

ohne

viele

Wieso‐so‐und‐Wieso‐nicht‐so‐Winkelzüge.

Sobald in ein paar Stunden die Sonne über Washington, D. C, aufging, würde er mit Frank Vinay Rücksprache halten, aber sein Bauch sagte ihm, dass er auf der richtigen Spur war.

Darum würde er ein paar erste Nachforschungen anstellen, ehe er mit Vinay sprach. Er musste nur überlegen, wo er anfangen sollte.

Immer wieder kam er auf ihre Freunde zurück. Sie mussten irgendwas angestellt haben, das Nervi schwer auf die Nerven gegangen war, und Lily Mansfield würde in ihrer neuen Rolle als mythischer Racheengel dort weitermachen wollen, wo ihre Freunde aufgehört hatten.

Er ließ sich noch mal das Dossier durch den Kopf gehen, das er in Vinays Büro gelesen hatte. Er hatte keine Unterlagen bei sich, damit nichts in falsche Hände geraten konnte; was nicht da war, konnten auch keine unbefugten Augen lesen.

Stattdessen verließ er sich auf sein exzellentes Gedächtnis, das ihm die Namen der beiden ehemaligen Agenten Averill und Christina Joubran lieferte. Averill war Kanadier, Christina US‐Amerikanerin, aber beide hatten schon länger in Frankreich gelebt und seit zwölf Jahren keinen einzigen Auftrag mehr übernommen. Was konnte Salvatore Nervi dazu getrieben haben, sie ermorden zu lassen?

Okay, zuerst einmal musste er recherchieren, wo sie gewohnt hatten, wie sie gestorben waren, mit wem außer Lily Mansfield sie befreundet gewesen waren und ob sie mit irgendjemandem

über

irgendwelche

ungewöhnlichen

Vorgänge gesprochen hatten. Vielleicht entwickelten die Nervis inzwischen biologische Waffen, die sie an die Nordkoreaner verkauften, obwohl nicht nachvollziehbar war, weshalb Lilys Freunde, falls sie tatsächlich über so etwas gestolpert waren, nicht einfach ihre ehemaligen Chefs angerufen und die Sache gemeldet hatten. Nur Vollidioten hätten versucht, so etwas auf eigene Faust zu regeln, aber erfolgreiche Agenten waren nur selten Vollidioten, sonst waren sie schon bald tote Agenten.

Auch dieser Gedanke brachte ihn nicht weiter, denn die Joubrans waren tot. Zu blöd.

Ehe sich seine Gedanken noch weiter im Kreis drehten wie ein junger Hund, der seinem Schwanz nachjagt, stand Swain auf, ging unter die Dusche und bestellte anschließend beim Zimmerservice ein Frühstück. Er hatte sich entschieden, im Bristol an den Champs‐Elysees abzusteigen, weil es dort einen Hotelparkplatz gab und der Zimmerservice rund um die Uhr arbeitete. Das Zimmer war zwar sündhaft teuer, aber er brauchte den Parkplatz für den Wagen, den er noch gestern Abend gemietet hatte, und den Zimmerservice, weil er nicht vorhersagen konnte, zu welchen Stunden er etwas essen würde.

Außerdem hatte er eine Schwäche für Marmorbäder.

Während er sein Croissant mit Marmelade verspeiste, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Die Joubrans waren nicht zufällig über irgendwas gestolpert. Sie waren angeworben worden und hatten ihren Auftrag entweder in den Sand gesetzt oder aber erfolgreich durchgeführt, wofür Nervi sie im Gegenzug beseitigen ließ.

Vielleicht wusste Lily bereits, wofür man die Joubrans angeworben hatte, was bedeuten würde, dass sie ihm weiterhin einen entscheidenden Schritt voraus war. Aber wenn nicht – was er für wesentlich wahrscheinlicher hielt, da sie selbst im Einsatz gewesen war, als ihre Freunde ermordet worden waren –, dann würde sie erst einmal herauszufinden versuchen, wer ihre Freunde weshalb angeheuert hatte. Im Wesentlichen hätte sie die gleichen Fragen und würde mit den gleichen Leuten reden wollen wie Swain. Wie wahrscheinlich war es wohl, dass sich ihre Wege dabei kreuzen würden?

Seine Chancen hatten anfangs nicht allzu gut ausgesehen, schienen sich aber mit jeder Minute zu verbessern. Ein guter Ausgangspunkt wäre es herauszufinden, ob es in der Woche vor dem Tod der Joubrans irgendeinen Zwischenfall in einer der Nervi‐Fabriken gegeben hatte, und wenn ja, was dort passiert war. Lily würde die Zeitungen durchforsten müssen, in denen eventuell, aber eben nur eventuell über Probleme innerhalb eines Nervi‐Unternehmens berichtet worden war; er hätte sich direkt an die französische Polizei wenden können, allerdings war es ihm lieber, wenn die hiesigen Behörden nicht wussten, wer er war und wo er sich aufhielt. Frank Vinay wollte diese Aktion so geräuschlos wie möglich durchführen; es konnte zu diplomatischen Verwicklungen führen, wenn die Franzosen mitbekamen, dass eine Agentin der CIA einen so einflussreichen Geschäftsmann wie Salvatore Nervi ermordet hatte, der zwar kein französischer Staatsbürger gewesen war, aber seit Jahren in Paris gewohnt und viele Freunde in der Regierung gehabt hatte.

Er schlug die Adresse der Joubrans im Telefonbuch nach, aber dort waren sie nicht aufgeführt. Das überraschte ihn nicht.

Zum Glück arbeitete Swain für einen Nachrichtendienst, der selbst die unbedeutendsten Nachrichten aus dem letzten Winkel dieser Erde sammelte, katalogisierte und auswertete.

Und zu seinem noch größeren Glück war der Datenhighway dieses Nachrichtendienstes rund um die Uhr geöffnet.

Er griff zu seinem abhörsicheren Telefon und rief in Langley an, wo er den üblichen Prozess der Identifikation und Überprüfung durchlief, aber trotzdem schon nach einer Minute mit einem wahrhaft Berufenen namens Patrick Washington sprach. Swain erklärte ihm, wer er war und was er brauchte, Patrick sagte: »Einen Moment«, und ließ Swain warten. Und warten.

Erst zehn Minuten später meldete sich Patrick wieder.

»Entschuldigen Sie die Verzögerung. Ich musste noch etwas nachprüfen.« Was nichts anderes hieß, als dass er Swains Legitimation überprüft hatte. »Ja, es gab einen Vorfall in einem der Labors, und zwar am fünfundzwanzigsten August. Eine kleinere Explosion mit darauf folgendem Brand. Unseren Berichten zufolge entstand dabei kein nennenswerter Schaden.«

Die Joubrans waren am 28. August ermordet worden. Der Vorfall in dem Labor musste der Auslöser gewesen sein.

»Haben Sie die Adresse des Labors?«

»Kommt sofort.«

Swain hörte das Klicken einer Computertastatur, dann sagte Patrick: »Rue des Capucines sieben am Stadtrand von Paris.«

Der war verflucht groß. »Im Norden, Osten, Süden oder Westen?«

»Moment, ich rufe kurz ein Straßenverzeichnis auf ‐«

Wieder hörte Swain es klicken. »Im Osten.«

»Und wie heißt das Labor?«

»Ganz einfach Nervi‐Labor.«

Sehr schön. Im Geist übersetzte Swain den Namen ins Französische. Laboratoires Nervi. Wie gut, dass er ein solches Fremdsprachengenie war.

»Brauchen Sie sonst noch was?«

»Ja. Die Wohnadresse von Averill und Christina Joubran.

Die beiden waren deaktivierte Agenten. Wir haben sie hin und wieder eingesetzt.«

»Wann war das etwa?«

»Anfang der Neunzigerjahre.«

»Einen Augenblick.« Wieder klickte es. Patrick sagte: »Da ist sie«, und gab die Adresse durch. »Noch etwas?«

»Nein, das wäre alles. Sie leisten gute Arbeit, Mr.

Washington.«

»Danke, Sir.«

Das »Sir« bestätigte, dass Patrick tatsächlich Swains Identität und Berechtigung überprüft hatte. Er setzte Patricks Namen auf seine mentale Liste von Menschen, an die er sich notfalls wenden konnte, denn es hatte ihm gefallen, dass der junge Mann vorsichtig genug war, um nichts als selbstverständlich hinzunehmen.

Swain schaute aus dem Fenster: Es regnete immer noch. Das gefiel ihm gar nicht. Er hatte zu oft zu lang in dampfender tropischer Hitze gestanden, nachdem ihn ein Wolkenbruch bis auf die Haut durchnässt hatte, und diese Erfahrung hatte bei ihm eine intensive Abneigung gegen nasse Kleider erzeugt.

Nass und durchkühlt war er schon ewig nicht mehr gewesen, aber soweit er sich erinnern konnte, war es noch unangenehmer als nass und warm. Eine Regenjacke hatte er auch nicht dabei. Er wusste nicht einmal, ob er überhaupt eine besaß, und zum Einkaufen hatte er schon gar keine Zeit.

Er schaute auf die Uhr. Zehn nach acht; die Läden hatten noch nicht auf. Er löste das Problem, indem er bei der Rezeption anrief und darum bat, nach Ladenöffnung einen Regenmantel in seiner Größe auf sein Zimmer zu liefern, für den er sein Konto belasten ließ. Das würde zwar nicht verhindern, dass er heute Morgen nass wurde, da er nicht warten konnte, bis der Regenmantel besorgt worden war.

Aber andererseits musste er nur zu seinem Mietwagen laufen und nicht stundenlang durch den Dschungel waten.

Er hatte einen Jaguar gemietet, weil er schon immer einen fahren wollte und weil gestern Abend am Mietwagenschalter nur noch Luxuslimousinen zur Verfügung gestanden hatten, obwohl er »viel schneller« als sonst über den Kanal gekommen war, Murrays NATO‐Freund sei Dank. Er nahm sich vor, nur den üblichen Betrag als Spesen anzusetzen und den Rest aus eigener Tasche draufzuzahlen. Normalerweise war keine Vorschrift davor sicher, dass er daran herumfeilte, aber bei seinen Spesen war er extrem pingelig. Er vermutete, dass man ihm im Zweifelsfall wegen falscher Spesenabrechnungen Feuer unter dem Arsch machen würde. Und da ihm sehr an seinem Arsch gelegen war, wollte er ihm jede übertriebene Hitze ersparen.

Er verließ das Bristol hinter dem Lenkrad des Jaguars und inhalierte dabei tief den üppigen Ledergeruch der Autopolster.

Wenn Frauen wirklich versuchen würden, mit ihrem Duft Männer anzulocken, dachte er, würden sie ausschließlich Neuwagenparfüm tragen.

Diesen Gedanken fröhlich ausspinnend, stürzte er sich in den Pariser Verkehr. Er war seit Jahren nicht mehr in Paris gewesen, aber er hatte nicht vergessen, dass hier nur der Tapfere und Tollkühne Vorfahrt hatte. Laut Verkehrsordnung galt hier zwar theoretisch rechts vor links, aber von Ordnung konnte in diesem Verkehr keine Rede sein. Er schrammte knapp an einem Taxi vorbei, dessen Fahrer eine Vollbremsung hinlegte und ihm gallische Flüche hinterherschickte, aber da hatte Swain schon beschleunigt und sich in die nächste Lücke geschoben. Verflucht noch mal, das machte Spaß! Die nassen Straßen machten den Verkehr noch unberechenbarer und trieben seinen Adrenalinspiegel in immer neue Höhen.

Unter sporadischer Zuhilfenahme eines Stadtplans kämpfte er sich nach Süden in das Montparnasse‐Viertel vor, wo die Joubrans gewohnt hatten. Später würde er auch das Nervi‐Labor in Augenschein nehmen, sich das Gelände und die auffälligeren Sicherheitsmaßnahmen einprägen, aber zuerst wollte er dorthin, wo sich Lily Mansfield seiner Einschätzung nach am wahrscheinlichsten aufhielt.

Es war an der Zeit, das Spiel zu eröffnen. Er konnte es kaum erwarten, ihr nach der lustigen Jagd, die sie ihm gestern geboten hatte, persönlich zu begegnen. Er war fest überzeugt, dass er letzten Endes gewinnen würde, aber erst wollte er Spaß und Spiel ausgiebig genießen.

8

Rodrigo knallte den Hörer auf die Gabel, stützte die Ellbogen auf die Schreibtischplatte und vergrub das Gesicht in den Händen. Der Drang, jemanden zu erwürgen, war fast übermächtig. Murray und seine fröhlichen Gesellen waren offenbar mit Blindheit und Dummheit geschlagen, sonst hätten sie sich unmöglich von einer einzigen Frau derart an ʹ der Nase herumführen lassen. Murray schwor Stein und Bein, er habe das Video von Experten überprüfen lassen, ohne dass ihm auch nur einer davon sagen konnte, wohin Denise Morel verschwunden war. Sie hatte sich einfach in Luft aufgelöst, obwohl Murray gnädigerweise zugestanden hatte, dass sie sich verkleidet haben musste. Trotzdem war sie dabei so clever und professionell

vorgegangen,

dass

es keine