sichtbaren

Ähnlichkeiten gebe, mit denen sie arbeiten könnten.

Er würde auf keinen Fall zulassen, dass der Mord an seinem Vater ungesühnt blieb. Zum einen würde sein Ruf leiden, aber vor allem schrie alles in ihm nach Vergeltung. Sein Schmerz und sein verletzter Stolz brodelten mit jedem Tag heftiger und ließen ihm keine ruhige Minute. Er und sein Vater waren immer so gründlich, so umsichtig gewesen, und dennoch hatte diese Frau all ihre Sicherheitsvorkehrungen unterlaufen und Salvatore einen grässlichen, qualvollen Tod beschert. Sie hatte ihm nicht einmal die Ehre erwiesen, ihn mit einer Kugel zu töten, sondern sich für Gift, die Waffe des Feiglings, entschieden.

Murray hatte sie vielleicht aus den Augen verloren, aber er, Rodrigo, hatte noch längst nicht aufgegeben. Er weigerte sich aufzugeben.

Denk nach!, befahl er sich. Bevor er sie finden konnte, musste er sie erst einmal identifizieren. Wer war sie, wo lebte sie, und wo lebte ihre Familie?

Woran wurde üblicherweise jemand identifiziert? Als Erstes kamen natürlich die Fingerabdrücke infrage. Oder ihre zahnärztlichen Unterlagen. Letzteres war ihm nicht zugänglich, denn dafür musste er nicht nur wissen, wer sie war, sondern auch, zu welchem Zahnarzt sie ging, und außerdem wurde diese Methode der Identifizierung meist für Tote gewählt. Eine lebendige Frau aufzuspüren … Wie ging das am schnellsten?

Fingerabdrücke. Das Zimmer, in dem sie bis zu ihrer Genesung geschlafen hatte, war gleich nach ihrer Rückkehr in ihre Wohnung gründlich geputzt worden, und er hatte auch versäumt, ihre Fingerabdrücke von einem der Gläser oder von ihrem Besteck abnehmen zu lassen. Allerdings konnte er ihre Wohnung durchsuchen lassen. Mit neuem Mut rief er einen Freund bei der Pariser Polizei an, der ihm ohne weitere Fragen zusicherte, sich augenblicklich um die Sache zu kümmern.

Nach nicht einmal einer Stunde rief der Freund zurück. Er hatte zwar nicht jeden Winkel der Wohnung abgesucht, aber alle offensichtlichen Stellen kontrolliert, ohne dass er einen einzigen Fingerabdruck gefunden hätte, nicht einmal einen verschmierten. Die Wohnung war gründlich gesäubert worden.

Es machte Rodrigo rasend, dass ihm diese Frau fortwährend Knüppel zwischen die Beine warf, aber er schluckte seinen Zorn hinunter. »Welche Mittel gibt es sonst noch, die Identität eines Menschen zu überprüfen?«

»Keine, auf die hundertprozentig Verlass wäre, mein Freund. Fingerabdrücke sind nur verwendbar, wenn die gesuchte Person schon einmal verhaftet wurde und die Abdrücke gespeichert sind. Das Gleiche trifft auch auf alle anderen Methoden zu. Eine DNA‐Probe ist zwar fast hundertprozentig treffsicher, aber sie führt nur zum Ziel, wenn es eine zweite DNA‐Probe gibt, mit der sie verglichen werden kann, sodass sich sagen lässt, ja, die beiden Proben stammen von

derselben

Person

oder

auch

nicht.

Das

Gesichtserkennungsprogramm

identifiziert

ausschließlich

Personen, die bereits in die Datenbank aufgenommen wurden, und dort sind vor allem Terroristen gespeichert. Das Gleiche gilt für Stimmerkennungsprogramme, Iris‐Abgleichsverfahren und alles andere. Es muss zuvor einen Datensatz geben, mit dem die Proben verglichen werden können.«

»Ich verstehe.« Rodrigo massierte seine Stirn. Seine Gedanken überschlugen sich. Ein Überwachungsvideo!

Denises Gesicht war auf dem Band der Überwachungskamera, und er hatte dank seiner Nachforschungen und ihrer falschen Papiere noch wesentlich genauere Fotos von ihr. »Wer hat solche Gesichtserkennungsprogramme?«

»Interpol natürlich. Und alle größeren Organisationen wie Scotland Yard, das FBI oder die CIA.«

»Können sie gegenseitig auf ihre Datenbanken zugreifen?«

»Bis zu einem gewissen Grad schon. In einer perfekten Welt, vom Standpunkt eines ermittelnden Beamten aus gesehen, müssten sie alle Informationen miteinander teilen, aber jeder hat Geheimnisse, nicht wahr? Wenn diese Frau eine Kriminelle ist, dann könnte sie Interpol in der Datenbank haben. Und noch etwas –«

»Ja?«

»Der Vermieter sagte, ein Mann, ein Amerikaner, sei gestern da gewesen und habe sich nach der Frau erkundigt. Leider wusste der Vermieter nicht, wie der Mann heißt, und seine Beschreibung ist so ungenau, dass sie nicht zu gebrauchen ist.«

»Danke.« Rodrigo versuchte zu begreifen, was das bedeutete. Die Frau hatte mit Dollars bezahlt. Ein Amerikaner suchte nach ihr. Aber falls der Mann sie beauftragt hatte, dann hätte er wissen müssen, wo sie jetzt steckte – und wozu sollte er überhaupt nach ihr suchen, nachdem sie ihre Mission ausgeführt hatte? Nein, der Mann musste sie von woanders kennen, vielleicht war er einfach nur ein Bekannter.

Er legte auf und wählte grimmig lächelnd eine Nummer, die er schon oft angerufen hatte. Die Verbindungen der Nervis erstreckten sich über ganz Europa, Afrika und in den Nahen Osten, und die Familie war gerade dabei, auch nach Asien zu expandieren. Als intelligentem Menschen stand es ihm gut an, dafür zu sorgen, dass er auch Kontakte in die Interpol‐Zentrale hatte.

»Georges Blanc«, meldete sich eine leise, ruhige Stimme, die genauso war wie der ganze Mensch. Rodrigo kannte nur wenige Menschen, die kompetenter waren als Blanc, obwohl er dem Mann noch nie persönlich begegnet war.

»Wenn ich ein Foto einscanne und Ihnen maile, können Sie es dann durch Ihr Gesichtserkennungsprogramm laufen lassen?« Er brauchte sich nicht mit Namen zu melden; Blanc kannte seine Stimme.

Es blieb kurz still, dann sagte Blanc: »Ja.« Er machte keine Einschränkungen und erklärte nicht erst umständlich, gegen wie viele Regeln er dafür verstoßen musste, er sagte einfach zu.

»Sie haben es in fünf Minuten«, sagte Rodrigo und legte auf.

Dann nahm er das Foto von Denise Morel – wer immer sie auch war – von seinem Schreibtisch und scannte es in seinen Computer, der mit mehreren Firewalls geschützt war.

Nachdem er ein paar Zeilen getippt hatte, war das Foto verschlüsselt unterwegs nach Lyon, wo die Interpol‐Zentrale saß.

Das Telefon klingelte. Rodrigo nahm den Hörer ab. »Ja.«

»Ich habe es bekommen«, hörte er Blancs ruhige Stimme.

»Ich rufe Sie an, sobald ich etwas erfahren habe, aber wie lange das dauern wird …« Seine Stimme verebbte, und Rodrigo sah ihn im Geist die Achseln zucken.

»So bald wie möglich«, befahl Rodrigo. »Und noch etwas.«

»Ja?«

»Ihr Kontaktmann bei den Amerikanern –«

»Ja?«

»Es besteht die Möglichkeit, dass die gesuchte Person Amerikanerin ist.« Oder von einem Amerikaner beauftragt worden war, was die Bezahlung in amerikanischen Dollars erklären würde. Er glaubte zwar nicht, dass die amerikanische Regierung hinter der Ermordung seines Vaters steckte, aber bis er mit Sicherheit wusste, wer die kleine Schlampe beauftragt hatte, würde er sich von den Amerikanern nicht in die Karten schauen lassen. Er hätte auch direkt zu seinem amerikanischen Verbindungsmann gehen und ihn direkt um diesen Gefallen bitten können, aber vielleicht war es besser, wenn er vorerst im Hintergrund blieb.

»Ich werde von meinem Verbindungsmann deren Datenbanken abfragen lassen«, versprach Blanc.

»Ganz diskret.«

»Selbstverständlich.«

9

Obwohl der kalte Regen unter den schützenden Schirm peitschte, ging Lily hoch erhobenen Hauptes, damit ihr nichts von dem entging, was um sie herum passierte. Sie marschierte mit schnellem Schritt, schon beinahe rücksichtslos, weil sie testen wollte, wie weit ihre Ausdauer reichte. Obwohl sie in Handschuhen, Stiefeln und bis zum Hals warm eingepackt war, hatte sie den Kopf trotz der nassen Kälte unbedeckt gelassen, sodass ihre blonden Haare zu sehen waren. Falls Rodrigos Männer sie rein zufällig hier in Paris suchen sollten, würden sie nach einer Brünetten Ausschau halten. Außerdem bezweifelte sie, dass Rodrigo ihre Spur bis hierher verfolgt hatte. Noch nicht.

Bei der CIA lag der Fall anders. Es hatte sie fast überrascht, dass sie in London nicht gleich nach dem Verlassen des Flugzeuges festgenommen worden war. Aber ihr war nichts passiert, und sie hatte auch keine weiteren Verfolger entdeckt, weder nach ihrer Rückkehr zum Flughafen de Gaulle noch heute Morgen.

Sie begann schon fast zu glauben, dass sie einfach unsagbares Glück gehabt hatte. Rodrigo hatte die Nachricht von Salvatores Tod mehrere Tage lang zurückgehalten und erst nach Salvatores Begräbnis veröffentlicht. Dabei hatte er nichts von irgendwelchen Giften erwähnt, sondern bloß kundgetan, dass sein Vater nach kurzer Krankheit gestorben sei. War es möglich, dass er die entscheidenden Schlussfolgerungen noch gar nicht gezogen hatte?

Sie wagte nicht wirklich, Hoffnung zu schöpfen, denn sie konnte es sich nicht leisten, unvorsichtig zu werden. Bis sie ihren Job erledigt hatte, musste sie mit Querschüssen von allen Seiten rechnen. Und danach – ehrlich gesagt hatte sie nicht die leiseste Idee, was sie danach tun würde. Im Moment beschränkte sich ihr Ehrgeiz darauf, dieses Abenteuer zu überleben.

Sie hatte kein Internetcafe in der Nähe ihres Apartments ausgesucht, weil sie unmöglich wissen konnte, ob nicht alle Onlinerecherchen über Unternehmen aus dem Nervi‐Konzern automatisch registriert wurden. Stattdessen war sie mit der Metro ins Quartier Latin gefahren und von dort aus zu Fuß gegangen. Für genau dieses Internetcafe hatte sie sich unter anderem entschieden, weil sie noch nie dort gewesen war. Eine der wichtigsten Regeln beim Untertauchen war, nie einer festen Routine zu folgen, nie vorhersehbar zu handeln. Wer zu oft dorthin ging, wo er sich am wohlsten fühlte, wo ihm alles vertraut war, wurde umso schneller geschnappt.

Lily hatte viel Zeit in Paris verbracht, was wiederum bedeutete, dass es zahlreiche Plätze und Menschen gab, die sie von nun an meiden musste. Einen festen Wohnsitz hatte sie hier nie gehabt, sondern immer bei Freunden – meist Averill und Tina – oder in einer Pension gewohnt. Ein einziges Mal hatte sie probeweise für ein Jahr eine Wohnung in London gemietet, die sie aber wieder aufgegeben hatte, weil sie doppelt so lang auf Reisen wie zu Hause war und die Wohnung daher nur unnötig Geld kostete.

Ihr wichtigstes Einsatzgebiet war Europa gewesen, weshalb sie auch nicht allzu oft in die Vereinigten Staaten geflogen war.

Aber so sehr sie Europa auch liebte und so vertraut es ihr inzwischen auch war, sie hatte nie mit dem Gedanken gespielt, sich endgültig hier niederzulassen. Falls sie sich jemals ein Haus kaufen würde – ein dickes, fettes »falls« –, dann unbedingt in den USA.

Manchmal träumte sie davon, aus dem aktiven Geschäft auszusteigen, so wie es Averill und Tina getan hatten, um fortan ein stinknormales Leben mit einem stinknormalen Job zu führen, in einem stinklangweiligen Ort zu wohnen, Teil der Gemeinschaft zu werden, ihre Nachbarn kennen zu lernen, Verwandte zu besuchen und am Telefon zu plaudern. Wie hatte es nur so weit kommen können, dass sie inzwischen ein menschliches Leben genauso leicht ausblasen konnte, wie die meisten Mitmenschen ein lästiges Insekt zertraten, und dass sie, verflucht noch mal, Angst hatte, ihre eigene Mutter anzurufen?

Als sie damit angefangen hatte, war sie noch so jung gewesen, und beim ersten Mal war es ganz und gar nicht leicht gewesen

– sie hatte gezittert wie Espenlaub –, aber sie hatte den Job erledigt, und beim nächsten Mal war es schon leichter gegangen und beim übernächsten Mal noch leichter. Nach einer Weile hatte sie ihre Opfer gar nicht mehr als richtige Menschen betrachtet, und diese emotionale Abspaltung hatte ihr geholfen, ihre Einsätze erledigen zu können. Vielleicht war sie naiv gewesen, aber sie hatte sich einfach darauf verlassen, dass ihre Regierung sie nicht auf irgendwelche anständigen Menschen ansetzte; wenn sie daran gezweifelt hätte, hätte sie nicht mehr arbeiten können. Und trotzdem hatte sie sich in jemanden verwandelt, der ihr selbst unheimlich war – sie war eine Frau, die man eigentlich nicht auf die Gesellschaft loslassen durfte.

Sie hegte immer noch den Traum, sich irgendwann zur Ruhe zu setzen und dann tatsächlich zur Ruhe zu kommen, aber inzwischen hatte ihn Lily als genau das erkannt – als einen Traum, der sich wahrscheinlich niemals erfüllen würde. Selbst wenn sie lebend aus diesem Schlamassel herauskommen sollte, schien ihre Vorstellung von einem normalen Leben ausschließlich normalen Menschen vorbehalten, und Lily fürchtete, dass sie schon lange kein normaler Mensch mehr war.

Dafür tötete sie zu leicht, zu instinktiv. Was würde passieren, wenn sie Tag für Tag gegen die immer gleichen Frustrationen ankämpfen musste, wenn sie sich mit einem fiesen Chef oder gemeinen Nachbarn anlegen musste? Oder wenn sie auf offener Straße überfallen würde? Würde sie dann ihre Instinkte beherrschen können, oder würde jemand sterben müssen?

Und wenn sie, was noch schlimmer wäre, unabsichtlich einen geliebten Menschen in Gefahr brächte? Sie wusste, dass sie es nicht ertragen würde, wenn jemand in ihrer Familie ihretwegen oder wegen ihrer Vergangenheit zu Schaden kam.

Ein Auto hupte, und Lily zuckte zusammen, augenblicklich wieder hellwach und konzentriert. Sie war entsetzt, dass sie derart in Gedanken versunken war, statt aufmerksam und konzentriert zu bleiben. Wenn sie ihre Konzentration nicht halten konnte, würde sie das hier unmöglich durchziehen können.

Vielleicht war sie bis jetzt unter dem Radar der CIA durchgetaucht – so hoffte sie wenigstens –, aber das würde nicht ewig so bleiben. Irgendwann würde sich jemand an ihre Fersen heften, und das wahrscheinlich schon ziemlich bald.

Bei realistischer Betrachtung gab es vier mögliche Schlussszenen für diese Situation. Im besten Fall würde sie herausfinden, weshalb Averill und Tina wieder in den Job eingestiegen waren, und diese Sache wäre so schrecklich, dass sich die gesamte Welt von den Nervis distanzieren würde, bis sie ihr Geschäft aufgeben mussten. Die CIA würde Lily natürlich nie wieder einsetzen; so berechtigt ihre Beweggründe auch sein mochten, ein Agent, der auf eigene Faust einen wichtigen Partner tötete, war viel zu instabil für diesen Job. Sie würde ihr Ziel also erreichen, wäre allerdings arbeitslos, was sie wieder zurück zu ihrer ursprünglichen Sorge brachte, ob sie tatsächlich ein ganz normales Leben führen konnte.

Im zweitbesten Fall würde sie auf nichts wirklich Belastendes stoßen – dass die Nervis Waffen an Terroristen verkauften, würde nicht reichen, denn das war sowieso bekannt – und wäre fortan gezwungen, unter falschem Namen zu leben. In diesem Fall wäre sie ebenfalls arbeitslos und stünde vor der Frage, ob sie sich in einem ganz normalen Job halten könnte und ein Leben als Namenlose ertragen würde.

Die beiden anderen Szenarien waren ausgesprochen freudlos. Entweder sie kam zum Ziel, wurde aber dabei getötet.

Oder aber, schlimmstenfalls, würde sie getötet, bevor sie irgendwas erreicht hatte.

Sie hätte sich gern mit dem Gedanken getröstet, dass die Chancen für einen positiven Ausgang bei fünfzig Prozent lägen, aber die vier Möglichkeiten waren, was ihre Wahrscheinlichkeit anging, höchst ungleich verteilt. Ihrer Einschätzung nach lag die Wahrscheinlichkeit, dass sie diesen Einsatz nicht überlebte, bei etwa achtzig Prozent, was möglicherweise noch optimistisch gerechnet war. Trotzdem würde sie alles versuchen, um ihre zwanzig Prozent zu nutzen. Sie durfte Zia nicht enttäuschen, indem sie einfach aufgab.

Das Quartier Latin war ein Labyrinth kleiner gepflasterter Gassen, durch das sich normalerweise die Studenten der nahen Sorbonne und Massen von Kauflustigen schoben, die sich für die skurrilen Läden und Ethno‐Boutiquen interessierten, aber heute hatte der kalte Regen die Menschen vertrieben. Im Internetcafe herrschte trotzdem Betrieb. Während Lily ihren Schirm zusammenklappte und Regenmantel, Halstuch und Handschuhe auszog, ließ sie den Blick durch das Cafe schweifen, um zu entscheiden, an welchem Computer sie am wenigsten auffiel. Unter ihrem gefütterten Regenmantel trug sie einen dicken Rollkragenpullover in einem kräftigen Blau, das ihre Augen dunkler wirken ließ, und eine weite Wollhose über niedrigen Stiefeletten. Um ihr rechtes Fußgelenk hatte sie ein Fußholster mit einem .22er‐Revolver geschnallt, der dank der Stiefeletten leicht zugänglich war, ohne dass er sich unter der weiten Hose abgezeichnet hätte. Wochenlang hatte sie keine Waffe tragen können, weil sie jedes Mal abgetastet worden war, wenn sie in Salvatores Nähe kam, und sie hatte sich dabei schrecklich schutzlos gefühlt; so war es schon besser.

Sie entdeckte einen freien Computer in einer Ecke, von wo aus sie die Tür im Auge behalten konnte und wo sie zugleich so abgeschieden saß, wie es in diesem Cafe überhaupt möglich war. Allerdings saß im Moment eine junge Amerikanerin davor, die offenbar ihre E‐Mails las. Amerikaner waren unschwer zu erkennen, wie Lily festgestellt hatte; nicht nur an ihrer Kleidung oder ihrem Stil, sie hatten auch etwas an sich, ein natürliches Selbstbewusstsein, das ab und zu an Arroganz grenzte und auf einen Europäer äußerst irritierend wirkte.

Vielleicht hatte sie diese innere Haltung auch noch – sie war sich dessen fast sicher –, aber ihr Kleidungsstil und ihr Verhalten hatten sich im Lauf der Jahre grundlegend geändert.

Meistens wurde sie, ihrer blonden Haare und blauen Augen wegen, für eine Skandinavierin gehalten, manchmal auch für eine Deutsche. Niemand, der sie so sah, hätte spontan an Sternenbanner und Baseball gedacht.

Sie wartete ab, bis das junge Mädchen seine E‐Mails durchgelesen hatte und gegangen war, und ließ sich dann auf dem frei gewordenen Platz nieder. Hier kostete die Stunde nur wenig, bestimmt weil hier Horden von Studentinnen und Studenten aus und ein gingen. Sie zahlte eine Stunde im Voraus, weil sie erwartete, mindestens so lange, wenn nicht noch länger zu brauchen.

Sie begann mit Le Monde, der größten Zeitung, deren Archive sie vom 21. August, als sie zum letzten Mal mit den Joubrans zu Abend gegessen hatte, bis zu ihrem Todestag am 28. August durchforstete. Das Wort »Nervi« tauchte nur ein einziges

Mal

in

einem

Bericht

über

internationale

Finanzströme auf. In der Hoffnung, auf irgendein Detail zu stoßen, das auf eine echte Story schließen ließ, las sie den Artikel mehrmals Wort für Wort durch, aber entweder kannte sie sich nicht gut genug mit den internationalen Finanzströmen aus, oder in dem Artikel stand nichts, was für sie interessant gewesen wäre.

In der Region Paris gab es insgesamt fünfzehn teils kleinere, teils größere Zeitungen. Sie würde in allen die betreffenden sieben Tage nachrecherchieren müssen. Es war eine zeitintensive Aufgabe, vor allem, weil der Computer manchmal eine halbe Ewigkeit brauchte, um eine Seite zu laden. Hin und wieder riss auch die Verbindung ab, und sie musste sich neu einloggen. Sie hatte schon drei Stunden vor dem

Bildschirm

gesessen,

als

sie

schließlich

das

Wirtschaftsblatt Investor aufrief und den Jackpot knackte.

Die Meldung war nur eine Randnotiz und nur zwei Absätze lang. Am 25. August hatte es in einem Forschungslabor der Nervi‐Gruppe eine Explosion sowie einen Brand gegeben, der als »klein« und »begrenzt« beschrieben wurde und »kaum Schaden« angerichtet hatte, sodass die im Labor durchgeführte Entwicklung von neuen Impfstoffen in keiner Weise beeinträchtigt worden war.

Averill hatte sich auf Sprengstoffe spezialisiert und es in seinem Metier zur wahren Meisterschaft gebracht. Er hatte nichts von sinnloser Zerstörung gehalten, wenn es mit ein bisschen Umsicht und Planung möglich war, eine Ladung anzubringen, die genau das anvisierte Ziel auslöschte. Wozu ein ganzes Gebäude in die Luft jagen, wenn ein einziger Raum genügte? Oder einen ganzen Straßenzug, wenn es nur um ein einzelnes Haus ging? Das Wort »begrenzt« tauchte im Zusammenhang mit seiner Arbeit öfter auf. Und Tina war nicht nur eine begnadete Pistolenschützin, sondern auch Expertin darin gewesen, Sicherheitssysteme zu knacken.

Lily wusste natürlich nicht mit Sicherheit, ob die Explosion das Werk ihrer Freunde war, aber alles deutete darauf hin.

Wenigstens hatte sie jetzt eine Spur, der sie folgen konnte und die hoffentlich in die richtige Richtung führte.

Da sie schon einmal online war, rief sie alle verfügbaren Informationen über das Forschungslabor ab, fand jedoch verdächtig wenig außer der Adresse und dem Namen des Laborleiters; es war ihr Freund Dr. Vincenzo Giordano. Na, so was. Sie tippte seinen Namen in die Suchmaschine ein, die daraufhin keine weiteren Ergebnisse anzeigte, aber sie hatte auch nicht wirklich erwartet, seine Privatadresse samt Telefonnummer im Internet zu finden. Es wäre der einfachste Weg gewesen, ihn aufzuspüren, aber es war definitiv nicht der einzige.

Sie ging offline, streckte die Schultern und rollte ihren Kopf nach links und rechts, um die verspannten Halsmuskeln zu lockern. Sie hatte sich drei Stunden lang nicht vom Fleck gerührt, und jetzt fühlte sich jeder Muskel steif an, ganz abgesehen davon, dass sie dringend auf die Toilette musste. Sie war müde, aber nicht so müde wie noch tags zuvor, und sie war zufrieden, dass ihre Kondition während des schnellen Marsches von der Metro hierher nicht nachgelassen hatte.

Es regnete immer noch, als sie aus dem Cafe trat, aber der Regen war zu einem leichten Nieseln abgeflaut. Sie öffnete den Schirm, überlegte kurz und ging dann in die entgegengesetzte Richtung zu jener, aus der sie gekommen war. Sie war hungrig, und sie hatte seit Jahren keinen mehr gegessen, aber sie wusste genau, was sie jetzt wollte: einen Big Mac.

Swain überlistete sich schon wieder selbst. Allmählich ging ihm das schwer auf die Nerven, aber anscheinend war das nicht zu ändern.

Er hatte die ehemalige Adresse der Joubrans ausfindig gemacht und festgestellt, dass die Wohnung aufgeräumt, ausgeräumt und danach entweder wieder vermietet oder verkauft worden war. Er spielte mit dem Gedanken, kurz durch ein Fenster einzusteigen und mal nachzusehen, ob er nicht doch noch irgendwas fand, aber das hätte nur etwas gebracht, wenn nicht schon wieder jemand eingezogen wäre.

Er hatte eine junge Mutter beobachtet, die ihren Babysitter empfing – der äußeren Ähnlichkeit nach zu schließen, ihre Mutter –, woraufhin zwei Kleinkinder aus der Tür in den Regen hinausgestürmt waren, bevor die junge Mutter sie abfangen konnte. Die zwei Erwachsenen hatten mit Engelszungen

und

strengen

Vorhaltungen

die

zwei

kreischenden Vorhangkletterer wieder eingefangen und zurück ins Haus getrieben; und wenig später war die junge Frau, bewaffnet mit Schirm und Aktentasche, erneut herausgestürmt. Ob sie arbeiten oder einkaufen ging, zählte nicht. Für ihn zählte nur, dass die Wohnung nicht mehr leer stand.

Und seither überlistete er sich ständig selbst. Ursprünglich hatte er vorgehabt, die Nachbarn und die Besitzer der umliegenden Geschäfte nach den Joubrans zu befragen, mit wem sie befreundet waren und so weiter. Aber dann kam ihm der Gedanke, dass Lily, falls er sie inzwischen überholt hatte, während ihrer Fragerunde erfahren würde, dass ein Amerikaner tags zuvor oder sogar wenige Stunden zuvor genau die gleichen Fragen gestellt hatte. Sie war nicht auf den Kopf gefallen; sie würde begreifen, was das zu bedeuten hatte, und sofort in Deckung gehen.

Den ganzen gestrigen Tag war er ihr nachgejagt und hatte sie einzuholen versucht, aber jetzt musste er neu überlegen. Es stand nicht mehr fest, dass sie ihm weiterhin einen Schritt voraus war, aber das konnte er nur ausnützen, wenn er wusste, was sie als Nächstes unternehmen würde. Bis dahin durfte sie auf keinen Fall auf ihn aufmerksam werden, weil sie sonst sofort wieder verschwinden würde.

Über verschlungene Kanäle – wobei Murray die Franzosen angezapft hatte – hatte er erfahren, dass Lily unter dem Namen Mariel St. Clair nach Paris zurückgeflogen war, aber die Adresse in ihrem Pass stellte sich als Fischgeschäft heraus. Ein kleiner Scherz ihrerseits, vermutete er. Sie würde sich garantiert nicht noch einmal als Mariel St. Clair ausgeben; wahrscheinlich war sie schon mühelos in die nächste Identität geschlüpft, in der er sie unmöglich aufspüren konnte. Paris war ein Moloch mit über acht Millionen Einwohnern, den Einzugsbereich mitgerechnet, in dem sie sich entschieden besser auskannte als er. Er hatte nur eine verschwindend kleine Chance, dass sich ihre Wege zufällig kreuzen würden, und er wollte sich diese Chance nicht verbauen, indem er sich zu schnell aus der Deckung wagte.

Verstimmt kreuzte er durch das Viertel, um sich mit der Gegend vertraut zu machen, und studierte dabei scheinbar beiläufig die Gesichter der Passanten, die durch die Straßen eilten. Leider versteckten sich die meisten Fußgänger unter Schirmen, die ihre Gesichter verdeckten, aber auch sonst hätte er keine Ahnung gehabt, wie Lily im Moment aussehen mochte.

Sie konnte praktisch jede Gestalt angenommen haben außer der einer alten Nonne, also war es vielleicht am zweckmäßigsten, vor allem nach denen Ausschau zu halten.

Vielleicht sollte er sich erst einmal dieses Nervi‐Labor vornehmen und abchecken, wie viele Sicherungsringe er von außen erkennen konnte. Wer weiß, vielleicht würde er ja bald dort einsteigen müssen?

Nach einem ungesunden und äußerst befriedigenden Mittagessen fuhr Lily mit der Bahn in die Vorstadt, in der Averill und Tina gewohnt hatten. Als sie wieder ausstieg, hatte es aufgehört zu regnen, und die Sonne unternahm angestrengte Versuche, die deprimierend graue Wolkendecke zu durchstoßen. Wärmer war es zwar nicht geworden, aber immerhin trübte kein Regen mehr die Laune der Menschen. Sie musste an das kurze Schneetreiben in Salvatores Todesnacht denken und sann darüber nach, ob es in diesem Winter in Paris wohl noch öfter schneien würde. Schneeflocken sah man in Paris nur selten. Und wie hatte Zia den Schnee geliebt! Fast jeden Winter waren sie, die drei Erwachsenen, die dieses Kind mehr liebten als das Leben selbst, mit ihr zum Skilaufen in die Alpen gefahren. Lily selbst lief nicht Ski, weil ein unglücklicher Sturz sie monatelang aus dem Verkehr ziehen konnte, aber ihre Freunde waren seit ihrem Rückzug aus dem aktiven Geschäft ganz wild aufs Skifahren.

Wie eine Folge von Ansichtskarten blitzten die Erinnerungen in ihrem Kopf auf: Zia als bezaubernde pausbäckige Dreijährige im knallroten Schneeanzug, wie sie einen winzigen und extrem windschiefen Schneemann zusammenbaute. Das war auf ihrer ersten Reise in die Alpen gewesen. Zia auf dem Kleinkinderhügel, laut jubilierend:

»Schaut mal! Schaut mal!« Tina laut lachend nach einem Kopfsturz in einen Schneehügel, von Kopf bis Fuß überpudert wie der sagenhafte Yeti. Sie zu dritt mit einem Drink vor dem prasselnden Kaminfeuer, während Zia ein Stockwerk höher schlief. Zia mit breiter Zahnlücke, Zia an ihrem ersten Schultag, Zia auf ihrer ersten Tanzvorführung, und dann, nicht mehr ganz Kind, aber noch längst nicht erwachsen, nach ihrer ersten Periode letztes Jahr, immerzu mit ihren Haaren beschäftigt und darauf brennend, endlich, endlich Mascara auftragen zu dürfen.

Lily schloss kurz die Augen; sie zitterte vor Schmerz und Wut. Wie so oft, seit sie erfahren hatte, dass ihre Freunde tot waren, fühlte sie sich von Gott und aller Welt verlassen. Seither konnte sie die Sonne zwar noch sehen, aber nicht mehr spüren, so als könnte die Wärme nicht mehr zu ihr durchdringen.

Salvatore umzubringen hatte ihr zwar eine gewisse Befriedigung verschafft, aber es reichte nicht aus, um die Sonne zurück in ihr Leben zu holen.

Sie blieb vor dem Haus stehen, in dem ihre Freunde gewohnt hatten. Inzwischen lebten dort Fremde. Ob die neuen Bewohner wohl wussten, dass dort vor wenigen Monaten drei Menschen ermordet worden waren? Sie fühlte sich irgendwie überrumpelt, denn eigentlich hätte alles so bleiben müssen wie vor dem Mord, und niemand hätte irgendwas an diesem Haus verändern dürfen.

Als sie damals gleich nach ihrer Rückkehr nach Paris erfahren hatte, dass man die drei ermordet hatte, hatte sie ein paar Fotos, ein paar von Zias Spielen und Büchern, ein paar Spielsachen und das von ihr angefangene und von Tina liebevoll weitergeführte Babyalbum an sich genommen.

Natürlich war das Haus abgesperrt und versiegelt gewesen, aber das hatte sie nicht aufhalten können. Zum einen besaß sie einen eigenen Hausschlüssel. Zum anderen hätte sie nötigenfalls das Dach mit bloßen Händen abgedeckt, um ins Haus zu gelangen. Aber was war mit dem Rest der Sachen geschehen? Wo waren die Kleider, die persönlichen Sachen, die Skiausrüstungen geblieben? Nach jenem ersten Tag war sie wochenlang rund um die Uhr damit beschäftigt gewesen herauszufinden, wer ihre Freunde umgebracht hatte, und einen Racheplan auszuarbeiten; als sie wieder zurückgekehrt war, war das Haus bereits ausgeräumt.

Averill und Tina hatten zwar entfernte Verwandte, vor allem Cousins und Cousinen, aber keine nahen Angehörigen.

Vielleicht hatten die Behörden ihre Verwandten benachrichtigt, die daraufhin alles zusammengepackt und weggebracht hatten.

Lily hoffte es. Es war in Ordnung, wenn irgendein Verwandter ihre Sachen bekam, während ihr die Vorstellung, dass ein Entrümpelungsdienst ihre Habseligkeiten eingepackt und auf den Müll gebracht hatte, unerträglich war.

Lily begann, die Häuser abzugehen, mit den Nachbarn zu reden und nachzufragen, ob irgendjemandem in der Woche vor der Tat ein ungewöhnlicher Besucher bei ihren Freunden aufgefallen sei. Sie hatte schon einmal Nachforschungen angestellt, aber damals hatte sie noch nicht gewusst, wonach sie fragen musste. Natürlich kannten die Menschen sie, schließlich war sie jahrelang immer wieder zu Besuch gekommen, hatte die Nachbarn gegrüßt und ein wenig mit ihnen geplaudert. Tina war kontaktfreudig gewesen, Averill eher zurückhaltend, aber Zia hatte keinerlei Scheu gekannt. Sie war mit allen Nachbarn vertraut.

Dennoch war nur einer Nachbarin etwas aufgefallen: Mme.

Bonnet, die zwei Häuser weiter wohnte. Sie war Mitte achtzig, alt und verknittert und saß beim Stricken – also praktisch rund um die Uhr – am liebsten am Fenster, von wo aus sie die ganze Straße im Auge hatte.

»Aber ich habe das doch schon alles der Polizei erzählt«, quengelte sie ungeduldig, als sie die Tür geöffnet und sich Lilys Frage angehört hatte. »Nein, in der Nacht, als sie umgebracht wurden, habe ich niemanden gesehen. Ich bin schon alt; ich sehe nicht mehr gut, und ich höre auch nicht mehr gut. Und ich ziehe nachts die Vorhänge zu. Wie hätte ich etwas sehen sollen?«

»Und vor dieser Nacht? Irgendwann in dieser Woche?«

»Auch das habe ich schon der Polizei erzählt.« Sie sah Lily böse an.

»Aber die hat nichts unternommen.«

»Natürlich hat die nichts unternommen! Völlig untauglich, das ganze Pack!« Mit einem einzigen angewiderten Handwedeln urteilte sie eine ganze Armee von fleißigen Beamten ab, die Tag für Tag ihr Bestes gaben.

»Haben Sie irgendjemanden bemerkt, den Sie nicht kannten?«, wiederholte Lily ihre Frage geduldig.

»Nur einen einzigen jungen Mann. Er sah sehr gut aus, beinahe wie ein Filmstar. Er kam eines Tages zu Besuch und blieb mehrere Stunden. Ich hatte ihn noch nie gesehen.«

Lilys Puls beschleunigte spürbar. »Können Sie ihn beschreiben? Bitte, Madame Bonnet.«

Die alte Dame sah sie wieder böse an, grummelte mehrere wenig schmeichelhafte Kommentare wie »inkompetente Idioten« oder »Haufen von Trotteln«, um dann zu erklären:

»Ich habe Ihnen doch gesagt, er sah sehr gut aus. Groß, schlank, dunkelhaarig. Sehr elegant gekleidet. Er kam mit dem Taxi und fuhr mit einem anderen Taxi wieder ab. Mehr weiß ich auch nicht.«

»Wie alt würden Sie ihn schätzen?«

»Jung natürlich! Für mich ist jeder unter fünfzig jung. Und jetzt lassen Sie mich mit diesen dummen Fragen in Frieden.«

Damit trat sie einen Schritt zurück und knallte Lily die Tür vor der Nase zu.

Lily atmete tief durch. Ein junger, gut aussehender, dunkelhaariger Mann. Gut gekleidet. In Paris, wo an gut aussehenden jungen Männern kein Mangel herrschte, gab es tausende, auf die diese Beschreibung zutraf. Es war ein Anfang, ein erstes Puzzleteilchen, aber als einziger Hinweis taugte es nicht. Sie hatte keine Liste von möglichen Verdächtigen, die sie abarbeiten konnte, sie hatte auch keine Fotos, die sie Mme.

Bonnet zeigen konnte, in der Hoffnung, dass die alte Dame irgendwann sagen würde: »Der da. Der war es.«

Und wie viel wusste sie jetzt wirklich? Vielleicht hatte der gut aussehende junge Mann ihre Freunde angeworben, um etwas im Labor der Nervis hochzujagen, aber vielleicht war es auch nur ein Bekannter gewesen, der auf einen Besuch vorbeigeschaut hatte. Averill und Tina konnten ihren Auftraggeber auch woanders getroffen haben. Sie mussten ihn nicht in ihrem eigenen Haus empfangen. Tatsächlich war das eher unwahrscheinlich.

Sie massierte ihre Stirn. Sie hatte die ganze Sache noch nicht richtig durchdacht, und sie wusste nicht, ob sie sich richtig durchdenken ließ und ob sie auch nur einen Schritt weiterkommen würde, wenn sie erfuhr, warum Averill und Tina den Job angenommen hatten oder worin der Job bestanden hatte. Sie wusste nicht einmal mit Sicherheit, dass es einen Job gegeben hatte, aber das war das einzige Szenario, das überhaupt Sinn ergab. Sie würde einfach ihrem Instinkt folgen müssen. Wenn sie jetzt anfing, an sich zu zweifeln, konnte sie gleich einpacken.

Gedankenversunken trottete sie zum Bahnhof zurück.

10

Georges Blanc glaubte unbedingt an Recht und Gesetz, aber er war zugleich ein pragmatischer Mensch, der es hinnahm, dass es bisweilen Situationen gab, in denen man nur zwischen zwei Übeln abwägen konnte.

Es gefiel ihm ganz und gar nicht, Rodrigo Nervi mit Informationen zu versorgen. Allerdings hatte er eine Familie, die er beschützen musste, und einen erwachsenen Sohn, der erst dieses Jahr sein Studium an der amerikanischen John Hopkins University aufgenommen hatte. Die Studiengebühren an der Johns Hopkins betrugen fast dreißigtausend Dollar pro Jahr; das allein hätte ihn als Vater an den Bettelstab gebracht.

Trotzdem hätte er die Kosten irgendwie geschultert, auch wenn ihn Salvatore Nervi nicht vor über zehn Jahren angesprochen und den genialen Vorschlag gemacht hätte, Georges ein äußerst großzügiges zweites Einkommen zu verschaffen, für das er nichts weiter zu tun brauchte, als gelegentlich ein paar Informationen weiterzuleiten und sich ab und zu gefällig zu zeigen. Als Georges höflich, aber bestimmt abgelehnt hatte, hatte Salvatore mit eisigem Lächeln eine gruselige Liste von möglichen Missgeschicken rezitiert, die Georgesʹ Familie widerfahren könnten: Sein Haus könnte abbrennen, seine Kinder könnten entführt oder gar verletzt werden. Salvatore erzählte ausführlich, wie ein paar Ganoven in das Haus einer alten Frau eingebrochen waren und sie geblendet hatten, indem sie ihr Säure ins Gesicht schütteten, wie alle Ersparnisse plötzlich wie von Zauberhand verschwinden oder Autos in tödliche Unfälle verwickelt werden konnten.

Georges hatte verstanden. Salvatore hatte ihm eben geschildert, was ihm und seiner Familie zustoßen würde, wenn er sich weigerte, Salvatores Forderungen zu erfüllen. Darum hatte er nur genickt und sich seither bemüht, den Schaden zu begrenzen, den er mit der Weitergabe von Informationen und seinen

gelegentlichen

Gefälligkeiten

anrichtete.

Die

Drohungen hätten als Motivation ausgereicht, dass Salvatore alle Informationen umsonst bekommen hätte, aber er hatte zusätzlich für Georges ein Schweizer Nummernkonto eingerichtet, auf das er jedes Jahr das Doppelte seines normalen Jahresgehaltes einzahlte.

Georges war vorsichtig genug, um nach außen hin allein von seinem Gehalt als Interpol‐Angestellter zu leben, aber auch pragmatisch genug, um von dem Schweizer Nummernkonto das Schulgeld für seinen Sohn zu bestreiten. Im Lauf der vergangenen zehn Jahre hatte sich auf dem Konto eine beträchtliche Summe angehäuft, für die er obendrein Zinsen kassierte. Das Geld war da; er würde es nicht verprassen, indem er Luxusgüter kaufte, er würde damit für seine Familie vorsorgen. Irgendwann würde er das Geld unter die Leute bringen müssen, das war ihm klar, aber was er damit anstellen würde, wusste er noch nicht.

Während der letzten Jahre hatte er vorwiegend mit Rodrigo Nervi zu tun gehabt, den Salvatore als Thronfolger ausersehen hatte und der nun dessen Platz einnahm. Es wäre ihm fast lieber gewesen, wenn er mit Salvatore selbst zu tun gehabt hätte. Rodrigo war kälter als Salvatore, gerissener und, so glaubte Georges, auch skrupelloser. Salvatore hatte seinem Sohn einzig und allein seine Erfahrung und die vielen Jahre vorausgehabt,

während

deren

er

sein

teuflisches

Sündenregister angelegt hatte.

Georges sah auf die Uhr: dreizehn Uhr. Abzüglich der Zeitdifferenz von sechs Stunden zwischen Paris und Washington war es dort sieben Uhr morgens, genau die richtige Zeit, um jemanden auf dem Handy anzurufen.

Er benützte sein eigenes Handy, denn er hätte keinesfalls gewollt, dass der Anruf in den Telefonlisten von Interpol auftauchte. Eine fantastische Erfindung, diese Handys; sie machten die Münztelefone praktisch überflüssig. Natürlich waren sie nicht so anonym, aber seines war abhörsicher und wesentlich praktischer.

»Hallo«, meldete sich eine Stimme nach dem zweiten Klingeln. Im Hintergrund konnte Georges einen Fernseher und die tragende Stimme eines Nachrichtensprechers hören.

»Ich schicke Ihnen in Kürze ein Foto«, sagte Georges.

»Könnten Sie das so schnell wie möglich durch Ihr Gesichtserkennungsprogramm laufen lassen?« Er meldete sich nie mit Namen, genauso wenig wie sein Gesprächspartner.

Wann immer einer von ihnen Informationen brauchte, rief er den anderen auf einem Privattelefon statt im Büro an, was die offiziellen Kontakte auf ein Mindestmaß reduzierte.

»Klar doch.«

»Bitte lassen Sie mir die Ergebnisse über die üblichen Kanäle zukommen.«

Sie legten auf; ihre Telefonate hielten sie stets so kurz wie möglich. Georges wusste praktisch nichts über seinen Verbindungsmann, er kannte nicht einmal seinen Namen.

Soweit er wusste, kooperierte sein Partner in Washington aus den gleichen Gründen wie er – aus Angst. Nie fiel auch nur ein einziges freundliches Wort zwischen ihnen. Es ging bei ihren Gesprächen allein ums Geschäft, das war ihnen nur zu deutlich bewusst.

»Ich brauche eine definitive Antwort. Wird das Serum vor Beginn der nächsten Grippewelle fertig?«, fragte Rodrigo Dr.

Giordano. Auf Rodrigos Schreibtisch lag ein dicker Bericht, aber ihn interessierte allein das Ergebnis: ob der Impfstoff bis zum benötigten Zeitpunkt in der nötigen Menge hergestellt werden konnte.

Dr. Giordano war von verschiedenen internationalen Gesundheitsorganisationen

mit

finanziellen

Mitteln

überschüttet worden, um ein wirksames Mittel gegen die Vogelgrippe zu entwickeln. Ihr Labor war nicht das einzige, das auf diesem Feld arbeitete, aber es war das einzige, in dem Dr. Giordano arbeitete. Vincenzo war fasziniert von Viren und hatte seine Privatpraxis aufgegeben, um sie in Ruhe studieren zu können, wobei er zum anerkannten Experten geworden war und inzwischen als jemand angesehen wurde, der entweder genialen Forschergeist besaß oder ungeheures Glück beim Umgang mit den mikroskopisch kleinen Widerlingen hatte.

Ein Impfserum gegen jede Form von Vogelgrippe zu entwickeln war ein Kunststück, weil die Vogelgrippe naturgemäß vor allem Vögel befiel und die Impfseren gegen alle Grippeformen in Eiern gezüchtet wurden. Die Vogelgrippe wiederum tötete die Vogeleier ab, sodass kein Serum entstehen konnte. Wer einen Prozess entwickelte, um ein wirksames, zuverlässiges Mittel gegen die Vogelgrippe herzustellen, hätte eine fast unerschöpfliche Geldquelle erschlossen.

Ein solcher Impfstoff hatte das Potenzial, zur wichtigsten Verdienstquelle im gesamten Unternehmensverbund der Nervis aufzusteigen und dabei sogar die Opiatsparte zu überflügeln. Bislang endeten Infektionen mit der Vogelgrippe in einer Sackgasse: Das Virus konnte zwar von einem infizierten Vogel auf den Menschen übertragen werden, aber es konnte sich nicht von Mensch zu Mensch weiterverbreiten.

Der infizierte Mensch konnte entweder sterben oder wieder gesund werden, aber niemanden anstecken. Die Vogelgrippe in ihrer jetzigen Form konnte keine Epidemie auslösen, trotzdem waren die amerikanische Gesundheitsbehörde und die WHO äußerst besorgt über gewisse Mutationen des Virus.

Die Experten waren halbwegs überzeugt, dass die nächste weltweite Grippepandemie von einem Virus ausgelöst würde, gegen das die Menschen keine Abwehrstoffe entwickelt hatten, weil sie nie zuvor mit ihm in Kontakt gekommen waren, und sie tippten dabei auf ein Vogelgrippevirus – darum hielten sie zu Beginn jeder Grippewelle ängstlich den Atem an. Bislang hatte die Welt einfach verdammt viel Glück gehabt.

Wenn das Virus die nötige genetische Veränderung durchlaufen hätte, die es ihm ermöglichte, von einem Menschen zum nächsten zu springen, dann würde das Unternehmen, das einen Impfstoff gegen diese Grippe besaß, jeden Preis dafür verlangen können.

Dr. Giordano seufzte. »Wenn es keine weiteren Rückschläge gibt, könnte das Serum Ende nächsten Sommers fertig sein.

Dass es keine Rückschläge mehr gibt, kann ich allerdings nicht garantieren.«

Die Explosion hatte im August die Arbeit im Labor um mehrere Jahre zurückgeworfen. Vincenzo hatte kurz zuvor ein rekombinantes Vogelgrippevirus isoliert und in mühevoller Kleinarbeit eine Methode entwickelt, einen zuverlässigen Impfstoff herzustellen. Bei der Explosion war nicht nur sein Forschungsmaterial vernichtet worden, es waren auch viele wertvolle Informationen verloren gegangen. Computer, Daten, Notizen – alles hatte sich in Rauch aufgelöst. Vincenzo hatte ganz von vorn anfangen müssen.

Diesmal ging es schneller, weil Vincenzo bereits wusste, was funktionierte und was nicht, aber Rodrigo machte sich trotzdem Sorgen. Dieses Jahr hatte die Welt mit einer ganz normalen Grippe zu kämpfen, aber was war mit dem nächsten Jahr? Ein Impfserum zu produzieren dauerte etwa sechs Monate, und bis zum nächsten Herbst benötigten sie eine große Menge davon. Falls sie länger brauchten und schon nächstes Jahr ein Vogelgrippevirus jene genetische Mutation vollzog, nach der es von Mensch zu Mensch springen konnte, hätten sie die Gelegenheit, ein unermessliches Vermögen zu scheffeln, unwiderruflich verpasst. Die Infektion würde sich wie der Wind rund um den Globus ausbreiten, Millionen Menschen würden sterben, aber schon diese eine Saison würde genügen, damit alle Überlebenden ihr Immunsystem anpassten und dieses eine Virus das Ende seiner Erfolgsgeschichte erlebte. Nur jenes Unternehmen, das den Impfstoff bereithielt, sobald das Virus mutierte, würde den Gewinn einstreichen.

Vielleicht hatten sie ja noch einmal Glück, und das Vogelgrippevirus würde auch nächstes Jahr nicht mutieren, aber Rodrigo verließ sich nur ungern auf das Glück. Die Mutation konnte jederzeit stattfinden. Es war ein Wettrennen mit dem Virus, das er um jeden Preis gewinnen wollte.

»Es ist Ihr Job, dafür zu sorgen, dass es keine weiteren Rückschläge geben wird«, erklärte er Vincenzo. »Eine solche Gelegenheit bietet sich nur ein einziges Mal im Leben. Wir werden sie uns nicht durch die Lappen gehen lassen.« Dabei blieb unausgesprochen, dass Rodrigo jemand Neuen beauftragen würde, falls Vincenzo zu scheitern drohte.

Vincenzo war ein alter Freund, das schon – aber ein Freund seines

Vaters.

Rodrigo

belastete

sich

nicht

mit

Sentimentalitäten. Die wichtigsten Vorarbeiten hatte Vincenzo geleistet, jetzt war die Entwicklung an einem Punkt angelangt, an dem sie auch ein anderer weiterführen konnte.

»Vielleicht bietet sie sich mehr als nur einmal im Leben«, wandte Vincenzo ein. »Was ich mit diesem Virus gemacht habe, kann ich jederzeit wieder tun.«

»Aber werden die Umstände ebenso günstig sein? Im Moment ist alles perfekt. Wenn alles gut geht, wird niemand misstrauisch werden, und man wird uns – im Gegenteil – als Retter feiern. Wir sind in der idealen Position, genau jetzt zuzuschlagen. Nachdem die WHO selbst unsere Forschungen finanziert, würde sich niemand wundern, dass wir ein Serum entwickelt haben. Aber wenn wir allzu oft zum Brunnen gehen, mein Freund, kann der Krug brechen, und man wird uns Fragen stellen, die wir nur ungern beantworten möchten. Es kann nicht jedes Jahr eine Seuche geben, nicht einmal alle fünf Jahre, ohne dass jemand Verdacht schöpft.«

»Die Welt verändert sich«, wandte Vincenzo ein. »Die Menschen leben enger als je zuvor mit ihren Tieren zusammen.«

»Und keine Krankheit wurde je so gründlich erforscht wie die Grippe. Jede Variante wird unter tausenden von Mikroskopen untersucht. Sie wissen das am besten, schließlich sind Sie Arzt.« Die Grippe war gefährlicher, als die meisten Menschen glaubten; bei der Epidemie von 1918 waren mehr Menschen gestorben als während der vierjährigen großen Pest, die Europa im Mittelalter heimgesucht hatte. Schätzungsweise waren der Grippewelle von 1918 vierzig bis fünfzig Millionen Menschen zum Opfer gefallen. Selbst in ganz normalen Jahren tötete die Grippe tausende oder gar hunderttausende. Jedes Jahr wurde Serum für zweihundertfünfzig Millionen Impfungen produziert, und das war nur ein Bruchteil dessen, was man während einer großen Epidemie brauchen würde.

In den Vereinigten‐Staaten, in Australien und in England arbeiteten Forscher fieberhaft daran, genau jenes Serum zu entwickeln, das den Virologen zufolge am wahrscheinlichsten gegen den nächsten aktiven Virenstamm helfen würde. Große Seuchen wurden allerdings immer von Virenmutationen ausgelöst, die niemand vorhergesehen hatte, weshalb alle verfügbaren Impfstoffe versagten. Die ganze Grippevorsorge war wie ein riesiges Quiz, bei dem Millionen Menschenleben auf dem Spiel standen. Meistens lagen die Grippepropheten richtig. Aber etwa alle dreißig Jahre mutierte ein Virus und erwischte sie auf dem falschen Fuß. Seit der großen Hongkong‐Grippewelle 1968/69 waren fünfunddreißig Jahre vergangen; die nächste große Seuche war überfällig, und die Uhr lief gnadenlos ab.

Salvatore hatte seinen ganzen Einfluss und alle Kontakte spielen lassen, um jene Fördertöpfe der WHO anzuzapfen, aus denen die Entwicklung eines Serums gegen die Vogelgrippe finanziert wurde. Die ausgewählten Labore, die sonst die Grippeseren entwickelten, konzentrierten sich auf die üblichen Virenstämme, nicht auf die Vogelgrippe, folglich wären ihre Impfstoffe nutzlos. Dank der Forschungsmittel und Vincenzos Forschungen hätten die Nervi‐Labore als einzige das Know‐how, ein Serum gegen die Vogelgrippe zu produzieren und – was der Knackpunkt an der ganzen Sache war – das Mittel in riesigen Mengen versandfertig zu verpacken. Sobald überall auf der Welt Millionen Menschen sterben würden wie die Fliegen, würde jeder Preis für einen Impfstoff gegen diese neue Form der Grippe gezahlt. Die Profite, die sich in ein paar kurzen Monaten machen ließen, waren einfach unvorstellbar.

Natürlich konnten sie keinesfalls genug Serum produzieren, um alle Menschen zu schützen, aber die Weltbevölkerung konnte eine gewisse Ausdünnung vertragen, fand Rodrigo.

Die Explosion im August hatte das ganze Projekt gefährdet, darum hatte Salvatore alles unternommen, um den Schaden einzugrenzen. Die Verursacher der Explosion waren elimiert worden, und Rodrigo hatte ein neues Sicherheitssystem installiert, nachdem das alte ganz offensichtlich große Lücken gehabt hatte. Aber trotz aller Anstrengungen hatte Rodrigo nicht herausfinden können, wer das Pärchen angeworben hatte, das ihr Labor in die Luft gejagt hatte. Ein Konkurrent aus der Pharmaforschung? Es gab keine direkte Konkurrenz, weil kein anderes Labor an einem ähnlichen Projekt forschte. Ein Konkurrent ganz allgemein? Der hätte deutlich größere Ziele aussuchen können, die aber alle unbeschädigt geblieben waren.

Erst die Explosion, und drei Monate später der Mord an Salvatore. Konnte das eine mit dem anderen zusammenhängen?

Im Lauf der Jahre waren schon viele Anschläge auf Salvatore verübt worden, daher war es durchaus möglich, dass die beiden Vorfälle nichts miteinander zu tun hatten. Vielleicht war es einfach nur ein besonders schlechtes Jahr. Und doch …

die Joubrans waren Profis gewesen, der Mann als Sprengstoffexperte, die Frau als Killer; Denise Morel war höchstwahrscheinlich ebenfalls ein Profi. War es da wirklich auszuschließen, dass sie vom gleichen Auftraggeber angeheuert worden waren?

Andererseits unterschieden sich die beiden Vorfälle grundlegend voneinander. Bei der Explosion war gezielt Vincenzos Arbeit torpediert worden. Wer würde von dieser Zerstörung profitieren, nachdem es kein Geheimnis war, dass er an einer neuen Methode der Serumproduktion arbeitete?

Doch nur jemand, der am gleichen Projekt forschte und wusste, wie kurz Vincenzo vor dem Erfolg stand, und der ihm möglichst zuvorkommen wollte. Bestimmt gab es kleinere Privatlabore, die ebenfalls versuchten, ein Serum gegen die Vogelgrippe zu entwickeln, aber wer unter den zahllosen Forschern hätte gewusst, wie nahe Vincenzo seinem Ziel war, und obendrein die finanziellen Mittel, zwei Profis anzuheuern, um seine Arbeit zu vernichten?

Vielleicht eines der anderen Labore im Dienst der WHO, die jedes Jahr Grippeseren herstellten?

Andererseits beeinträchtigte der Mord an Salvatore Vincenzos Arbeit überhaupt nicht. Rodrigo hatte schon wenige Tage später Salvatores Platz eingenommen. Nein, der Mord an seinem Vater beeinflusste die Forschungen kein bisschen, demzufolge war eine Verbindung zwischen den beiden Taten unwahrscheinlich.

Das Telefon klingelte. Vincenzo wollte schon aufstehen, aber Rodrigo befahl ihm mit einer Handbewegung zu bleiben; er hatte noch einige Fragen wegen des Serums. Er drückte den Hörer ans Ohr. »Ja?«

»Ich habe eine Antwort auf Ihre Frage.« Wieder nannte der Anrufer keinen Namen, aber Rodrigo hatte Blancs ruhige Stimme beim ersten Wort erkannt. »In unseren Datenbanken war nichts verzeichnet. Dafür sind unsere Freunde auf einen Namen gestoßen. Die gesuchte Person heißt Liliane Mansfield, ist Amerikanerin und Agentin sowie Profikiller.«

Rodrigo stockte das Blut in den Adern. »Sie haben ihr den Auftrag erteilt?« Wenn sich die Amerikaner gegen ihn stellten, würde das die Sache enorm verkomplizieren.

»Nein. Mein Kontaktmann meint, unsere Freunde seien zutiefst verstört und versuchten ebenfalls, sie aufzuspüren.«

Zwischen den Zeilen hörte Rodrigo aus dieser Auskunft heraus, dass die CIA diese Frau ebenfalls finden und eliminieren wollte. Aha! Das erklärte auch, warum ein Amerikaner in ihrer Wohnung gewesen war und nach ihr gesucht hatte. Es war ein angenehmes Gefühl, auch dieses Rätsel geklärt zu haben; Rodrigo wusste gern genau, wie viele Figuren auf dem Schachbrett standen. Höchstwahrscheinlich würden die Amerikaner mit ihren technischen Möglichkeiten und ihren zahllosen Informationen über Liliane Mansfield die Kleine vor ihm finden … aber er wollte sich trotzdem persönlich von der Lösung ihres Atemproblems überzeugen.

Denn solange sie atmete, war sie ein Problem.

»Können Sie es arrangieren, dass Ihr Verbindungsmann alle neuen Erkenntnisse sofort weitergibt?« Solange er genauso viel wusste wie die CIA, konnten ihm die Amerikaner gern die Laufarbeit abnehmen.

»Vielleicht. Da wäre noch etwas, das Sie vielleicht interessiert. Die Frau war sehr eng mit den Joubrans befreundet.«

Rodrigo schloss die Augen. Da war es, jenes eine Detail, das alles erklärte, das alles verband. »Danke«, sagte er. »Bitte sagen Sie mir Bescheid, ob Sie auch die andere Sache mit unseren Freunden klären konnten.«

»Ja, natürlich.«

»Ich hätte gern eine Kopie aller Informationen, die Sie über diese Liliane Mansfield haben.«

»Ich werde sie Ihnen bei nächster Gelegenheit zufaxen«, antwortete Blanc, was anders ausgedrückt bedeutete, dass er das Fax losschicken würde, sobald er zu Hause angekommen war. Er würde unter keinen Umständen etwas aus dem Interpolgebäude an Rodrigo schicken.

Rodrigo legte auf und ließ den Kopf gegen die Sessellehne sinken. Die beiden Ereignisse hingen also doch zusammen, aber nicht so, wie er erwartet hatte. Ein Racheakt. So simpel, und obendrein ein Motiv, das er mit jeder Faser seines Körpers nachfühlen konnte. Salvatore hatte ihre Freunde ermorden lassen, darum hatte sie Salvatore ermordet. Wer auch immer die Joubrans beauftragt hatte, Vincenzos Arbeit zu zerstören, hatte damit eine Kette von Ereignissen ausgelöst, die vorläufig mit dem Tod seines Vaters endete.

»Sie heißt Liliane Mansfield«, eröffnete er Vincenzo. »Denise Morel, meine ich. Sie ist Profikiller und war eng mit den Joubrans befreundet.«

Vincenzos Augen wurden groß. »Und sie hat das Gift selbst genommen? Obwohl sie wusste, wie es wirkt? Brillant! Töricht, aber brillant!«

Rodrigo konnte Vincenzos Bewunderung für die Tat dieser Liliane Mansfield nicht nachempfinden. Sein Vater war einen sehr schmerzhaften, schweren Tod gestorben, aller Würde und jeder Selbstbestimmung beraubt, und das würde Rodrigo ihr nie verzeihen.

So. Sie hatte also ihr Ziel erreicht und war außer Landes geflohen. Vielleicht war sie ihm damit entwischt, aber das galt nicht für ihre Landsleute. Solange Blanc an der Sache dran war, würde Rodrigo über die Suche nach ihr auf dem Laufenden bleiben, und sobald die Kleine aufgespürt war, würde er zur Tat schreiten. Mit dem größten Vergnügen.

11

Als Rodrigo das Fax endlich in Händen hielt, starrte er lange auf das Bild jener Frau, die seinen Vater auf dem Gewissen hatte. Da sein Faxgerät einen Farbdrucker hatte, erkannte er auf den ersten Blick, wie clever und raffiniert sie sich verkleidet hatte. Auf dem Foto waren ihre Haare weizenblond und glatt, ihre Augen stechend blassblau. Mit dem energischen, schmalen Gesicht und den hohen Wangenknochen sah sie ausgesprochen nordisch aus. Verblüffend, wie weich ihr Gesicht durch die dunkle Haartönung und die braunen Kontaktlinsen gewirkt hatte; ihre Gesichtszüge waren die gleichen geblieben, aber die Wirkung hatte sich vollkommen verändert. Er hatte das Gefühl, sie hätte ins Zimmer kommen und sich neben ihn setzen können, ohne dass er sie wiedererkannt hätte.

Bis jetzt hatte er nicht nachvollziehen können, was sein Vater in ihr gesehen hatte. Als Brünette hatte sie Rodrigo kalt gelassen; als Blondine wirkte sie ganz anders auf ihn. Und das war nicht nur die typisch italienische Reaktion auf blonde Haare. Es war, als würde er sie erst jetzt wirklich sehen, als könnte er erst jetzt den Intellekt und die Willenskraft spüren, die diese hellen blauen Augen ausstrahlten. Vielleicht hatte Salvatore einen schärferen Blick gehabt als er selbst, denn für seinen Vater war innere Stärke wichtiger gewesen als jeder andere Charakterzug. Und diese Frau besaß Stärke. Es war fast unvermeidlich, dass Salvatore sich in sie verliebte, nachdem sie erst einmal seinen Weg gekreuzt hatte.

Rodrigo blätterte in den anderen Papieren, die Blanc ihm gefaxt hatte. Er wollte wissen, was für Einsätze diese Mansfield für die CIA erledigt hatte; sie war ein Auftragskiller. Punktum!

Es schockierte ihn nicht, dass eine demokratische Regierung Leute wie sie beauftragte; es hätte ihn viel mehr überrascht, wenn sie es nicht getan hätte. Vielleicht würden ihm diese Informationen einmal von Nutzen sein, wenn er einen Gefallen von der amerikanischen Regierung einfordern musste, aber im Moment halfen sie ihm nicht weiter.

Ihre Familie interessierte ihn da schon wesentlich mehr: eine Mutter und eine Schwester. Die Mutter, Elizabeth Mansfield, lebte in Chicago; die jüngere Schwester Diandra wohnte mit ihrem Mann und zwei Kindern in Toledo, Ohio. Falls er Liliane nicht aufspüren konnte, würde er immerhin ihre Angehörigen unter Druck setzen können, um sie aus ihrem Versteck zu jagen.

Dann las er, dass sie seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie hatte. Demnach war es durchaus möglich, dass ihr das Wohlergehen ihrer Angehörigen egal war.

Auf der letzten Seite wurde ihm noch einmal bestätigt, dass sein Vater, genau wie Blanc erzählt hatte, nicht im Auftrag der Amerikaner ermordet worden war. Sie hatte sich auf eigene Faust für den Tod ihrer Freunde rächen wollen. Die CIA hatte inzwischen einen Agenten losgeschickt, um das Problem aus der Welt zu schaffen.

Aus der Welt zu schaffen. Eine treffende Wortwahl, trotzdem wollte er diesen Part lieber selbst erledigen. Falls es irgendwie möglich war, wollte er sich diesen Triumph gönnen.

Andernfalls würde er sich auch gern damit abfinden, dass die Amerikaner die Situation bereinigten.

Als er den letzten Absatz las, schoss er fast aus seinem Stuhl hoch. Die Zielperson hatte London unter einem zweiten Decknamen verlassen und dann offensichtlich noch einmal die Identität gewechselt, um anschließend nach Frankreich zurückzukehren. Die Suche konzentrierte sich seither auf die Pariser Region. Der eingesetzte Agent glaubte, dass sie einen zweiten Schlag gegen die Nervis vorbereitete.

Rodrigo fühlte sich, als hätte er in eine Steckdose gefasst; alle Härchen an seinem Körper richteten sich auf, und eisige Schauer überliefen seinen Rücken.

Sie war nach Paris zurückgekommen. Sie war hier, ganz in seiner Nähe. Es war ein tollkühner Schachzug, und hätte ihn M.

Blanc nicht gewarnt, dann hätte sie ihn völlig unvorbereitet überrascht. Sein Leib und Leben waren so gut geschützt wie nur menschenmöglich, aber was war mit seinen Unternehmen, die über ganz Europa verteilt waren? Und was war vor allem mit jenen Firmen, die ihren Sitz hier in Paris hatten? Natürlich hatte er überall hervorragende Sicherheitssysteme installieren lassen,

aber

bei

dieser

Frau

waren

besondere

Schutzmaßnahmen angebracht.

Wo würde sie am ehesten zuschlagen? Die Antwort lag auf der Hand: in Vincenzos Labor. Er wusste es; sein Instinkt meldete sich viel zu deutlich, als dass er ihn ignorieren konnte.

Dort hatten auch ihre Freunde zugeschlagen, dort hatten sie ihr Leben verspielt. Sie würde es als poetische Gerechtigkeit betrachten, wenn sie den Job ihrer Freunde zu Ende führte, indem sie, zum Beispiel, eine Reihe von Sprengladungen anbrachte, die den Laborkomplex in Schutt und Asche legten.

Die anvisierten Profite aus dem Grippeserum nicht einzustreichen, das würde ihn zwar nicht an den Rand des Ruins bringen, aber er konnte dennoch eine Kapitalspritze gebrauchen. Geld regierte die Welt, Geld thronte über allen Königen

und

Ölprinzen,

allen

Präsidenten

und

Premierministern, die sich in ihrer Macht ständig zu übertrumpfen versuchten. Aber noch schlimmer als der entgangene Profit würde ihn die Schmach, der Gesichtsverlust treffen. Noch ein Vorfall in seinem Labor, und die WHO würde die Sicherheit seiner Forschungseinrichtungen infrage stellen; bestenfalls

würde

man

ihm

alle

Gelder

streichen,

schlimmstenfalls würde man auf Inspektionen vor Ort bestehen. Er wollte keine Fremden in seinen Laboratorien haben. Wahrscheinlich würde Vincenzo verbergen oder tarnen können, woran er wirklich forschte, aber jede weitere Verzögerung konnte das endgültige Aus für ihre Pläne bedeuten.

Sie durfte auf keinen Fall gewinnen. Abgesehen von allem anderen würde sich herumsprechen, dass Rodrigo Nervi zum Narren gehalten worden war – und noch dazu von einer Frau.

Eine Zeit lang würde er diese Schmach vielleicht verschweigen können, aber irgendwann würde irgendjemand plaudern.

Irgendeiner plauderte immer.

Die Sache hätte zu keinem schlechteren Zeitpunkt passieren können. Erst vor einer Woche hatte er seinen Vater beerdigt. Er wusste zwar genau, was jetzt zu tun war, aber ihm war trotzdem bewusst, dass einige noch stille Zweifel hegten, ob er wirklich in Salvatores Fußstapfen treten konnte. Und früher hatte er selbst Salvatore einen Großteil des Alltagsgeschäfts abgenommen; Rodrigo hingegen hatte noch niemanden, der ihm zuarbeitete.

So war er zurzeit damit beschäftigt, eine Ladung waffenfähiges Plutonium nach Syrien zu verschiffen. Gleich mehrere Länder mussten mit neuen Opiaten versorgt werden, ganz abgesehen davon, dass er auch einen legalen, breit gefächerten Konzern zu leiten hatte. Eine Konferenz jagte die andere.

Dennoch würde er sich die Zeit nehmen, Liliane Mansfield zu fangen, selbst wenn er dafür alle anderen Termine streichen musste. Bis morgen früh würde jeder seiner Angestellten in Frankreich ein Foto von ihr haben. Irgendwer würde sie erkennen, wenn sie nur über die Straße gehen wollte.

Die Sicherheitsvorkehrungen rund um das Labor waren nicht anders als bei fast allen Laboratorien, wenigstens soweit das von außen zu erkennen war. Die Anlage war umgeben von einem hohen Zaun mit zwei Toren – einem auf der Vorder-und einem auf der Rückseite, die von jeweils zwei Pförtnern bewacht wurden – und setzte sich aus mehreren meist fensterlosen, miteinander verbundenen Gebäuden zusammen.

Es waren reine Industriebauten aus rotem Backstein. Auf dem Parkplatz links davon standen etwa fünfzig Fahrzeuge.

All das registrierte Swain bei einer einzigen Kontrollfahrt.

Der Jaguar stach ziemlich ins Auge, darum konnte er nicht gleich wieder vorbeifahren, ohne dass es einem der Pförtner aufgefallen wäre. Stattdessen wartete er bis zum nächsten Tag, ehe er wieder vorbeifuhr, und nutzte bis dahin alle seine Quellen, um herauszufinden, wie Lily wohl am ehesten hineingelangen würde. Was das Außengelände betraf, beschränkten sich die Sicherheitsvorkehrungen im Groben auf das, was man von außen sehen konnte: Zaun, bewachte Tore, Pförtner. Nachts patrouillierte ein bewaffneter Nachtwächter mit einem Deutschen Schäferhund über das hell erleuchtete Gelände.

Es lag nahe, dass sie es in der Dunkelheit versuchen würde, scheiß auf den Hund. Nachts war zwar alles ausgeleuchtet, es blieben aber trotzdem Schatten, in denen sie sich verstecken konnte. Außerdem waren dann weniger Leute hier, und natürlich musste der Nachtwächter in den Stunden vor der Morgendämmerung gegen den Schlaf ankämpfen. Sie war eine exzellente Schützin und würde Wachmann und Hund mit zwei gut gezielten Betäubungspfeilen ausschalten können.

Nicht sekundenschnell, zugegeben, der Wachmann wäre vielleicht noch in der Lage, zu schreien oder Hilfe zu holen.

Natürlich konnte sie Herr und Hund auch einfach umbringen; wenn sie einen Schalldämpfer verwendete, würden die Kollegen am Tor nichts hören.

Der Gedanke gefiel Swain gar nicht. Eigenartigerweise störte ihn die Vorstellung, dass sie einen Hund abknallte, beinahe noch mehr als der mögliche Tod des Wachmannes.

Swain war ein Hundenarr, und seine Liebe machte nicht einmal vor ausgebildeten Kampfhunden Halt. Bei den Menschen lag die Sache anders; so wie er es sah, hatten es einige durchaus verdient zu sterben. Natürlich nahm er dabei die meisten Kinder aus, auch wenn ihm schon ein paar Kids begegnet waren, ohne die diese Welt eindeutig besser dran gewesen wäre. Er war nur froh, dass seine eigenen Kinder nicht so missraten waren, denn das wäre extrem peinlich gewesen.

Er musste einfach darauf hoffen, dass Lily nicht auf Hunde schoss. Andernfalls würde sein Mitgefühl mit ihr erheblich nachlassen.

Auf der anderen Straßenseite, direkt gegenüber dem Laborgelände, gab es einen hübschen kleinen Park. An warmen Sommertagen fanden sich dort garantiert viele Angestellte aus den umliegenden Geschäften ein, um in der Mittagspause ein wenig in der Sonne zu dösen. Selbst an einem frischen Novembertag wie diesem traf man hier ein paar Unerschütterliche, die ihre Hunde ausführten oder Zeitung lasen; immerhin so viele, dass ein Mann mehr oder weniger nicht auffallen würde.

Die Straßen waren hier breiter als in der Pariser Innenstadt, aber Parkplätze waren immer noch rar. Schließlich fand Swain einen freien Fleck ganz in der Nähe und schlenderte zu Fuß zum Park zurück. Er kaufte sich in einem Cafe einen Becher Kaffee zum Mitnehmen und entdeckte eine Bank in der Sonne, von wo aus er das Kommen und Gehen im Labor verfolgen, sich mit den Tagesabläufen vertraut machen und vielleicht eine Lücke in den Sicherheitsmaßnahmen entdecken konnte, die ihm bis jetzt entgangen war. Wenn er irrsinniges Glück hatte, würde Lily gerade heute das Gleiche tun. Weil er keine Ahnung hatte, welche Kleidung oder welche Perücke sie tragen würde, würde er später eine Runde durch den Park drehen und besonders auf die Nasen und Münder der Parkbesucher achten. Lilys Mund würde er überall wieder erkennen, davon war er überzeugt.

Der Gebäudekomplex mit den Laboratorien wirkte nicht weiter auffällig; die äußeren Sicherheitsvorkehrungen entsprachen denen einer ganz gewöhnlichen Fabrik: ein äußerer Zaun, nur zwei Eingänge, uniformierte Pförtner an den Toren. Alles, was darüber hinausging, zum Beispiel eine Viermetermauer mit Stacheldrahtkrone, hätte nur unnötig Aufmerksamkeit erregt.

Die raffinierteren Sicherheitseinrichtungen, vermutete Lily, befanden sich innerhalb der Gebäude. Fingerabdruck‐ oder Augenscanner vor den Türen zu den sensiblen Bereichen.

Laserstrahlen.

Bewegungssensoren.

Glasbruchsensoren,

Gewichtssensoren und so weiter und so fort. Sie musste herausfinden, wie genau das Gebäudeinnere überwacht wurde, und vielleicht würde sie jemanden anheuern müssen, der diese Systeme austricksen konnte. Sie kannte zwar ein paar Leute aus der Branche, aber sie wollte niemanden ansprechen, den sie kannte. Falls sich herumgesprochen hatte, dass sie seit neuestem persona non grata war, würde ihr keiner helfen wollen.

Vielleicht würden einige sogar aktiv gegen sie Partei ergreifen und interessierten Ohren zuflüstern, wo sie steckte und was sie plante.

In diesem Viertel regierte eine interessante Mischung von ausländischen Läden, trendigen kleinen Boutiquen – als hätte es jemals andere Boutiquen gegeben –, Cafes und billigen Wohnhäusern. Ein kleiner Park gönnte dem Auge Abwechslung vom Grau der Stadt, obwohl die meisten Bäume in Erwartung der nahenden Winterkälte alle Blätter abgeworfen hatten und die Zweige im frischen Wind wie Knochen gegeneinander klapperten.

Sie fühlte sich heute deutlich besser, schon beinahe normal.

Ihre Beine hatten den schnellen Marsch vom Bahnhof hierher klaglos mitgemacht, und sie war auch nicht außer Atem.

Morgen, nahm sie sich vor, würde sie es mit einem langsamen Dauerlauf probieren, aber heute gab sie sich noch mit Walking zufrieden.

Sie kehrte kurz in einer Bäckerei ein, wo sie einen Becher mit starkem schwarzem Cafe und ein Croissant mit buttriger, flockiger Kruste kaufte, das sofort nach dem Abbeißen in ihrem Mund zu zerschmelzen schien. Der Park lag nur fünfzig Meter weiter, darum spazierte sie hinüber und suchte sich eine Bank in der Sonne aus, wo sie sich dem sündig süßen Genuss ihres Croissants und ihrem Kaffee hingab. Als sie aufgegessen hatte, leckte sie ihre Finger ab, holte ein dünnes Notizheft aus ihrer Tasche, schlug es in ihrem Schoß auf und beugte sich darüber.

Sie gab vor, ganz in ihre Lektüre versunken zu sein, aber in Wahrheit waren ihre Augen ständig in Bewegung und schickten ihre Blicke hierhin und dorthin, bis sie alle Parkbesucher und ihre Umgebung registriert hatte.

Im Park hielt sich eine Hand voll Menschen auf; eine junge Mutter mit einem aufgeweckten Kleinkind, ein älterer Herr, der einen älteren Hund spazieren führte. Ein zweiter Mann saß allein auf seiner Bank, trank Kaffee und sah hin und wieder auf seine Uhr, als würde er, schon leicht genervt, auf jemanden warten.

Zwischen

den

Bäumen

schlenderten

einige

Spaziergänger umher: ein junges, Händchen haltendes Paar, zwei junge Männer, die im Gehen einen Fußball hin‐ und herkickten, und ein paar Leute, die einfach den sonnigen Tag genossen.

Lily holte einen Stift aus ihrer Tasche und skizzierte den Grundriss des Parks, wobei sie sämtliche Bänke, Bäume, Sträucher, die Betonmülleimer und den kleinen Brunnen in der Mitte einzeichnete. Dann schlug sie eine neue Seite auf und wiederholte das Ganze mit dem Laborkomplex. Diesmal skizzierte sie, wo sich die Türen und Fenster in Bezug auf die Einfahrten befanden. Sie würde eine solche Skizze von allen vier Seiten des Komplexes brauchen. Heute Nachmittag würde sie erst einmal ein Motorrad mieten und abwarten, bis Dr.

Giordano herauskam, vorausgesetzt, er war überhaupt hier –

sie hatte keine Ahnung, wann er gewöhnlich arbeitete. Sie würde einfach darauf hoffen, dass er die gleichen Arbeitszeiten hatte wie jeder andere auch, und dann würde sie ihm nach Hause folgen. Ganz einfach. Eine Adresse ließ sich auch auf altmodische Art herausfinden, Telefongeheimnummer hin oder her.

Sie wusste genauso wenig, ob er bei seiner Familie wohnte oder ob er überhaupt eine Familie hatte. Er war das Ass, das sie für alle Fälle im Ärmel haben wollte. Er wusste genau, wie das Labor gesichert war, und er hatte als Direktor Zugriff auf jeden Bereich des Sicherheitssystems; sie wusste nur nicht, wie leicht er seine Informationen preisgeben würde. Außerdem war es ihr lieber, wenn sie ohne ihn zurechtkam, denn sobald sie ihn in ihre Gewalt gebracht hatte, würde sie zuschlagen müssen, bevor irgendjemand mitbekam, dass Dr. Giordano vom Mikroskopträger verschwunden war. Darum wollte sie versuchen, die Sicherheitsmaßnahmen im Gebäude auf eigene Faust herauszufinden und ohne Dr. Giordanos Hilfe in sein Labor zu gelangen. Aber für den Fall der Fälle wollte sie so bald wie möglich wissen, wo er wohnte.

Lily war bewusst, dass sie in dieser Hinsicht Schwächen hatte. Bisher hatte sie sich nur mit den einfachsten Sicherheitssystemen herumschlagen müssen. Sie war auf einem einzigen Gebiet Expertin – darin, sich in ihre Zielperson hineinzuversetzen und ihr so nahe zu kommen, dass sie ihre Mission erfolgreich abschließen konnte. Je mehr sie über ihr Vorhaben nachdachte, desto klarer wurde ihr, wie ungleich die Chancen verteilt waren, aber das änderte nichts an ihrer Entschlossenheit. Hundertprozentige Sicherheit gab es nicht; irgendjemand wusste immer, wie man ein System umgehen konnte. Diesen einen Menschen würde sie aufspüren, oder sie musste sich eben selbst schlau machen.

Die beiden jungen Männer spielten nicht mehr Fußball.

Stattdessen sprach einer der beiden in ein Handy und schaute dabei erst in eine Zeitung und dann auf sie.

Sofort war sie hellwach. Scheinbar zerstreut ließ sie das Notizbuch und den Stift in ihre Tasche zurückgleiten und tat so, als hätte sie die Tasche versehentlich von der Bank auf den Boden geschubst. Sie bückte sich und schob, hinter der Tasche verborgen, die Hand in den Stiefel, um ihre Waffe zu ziehen.

Die Waffe hinter der Tasche haltend, stand sie auf und entfernte sich von den beiden Männern. Ihr Herz raste wie wild. Anders als sonst war sie diesmal nicht die Jägerin, sondern die Gejagte.

12

Lily sprintete los und schaffte es, die zwei Männer mit ihrem Blitzstart zu überraschen. Dann hörte sie einen Ruf und tauchte automatisch ab, einen Sekundenbruchteil, bevor der scharfe, tiefe Knall einer großkalibrigen Pistole die Alltagslethargie zersprengte. Noch im Fallen rollte sie hinter einen der Betonabfalleimer ab und kam auf einem Knie wieder hoch.

Sie war nicht so blöd, den Kopf zu heben, obwohl nur die wenigsten Schützen mit einer Pistole so genau zielen konnten.

Stattdessen schielte sie nur kurz auf der Seite vorbei und gab auch einen Schuss ab. Auf diese Distanz – vielleicht dreißig, fünfunddreißig Meter – war sie ebenfalls nicht besonders treffsicher; ihre Kugel bohrte sich genau vor den beiden Männern in den Boden, jagte eine Dreckwolke hoch und ließ die beiden ebenfalls in Deckung gehen.

Sie hörte Reifen quietschen und Menschen schreien, die erst jetzt begriffen, dass es sich bei dem Knallen um Schüsse handelte. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie sich die junge Mutter auf ihren kleinen Jungen stürzte, ihn hochriss, unter den Arm klemmte wie einen Fußball und losrannte. Der Kleine quietschte vor Freude über das neue Spiel. Der alte Mann stolperte und kippte wie ein gefällter Baum zu Boden, wobei ihm die Hundeleine aus der Hand rutschte. Sein alter Hund war viel zu müde, um die unverhoffte Gelegenheit zur Flucht zu nutzen, und ließ sich abwartend auf dem Rasen nieder.

Hastig sah sie sich um, ob von hinten ebenfalls Gefahr drohte, aber dort liefen alle von ihr weg und niemand auf sie zu. Nachdem sie von dort aus, wenigstens im Augenblick, nichts zu befürchten hatte, schielte sie hinter der anderen Seite des Betonpapierkorbs hervor und sah zwei uniformierte Wachposten,

die

mit

gezogenen

Waffen

aus

dem

Laborkomplex im Laufschritt angerannt kamen.

Sie gab einen Schuss in ihre Richtung ab, der die Wachposten auf das Straßenpflaster abtauchen ließ, aber auch die beiden waren zu weit weg, als dass Lily genau hätte zielen können. Sie benutzte eine modifizierte, zehnschüssige Beretta 87 mit Gewehrpatronen mit 22er‐Kaliber. Zwei Kugeln hatte sie bereits verschossen, und sie hatte keine Ersatzmunition mitgenommen, weil sie nicht damit gerechnet hatte, dass man auf sie schießen würde. Dumme Kuh!, schimpfte sie sich selbst.

Sie konnte nicht wissen, ob die beiden Männer von der CIA oder ob es Rodrigos Leute waren, aber sie tippte auf die CIA, weil die beiden sie so schnell gefunden hatten. Statt sich gründlich vorzubereiten, hatte sie ihre Gegner unter‐ und sich selbst überschätzt.

Sie konzentrierte sich erneut auf die beiden Fußballer. Beide waren bewaffnet, und als Lily wieder hinter ihrer Betondeckung hervorschaute, feuerten beide gleichzeitig auf sie; einer schoss meilenweit daneben, irgendwo im Hintergrund hörte sie Glas splittern, gefolgt von weiteren Rufen und dem plötzlichen entsetzten Aufschrei von jemandem,

der

entweder

durch

die

Kugel

oder

herumfliegende Glasscherben verletzt worden war. Die andere Kugel schlug in den Abfallbehälter ein, schleuderte einen Betonbrocken hoch und bombardierte ihr Gesicht mit brennenden Steinspritzern. Sie feuerte zurück – drei – und sah dann wieder nach den Wachmännern. Die waren inzwischen in Deckung gegangen, einer hinter einem Baum, der andere hinter einem Abfallbehälter wie ihrem.

Da sie vorerst auf ihren Positionen zu bleiben schienen, nahm sie sich wieder die Fußballspieler vor. Der links von ihr hatte sich noch weiter nach links vorgearbeitet, bis er fast aus ihrem Schussfeld war, da sie Rechtshänderin war und der schützende Betonmülleimer ihn bis zu einem gewissen Grad auch vor ihr schützte.

Das war gar nicht gut. Damit stand es waffenmäßig vier zu eins und munitionsmäßig mindestens genauso schlecht. Die Typen konnten sie festnageln, bis ihr die Kugeln ausgegangen waren oder bis die französische Polizei erschien und ihnen die Arbeit abnahm – was jeden Moment passieren musste, denn sie konnte, obwohl ihr die Ohren von den lauten Schüssen klingelten, schon die Sirenen hören.

Hinter ihr war jeder Verkehr zum Erliegen gekommen, weil alle Autofahrer ihre Wagen angehalten hatten und rausgesprungen waren, um sich dahinter zu verstecken. Ihre einzige Chance war es, zwischen die Autos zu fliehen, wo sie sich unbemerkt fortschleichen konnte; wahrscheinlich würde sie eine Abkürzung durch irgendeinen Laden nehmen oder auf einen ahnungslosen Radler hoffen müssen, dem sie das Fahrrad abnehmen konnte. Für einen längeren Dauerlauf war sie noch längst nicht wieder in Form.

Der alte Mann, der hingestürzt war, versuchte jetzt, aufzustehen und gleichzeitig seinen zitternden Hund an sich zu ziehen. »Liegen bleiben!«, brüllte ihm Lily zu. Unter seinen wild zerzausten weißen Haaren sah er sie entsetzt und völlig verständnislos an. »Liegen bleiben!«, brüllte sie noch einmal und winkte dabei mit der Hand.

Gott sei Dank hatte er diesmal verstanden und presste sich flach auf den Boden. Sein kleiner Hund kam zu ihm gelaufen und legte sich neben seinen Kopf, um ihm so nahe wie möglich zu sein.

Einen Augenblick war die Zeit wie eingefroren, und der scharfe Gestank des Kordits schien trotz des frischen Windes über dem kleinen Park festzuhängen. Sie hörte, wie sich die beiden Fußballspieler kurz absprachen, konnte aber kein Wort verstehen.

Von rechts hörte sie das Schnurren eines gut geölten, kraftvollen Motors. Sie drehte den Kopf und sah einen grauen Jaguar über den Bordstein setzen und genau auf sie zuhalten.

Das Herz hämmerte ihr in den Ohren, bis sie praktisch nichts anderes mehr hörte. Ihr blieben nur noch ein paar Sekunden; sie musste ihren Sprung genau timen, sonst würde sie der Wagen zermalmen. Sie zog die Beine an, sammelte alle Kraft – Da riss der Fahrer das Lenkrad herum, der Jaguar schleuderte seitlich zwischen sie und die Fußballspieler, die Reifen wirbelten Dreck und Grasbatzen hoch, während sie zu greifen versuchten, und das Heck des Autos drehte sich um hundertachtzig Grad, bis das Auto in die Richtung zeigte, aus der es gekommen war. Der Fahrer beugte sich zur Beifahrertür und stieß sie auf.

»Rein!«, schrie er auf Englisch, und Lily hastete geduckt zur Wagentür. Der dumpfe Schlag einer großkalibrigen Waffe hallte über sie hinweg, und die verbrauchte Patrone hüpfte vom Beifahrersitz direkt in ihr Gesicht. Sie schlug die heiße Hülle beiseite wie ein lästiges Insekt.

Er trat das Gaspedal durch, und der Jaguar machte einen Satz nach vorn. Sie hörte weitere Schüsse, eine ganze Serie sogar, bei der sich das Knallen und Wummern verschiedener Kaliber überlagerte. Das Heckfenster auf der Fahrerseite zerplatzte, und der Fahrer ging in Deckung, um nicht von den herumfliegenden Scherben getroffen zu werden. »Scheiße!« Er grinste und zog das Lenkrad herum, um einem Baum auszuweichen.

Lilys Blick flog über ein Chaos aus Blech hinweg, als sie aus dem Parkeingang jagten. Der Fahrer riss erneut das Lenkrad herum, und der Jaguar wechselte ein zweites Mal die Richtung, wobei Lily von ihrem Sitz geschleudert wurde und im Fußraum landete. Sie versuchte, sich am Sitz, am Türgriff, an irgendwas festzuhalten. Der Fahrer lachte wie ein Irrer, und dann setzte der Wagen über den nächsten Bordstein, schoss nach kurzem Schwänzeln durch eine viel zu enge Lücke zwischen zwei Autos und flog ein kurzes Stück, ehe er mit einem dumpfen Scheppern auf dem Asphalt auftraf, dass ihre Zähne aufeinander schlugen und das Chassis aufstöhnte.

Schluckend holte Lily Luft.

Der Fremde stieg mit voller Kraft auf die Bremse, zog nach links und beschleunigte noch in der Kurve. Die Beschleunigung presste Lily gegen die Sitzvorderkante und hinderte sie daran, sich hochzuziehen. Sie kniff die Augen zu, weil sie direkt neben ihrer Tür ein schrilles Reifenquietschen hörte, aber der Aufprall blieb aus. Stattdessen bog der Wagen nach rechts und raste über eine unebene Fläche; auch von unten konnte sie erkennen, dass sie sich in einer engen Gasse befanden, weil die Gebäude zu beiden Seiten so dicht neben ihrem Auto aufragten, dass sie um die Seitenspiegel fürchtete.

Lieber Gott, sie war zu einem Durchgeknallten ins Auto gehüpft. Dabei hatte sie ihre Mutter immer gewarnt, nie bei einem Fremden einzusteigen.

Am Ende der Gasse bremste er ab, stoppte kurz und bog dann behutsam in eine größere Straße ab, wo er die Geschwindigkeit dem fließenden Verkehr anpasste und im nächsten Moment gemütlich dahinrollte wie eine Oma am Sonntagmorgen.

Nur dass er immer noch grinste. Und dann warf er den Kopf zurück und lachte aus vollem Hals. »Das war einfach super!«

Er hielt beide Hände am Lenkrad, und die große Automatikpistole lag neben ihm auf dem Sitz. Eine bessere Chance würde sie wohl kaum bekommen. Lily blieb unten vor ihrem Sitz. Sie tastete heimlich nach ihrer Pistole, die ihr aus der Hand gefallen war, als sie hin und her geschleudert worden war wie auf einer Achterbahn. Sie ertastete die Waffe unter dem Beifahrersitz, zog sie mit einer schnellen, eleganten Bewegung heraus und zielte damit zwischen seine Augen.

»Halten Sie an, und lassen Sie mich aussteigen!«, kommandierte sie.

Er warf nur einen kurzen Blick auf ihre Pistole und konzentrierte sich dann wieder auf den Verkehr. »Stecken Sie die Knallerbsenschleuder weg, sonst werde ich sauer.

Verflucht noch mal, Lady, ich habe Ihnen gerade das Leben gerettet!«

Das hatte er tatsächlich, und nur darum hatte sie ihn nicht sofort erschossen. »Vielen Dank!«, sagte sie artig. »Und jetzt halten Sie an, und lassen Sie mich aussteigen!«

Die Fußballspieler waren ihr nicht von der CIA auf den Hals geschickt worden; sie hatte gehört, wie sie sich auf Italienisch verständigt hatten, folglich gehörten sie zu Rodrigos Truppe.

Was wiederum bedeutete, dass dieser Typ möglicherweise, nein, mit Sicherheit, von der CIA war. Amerikaner war er jedenfalls. Sie glaubte nicht an Zufälle und schon gar nicht an so unglaubliche Zufälle, und dass dieser Kerl genau dann aufgetaucht war, als sie in der Klemme gesteckt hatte, mit seinen professionellen Fahrkünsten und einer Heckler & Koch, neun Millimeter, in der Hand, die mindestens tausend Dollar kostete … na klar, als könnte er irgendwas anderes als ein CIA‐Agent sein. Oder genauer gesagt, ein Auftragskiller, ein Profi genau wie sie selbst.

Sie stutzte. Das war doch Unfug. Wenn er wirklich ein Profikiller war, der sie aus dem Verkehr ziehen sollte, dann hätte er nur die Hände in den Schoß legen müssen, und in kürzester Zeit hätte sich sein Auftrag von selbst erledigt, ohne dass er einen Finger krumm zu machen brauchte. Irgendwann hätte sie abzuhauen versucht, und sie wollte sich lieber nicht ausmalen, wie weit sie gekommen wäre, verfolgt von vier Männern und ohne jede Kondition. Ihr Herz klopfte immer noch wie besessen, und zu ihrer tiefen Bestürzung keuchte sie immer noch.

Natürlich war es auch möglich, dass er ein Irrer war. Wenn sie an sein wahnsinniges Lachen dachte, war das gar nicht so unwahrscheinlich. So oder so wollte sie lieber sofort aus seinem Auto aussteigen.

»Zwingen Sie mich nicht abzudrücken«, sagte sie leise.

»Das fiele mir im Traum nicht ein.« Er sah sie wieder an, und sie bemerkte, dass sich in seinen Augenwinkeln Lachfältchen bildeten. »Ich will nur noch ein Stück vom Tatort wegfahren, okay? Ich war an dem kleinen Krawall nicht unbeteiligt, falls Sie es nicht bemerkt haben, und ein Jaguar mit durchschossenem Fenster könnte Aufsehen erregen. Scheiße.

Noch dazu ist es ein Mietwagen. American Express wird mir die Hölle heiß machen.«

Lily beobachtete ihn und versuchte, aus ihm schlau zu werden. Dass sie mit einer Waffe auf ihn zielte, schien ihn überhaupt nicht zu stören. Im Gegenteil, er schien die ganze Sache für einen Spaß zu halten. »Waren Sie jemals in einer Nervenklinik?«

»Was?« Er lachte laut auf und warf ihr wieder einen kurzen Seitenblick zu.

Sie wiederholte ihre Frage.

»Sie meinen das wirklich ernst. Halten Sie mich für einen Irren?«

»Sie haben jedenfalls wie einer gelacht, obwohl die Situation eindeutig nicht komisch war.«

»Dass ich zu viel lache, ist einer meiner vielen Fehler. Aber wissen Sie, ich wäre fast vor Langeweile gestorben, so ganz allein in diesem blöden Park, als plötzlich hinter mir eine Schießerei losging. Es steht vier gegen eins, und die eine ist eine hübsche Blondine. Ich hab nichts weiter zu tun, ich stehe auf schöne Frauen, und so denke ich mir, vielleicht sollte ich mit meinem Jaguar bei ihr vorbeifahren und ihn mir kaputtschießen lassen, während ich ihr das Leben rette, damit sich endlich was rührt in meinem Leben. Vielleicht habe ich ja Glück, und die Blondine zerrt mich aus lauter Dankbarkeit ins Bett. Und, wie stehtʹs?« Er wackelte abwechselnd mit den Augenbrauen.

Lily musste lachen. Mit seinem Augenbrauengewackel sah er einfach zu dämlich aus.

Er hörte auf zu wackeln und zwinkerte kurz. »Sie können sich wieder hinsetzen. Schließlich können Sie mich auch vom Beifahrersitz aus bedrohen.«

»So wie Sie fahren, ist es auf dem Boden eindeutig sicherer.«

Trotzdem schob sie sich auf den Sitz hoch, schnallte sich aber nicht an, weil sie dazu die Pistole hätte aus der Hand legen müssen. Ihr fiel auf, dass er ebenfalls nicht angeschnallt war.

»An meinem Fahrstil ist nichts auszusetzen. Immerhin sind wir noch am Leben, oder etwa nicht? Und wir haben uns auch keine neuen Löcher zugezogen – jedenfalls keine großen.«

»Sie wurden getroffen?«, fragte sie scharf und sah ihn an.

»Ach Quatsch, mir haben nur ein paar Scherben den Hals aufgeritzt. Nicht der Rede wert.« Er fasste nach hinten und wischte mit der rechten Hand über seinen Nacken. Als er seine Finger wieder nach vorn holte, waren sie blutverschmiert, aber nicht besonders stark. »Sehen Sie?«

»Okay.« Mit einer seidig glatten Bewegung streckte sie die linke Hand aus, um die Waffe neben seinem Bein zu konfiszieren.

Ohne dass er auch nur einmal nach unten schaute, schoss seine Rechte vor und schloss sich um ihr Handgelenk. »O

nein.« Plötzlich klang seine Stimme ernst und kühl. »Die gehört mir.«

Er war schnell, verblüffend schnell. Schlagartig war seine fröhliche Gutmütigkeit wie weggeblasen und einer kühlen, harten Miene gewichen, die keinen Zweifel daran ließ, dass es ihm ernst war.

Eigenartigerweise fand sie diesen Blick beruhigend, so als hätte er endlich sein wahres Wesen gezeigt und sie wüsste jetzt, mit wem sie es zu tun hatte. Sie rutschte von ihm weg, so weit zur Tür wie nur möglich, nicht aus Angst, sondern weil sie es ihm möglichst schwer machen wollte, ihr mit einer blitzschnellen Handbewegung die Waffe zu entwenden. Und vielleicht hatte sie ja doch ein bisschen Angst vor ihm; er war ein Unbekannter, und in ihrer Branche konnte alles, was unbekannt war, tödlich sein. Angst war nichts Schlechtes; sie hielt einen am Leben.

Er hatte sie beobachtet und verdrehte die Augen. »Sie brauchen echt nicht so zu tun, als wäre ich ein Psychopath oder so. Ich lasse Sie gesund und munter wieder aussteigen, Ehrenwort – es sei denn, Sie schießen auf mich und wir krachen irgendwo rein, wofür ich keinerlei Garantien übernehmen kann.«

»Wer sind Sie?«, fragte sie tonlos.

»Lucas Swain, stets zu Diensten. Die meisten Leute nennen mich nur Swain. Ich weiß nicht, warum, aber das Lucas hat sich nie durchsetzen können.«

»Ihr Name interessiert mich nicht. Für wen arbeiten Sie?«

»Für mich selbst. Ich bin im Büro nicht zu gebrauchen. Ich war an die zehn Jahre in Südamerika, aber in letzter Zeit wurde der Boden dort verdammt heiß, darum dachte ich, es wäre keine schlechte Idee, eine ausgedehnte Sightseeingtour durch Europa zu starten.«

Er war wirklich braun, das war ihr schon aufgefallen. Wenn sie ihn richtig verstand, wollte er ihr weismachen, dass er entweder Abenteurer, Söldner oder Agent war. Sie tippte immer noch auf Letzteres. Aber warum hatte er sich dann eingemischt? Das war völlig unlogisch. Wenn er den Befehl hatte, sie umzubringen, und die Dreckarbeit nicht Rodrigos Laufburschen überlassen wollte, dann hätte er sie spätestens dann erledigen können, als sie in seinen Wagen gehechtet war.

»Ich weiß nicht, was Sie da laufen haben«, sagte er, »aber so wie es aussieht, sind Ihnen die anderen zahlenmäßig weit überlegen, und Sie können ein bisschen Hilfe gebrauchen. Ich bin verfügbar, ich bin gut, und mir ist langweilig. Was also hat sich da gerade abgespielt?«

Lily war kein impulsiver Mensch, zumindest nicht in ihrem Job. Sie war umsichtig, sie machte ihre Hausaufgaben, und sie plante jeden Schritt genau. Aber ihr war inzwischen klar, dass sie Hilfe brauchen würde, um in das Labor zu gelangen, und trotz seiner beunruhigend guten Laune hatte sich Lucas Swain in vielerlei Hinsicht als äußerst kompetent erwiesen. Sie war in den letzten Monaten so allein und verloren gewesen, dass die Einsamkeit wie ein Dorn in ihrem Herzen saß. Etwas an diesem Mann wirkte einfach vertrauenswürdig, etwas an ihm schien den Stachel in ihrem Herzen ein wenig zu lockern.

Sie ließ seine Frage unbeantwortet. Stattdessen fragte sie:

»Kennen Sie sich zufällig mit Sicherheitssystemen aus?«

13

Er kniff die Lippen zusammen und überdachte seine Antwort.

»Ich weiß so viel, wie ich wissen muss, aber ich bin kein Experte. Es hängt von dem jeweiligen System ab. Ich kenne allerdings ein paar echte Experten, die mir alles beibringen können, was ich wissen muss.« Er schwieg ein paar Sekunden.

»Haben Sie was Illegales vor?«

»Ja.«

»Ach, wie schön. Meine Laune bessert sich mit jeder Minute.«

Wenn sie noch besser würde, würde sie ihn erschießen müssen, um nicht durchzudrehen.

Er bog wieder ab, schaute sich um und fragte dann nachdenklich: »Scheiße, haben Sie eine Ahnung, wo wir gerade sind?«

Lily lehnte sich mit dem Rücken gegen die Beifahrertür, zog die Beine angewinkelt auf den Sitz, womit sie jeden Versuch unterband, ihr die Pistole wegzuschnappen, und sah sich dann kurz um. »Aber ja. An der nächsten Ampel müssen Sie rechts und dann nach knapp zwei Kilometern wieder links. Ich sage Ihnen Bescheid.«

»Und wo sind wir dann?«

»Am Bahnhof. Dort können Sie mich aussteigen lassen.«

»Ach nein. Wo wir gerade so super miteinander auskommen. Verlassen Sie mich nicht gleich wieder. Ich hatte mir schon Hoffnungen gemacht, dass wir Partner werden könnten.«

»Ohne dass ich Sie vorher überprüft hätte?« Sie sah ihn ungläubig an.

»Das wäre in der Tat ziemlich dämlich.«

»Aber ja, Mann.« Schon nach zehn Minuten mit einem Amerikaner hatte sie ihren alten Slang wieder drauf, fast als wäre sie in ein Paar ausgetretene Pantoffeln geschlüpft. »Wo wohnen Sie? Ich melde mich bei Ihnen.«

»Im Bristol.« Er bog, wie von ihr angezeigt, rechts ab.

»Zimmer siebenhundertzwölf.«

Sie zog die Brauen hoch. »Sie haben einen Jaguar gemietet, Sie wohnen in einem der teuersten Hotels von Paris. Sie müssen einen verflucht guten Job haben.«

»Alle meine Jobs waren bisher gut bezahlt, außerdem brauchte ich einen bewachten Parkplatz für den Jaguar. Ach du Scheiße. Jetzt muss ich einen neuen Wagen mieten, und den hier kann ich nicht so zurückgeben, sonst verhaftet man mich, sobald der Schaden gemeldet wird.«

Sie warf einen Blick auf das zersplitterte Seitenfenster, durch das kalte Luft in den Wagen zischte. »Sie könnten es ganz rausbrechen und dann behaupten, ein Autoknacker hätte es eingeschlagen.«

»Das könnte klappen, aber vielleicht hat jemand meine Nummer notiert.«

»So wie sie durch den Verkehr geschwänzelt sind?«

»Auch wieder wahr, aber wozu ein unnötiges Risiko eingehen? In Frankreich gilt man als schuldig, bis man seine Unschuld nachgewiesen hat. Ich halte mich lieber so weit wie möglich von allen Gendarmen fern, vielen Dank.«

»Wie Sie wollen.« Sie klang vollkommen ungerührt. »Sie müssen schließlich für zwei Mietwagen zahlen.«

»Hören Sie auf, mich zu bemitleiden, sonst glaube ich noch, Sie wollen was von mir.«

Der Wortwechsel entlockte ihr unwillkürlich ein kleines Lächeln. Er nahm sich nicht unbedingt ernst; ob das von Vorteil oder Nachteil war, wusste sie nicht zu sagen, aber unterhaltsam war er auf jeden Fall. Er war ihr praktisch in den Schoß gefallen, als sie gerade zu entscheiden versucht hatte, wen sie zu Hilfe rufen sollte, darum wäre sie verrückt gewesen, ihn von vornherein abzuweisen. Natürlich würde sie ihn überprüfen, und wenn sie nur den leisesten Hinweis auf die CIA oder irgendeine Unregelmäßigkeit fand, würde sie sich einfach nicht mehr bei ihm melden. Sein Verhalten deutete nicht darauf hin, dass er den Auftrag hatte, sie auszuschalten; dabei wurde ihr allmählich etwas leichter ums Herz. Ob er wirklich zu gebrauchen und zuverlässig war, würde sich zeigen müssen. Die Quellen, die sie früher in solchen Fällen bei der Zentrale angezapft hatte, waren für sie versiegt, aber sie kannte ein paar zwielichtige Gestalten, die Erkundungen für sie einziehen konnten.

Sie nutzte die kurze Zeit, die ihr bis zum Bahnhof blieb, um ihn genau in Augenschein zu nehmen. Er sah wirklich gut aus, erkannte sie halb überrascht; während sie sich unterhalten hatten, hatte sie vor allem auf das Gespräch geachtet, nicht auf sein Gesicht. Er war groß, über einen Meter achtzig, und schlank. Seine Hände waren sehnig, von kräftigen Adern durchzogen und mündeten in langen, unberingten Fingern mit kurz geschnittenen, sauberen Nägeln. Seine Haare waren kurz, braun und an den Schläfen leicht silbrig; die Augen waren blau, viel blauer als ihre. Die Lippen etwas dünn, aber wohlgeformt.

Ein starkes Kinn mit einem tiefen Grübchen. Eine scharfe Nase, dünn und mit hohem Rücken. Abgesehen von den wenigen grauen Haaren sah er wahrscheinlich jünger aus, als er war. Sie schätzte ihn auf etwa ihr eigenes Alter, Ende dreißig, Anfang vierzig.

Er war angezogen wie Millionen Männer auf dem europäischen Festland; nichts an ihm war auffällig oder typisch amerikanisch, er trug weder Leviʹs noch Nikes und auch

kein

Sweatshirt

mit

dem

Namen

seines

Lieblingsfootballteams. Stattdessen hatte er eine blauviolette Leinenhose, ein blaues Hemd und einen fantastischen schwarzen, kurzen Ledermantel an. Um den Ledermantel beneidete sie ihn. Und seine italienischen Straßenschuhe waren sauber und glänzten frisch geputzt.

Falls er wirklich gerade aus Südamerika kam, hatte er sich den hiesigen Gepflogenheiten verblüffend schnell angepasst.

»Die Nächste links«, sagte sie, als sie sich der Abzweigung näherten.

Außerdem fuhr er, als hätte er schon immer in Paris gelebt: skrupellos,

hemmungslos

und

geradezu

begeistert

rücksichtslos. Als ihn ein anderes Auto zu schneiden versuchte, sah sie, dass er sich auch ein paar der hiesigen Gesten angeeignet hatte. Lächelnd drängelte er vor den anderen Wagen; das Glänzen in seinen Augen verriet ihr, dass er den mörderischen Pariser Verkehr genoss. Er war ganz eindeutig durchgeknallt.

»Wie lange sind Sie schon in Paris?«, fragte sie.

»Seit drei Tagen. Warum?«

»Halten Sie da drüben an.« Sie dirigierte ihn vor dem Bahnhof an den Straßenrand. »Weil Sie fahren wie ein alter Pariser.«

»›Wie ein alter Pariser‹? Ich habe schon schmeichelhaftere Komplimente gehört. Aber wer im Haifischbecken schwimmen will, sollte den Tieren die Zähne zeigen.« Er stoppte den Wagen. »Es war mir ein Vergnügen, Ms. …?«

Lily ließ die unausgesprochene Frage unbeantwortet.

Stattdessen schob sie die Pistole in das Holster zurück, drückte in derselben Bewegung die Tür auf und stand im nächsten Moment auf dem Bürgersteig. Dann beugte sie sich noch einmal in den Wagen und sah ihn an. »Ich melde mich bei Ihnen«, versprach sie, schlug die Tür zu und spazierte davon.

Er hatte mitten auf der Straße angehalten und konnte darum nicht abwarten, in welchen Zug sie stieg; er musste weiterfahren, und als er kurz darauf einen Blick in den Rückspiegel warf, war ihr Blondschopf bereits untergetaucht.

Er nahm nicht an, dass sie die nächste Perücke aus ihrer Handtasche gezaubert und übergestreift hatte, also hatte sie sich wohl zwischen einigen größeren Wartenden unsichtbar gemacht.

Er hätte nachhaken, den Wagen einfach abstellen und ihr folgen können, aber sein Instinkt warnte ihn, dass es nicht besonders schlau war, jetzt allzu beharrlich zu bleiben. Wenn er ihr zu folgen versuchte, würde sie fliehen. Anlocken war da doch wesentlich besser.

Sie wollte ihn überprüfen. Scheiße. Er zog sein Handy heraus und rief sofort in den Staaten an, damit dort irgendein Computerfreak was für sein Geld tat und dafür sorgte, dass bis auf ein paar sorgsam überarbeitete und größtenteils falsche Details nichts über Lucas Swain zu erfahren war.

Nachdem das erledigt war, machte sich Swain daran, ein weiteres, nicht ganz so dringliches Problem zu lösen: das mit dem Jaguar. Das Fenster musste unbedingt ausgetauscht werden, ehe er den Wagen bei der Autovermietung abgab, denn dass die französische Polizei nichts von ihm erfuhr, lag ihm wirklich am Herzen. Das wäre politisch unklug gewesen, außerdem konnte er davon ausgehen, dass die Nervis bei ihrem Einfluss an allen wichtigen Stellen Informanten sitzen hatte, und eine der wichtigsten Stellen war eindeutig die Polizei.

Er liebte den Jaguar, aber er musste weg. Er war einfach zu auffällig. Vielleicht ein schnittiger Mercedes – nein, immer noch zu auffällig. Also ein französischer Wagen, ein Renault vielleicht; obwohl, eigentlich hatte er schon immer einen italienischen Sportwagen fahren wollen. Verflixt noch mal, das Geschäft ging vor, und Lily würde ihn möglicherweise nicht mit ins Boot nehmen, wenn sein Boot ein rasanter italienischer Straßenfeger war.

O Mann, er hätte sich fast an seinem Kaffee verschluckt, als er gesehen hatte, wie sie locker in den Park spaziert kam, so als würde sie nicht in ganz Europa gesucht. Er war schon immer ein verfluchter Glückspilz gewesen, und sein Glück blieb ihm offenbar

auch

jetzt

treu.

Scheiß

doch

auf

alle

Computerrecherchen,

auf

logische

Schlussfolgerungen,

Profiling und den ganzen Quatsch – er brauchte sich einfach nur in einen hübschen Park zu setzen, und nach nicht mal fünfzehn Minuten tauchte sie auf. Na schön, vielleicht hatte ihn eine logische Schlussfolgerung zu dem Labor geführt, weil sie dort am wahrscheinlichsten auftauchen würde; trotzdem hatte er einfach riesiges Glück gehabt.

Außerdem war er nicht erschossen worden, was auch reines Glück war. Das mit dem Jaguar war wirklich jammerschade.

Vinay würde behaupten, sein Hitzkopf sei wieder mal mit ihm durchgegangen, und damit hätte er gar nicht Unrecht. Er brauchte ab und zu ein bisschen Aufregung. Vinay würde ihn auch fragen, was, zum Teufel, er sich dachte, derartige Spielchen anzufangen, statt den Job zu erledigen, der ihm aufgetragen worden war, aber er war nicht nur ein Glückspilz, sondern auch notorisch neugierig. Er wollte wissen, was Lily vorhatte

und

was

in

diesem

Labor

Interessantes

zusammengebraut

wurde.

Außerdem

war

sie

ihm

zuvorgekommen.

Eigenartig, aber er hatte sich deshalb keine Sorgen gemacht.

Lily Mansfield war ein Auftragskiller, und dass sie ihre Aufträge bevorzugt von den Guten erhielt, machte sie nicht weniger gefährlich. Aber sie hatte darauf geachtet, dass der alte Herr im Park nicht verletzt wurde, und sie hatte nicht einfach drauflos gefeuert und damit möglicherweise unschuldige Passanten gefährdet – im Gegensatz zu diesen Hobbykickern, die wie Desperados um sich geballert hatten. Schon allein deswegen wäre er geneigt gewesen, ihr zu helfen, auch wenn sie nicht seine Zielperson gewesen wäre.

Am besten erzählte er Vinay vorerst gar nichts. Frank würde vielleicht nicht verstehen, wieso er Lily hatte laufen lassen, ohne dass er eine Ahnung hatte, wie er wieder Kontakt mit ihr aufnehmen sollte.

Doch er verließ sich einfach auf die menschliche Natur, wenn er darauf wettete, dass sie ihn spätestens in zwei Tagen anrufen würde. Er hatte ihr geholfen, sie zum Lachen gebracht, und er hatte sich in keiner Weise bedrohlich gezeigt.

Stattdessen hatte er ihr angeboten, ihr auch weiterhin zu helfen.

Er hatte von sich erzählt. Die verfluchte Pistole in ihrer Hand hatte sie nur deshalb nicht weggelegt, weil sie damit gerechnet hatte, dass er seine Waffe auf sie richten würde, aber er hatte ihr Misstrauen ein wenig eintrüben können, indem er nicht einmal einen Versuch dazu unternommen hatte.

Sie war so gut und so gefährlich, dass er sich ein paar zusätzliche Belüftungslöcher einhandeln konnte, wenn er zu früh

zuschlug,

und

das

würde

seinen

Ruf

als

unerschütterlicher Glückspilz doch massiv erschüttern. Und falls er sich täuschte und sie doch nicht anrief, würde er sie eben noch mal auf die langweilige Art aufspüren müssen: über Computer und logische Schlussfolgerungen.

Den Rest des Tages brachte er damit zu, jemanden aufzuspüren, der das Seitenfenster des Jaguars auswechselte, und einen neuen Wagen zu mieten. Erst wollte er sich einen ganz gewöhnlichen kleinen Renault holen, aber im letzten Moment entschied er sich doch für einen Megane Renault Sport, eine kleine, heiße Nummer mit Turbolader und Sechsganggetriebe. Es war nicht wirklich ein unauffälliger Wagen, aber Swain hatte so eine Ahnung, dass es womöglich noch einmal auf Geschwindigkeit und Wendigkeit ankommen würde, und dann wollte er keinesfalls zu wenig Pferdestärken unter der Haube haben. Die Autovermietung hatte auch einen roten Megane gehabt, der ihm sofort ins Auge gefallen war, aber er hatte sich mit dem silbernen begnügt. Es war nicht besonders schlau, das rote Tuch zu schwenken und zu rufen:

»Hier bin ich, schaut alle her!«

Gerade als das letzte Tageslicht erlosch, war er wieder im Bristol. Er hatte Hunger, aber keine Lust auf Gesellschaft, darum verkroch er sich in seinem Zimmer und rief den Zimmerservice an. Während er auf das Essen wartete, zog er Schuhe und Jacke aus und warf sich aufs Bett, wo er die Decke anstarrte – ihm waren schon oft die besten Ideen gekommen, während er die Decke anstarrte – und über Lily Mansfield nachsann.

Dank des Farbfotos in ihrem Dossier hatte er sie auf den ersten Blick erkannt. Allerdings konnte kein Foto der Welt die Energie und Eindringlichkeit wiedergeben, die sie bei jeder Bewegung ausstrahlte. Von der ersten Sekunde an war er von ihrem fast hageren, aber stark gezeichneten Gesicht mit den unglaublich hohen Wangenknochen, der stolzen Nase und, der Allmächtige stehe ihm bei, diesem Irrsinnsmund verfallen. Er brauchte nur an diesen Mund zu denken, und schon bekam er einen Ständer. Ihre Augen waren wie blaues Polareis, aber ihr Mund war zart und empfindlich und sexy und noch vieles mehr, was er zwar spüren, aber nicht in Worte fassen konnte.

Er hatte keine Witze gemacht, als er ihr erklärt hatte, er hoffe, sie würde ihn aus lauter Dankbarkeit bespringen. Sie hätte nur einen Ton zu sagen brauchen, und er hätte sie sofort ins Bristol abgeschleppt.

Ihm stand genau vor Augen, wie sie ausgesehen und was sie getragen hatte: eine dunkelgraue Hose mit schwarzen Stiefeln, eine blaue Bluse aus feinem Leinen und darüber eine dunkelblaue Pijacke. Nebenbei sollte er in seinem Gedächtnis einspeichern, dass sie bewaffnet war, wenn sie diese Stiefel trug. Ihr Haar war schlicht geschnitten und knapp schulterlang, sodass es ihr Gesicht mit langen Strähnen umrahmte. Obwohl die Pijacke ihre Figur verborgen hatte, schloss er aus der Länge und Form ihrer Beine, dass sie eher schlank war. Außerdem hatte sie ein wenig angegriffen gewirkt, vor allem wegen der bläulichen Schatten unter den Augen, so als wäre sie krank gewesen oder hätte zu wenig Schlaf bekommen.

Dass er scharf auf sie war, machte seinen Job nicht eben einfacher; im Gegenteil, bei dem Gedanken daran, was er tun musste, wurde ihm ein wenig übel. Dann würde er die Regeln eben ein bisschen zurechtbiegen müssen, aber er würde sie nicht brechen. Jedenfalls nicht so weit, dass es auffiel. Er würde den Job erst dann beenden, wenn er es für richtig hielt, und wenn er dabei ein paar Umwege einschlagen musste, war das nicht zu ändern. Es konnte nicht schaden, wenn er erst einmal herausfand, wieso die Joubrans ermordet worden waren, wer sie angeheuert hatte und warum. Die Nervis waren nichts als Abschaum, und wenn er bei diesem Job ein paar ihrer üblen Machenschaften aufdecken konnte, war dagegen bestimmt nichts einzuwenden.

Außerdem konnte er sich auf diese Weise ein wenig Zeit mit Lily erkaufen. Zu schade, dass er sie zuletzt doch betrügen musste.

14

»Es hat gestern Ärger gegeben«, sagte Damone leise von der Tür zur Bibliothek aus. »Erzähl mir, was los ist.«

»Du solltest nicht hier sein«, erwiderte Rodrigo und stand auf, um seinen Bruder zu begrüßen. Er hatte seinen Ohren nicht getraut, als die Posten am Tor angerufen und Damones Ankunft gemeldet hatten. Eigentlich hatte er mit Damone vereinbart, dass sie sich nicht mehr treffen sollten, bis der Mörder ihres Vaters aus dem Verkehr gezogen war. Die Erkenntnis, dass Liliane Mansfield alias Denise Morel Salvatore umgebracht hatte, um den Tod ihrer Freunde zu rächen, änderte nichts an dieser Vereinbarung. Rodrigo hatte seinem Bruder lediglich ihren Namen mitgeteilt und ansonsten keine Informationen weitergegeben, außer dass sie nach ihr suchten.

Damone war kein Weichling, trotzdem hatte Rodrigo immer das Gefühl gehabt, seinen jüngeren Bruder beschützen zu müssen, erstens, weil er jünger war, und zweitens, weil Damone im Unterschied zu Rodrigo nie mit ihrem Vater an vorderster Front gekämpft hatte. Rodrigo kannte sich aus in großstädtischer und wirtschaftlicher Kriegsführung, während sich Damone auf die Aktienmärkte und Fonds verlegt hatte.

»Du hast niemanden, der dir hilft, so wie du Papa geholfen hast«, erwiderte Damone und ließ sich in jenem Sessel nieder, in dem Rodrigo immer gesessen hatte, als Salvatore noch gelebt hatte. »Es ist nicht richtig, dass ich nur die Finanzmärkte studiere und Gelder von hier nach dort verschiebe, während du allein die Verantwortung für unsere Geschäfte tragen musst.« Er breitete die Hände aus. »Außerdem erreichen mich Neuigkeiten aus dem Internet und den Zeitungen. Heute früh habe ich zum Beispiel einen Artikel gelesen, der leider nicht sehr informativ war, aber in dem über einen Vorfall berichtet wurde, der sich gestern in einem Park zugetragen haben soll.

Angeblich haben sich dort mehrere Personen einen Schusswechsel geliefert. Keiner der Beteiligten wurde identifiziert, abgesehen von zwei Wachmännern aus einem nahen Laborkomplex, die die Schüsse gehört hatten und zu Hilfe geeilt waren.« Seine klugen Augen wurden düster. »Der Name des Parks wurde auch genannt.«

Rodrigo sah ihn nachdenklich an. »Aber weshalb bist du hergekommen? Der Vorfall hat sich erledigt.«

»Weil es schon der zweite Vorfall rund um Vincenzos Labor ist. Soll ich das etwa für Zufall halten? Wir sind auf die zusätzlichen Profite durch das Impfserum angewiesen. Es bestehen

mehrere

Investitionsmöglichkeiten,

die

uns

verschlossen bleiben, wenn wir nicht die nötigen Mittel aufbringen. Ich will wissen, was sich hier abspielt.«

»Und ein Anruf hätte nicht genügt?«

»Am Telefon kann ich dein Gesicht nicht sehen.« Damone lächelte. »Du bist ein begnadeter Lügner, aber ich kenne dich zu gut. Ich habe schon als kleines Kind bewundert, wie du mit Engelsmiene zu Papa aufgesehen und alles abgestritten hast, was wir gemeinsam angestellt hatten. Ich weiß genau, wann du mich anlügst. So. Ich kann eins und eins zusammenzählen. In Vincenzos Labor gibt es Probleme, und gleichzeitig wird unser Vater ermordet. Hat das eine mit dem anderen zu tun?«

Das war das Problem mit Damone, sinnierte Rodrigo; er war verflucht schlau und intuitiv dazu. Es ärgerte Rodrigo, dass er seinen jüngeren Bruder nie hatte anlügen können; jeden anderen schon, aber Damone nicht. Und seinen kleinen Bruder unter die Fittiche zu nehmen, das war vielleicht richtig gewesen, als sie noch sieben und vier Jahre alt gewesen waren, aber inzwischen waren sie beide erwachsen. Vielleicht sollte er mit dieser Gewohnheit brechen.

»Ja«, sagte er. »Sie haben miteinander zu tun.«

»Inwiefern?«

»Liliane Mansfield, die Frau, die Papa ermordet hat, war eng mit den Joubrans befreundet, dem Paar, das im August in das Labor eingebrochen war und Vincenzos Arbeit so weit zurückgeworfen hat.«

Damone rieb seine Augen, als sei er schrecklich müde, und kniff sich zum Schluss in die Nasenwurzel, ehe er die Hand wieder sinken ließ. »Es war also ein Vergeltungsschlag.«

»Der letzte Akt schon.«

»Und der erste Akt?«

Rodrigo seufzte. »Wir wissen immer noch nicht, wer die Joubrans beauftragt hat. Wer es auch war, er könnte jemand anderen anheuern, um das Labor erneut zu verwüsten. Einen weiteren Rückschlag können wir uns nicht leisten. Die Frau, die Papa ermordet hat, hat das auf eigene Rechnung getan, aber inzwischen könnte sie auch für jemand anderen arbeiten.

Meine Männer haben sie gestern im Park entdeckt; sie versuchte, das Laborgelände auszuspähen. Ob sie den Auftrag dazu hatte oder ob sie auf eigene Faust arbeitet, tut nichts zur Sache. Sie wird weiterhin versuchen, die Arbeit an unserem Impfserum zu sabotieren.«

»Weiß sie überhaupt, an was für einem Serum wir forschen?«

Rodrigo breitete die Arme aus. »Wir können nicht ausschließen, dass es irgendwo eine undichte Stelle gibt, dass irgendwer aus dem Labor geplaudert hat, und dann würde sie es wissen. Angeblich verlangen Söldner wie die Joubrans enorme Summen, darum überprüfe ich zurzeit die Finanzen aller Angestellten im Labor. Ich will feststellen, ob einer davon die nötigen Mittel hätte, sie zu beauftragen.«

»Was weißt du über diese Frau?«

»Sie ist Amerikanerin, sie ist ein Profikiller, und sie arbeitet für die CIA.«

Damone erbleichte. »Sie hat den Auftrag von den Amerikanern bekommen?«

»Nicht den Auftrag, Papa umzubringen, nein. Dazu hat niemand sie beauftragt, und wie du dir vorstellen kannst, hat man sie drüben deswegen im Visier. Man hat sogar schon jemanden losgeschickt, um ›das Problem aus der Welt zu Schaffen‹ so wurde es ausgedrückt, glaube ich.«

»Und sie versucht gleichzeitig herauszufinden, wie sie ins Labor gelangen könnte. Wie ist sie gestern davongekommen?«

»Sie hat einen Komplizen, einen Mann mit einem Jaguar. Er fuhr den Wagen zwischen sie und meine Leute, um sie abzuschirmen, während er ihr gleichzeitig Feuerschutz gab.«

»Nummernschild?«

»Nein. Der Wagen stand so, dass meine Männer es nicht erkennen konnten. Natürlich gab es Zeugen, aber die waren zu beschäftigt damit, die Köpfe einzuziehen, als dass sie sich ein Nummernschild hätten notieren können.«

»Die wichtigste Frage: Hat sie versucht, dich persönlich anzugreifen?«

»Nein.« Rodrigo blinzelte überrascht.

»Dann folgt daraus, dass ich weniger gefährdet bin als du.

Darum werde ich einstweilen hier bleiben, wo du einen Teil deiner Pflichten an mich abtreten kannst. Ich werde die Suche nach dieser Frau leiten oder dir andere Arbeiten abnehmen, wenn du das lieber persönlich erledigen möchtest. Oder wir arbeiten einfach gemeinsam an allem. Ich möchte dir helfen. Er war auch mein Vater.«

Seufzend erkannte Rodrigo, dass es ein Fehler gewesen war, seinen Bruder aus allem heraushalten zu wollen; immerhin war sein Bruder ein Nervi. Er musste sich genauso nach Rache verzehren wie Rodrigo selbst.

»Es gibt noch einen anderen Grund, weshalb ich diese Sache geklärt haben möchte«, fuhr Damone fort. »Ich trage mich mit dem Gedanken zu heiraten.«

Sekundenlang starrte ihn Rodrigo mit offenem Mund an, dann brach er in Lachen aus. »Heiraten? Wann denn? Du hast nie was von einer Frau erzählt.«

Damone lachte ebenfalls, und seine Wangen verdunkelten sich verlegen. »Wann, weiß ich noch nicht, ich habe sie nämlich noch nicht gefragt. Aber ich glaube, dass sie Ja sagen wird. Wir kennen uns seit gut einem Jahr –«

»Und du hast uns nie von ihr erzählt?« Uns schloss Salvatore mit ein, den es überglücklich gemacht hätte, wenn einer seiner Söhne endlich eine Familie gegründet und ihm Enkelkinder geschenkt hätte.

»– aber erst seit ein paar Monaten näher. Ich wollte sicher sein, bevor ich etwas sage. Sie ist Schweizerin und kommt aus gutem Haus; ihr Vater ist Banker. Sie heißt Giselle.« Seine Stimme senkte sich, als er den Namen aussprach. »Ich wusste vom ersten Moment an, dass sie die Richtige ist.«

»Aber sie wusste das nicht so schnell, wie?« Rodrigo lachte wieder. »Sie brauchte nicht nur einmal in dein hübsches Gesicht zu schauen, um zu erkennen, dass du ihr wunderschöne Kinder machen würdest?«

»Das wusste sie sofort«, widersprach Damone kühl und selbstbewusst. »Dafür zweifelte sie an meiner Fähigkeit, ein guter Ehemann zu sein.«

»Alle Nervis sind gute Ehemänner«, betonte Rodrigo, und damit hatte er Recht, vorausgesetzt, die Ehefrau störte sich nicht an einer gelegentlichen Geliebten. Obwohl Damone wahrscheinlich treu wäre; er war einfach der Typ dafür.

Diese frohe Neuigkeit erklärte allerdings, warum Damone das Problem Liliane Mansfield bald erledigt haben wollte.

Natürlich wollte er auch Vergeltung, aber wenn ihn seine persönlichen Pläne nicht zum Handeln gezwungen hätten, wäre er womöglich geduldig genug gewesen, um die Angelegenheit Rodrigo zu überlassen.

Damones Blick fiel auf Rodrigos Schreibtisch und auf das Foto darauf. Er stand auf, drehte die Akte zu sich her und studierte das Porträt der jungen Frau. »Sie sieht gut aus«, stellte er fest. »Nicht wirklich hübsch, aber … gut.«

Er blätterte kurz in dem Dossier und las dabei hier und da eine Zeile. Dann sah er verdutzt auf. »Das ist ein CIA‐Dossier.

Woher hast du das?«

»Wir haben auch bei denen jemanden sitzen. Genau wie bei Interpol und Scotland Yard. Gelegentlich ist es ganz praktisch, gewisse Dinge vorab zu erfahren.«

»Die CIA ruft bei dir an? Oder du dort?«

»Nein, natürlich nicht; dort wird jeder ein‐ und ausgehende Anruf gespeichert und womöglich aufgezeichnet. Ich habe die Privatnummer unseres Kontaktmannes bei Interpol, Georges Blanc, der sich über offizielle Kanäle mit der CIA oder dem FBI in Verbindung setzt.«

»Hast du daran gedacht, Blanc nach der Handynummer des Agenten zu fragen, den die CIA auf Mansfield angesetzt hat?

So was erledigt die CIA nie selbst; sie heuert einen Agenten an, um die Schmutzarbeit erledigen zu lassen, nicht wahr?

Bestimmt hat er oder sie ein Handy, jeder hat eines. Vielleicht wäre dieser Agent ja daran interessiert, sich etwas dazuzuverdienen. Allerdings müssten gewisse Informationen zuerst an uns weitergeleitet werden.«

Die Idee reizte Rodrigo, und es ärgerte ihn zugleich, dass er nicht selbst darauf gekommen war. Bewundernd sah er seinen Bruder an. »Ein frischer Blick«, murmelte er vor sich hin.

Außerdem war Damone ein Nervi; gewisse Dinge waren einfach angeboren. »Du bist wirklich raffiniert«, sagte er lachend. »Gegen uns beide hat diese Frau nicht den Hauch einer Chance.«

15

Frank Vinay stand immer sehr früh auf, noch vor Sonnenaufgang. Seit seine Frau Dodie vor fünfzehn Jahren gestorben war, war es ihm zunehmend schwer gefallen, einen Grund zu finden, warum er nicht arbeiten sollte. Er vermisste sie immer noch, manchmal geradezu qualvoll; an anderen Tagen war es eher ein dumpfer, bohrender Schmerz, so als würde ihn sein Leben drücken wie ein schlecht sitzender Schuh. Er hatte nie daran gedacht, wieder zu heiraten, denn er hätte es höchst unfair gefunden, eine andere Frau zu heiraten, solange er seine erste noch mit Leib und Seele liebte.

Außerdem war er nicht einsam; Kaiser leistete ihm Gesellschaft. Der große Deutsche Schäferhund hatte seinen festen Schlafplatz in der Küchenecke – vielleicht fühlte er sich in der Küche zu Hause, weil er dort als Welpe gehalten worden war, bis er sich an seine neue Umgebung gewöhnt hatte – und stand schwanzwedelnd aus seinem Korb auf, als er Frank mit schweren Schritten die Treppe herunterkommen hörte.

Frank kam in die Küche, kraulte Kaiser hinter den Ohren und murmelte dabei alberne Kosenamen, die er hier guten Gewissens sagen konnte, weil Kaiser noch nie ein Geheimnis verraten hatte. Er gab dem Hund einen Hundekuchen, sah nach dem Wasser in der Trinkschale und schaltete zuletzt die Kaffeemaschine ein, die Bridget, seine Haushälterin, am Vorabend vorbereitet hatte. Frank war in Haushaltsdingen ein kompletter Ignorant; es war ihm ein absolutes Rätsel, wie es möglich war, dass er aus Wasser, Kaffee und einem Filter ein ungenießbares Gebräu zusammenkochte, während Bridget aus den gleichen Bestandteilen einen Kaffee zubereitete, der so gut war, dass ihm fast die Tränen kamen. Er hatte sie schon mehrmals beobachtet und es ihr nachzumachen versucht, aber jedes Mal nur eine trübe Brühe produziert. Schließlich hatte sich Frank in die Erkenntnis gefügt, dass es reine Torheit gewesen wäre, noch weitere Versuche im Kaffeekochen zu unternehmen, und sich fortan alle weiteren Demütigungen erspart.

Dodie hatte es ihm immer leicht gemacht, und er folgte noch heute ihren Richtlinien. Alle seine Socken waren schwarz, darum brauchte er sich keine Gedanken zu machen, ob sie zusammengehörten. Alle seine Anzüge waren dezent im Farbton und alle Hemden entweder weiß oder blau, damit sie zu all seinen Anzügen passten, und auch die Krawatten fügten sich nahtlos in jedes Ensemble ein. Er konnte ein beliebiges Kleidungsstück aus seinem Schrank ziehen und sicher sein, dass es zu jedem anderen Stück in seinem Schrank passte. Er würde zwar niemals einen Modewettbewerb gewinnen, aber zumindest machte er sich nicht lächerlich.

Er hatte versucht, im Haus Staub zu saugen … ein einziges Mal. Noch heute war ihm schleierhaft, wie ein Staubsauger vollkommen unerwartet explodieren konnte.

Ingesamt gesehen war es wesentlich besser, die häusliche Front Bridget zu überlassen und sich ganz auf den Papierkram zu konzentrieren. Denn genau damit war er jetzt beschäftigt. Er las, er verarbeitete Fakten, er gab seine fundierte Meinung – ein anderes Wort für »heißer Tipp« – an den Direktor weiter, der sie dann an den Präsidenten weiterreichte, und er entschied aufgrund des Gelesenen über neue Einsätze.

Während

der

Kaffee

durchlief,

schaltete

er

die

Außenbeleuchtung aus und ließ Kaiser in den Garten hinaus, wo der Hund erst am Zaun patrouillierte und dann dem Ruf der Natur folgte. Kaiser wurde allmählich alt, erkannte Frank, während er seinen Gefährten beobachtete, aber das war bei ihm selbst nicht anders. Vielleicht sollten sie beide in den Ruhestand treten, damit Frank endlich etwas anderes zu lesen bekam als immer nur Einsatzberichte und Kaiser seine Schutzaufgaben vergessen und ihm nur noch ein treuer Begleiter sein konnte.

Mit dem Gedanken an einen Rückzug aufs Altenteil spielte Frank inzwischen schon seit mehreren Jahren. Das Einzige, was ihn in seinem Job noch hielt, war die Tatsache, dass John Medina noch nicht aus dem Feld abgezogen werden konnte und Frank niemanden sah, der in Johns Fußstapfen treten konnte. Nicht dass er selbst die Position besetzen würde, aber wenn die Entscheidung eines Tages anstand, würde sein Votum schwer wiegen.

Vielleicht war es bald so weit, dachte Frank. Niema, die seit zwei Jahren mit John verheiratet war, hatte Frank gegenüber gehässig fallen lassen, dass sie gern schwanger werden würde und es ganz schön wäre, wenn John bei der Gelegenheit zu Hause wäre. Die beiden hatten viele Einsätze zusammen abgeleistet, aber die gegenwärtige Mission musste John allein durchführen, und die lange Trennung setzte ihnen zu. Wenn er außerdem Niemas tickende biologische Uhr bedachte, dann konnte sich Frank gut vorstellen, dass John seinen Posten bald an jemand anderen übergeben würde.

Jemanden wie Lucas Swain vielleicht, obwohl auch Swain schon lange im Feld und vom Temperament her das genaue Gegenteil von John war. John war die Geduld selbst; Swain würde einen schlafenden Tiger wachrütteln, nur damit endlich was passierte. John hatte schon im Alter von achtzehn Jahren mit dem Training begonnen – in Wahrheit noch früher –, um so exzellent in seinem Job zu werden. Sie brauchten eine junge Kraft, um ihn zu ersetzen, jemanden, der die gnadenlose psychische und physische Disziplin aufbrachte, die für diesen Job überlebenswichtig war. Swain war ein Genie darin, Ergebnisse zu produzieren – obwohl er meist auf verblüffenden Wegen zu diesen Ergebnissen kam –, aber er war neununddreißig, keine neunzehn.

Kaiser kam mit müde wedelndem Schweif zur Hintertür zurückgetrottet. Frank machte ihm auf, gab ihm noch einen Hundekuchen und schenkte sich dann eine Tasse Kaffee ein, die er mit in die Bibliothek nahm, wo er sich über das Neueste vom

Tage

informierte.

Inzwischen

war

auch

die

Morgenzeitung ausgetragen, die er studierte, während er eine Schale Cornflakes löffelte – so viel brachte selbst er ohne Bridgets Hilfe zustande – und noch einen Kaffee trank. Dem Frühstück folgte eine Dusche und die Rasur, und um Punkt halb acht trat er aus der Haustür, gerade als sein Chauffeur am Straßenrand hielt.

Frank hatte sich lange geweigert, gefahren zu werden, weil er lieber selbst hinter dem Lenkrad saß. Aber da in Washington, D. C, der Verkehr ein einziger Albtraum war und ihm beim Fahren kostbare Zeit verloren ging, die er zum Arbeiten nutzen konnte, hatte er schließlich nachgegeben. Sein Fahrer Keenan arbeitete inzwischen seit sechs Jahren für ihn, und seither hatte sich, fast wie bei einem alten Ehepaar, eine für beide Seiten angenehme Routine eingeschlichen. Frank fuhr immer vorn –

wenn er auf der Rückbank zu lesen versuchte, wurde ihm schlecht –, aber abgesehen von einer kurzen Begrüßung wechselte er während der Fahrt zur Arbeit kaum ein Wort mit Keenan. Nachmittags war das anders; auf der Heimfahrt hatte Frank zum Beispiel erfahren, dass Keenan sechs Kinder hatte, dass seine Frau Trisha Konzertpianistin war und dass sein jüngstes Kind bei seinen Kochexperimenten um ein Haar das ganze Haus niedergebrannt hätte. Mit Keenan konnte Frank sogar über Dodie reden, über die schönen Zeiten mit ihr und über das Erwachsenwerden früher, als es noch kein Fernsehen gab.

»Guten Morgen, Mr. Vinay«, wünschte Keenan und wartete ab, bis Frank sich angeschnallt hatte, ehe er geschmeidig losfuhr.

»Guten Morgen«, erwiderte Frank gedankenversunken und bereits in den Bericht auf seinem Schoß vertieft.

Hin und wieder sah er auf, vor allem, damit ihm nicht übel wurde, aber im Grunde bekam er nichts von dem Gedränge mit, in dem hunderttausende von Pendlern Tag für Tag zur Arbeit in die Hauptstadt strömten.

Sie befanden sich gerade mitten auf einer Kreuzung, auf der rechten von zwei Linksabbiegerspuren, eingeklemmt zwischen den Autos vor, neben und hinter ihnen, die alle wie sie auf das Grün zum Abbiegen gewartet hatten, als er rechts Bremsen quietschen hörte und aufblickte, um festzustellen, woher das Geräusch kam. Frank sah einen weißen Floristenlieferwagen über die Kreuzung preschen, ohne auf die zwei Linksabbiegerspuren zu achten. Dichtauf folgten die blitzenden Signallichter eines Polizeiautos. Der Kühlergrill des Lieferwagens wurde immer größer und raste genau auf Frank zu. Er hörte Keenan »Scheiße!« fluchen und spürte, wie sein Chauffeur das Lenkrad herumriss, um den Wagen nach links, auf die Spur nebenan, zu ziehen. Dann folgte ein alles zerfetzendes Krachen, so als hätte ein Riese ihr Auto hochgerissen und auf den Boden geschleudert, wobei Franks ganzer Körper zermalmt wurde.

Keenan erwachte mit Blutgeschmack im Mund. Qualm schien das Wageninnere zu füllen, und etwas wie ein riesiges Kondom hing schlapp aus der Mitte des Lenkrades. Sein Schädel dröhnte, und jede Bewegung kostete ihn eine solche Kraft, dass er kaum den Kopf von der Brust zu heben vermochte. Er starrte das Riesenkondom an und rätselte, woher, in aller Welt, es aufgetaucht war. In seinem linken Ohr gellte ein zorniges Blöken, weshalb sein Kopf sich anfühlte, als würde er gleich explodieren, und dahinter hörte er wie aus weiter Ferne andere Geräusche wie lautes Gezeter.

Scheinbar eine halbe Ewigkeit, in Wirklichkeit jedoch nur wenige

Sekunden

starrte

Keenen

blöde

auf

das

Lenkrad‐Kondom. Dann setzte sein Verstand wieder ein, und er erkannte, dass das Kondom ein Airbag und der »Qualm« in Wahrheit der Puder von der Hülle war. Mit einem fast hörbaren »Klick« meldete sich die Realität zurück.

Der Wagen befand sich inmitten eines einzigen Metallgewirrs. Bei einem der beiden Autos, die links von ihnen standen, war der Kühler geplatzt, und echter Dampf stieg daraus auf. Gegen die Beifahrerseite presste sich eine Art Lieferwagen. Ihm fiel ein, dass er versucht hatte, den Wagen herumzureißen, damit sie nicht aufgespießt wurden, und dann hatte sie ein Schlag getroffen, der schlimmer war als alles, was er je erlebt hatte. Der Lieferwagen hatte genau auf Mr. Vinays Tür gezielt – O Gott.

»Mr. Vinay«, krächzte er, ohne seine eigene Stimme wieder zu erkennen. Er drehte den Kopf zur Seite und starrte auf den Direktor der Abteilung Auslandseinsätze. Die gesamte rechte Seite war eingedellt, und Mr. Vinay lag in einem unvorstellbaren Chaos aus Metall, Sitz und Mensch.

Endlich brachte irgendwer die nervtötende Hupe zum Schweigen, und er hörte in der relativen Stille eine Sirene heulen.

»Hilfe!«, brüllte er, brachte aber auch diesmal nur ein Krächzen heraus. Er spuckte Blut aus, atmete unter grauenhaften Schmerzen ein und versuchte es ein zweites Mal.

»Hilfe!«

»Wir sind schon da«, hörte er eine Stimme. Ein uniformierter Polizist kletterte über die Motorhaube eines der beiden Autos links von ihm, weil die Autos so mit seinem verhakt waren, dass man keinen Fuß auf den Boden bekam. Er sank auf ihrer Kühlerhaube auf Hände und Knie nieder und musterte Keenan durch die Windschutzscheibe. »Hilfe ist schon unterwegs, Kumpel. Sind Sie schwer verletzt?«

»Ich brauche ein Telefon«, flüsterte Keenan, der im selben Moment begriff, dass der Polizist nicht ihr Nummernschild lesen konnte. Sein Handy war irgendwo im Auto verloren gegangen.

»Sie brauchen erst mal niemanden anzurufen ‐«

»Ich brauche ein Telefon, verflucht noch mal«, wiederholte Keenan energischer. Wieder holte er unter Schmerzen Luft.

Leute von der CIA verrieten grundsätzlich nicht, für wen sie arbeiteten, aber dies war ein Notfall. »Der Mann neben mir ist Direktor für Auslandseinsätze –«

Mehr brauchte er nicht zu sagen. Der Polizist arbeitete schon länger in der Hauptstadt und fragte deshalb nicht erst: »Was für Einsätze?« Stattdessen zerrte er sein Funkgerät aus der Halterung, bellte ein paar Anweisungen hinein und drehte sich dann um. »Hat irgendwer ein Handy?«, rief er.

Blöde Frage. Jeder hatte eines. Keine zehn Sekunden später reckte sich der Polizist über die Motorhaube und reichte Keenan ein winziges aufklappbares Handy. Keenan streckte eine blutige, zittrige Hand danach aus und nahm es ihm ab. Er tippte ein paar Ziffern ein, merkte, dass es kein abhörsicheres Gerät war, und sagte im Geist »Scheiß drauf«, bevor er die restlichen Ziffern eingab.

»Sir.« Mit letzter Kraft kämpfte er gegen das Schwarz der Bewusstlosigkeit an, das von allen Seiten in sein Blickfeld drängte. Er hatte noch einen Job zu erledigen. »Hier ist Keenan.

Der Direktor und ich hatten einen Unfall, der Direktor ist schwer verletzt. Wir sind …« Seine Stimme versagte. Er hatte keine Ahnung, wo sie waren. Zitternd hielt er dem Polizisten das Telefon hin. »Sagen Sie ihm, wo wir sind«, bat er und schloss die Augen.

16

Auch wenn Lily ihre üblichen Kontakte nicht mehr nutzen konnte, so hatte sie im Lauf der Jahre doch eine erkleckliche Anzahl von Menschen mit zweifelhaftem Charakter und unbezweifelbaren Fähigkeiten kennen gelernt, die, natürlich nur gegen einen ansehnlichen Betrag, ihre eigene Großmutter verkauft hätten. Sie hatte immer noch etwas Geld, wenn auch keine größere Summe übrig, weshalb sie hoffte, dass sich

»ansehnlich« auch durch »angemessen« ersetzen ließ.

Falls die Überprüfung von Swain positiv ausfiel, würde sich das finanziell günstig auswirken, da er sich schon freiwillig bereit erklärt hatte, mit ihr zusammenzuarbeiten. Wenn sie jemand anderen beauftragen musste, würde sie eine tiefe Kerbe in ihr Bankkonto schlagen müssen. Natürlich durfte sie nicht vergessen, dass Swain bereits zugegeben hatte, kein Experte für Sicherheitssysteme zu sein, aber er hatte immerhin behauptet, die entsprechenden Leute zu kennen. Die alles entscheidende Frage war, ob diese Leute bezahlt werden wollten. Falls ja, war es günstiger für sie, gleich jemanden anzuheuern, statt ihr Geld zu verschleudern, indem sie Swain überprüfen ließ.

Leider würde sie das mit Sicherheit erst wissen, wenn es längst zu spät war. Sie hoffte inständig, dass Swain okay war.

Hoffentlich würde man ihr nicht eröffnen, dass er irgendwo aus einer Nervenklinik entkommen war oder, schlimmer noch, dass die CIA ihn geschickt hatte.

Erst als sie auf dem Weg in ein Internetcafe war, ging ihr auf, dass sie einen taktischen Fehler gemacht hatte, als sie Swain am Vortag hatte stehen lassen. Falls die CIA ihn tatsächlich geschickt hatte, hatte sie Swain dadurch Gelegenheit gegeben, in der Zentrale anzurufen und seine Akte so zurechtstutzen zu lassen, dass sie zu jeder Geschichte passte, die er ihr auftischen wollte. Ganz egal, was sie oder irgendwer sonst über ihn herausfand, sie konnte nie sicher sein, dass die Informationen korrekt waren.

Sie erstarrte mitten in der Bewegung. Eine Frau stieß sie von hinten an und sah sie empört an, weil sie so unversehens stehen geblieben war. »Excusez‐moi«, entschuldigte sich Lily und bog ab zu einer kleinen Bank, wo sie alles in Ruhe überdenken konnte.

Verflucht noch mal, es gab so viele Facetten des Spionagehandwerks, die ihr immer noch verschlossen waren; sie war hier ganz entschieden im Nachteil. Es hatte keinen Sinn mehr, Nachforschungen über Swain anzustellen; entweder kam er von der CIA oder eben nicht. Ihr blieb nur die Wahl, mit ihm Kontakt aufzunehmen oder nicht.

Am sichersten war es, ihn nicht anzurufen. Er wusste nicht, wo sie wohnte und welchen Namen sie verwendete. Aber falls er tatsächlich von der CIA kam, dann hatte er irgendwie herausgefunden, dass sie es auf das Labor der Nervis abgesehen hatte, und sich auf die Lauer gelegt, bis sie aufgetaucht war. Entweder sie gab ihren Plan ganz auf, oder er würde sie dort wieder aufspüren.

Was das Laborgelände betraf, so hatte sich die Lage dort entscheidend

verkompliziert.

Offenbar

hatte

Rodrigo

herausgefunden, wer sie wirklich war, und irgendwoher ein Foto von ihr beschafft, sonst hätten diese Hobbyfußballer sie nicht so schnell erkannt. Nach dem kleinen Aufruhr im Park wäre Rodrigo doppelt auf der Hut und würde zweifellos die Sicherheitsmaßnahmen verstärken.

Sie brauchte Hilfe. Allein konnte sie es unmöglich schaffen.

So wie sie es sah, konnte sie entweder abtauchen und Rodrigo Nervi ungestört seinen Geschäften nachgehen lassen, ohne dass sie je herausfinden würde, was Averill und Tina so wichtig gewesen war, dass sie ihr Leben dafür gegeben hatten

– oder sie konnte einfach auf ihr Glück hoffen und Swains Hilfe annehmen.

Sie wollte ihn auf jeden Fall an ihrer Seite haben, erkannte sie wie unter Schock. Er schien so viel Freude am Leben zu haben, und an Freude hatte es ihrem Leben während der letzten langen Monate eindeutig gefehlt. Er hatte sie sogar zum Lachen gebracht. Vielleicht wusste er nicht, wie lange es her war, seit das jemand geschafft hatte, aber sie wusste es nur zu genau. Der winzige Funken an Lebensfreude, den ihre Trauer nicht ausgelöscht hatte, wollte nur zu gern wieder aufglühen.

Sie wollte wieder glücklich sein, und Swain strahlte sein inneres Glück aus wie eine wärmende Sonne. Na schön, dann konnte sie ihn eben nicht überprüfen, aber die stählerne Entschlossenheit, die kurz aufgeblitzt war, als sie ihm im Auto die Waffe abnehmen wollte, gab ihr zusätzlich Sicherheit.

Wenn er sie zum Lachen bringen konnte, wenn sie durch ihn ihre Lebensfreude wiederfinden konnte, wog das allein das Risiko auf, ihn zum Partner zu nehmen.

Außerdem spürte sie nur zu deutlich eine gewisse Anziehungskraft. Dieser Aspekt überraschte sie selbst ein bisschen, aber sie erkannte ihr leise aufflackerndes Interesse als das, was es war, und sie würde es bei jeder Entscheidung berücksichtigen müssen, damit ihr die Gefühle nicht den Verstand trübten. Aber machte es denn einen Unterschied, ob sie sein Hilfsangebot annehmen wollte, weil er sie zum Lachen brachte oder weil sie ihn attraktiv fand? So oder so reagierte sie eher auf emotionale als auf reale Bedürfnisse. Und außerdem glaubte sie nicht, dass sie mit ihm ins Bett fallen würde, nur weil er so gut aussah. Sie hatte nicht viele Geliebte gehabt und mehrmals über Jahre hinweg sexuell enthaltsam gelebt, ohne dass es ihr etwas ausgemacht hätte. Ihr letzter Liebhaber, Dmitri, hatte sie umzubringen versucht. Das war vor sechs Jahren gewesen, und seither war ihr gegenseitiges Vertrauen wichtiger als alles andere.

Nachdem

sie

keine

Möglichkeit

hatte,

definitiv

herauszufinden, ob Swain für die CIA arbeitete, und ihr ansonsten nur die Alternative blieb, das Weite zu suchen und die Nervis ungestört weitermachen zu lassen, lautete die Vierundsechzigtausend‐Euro‐Frage, ob sie ihn anrufen würde, weil oder obwohl er so süß war und sie zum Lachen brachte.

»Auch egal. Und wenn schon«, murmelte sie vor sich hin.

Sie lachte kurz und zynisch auf, was ihr den erschrockenen Seitenblick eines Passanten eintrug.

Er wohnte im Bristol auf den Champs‐Elysees. Auf eine Eingebung hin ging sie ins nächste Cafe, bestellte eine Tasse Kaffee und bat die Bedienung, eine Nummer im Telefonbuch nachzuschlagen. Sie kritzelte die Nummer des Hotel Bristol auf einen kleinen Zettel, trank ihren Kaffee aus und verschwand.

Sie hätte vom Handy aus anrufen und sich irgendwo mit ihm treffen können, aber stattdessen setzte sie sich in die Metro und benutzte schräg gegenüber dem Hotel einen öffentlichen Fernsprecher und ihre Telecarte, um im Hotel anzurufen. Falls er für die CIA arbeitete und alle eingehenden Anrufe aufzeichnen ließ, würde er aus diesem Telefonat weder ihre Handynummer filtern können, noch würde sie ihm einen Hinweis darauf geben, wo sie wohnte.

Sie ließ sich vom Portier zu seinem Zimmer durchstellen, wo Swain beim dritten Klingeln an den Apparat ging – mit einem schläfrigen »Ja?«, dem ein hörbares Gähnen folgte. Sein Akzent und die typisch amerikanische, informelle Begrüßung bewirkten, dass ihr warm ums Herz wurde.

»Können Sie mich in einer Viertelstunde am Palais de lʹElysee treffen?«, fragte sie, ohne ihren Namen zu nennen.

»Wa‐? Wo? Moment mal.« Sie hörte ein zweites, kieferknackendes Gähnen; dann erklärte er zu allem Überfluss:

»Ich habe gerade geschlafen. Sind Sie die, für die ich Sie halte?

Sind Sie blond und blauäugig?«

»Und ich schieße mit einer Knallerbsenschleuder.«

»Ich werde da sein. Einen Moment noch. Wo, zum Teufel, soll dieses Dings sein?«, fragte er.

»Am Ende der Straße. Fragen Sie den Portier.« Sie legte auf und bezog in einem Hauseingang Position, von wo aus sie den Eingang des Hotels im Auge behielt. Der Palast war so nahe, dass nur ein Vollidiot mit dem Auto fahren würde, aber gleichzeitig so weit entfernt, dass er nicht trödeln durfte, wenn er rechtzeitig da sein wollte. Vom Hotel aus würde er ihrem Beobachtungsposten den Rücken zuwenden, und sie würde ihm nachgehen können.

Keine fünf Minuten später kam er aus der Tür; falls er irgendjemanden angerufen hatte, dann von seinem Handy aus auf dem Weg nach unten, denn sonst hätte er keine Zeit dafür gehabt. Er hielt kurz an, wechselte ein paar Worte mit dem Türsteher und marschierte dann los. Nein, er schlenderte los, in einem lockeren, gemütlichen Schritt, der in ihr den Wunsch weckte, einen Blick auf seinen Hintern werfen zu können.

Leider trug er wieder den schicken Ledermantel, der sein Heck bedeckte.

Lily ging ihm schnell hinterher, unhörbar, weil der Verkehr die Schritte ihrer weich besohlten Stiefel übertönte. Swain war allein, und er sprach beim Gehen nicht in sein Handy, was positiv war. Vielleicht arbeitete er wirklich auf eigene Rechnung. Sie schloss zu ihm auf und heftete sich mit einem langen Schritt an seine Seite. »Swain.«

Er sah sie an. »Hallo. Ich habe Sie im Hauseingang stehen sehen, als ich aus dem Hotel kam. Gibt es einen bestimmten Grund, weshalb wir zum Palais müssen?«

Sie fühlte sich ertappt und zuckte lächelnd die Achseln.

»Eigentlich nicht. Wir können einfach ein bisschen spazieren gehen und uns unterhalten.«

»Ich weiß nicht, ob es Ihnen schon aufgefallen ist, aber es ist ziemlich kalt, und die Sonne geht gleich unter. Ich habe Ihnen doch erzählt, dass ich in Südamerika war? Das heißt, dass ich die Kälte nicht gewöhnt bin.« Er schauderte. »Gehen wir lieber in ein Cafe, und Sie erzählen mir bei Kaffee und Kuchen, was Sie umtreibt.«

Sie zögerte. Natürlich war das paranoid, schließlich konnte Rodrigo nicht in jedem Laden und Cafe von Paris einen Informanten stehen haben, aber er hatte doch so viel Einfluss, dass sie kein Risiko eingehen wollte. »Das möchte ich lieber nicht in der Öffentlichkeit besprechen.«

»Na gut, dann gehen wir zurück ins Hotel. In meinem Zimmer sind wir ungestört, und es ist warm. Außerdem haben sie dort Zimmerservice. Falls Sie allerdings befürchten, dass Sie allein mit mir und einem Bett alle Hemmungen verlieren könnten, dann können wir auch ins Auto steigen, ziellos durch die Stadt gondeln und jede Menge Benzin in die Luft blasen, das hier vierzig Mäuse die Gallone kostet.«

Sie verdrehte die Augen. »Gar nicht wahr. Außerdem wird es in Litern, nicht Gallonen gemessen.«

»Ich möchte nur festhalten, dass Sie das mit den Hemmungen nicht abgestritten haben.« Er grinste nicht, aber beinahe.

»Ich kann mich beherrschen«, widersprach sie spröde. »Also gehen wir ins Hotel.« Wenn sie ihm schon vertrauen wollte, konnte sie auch sofort damit beginnen. Außerdem konnte es ganz aufschlussreich sein, sein Hotelzimmer zu sehen, ohne dass er Zeit gehabt hätte, zuvor aufzuräumen oder Sachen zu verstecken, die sie nicht sehen sollte – obwohl er sie andererseits bestimmt nicht in sein Zimmer eingeladen hätte, wenn sie dort irgendwas Belastendes entdecken könnte.

Sie machten kehrt und ließen sich, als sie wieder beim Hotel angekommen waren, von dem leidenschaftslosen Portier die Tür öffnen. Swain ging ihr voran zum Lift, wo er zur Seite trat und ihr den Vortritt ließ.

Er schloss seine Zimmertür auf, und sie betrat einen hellen, fröhlichen Raum mit zwei hohen Fenstertüren mit Blick auf einen Innenhof. Die Wände waren cremefarben tapeziert, das Bett mit einer hellblaugelben Tagesdecke abgedeckt, und zu ihrer Erleichterung gab es eine gemütliche Sitzecke mit zwei Sesseln und einer kleinen Couch rund um einen kleinen Tisch.

Das Bett war gemacht, aber ein Kissen zeigte noch den Abdruck seines Kopfes, und die Tagesdecke war stellenweise ein bisschen zerknittert. Sein Koffer war nirgendwo zu sehen, er musste also im Schrank stecken. Abgesehen von einem Glas Wasser auf dem Nachttisch und der zerknitterten Decke, wirkte das Zimmer vollkommen unbewohnt.

»Darf ich Ihren Pass sehen?«, fragte sie, sobald er die Tür hinter ihr zugemacht hatte.

Er sah sie fragend an, fasste aber gleichzeitig in die Innentasche seiner Jacke. Lily spannte die Muskeln an; sie bewegte sich nicht, aber ihm fiel ihre plötzliche Anspannung auf, und er erstarrte ebenfalls mit halb herausgezogener Hand.

Ganz langsam hob er auch seine Linke und schlug die Jacke zurück, damit sie sehen konnte, dass er nichts als seinen blauen Reisepass in der Hand hielt.

»Wieso wollen Sie meinen Pass sehen?«, fragte er, während er ihr das Dokument reichte. »Ich dachte, Sie wollten mich überprüfen.«

Sie klappte den Pass auf, warf einen flüchtigen Blick auf das Foto und vertiefte sich in die Einreisestempel. Er war tatsächlich in Südamerika gewesen – überall in Südamerika, genauer gesagt – und vor einem Monat in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt. In Frankreich hielt er sich seit vier Tagen auf. »Ich habʹs mir anders überlegt«, antwortete sie knapp.

»Wieso denn das?« Er hörte sich entrüstet an, so als hätte sie behauptet, er sei es nicht wert, überprüft zu werden.

»Weil ich einen Fehler gemacht habe, als ich Sie gestern laufen ließ.«

»Sie haben mich laufen lassen?« Er zog die Brauen hoch.

»Wer hat auf wen gezielt?« Sie imitierte seinen Gesichtsausdruck und gab ihm den Pass zurück.

»Auch wieder wahr.« Er steckte den Pass wieder in die Innentasche, streifte dann die Jacke ab und warf sie quer übers Bett. »Setzen Sie sich. Inwiefern war es ein Fehler, mich laufen zu lassen?«

Lily setzte sich auf die Couch, wo sie die Wand im Rücken hatte. »Falls sie von der CIA sind oder von der CIA geschickt wurden, hatten Sie dadurch Zeit und Gelegenheit, alle Informationen filtern zu lassen.«

Er stemmte die Hände in die Hüften und sah sie erbost an.

»Wenn Sie das wissen, was, zum Teufel, tun Sie dann in meinem Hotelzimmer? Mein Gott, Frau, ich könnte Ihnen weiß Gott was antun!«

Aus einem unerfindlichen Grund fand sie seinen Tadel komisch und begann zu lächeln. Hätte er sie wegen ihrer Unvorsichtigkeit getadelt, wenn er tatsächlich den Auftrag gehabt hätte, sie zu töten?

»Das ist nicht komisch«, grummelte er weiter. »Falls Ihnen die CIA auf den Fersen ist, sollten Sie verflucht gut aufpassen.

Sind Sie eine Spionin oder so?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich habe jemanden getötet, den ich nicht töten sollte.«

Dass sie einen Menschen getötet hatte, ließ ihn nicht einmal blinzeln. Stattdessen griff er nach der Speisekarte des Zimmerservices und warf sie ihr in den Schoß. »Bestellen wir was«, schlug er vor. »Mein Magen hat die Zeitverschiebung noch nicht verdaut.«

Obwohl es eigentlich zu früh für ein Abendessen war, sah sie kurz die angebotenen Speisen durch, traf ihre Wahl und hörte dann zu, wie Swain die Bestellung aufgab. Sein Französisch war ganz passabel, aber kein Mensch würde ihn für einen Franzosen halten. Er legte auf und kam dann zu ihr zurück, um sich in einen der blau gemusterten Sessel fallen zu lassen. Dann fragte er, das rechte Bein angezogen, den Knöchel auf das linke Knie gelegt: »Wen haben Sie denn getötet?«

»Einen italienischen Geschäftsmann Schrägstrich Gangster namens Salvatore Nervi.«

»War das nötig?«

»O ja«, antwortete sie leise.

»Und wo liegt das Problem?«

»Die Aktion war nicht genehmigt.«

»Von wem genehmigt?«

»Von der CIA.« In ihrer Stimme lag tiefe Ironie.

Er sah sie nachdenklich an. »Sie sind von der CIA?«

»Nicht im engeren Sinn. Ich bin – war – als Agentin tätig.«

»Und Sie sind fertig mit dem Töten?«

»Sagen wir einfach, ich bezweifle, dass ich noch viele Aufträge bekommen werde.«

»Sie könnten sich bei jemand anderem verpflichten.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein? Warum nicht?«

»Weil ich meinen Job nur tun konnte, solange ich glaubte, das Richtige zu tun«, antwortete sie nachdenklich. »Vielleicht war ich naiv, aber ich habe meiner Regierung vertraut. Wenn ich losgeschickt wurde, musste ich davon ausgehen, dass es eine Berechtigung für meinen Auftrag gab. Bei niemandem sonst hätte ich dieses Vertrauen.«

»Nicht unbedingt naiv, aber eindeutig idealistisch.« Seine blauen Augen wirkten freundlich. »Sie können nicht darauf hoffen, dass irgendwann Gras über diese Nervi‐Sache wächst?« Wieder schüttelte sie den Kopf.

»Ich wusste, dass er wichtig war. Er versorgte sie mit Informationen.«

»Und warum haben Sie ihn umgebracht?«

»Weil er meine Freunde umbringen ließ. Es gibt so vieles, was ich noch nicht weiß, aber – sie hatten sich aus dem Geschäft zurückgezogen und lebten mit ihrer kleinen Tochter ein ganz bürgerliches Leben. Aus irgendeinem Grund sind sie in den Laborkomplex eingebrochen – glaube ich wenigstens –, wo wir uns gestern begegnet sind, und dafür ließ er sie umbringen.« Ihre Stimme wurde heiser. »Sie und ihre dreizehnjährige Tochter Zia. Die wurde auch umgebracht.«

Swain atmete hörbar aus. »Und Sie haben keine Ahnung, weswegen sie eingebrochen sind?«

»Wie gesagt, ich weiß nicht mal mit Sicherheit, dass sie es getan haben. Aber irgendwie haben sie Salvatore in sein schmutziges Handwerk gepfuscht, und das ist der einzige Zwischenfall, der in dem passenden Zeitraum aus irgendeinem der Nervi‐Unternehmen gemeldet wurde. Ich glaube, sie wurden von irgendwem dorthin geschickt, aber von wem und warum, weiß ich nicht.«

»Ich will ja nicht herzlos klingen, aber die beiden waren Profis. Ihnen musste bewusst sein, welches Risiko sie eingingen.«

»Die beiden schon. Wenn es nur sie getroffen hätte, dann wäre ich zwar zornig und würde sie schrecklich vermissen, aber ich würde nicht – ich weiß nicht, ob ich dann auf Salvatore losgegangen wäre. Aber Zia – das hätte mich nie ruhen lassen.«

Sie räusperte sich, und die Worte schienen von selbst aus ihrem Mund zu sprudeln. Seit den Morden hatte sie mit niemandem über Zia reden können, und jetzt hatte sie den Eindruck, als wären alle Schleusen gebrochen. »Ich habe Zia gefunden, als sie erst ein paar Wochen alt war. Sie war halb verhungert, verlassen, halb tot. Sie gehörte zu mir, sie war mein Kind, auch wenn ich sie von Averill und Tina adoptieren ließ, weil ich mich in meinem Job unmöglich um ein Kind kümmern und ihr erst recht kein sicheres Heim bieten konnte. Salvatore hat mein kleines Mädchen auf dem Gewissen.« Die Tränen, die sie mit aller Macht zurückgehalten hatte, traten ihr in die Augen und flössen über ihre Wangen.

»Hey!« Er war sichtbar erschrocken. Weil die Tränen ihren Blick trübten, sah sie nicht, wie er sich bewegte, aber plötzlich war er neben ihr auf dem Sofa, hatte den Arm um sie gelegt und zog sie näher, bis ihr Kopf an seiner Schulter zu liegen kam. »Ich kann Ihnen keinen Vorwurf machen. Ich hätte diesen Drecksack auch umgebracht. Er hätte wissen müssen, dass man keine Unschuldigen tötet.« Er rieb in einer tröstenden Geste ihren Rücken.

Lily ließ sich kurz halten und gab sich mit geschlossenen Augen seiner Nähe, seiner Körperwärme, dem männlichen Geruch seiner Haut hin. Sie hungerte nach menschlicher Nähe, nach der Berührung eines liebenden Menschen. Er liebte sie zwar nicht, aber er hatte zumindest Mitleid mit ihr, und das genügte fürs Erste.

Weil sie ein bisschen zu gern in seinem Arm geblieben wäre, richtete sie sich abrupt wieder auf und wischte energisch die Tränen von ihren Wangen. »Verzeihung«, sagte sie. »Ich wollte mich nicht an Ihrer Schulter ausheulen – im wahrsten Sinn des Wortes.«

»Meine Schulter steht Ihnen jederzeit zur Verfügung. Sie haben also Salvatore Nervi ausgeschaltet. Ich nehme an, die Herrschaften, die Sie gestern zu erschießen versuchten, hatten es deswegen auf Sie abgesehen. Wieso sind Sie immer noch in Paris? Sie haben erledigt, was Sie sich vorgenommen hatten.«

»Nur zum Teil. Ich will wissen, warum Averill und Tina wieder aktiv wurden. Was war ihnen so wichtig, dass sie diesen Auftrag annahmen, obwohl sie schon längst ausgestiegen waren? Es muss irgendwas Schlimmes gewesen sein, und wenn es so schlimm war, dass sie das Gefühl hatten, eingreifen zu müssen, dann soll die ganze Welt davon erfahren.

Ich will den Nervi‐Clan sprengen, vernichten, ich will sie in der gesamten Geschäftswelt zu Parias machen.«

»Kurz gesagt, Sie wollen selbst in das Labor einbrechen und sich dort umsehen?«

Sie nickte. »Ich habe noch keinen genauen Plan; ich bin noch dabei, Informationen zu sammeln.«

»Ihnen ist doch klar, dass die Sicherheitsvorkehrungen nach dem Einbruch Ihrer Freunde verstärkt wurden?«

»Ich weiß, aber ich weiß auch, dass es keine absolute Sicherheit gibt. Irgendwo gibt es immer eine Schwachstelle, man muss sie nur finden.«

»Auch wieder wahr. Ich würde sagen, als Erstes sollten Sie herausfinden, wer die Anlage entworfen hat, und sich dann die Pläne sichern.«

»Vorausgesetzt, sie wurden nicht vernichtet.«

»Nur ein Idiot würde so was tun, schließlich kann niemand ausschließen, dass das System irgendwann repariert werden muss. Wenn der alte Nervi allerdings wirklich so schlau war, dann hat er die Pläne an sich genommen, statt sie von der Sicherheitsfirma aufbewahren zu lassen.«

»Er war schlau, und außerdem so misstrauisch, dass er mit Sicherheit daran gedacht hat.«

»Aber nicht misstrauisch genug, sonst wäre er jetzt nicht tot«, merkte Swain an. »Sogar ich habe von Salvatore Nervi gehört, obwohl ich die letzten zehn Jahre in der anderen Hemisphäre verbracht habe. Wie haben Sie es geschafft, ihm so nahe zu kommen, dass Sie ihn mit Ihrer Knallerbsenschleuder abservieren konnten?«

»Ich habe ihn nicht erschossen«, erwiderte sie. »Ich habe seinen Wein vergiftet und hätte mich dabei um ein Haar selbst vergiftet, weil er darauf bestand, dass ich ihn kosten sollte.«

»Heilige Scheiße! Sie haben gewusst, dass Gift in dem Wein ist, und das Zeug trotzdem getrunken? Sie müssen dickere Eier haben als ich, denn ich hätte das garantiert nicht gebracht.«

»Wenn ich nicht gekostet hätte, wäre er davongestürmt, ohne genug zu trinken, damit das Gift mit Sicherheit tödlich gewirkt hätte. Mir ist nicht viel passiert, nur meine Herzklappe wurde leicht beschädigt, aber ich glaube nicht, dass es ernst ist.« Nur dass sie gestern in seinem Auto kaum noch Luft bekommen hatte, was kein gutes Zeichen war. Sie war nicht mal gerannt, obwohl Adrenalin und Puls bei einer kleinen Schießerei wahrscheinlich mindestens so in Schwung kamen wie bei einem längeren Sprint.

Er sah sie erstaunt an, aber ehe er etwas sagen konnte, klopfte jemand. »Gut, da kommt unser Essen«, sagte er, stand auf und trat an die Tür. Lily schob eine Hand in den Stiefel, damit sie sofort reagieren konnte, falls der Zimmerkellner eine falsche Bewegung machte, aber der rollte nur den Wagen herein und richtete mit routinierten und präzisen Handgriffen die Speisen her; Swain unterzeichnete die Rechnung, und der Kellner zog wieder ab.

»Sie können die Finger von der Knallerbsenschleuder nehmen«, sagte Swain und zog zwei Stühle an den Rollwagen.

»Warum legen Sie sich nicht was zu, das mehr Durchschlagskraft hat?«

»Die Kleine reicht vollkommen aus.«

»Vorausgesetzt, Sie treffen genau ins Ziel. Wenn nicht, wird jemand sehr wütend werden und Ihnen erst recht auf den Pelz rücken.«

»Ich schieße nie daneben«, sagte sie nachsichtig.

Er warf ihr einen kurzen Blick zu und grinste. »Nie?«

»Nie, wennʹs darauf ankommt.«

Die Nachricht, dass der Direktor der Abteilung für Auslandseinsätze bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt worden war, schlug in der nachrichtendienstlichen Branche keine Wellen, sie löste wahre Tsunamis aus. Als Erstes musste untersucht werden, ob der Unfall tatsächlich ein Unfall gewesen war. Es gab effizientere Wege, jemanden zu töten, als durch einen Autounfall, aber die Möglichkeit musste dennoch in Betracht gezogen werden. Durch eine kurze, aber gründliche Vernehmung des Polizisten, der den Lieferwagen verfolgt hatte, nachdem dieser über eine rote Ampel geprescht war, konnte dieser Verdacht ausgeräumt werden. Der bei dem Unfall getötete Fahrer des Lieferwagens hätte wegen einer Reihe von unbezahlten Strafzetteln seinen Führerschein abgeben müssen.

Der Direktor wurde ins Bethesda Naval Hospital gebracht, wo er besser abgeschirmt werden konnte, und dort notoperiert.

Gleichzeitig wurde sein Haus einbruchssicher gemacht, die Haushälterin des Direktors, Bridget, mit der Pflege von Kaiser beauftragt, und der Stellvertreter des Direktors mit Mr. Vinays Aufgaben betreut, bis jener, falls überhaupt, wieder auf seinen Posten zurückkehrte. Der Unfallort wurde auf sensible Dokumente hin abgesucht, aber Mr. Vinay behandelte die ihm anvertrauten Unterlagen extrem vorsichtig, weshalb kein geheimes Material gefunden wurde.

Lange Stunden stand während der Operation sein Leben auf dem Spiel. Wenn es Keenan nicht geschafft hätte, den Wagen kurz vor dem Aufprall ein bisschen zur Seite zu lenken, dann wäre der Direktor noch am Unfallort gestorben. Abgesehen von zwei Splitterbrüchen im rechten Arm waren sein Schlüsselbein, fünf Rippen und der rechte Oberschenkel gebrochen. Herz und Lunge hatten schwere Prellungen erlitten, die rechte Niere war angerissen. Eine Glasscherbe hatte sich wie ein Pfeil in seine Kehle gebohrt, und er hatte eine Gehirnerschütterung abbekommen, die genau beobachtet werden musste, damit sich kein Druck im Schädel aufbaute.

Dass er überhaupt noch am Leben war, verdankte er dem Seitenairbag, der seinen Kopf bei dem Aufprall abgeschirmt hatte.

Er überlebte die zahlreichen Operationen, die nötig waren, um seinen zerschmetterten Körper zu reparieren, und wurde anschließend auf die Intensivstation gebracht, wo er schwere Beruhigungsmittel erhielt und unter genauer Beobachtung blieb. Die Chirurgen hatten ihr Bestes gegeben; nun kam es allein auf Mr. Vinay an.

17

Mr. Blanc war wenig erbaut, schon wieder von Rodrigo zu hören. »Womit kann ich dienen?«, fragte er ein wenig steif.

Was er da tat, behagte ihm nicht; es so oft tun zu müssen, war wie Salz in seinen Wunden. Er war zu Hause, und dass er hier angerufen wurde, gab ihm das Gefühl, den Menschen, die er liebte, das Böse ins Heim geschleppt zu haben.

»Erstens wird mein Bruder Damone in Zukunft mit mir zusammenarbeiten«, sagte Rodrigo. »Manchmal wird er für mich anrufen. Das macht doch keine Probleme?«

»Nein, Monsieur.«

»Ausgezeichnet. Dieses Problem, bei dem ich neulich um Ihre Hilfe gebeten habe. In dem Bericht stand, unsere Freunde in Amerika hätten jemanden geschickt, der es lösen soll. Ich möchte mit diesem Menschen Verbindung aufnehmen.«

»Verbindung aufnehmen?«, wiederholte Blanc verlegen.

Falls sich Rodrigo mit dem Agenten treffen würde – jedenfalls nahm Rodrigo an, dass es ein Agent war, weil »Probleme«

normalerweise nicht durch fest angestellte Führungsoffiziere behoben wurden –, dann bestand die Möglichkeit, dass Rodrigo dabei etwas ausplauderte, das der Agent dann an seine Auftraggeber weitergab, und das wäre ganz und gar nicht gut.

»Ja. Ich möchte seine Handynummer. Bestimmt kann man irgendwie mit ihm Verbindung aufnehmen. Wissen Sie, wie der Mann heißt?«

»Äh … nein. Das stand nicht in dem Bericht, den ich erhalten habe.«

»Natürlich nicht«, fuhr Rodrigo ihn an. »Sonst würde ich nicht danach fragen, oder?«

Er glaubte tatsächlich, erkannte Blanc, dass er alles geschickt bekommen hatte, was Blanc selbst erhalten hatte. Das war allerdings nicht der Fall und war es nie gewesen. Um den angerichteten Schaden so weit wie möglich zu begrenzen, eliminierte Blanc regelmäßig einige wesentliche Informationen.

Ihm war bewusst, dass ihn die Nervis umbringen lassen würden, wenn sie jemals davon erfuhren, aber er war inzwischen sehr geschickt bei diesem Drahtseilakt. »Falls die Informationen verfügbar sind, werde ich sie beschaffen«, versicherte er Rodrigo.

»Ich warte auf Ihren Anruf.«

Blanc sah auf die Uhr und berechnete, wie spät es jetzt in Washington war. Dort war es heller Tag, vielleicht war seine Kontaktperson sogar in der Mittagspause. Nachdem er das Gespräch mit Rodrigo beendet hatte, ging er nach draußen, damit niemand – schon gar nicht seine unersättlich neugierige Frau – ihn belauschen konnte, und tippte dort die Telefonnummer ein.

»Ja?« Die Stimme klang bei weitem nicht so freundlich wie sonst, wenn Blanc abends anrief, demnach konnte die Kontaktperson wahrscheinlich nicht ungestört sprechen.

»Es geht um die bekannte Angelegenheit. Ist es möglich, die Mobiltelefonnummer der Person zu bekommen, die hierher geschickt wurde?«

»Ich werde sehen, was ich tun kann.«

Keine Fragen, kein Zögern. Vielleicht gab es ja keine Nummer, dachte Blanc und ging zurück ins Haus. Die Temperatur war nach Sonnenuntergang gesunken, und ihm fiel mit einem leichten Frösteln ein, dass er keinen Mantel angezogen hatte.

»Wer war das?«, wollte seine Frau wissen.

»Jemand von der Arbeit«, antwortete er und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Manchmal konnte er ihr erzählen, was er tat, manchmal nicht, darum stellte sie ihm keine weiteren Fragen, wenn sie ihr auch offensichtlich auf der Zunge brannten.

»Du hättest wenigstens was anziehen können, bevor du nach draußen gehst«, schalt sie ihn liebevoll.

Nicht einmal zwei Stunden später klingelte Blancs Handy wieder. Schnell schnappte er sich einen Stift, fand aber keinen Zettel. »Das war nicht einfach, mein Freund«, hörte er die Stimme

sagen.

»Hat

was

mit

den

verschiedenen

Sicherheitsstufen zu tun. Ich musste ganz schön tief graben, um die Nummer zu finden.« Er las sie ab, und Blanc kritzelte sie auf seine linke Hand.

»Danke«, sagte er knapp. Nach dem Auflegen fand er endlich ein Papier und schrieb die Nummer ab, bevor er seine Hände wusch.

Natürlich hätte er Rodrigo Nervi sofort anrufen sollen, aber er tat es nicht. Stattdessen faltete er den Zettel zusammen und steckte ihn in die Tasche. Vielleicht würde er morgen anrufen.

Als Lily das Hotel verließ, wollte ihr Swain schon zu ihrem Unterschlupf folgen, entschied sich aber dann dagegen. Nicht weil er Angst hatte, sie könnte ihn entdecken; das würde nicht passieren. Sie war zwar gut, aber er war verflucht gut.

Eigentlich folgte er ihr nicht, weil er ein komisches Gefühl dabei hatte. Es war verrückt, aber er wollte, dass sie ihm vertraute. Immerhin war sie zu ihm gekommen, was schon mal ein Anfang war. Sie hatte ihm auch ihre Handynummer gegeben, und er hatte ihr seine gegeben. Komisch, aber das kam ihm fast so vor, wie in der Highschool einem Mädchen einen Freundschaftsring zu schenken.

Vinays Auftrag hatte er immer noch nicht erledigt. Er schob ihn erneut auf, teils aus Neugier, teils, weil sie allein gegen Giganten kämpfte und jede nur erdenkliche Hilfe brauchen konnte, und teils, weil er ernsthaft daran interessiert war, sie ins Bett zu kriegen. Sie spielte ein gefährliches Spiel mit Rodrigo Nervi, und Swain als alter Adrenalinjunkie wollte liebend gern mitspielen. Eigentlich hätte er sie so schnell wie möglich aus der Gleichung herauskürzen sollen, aber stattdessen wollte er erfahren, was in diesem Labor vor sich ging. Wenn er das schaffte, würde ihn Frank Vinay vielleicht nicht zum Schreibtischjockey degradieren, auch wenn er seinen Job nicht gleich erledigt hatte, als er Lily das erste Mal begegnet war.

Vor allem aber begann ihm die Mission Spaß zu machen. Er wohnte in einem fantastischen Hotel, er fuhr einen heißen Wagen und speiste jeden Tag französisch. In den letzten zehn Jahren hatte er oft genug bis zum Hals in den verschiedensten Latrinen gehockt, um etwas Spaß verdient zu haben.

Lily war eine echte Herausforderung. Sie war vorsichtig und geschickt und dabei eine echte Draufgängerin, und er vergaß keine Sekunde lang, dass sie einer der besten Auftragskiller in Europa war. Scheiß drauf, dass sie früher mal, bevor sie Salvatore Nervi nachgestiegen war, himmelhohe Ideale gehabt und ausschließlich böse Buben zum Schweigen gebracht hatte; ihm war durchaus bewusst, dass er sich in ihrer Nähe keinen einzigen falschen Schritt erlauben durfte.

Gleichzeitig kam sie ihm vor wie ein armes Waisenkind; sie trauerte um ihre Freunde und um das junge Mädchen, das sie als ihr Kind angesehen hatte. Swain dachte an seine Kinder und stellte sich vor, was er empfinden würde, wenn eines davon ermordet würde. Auf gar keinen Fall würde er den Mörder ungeschoren davon‐ oder auch nur vor Gericht kommen lassen, ganz egal, wer es war. In diesem Punkt hatte sie sein vollstes Verständnis, was aber nichts daran änderte, wie diese Geschichte letztendlich ausgehen würde.

An jenem Abend lag er im Bett und malte sich aus, wie sie beinah den vergifteten Wein getrunken hatte, nur damit Salvatore Nervi nicht mit Trinken aufhörte. Verflucht noch mal, sie hatte echt mit dem Tod geflirtet. Aus dem, was sie ihm über das Gift und seine Wirkung erzählt hatte, schloss er, dass sie harte Zeiten hinter sich hatte und wahrscheinlich immer noch geschwächt war. Auf gar keinen Fall würde sie allein in dieses Labor gelangen, nicht in ihrer Verfassung, und darum hatte sie ihn wahrscheinlich angerufen. Was sie letztendlich angetrieben hatte, war ihm im Grunde egal; er war einfach froh, dass sie es getan hatte.

Sie begann, ihm allmählich zu vertrauen. Sie hatte in seinen Armen geweint, und er hatte das Gefühl gehabt, dass sie nicht oft jemanden so nahe an sich heranließ. Sie strahlte ein fühlbares NICHT‐BERÜHREN‐Signal aus, aber soweit er feststellen konnte, geschah das eher aus Selbstschutz als aus Gefühlskälte. Sie war kein bisschen kalt, nur vorsichtig.

Vielleicht war er verrückt, sie so scharf zu finden, aber scheiß drauf, manche männlichen Spinnen ließen sich den Kopf abbeißen, während sie ihre Weibchen zu bespringen versuchten. Verglichen damit hatte er sich wacker geschlagen: Lily hatte ihn noch nicht umgebracht.

Er wollte wissen, wie sie tickte, was sie zum Lachen brachte.

Ja, er wollte sie definitiv zum Lachen bringen. Sie sah aus, als hätte sie in letzter Zeit nicht viel zu lachen gehabt, und jeder Mensch brauchte etwas, worüber er sich freuen konnte. Er wollte, dass sie sich entspannte und in seiner Nähe die unsichtbaren Mauern vergaß, dass sie lachte, ihn neckte, Witze riss, ihn liebte. Er hatte mehr als einmal ihren spröden Humor aufblitzen sehen, und er sehnte sich nach mehr.

Er war schon jetzt total besessen von ihr, daran war nicht zu rütteln. Vielleicht würde er ja doch noch seinen Kopf verlieren und glücklich sterben.

Ein Gentleman hätte bestimmt nicht die Verführung einer Frau geplant, die er aus dem Verkehr ziehen sollte, aber er war noch nie ein Gentleman gewesen. Er war als verdreckter Rowdy in Westtexas aufgewachsen, hatte sich geweigert, auf die Erwachsenen zu hören, die immer alles besser wussten, und Amy geheiratet, als beide kaum achtzehn und gerade mit der Highschool fertig gewesen waren. Mit neunzehn war er Vater geworden, aber er hatte es nie geschafft, ruhiger zu werden. Betrogen hatte er Amy nie, schließlich war sie eine wunderbare Frau, aber er war auch nie wirklich für sie da gewesen. Erst jetzt, auf seine alten Tage, hatte er so was wie Verantwortungsgefühl entwickelt und schämte sich im Nachhinein, weil er sie mehr oder weniger mit zwei Kindern allein gelassen hatte. Er konnte sich höchstens zugute halten, dass er seine Familie auch nach der Scheidung immer finanziell unterstützt hatte.

Im Lauf der Jahre war er viel herumgekommen und hatte sich eine gewisse Weltgewandtheit angeeignet, aber zu einem wahren Gentleman gehörte mehr als nur gute Manieren und die Fähigkeit, in drei verschiedenen Sprachen eine Speisekarte zu lesen. Tief im Herzen war er immer noch ein Rowdy, er bog die Regeln noch heute zurecht, und er hatte eine echte Schwäche für Lily Mansfield. Ihm waren nicht viele Frauen begegnet, die es mit ihm aufnehmen konnten, aber Lily gehörte dazu; ihre Persönlichkeit war nicht weniger stark als seine. Sie entschied selbst, was sie tun wollte, und sie ließ sich durch keine Katastrophe von ihrem Vorhaben abbringen. Ein eisernes Rückgrat hatte sie, aber gleichzeitig strahlte sie feminine Wärme und Zartheit aus. Sie wirklich kennen zu lernen würde ein ganzes Leben in Anspruch nehmen. Ein ganzes Leben hatte er nicht übrig, aber er würde sich so viel Zeit lassen wie nur möglich. Er hatte so eine Ahnung, dass ein paar Tage mit Lily zehn Jahre mit einer anderen Frau aufwiegen konnten.

Die große Frage war nur: Was sollte er hinterher tun?

Blanc verkrampfte sich unwillkürlich, als am nächsten Morgen das Telefon klingelte. »Wer kann das sein?«, fragte seine Frau, leicht verärgert über die Störung beim Frühstück.

»Jemand aus dem Büro, nehme ich an«, antwortete er und stand auf, um den Anruf auf der Terrasse entgegenzunehmen.

Er drückte auf die Sprechtaste und meldete sich: »Blanc am Apparat.«

»Monsieur Blanc.« Die Stimme war weich und ruhig und ihm fremd. »Mein Name ist Damone Nervi. Haben Sie die Nummer, die mein Bruder wollte?«

»Keine Namen«, flüsterte Blanc nur.

»Selbstverständlich. Dieses eine Mal erschien es mir notwendig, da wir noch nie miteinander gesprochen hatten.

Haben Sie die Nummer?«

»Noch nicht. Offenbar gibt es Schwierigkeiten –«

»Beschaffen Sie sie. Heute noch.«

»Wir haben eine Zeitverschiebung von sechs Stunden. Ich kann sie frühestens heute Nachmittag bekommen.«

»Ich warte.«

Blanc legte auf und blieb mit geballten Fäusten stehen. Diese verfluchten Nervis! Der hier sprach besser Französisch als der andere, und er klang höflicher, aber im Grunde waren sie alle gleich: Barbaren.

Er würde ihnen die Nummer geben müssen, aber er würde Rodrigo begreiflich machen müssen, dass es kein guter Gedanke war, den CIA‐Mann anzurufen, weil das im Endeffekt dazu führen könnte, dass er und sein Verbindungsmann verhaftet würden. Vielleicht hätten sie auch Glück, und der Mann, den die CIA geschickt hatte, ließ sich von jedem kaufen, aber da war Blanc wenig zuversichtlich.

Er ging wieder ins Haus und sah seine Frau an, betrachtete ihre vom Schlaf zerzausten dunklen Haare und den Bademantel, den sie um die schlanke Taille gegürtet hatte. Sie schlief in hauchdünnen, tief ausgeschnittenen Nachthemden, weil sie wusste, dass ihm das gefiel, aber im Winter legte sie eine Decke zusätzlich über, weil sie sonst fror. Und wenn ihr etwas zustieß? Wenn Rodrigo Nervi die Drohungen wahr machte, die er vor Jahren ausgesprochen hatte? Der Gedanke war ihm unerträglich.

Er würde ihnen die Nummer geben müssen. Er würde sie so lange wie möglich hinhalten, aber letzten Endes hatte er keine Wahl.

18

Mitten in der Nacht kam Swain eine brillante Idee: Statt den Kerl

ausfindig

zu

machen,

der

den

Nervis

das

Sicherheitssystem installiert hatte, in sein Büro einzubrechen und irgendwie an die Pläne zu kommen, konnte er doch genauso gut die Quellen nutzen, die ihm sonst auch zur Verfügung standen. Die Jungs – und Mädels – konnten mit ihren Spielzeugen so ziemlich alles aufstöbern und herzaubern.

Wenn irgendwas irgendwo auf einem Computer abgelegt worden und dieser Computer irgendwann online war, dann konnten sie es beschaffen. Es war anzunehmen, dass eine Sicherheitsfirma, die für die Nervis arbeitete, ausschließlich das Beste vom Besten verwendete, was gleichzeitig bedeutete, dass dort garantiert mit dem Computer gearbeitet wurde.

Natürlich wäre alles Passwortgeschützt, aber Passwörter waren zum Knacken da. Für die Hacker in Langley war ein Passwort nicht mehr als ein lästiger Mückenstich.

Außerdem bedeutete das, dass die Zentrale und nicht er arbeiten musste. Im Großen und Ganzen war es eine Superidee.

Er war so begeistert, dass er sich aufsetzte, die Nachttischlampe einschaltete, das Handy aus der Ladestation zupfte und sofort anrief. Der Sicherheitscheck schien länger als je zuvor zu dauern, aber zuletzt hatte er jemanden am Apparat, der wirklich was zu sagen hatte.

»Ich werde sehen, was ich tun kann«, versprach die Frau. Sie hatte sich zwar vorgestellt, aber Swain war so euphorisch über seinen Einfall gewesen, dass er ihren Namen vergessen hatte.

»Allerdings geht es hier drunter und drüber, deshalb weiß ich noch nicht, wann – einen Moment, bitte. Unseren Unterlagen zufolge gehörte das Labor Salvatore Nervi, verstorben, und jetzt Rodrigo und Damone Nervi. Hier steht, dass die beiden mit uns kooperieren. Wieso wollen Sie deren Sicherheitssystem ausspionieren?«

»Vielleicht ist bald Schluss mit der Kooperation«, meinte Swain. »Man hört, dass sie vor kurzem eine Ladung mit waffenfähigem Plutonium erhalten haben.« Das klang Unheil verheißend genug, um eine Reaktion auszulösen.

»Haben Sie schon einen Bericht darüber verfasst?«

»Gerade vorhin, aber noch hat sich niemand bei mir gemeldet –«

»Das ist wegen der Sache mit Mr. Vinay Ich sagte doch, dass es hier drunter und drüber geht.«

»Was ist mit Mr. Vinay?« Hatte man Frank etwa ausgetauscht?

»Sie wissen es noch nicht?«

Natürlich nicht, sonst hätte er kaum gefragt. »Was denn?«

»Er hatte heute Morgen einen Autounfall. Er liegt im Bethesda

Hospital,

sein

Zustand

ist

kritisch.

Der

stellvertretende Direktor hat seinen Posten übernommen, bis Mr. Vinay – falls überhaupt – zurückkommt. Wie man hört, sind die Ärzte nicht allzu optimistisch.«

»Scheiße.« Die Nachricht traf ihn wie ein Schlag in den Solarplexus. Seit Jahren arbeitete er ausschließlich für Frank Vinay, den er mehr respektierte als jeden anderen in der Gurkenfabrik. Frank mochte zwar das Blaue vom Himmel herunterlügen, wenn er mit irgendwelchen Politikern verhandelte, aber er war zu seinen Untergebenen immer ehrlich gewesen und stets für sie eingestanden. In Washington war so etwas nicht nur ungewöhnlich, sondern praktisch Selbstmord für die Karriere. Dass Frank nicht nur überlebt hatte, sondern sogar noch aufgestiegen war, erst zum stellvertretenden Direktor und dann zum Direktor, bezeugte seinen Wert – und sein Talent als Märchenerzähler.

»Wie auch immer«, sagte die Frau. »Ich werde sehen, was ich tun kann.«

Swain musste sich mit dieser Auskunft begnügen, weil er sich ausmalen konnte, welche taktischen Spielchen und Postenschiebereien jetzt jenseits des großen Teiches anliefen. Er kannte den stellvertretenden Direktor, Garvin Reed; Garvin war ein guter Man, aber er war nicht Frank. Frank hatte schon mehr über das Spionagehandwerk vergessen, als Reed je wissen würde, und Frank war ein Genie darin, die Menschen zu durchschauen und Muster oder Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, wo andere nur Chaos sahen.

Auch Swains eigener Status war damit nicht mehr sicher.

Garvins Lösung für das Problem Lily sah vielleicht ganz anders aus als das, was Frank ihm aufgetragen hatte. Garvins Einstellung zu den Nervis unterschied sich möglicherweise grundlegend von Franks. Swain fühlte sich, als hätte jemand sein Tau zum Mutterschiff gekappt und er würde langsam, aber sicher abgetrieben; oder, um ein anderes Bild zu gebrauchen, als hätte er sich auf dünnem Eis herumgetrieben, indem er seinen Einsatz länger als nötig hinausgezögert hatte, und würde nun ein unangenehmes Knacken unter seinen Sohlen hören.

Scheiß drauf. Er würde einfach weitermachen wie bisher, bis er entweder abberufen oder sein Auftrag abgeändert wurde –

wobei Swain ihn längst abgeändert oder wenigstens verschleppt hatte, was aber niemand außer ihm wusste. Im Zweifelsfall war es das Beste, einfach Kurs zu halten.

Wahrscheinlich war der Kapitän der Titanic derselben Devise gefolgt.

Den Rest der Nacht verbrachte er in nervösem Halbschlaf, weshalb er am nächsten Morgen schlecht gelaunt aufwachte.

Bis ihm, wenn überhaupt, die Computerfuzzis ihre Ergebnisse lieferten, hatte er nichts zu tun, außer vielleicht beim Labor vorbeizufahren und den Wachposten den nackten Arsch ins Gesicht zu strecken. Weil es lausig kalt war und er sich den Hintern verkühlen würde, war das Arschzeigen gestrichen, solange er nicht wirklich provoziert wurde.

Aus einem Impuls heraus griff er nach dem Handy und wählte Lilys Nummer, nur um zu sehen, ob sie an den Apparat gehen würde.

»Bonjour«, sagte sie, was ihn rätseln ließ, ob sie etwa keine Nummernanzeige auf ihrem Handy hatte. Er konnte sich das beim besten Willen nicht vorstellen, aber vielleicht antwortete sie ja aus Gewohnheit oder Argwohn auf Französisch.

»Hallo. Hast du schon gefrühstückt?« Er beschloss, dass es nicht die Tageszeit für irgendwelche Förmlichkeiten war.

»Ich habe gerade noch geschlafen, also habe ich auch noch nicht gefrühstückt.«

Er sah kurz auf die Uhr: noch nicht einmal sechs. Er würde ihr die Langschläferei verzeihen. Im Gegenteil, er war froh, dass er sie im Bett erwischt hatte, denn sie klang ganz weich und schläfrig und keineswegs so energisch wie sonst. Er malte sich aus, was sie nachts trug, ein dünnes kleines Tanktop und ein knappes Höschen vielleicht oder noch besser gar nichts.

Ganz bestimmt würde sie nichts Aufreizendes oder Halbdurchsichtiges anhaben. Er versuchte, ihr in seiner Phantasie ein langes Nachthemd oder ein schlabbriges T‐Shirt anzuziehen, konnte es aber nicht. Ausziehen konnte er sie dagegen ganz problemlos. Er konnte es so gut, dass sich sein Lümmel zu rühren und zu erheben begann, bis er dringend eine feste Hand zur Führung brauchte.

»Was hast du an?« Seine Stimme hörte sich tiefer und rauer an als sonst.

Sie lachte, ein überraschter Laut, der aus ihrem Inneren hochzublubbern schien. »Soll das ein obszöner Anruf sein?«

»Es könnte einer werden. Ich glaube, ich fange gleich an zu keuchen. Sag mir, was du anhast.« Er stellte sich vor, wie sie am Kopfende ihres Bettes lehnte, die Decke unter die Achseln geklemmt, und sich das zerzauste Haar aus dem Gesicht strich.

»Ein Omanachthemd aus Flanell.«

»Lügnerin. Du bist kein Omanachthemdtyp.«

»Gibt es irgendeinen Anlass für diesen Anruf, außer dass du mich aus dem Schlaf reißen und nach meiner Nachtkleidung fragen wolltest?«

»Schon, aber den hab ich vergessen. Sag schon.«

»Hältst du das hier für eine Sexhotline?« Sie klang nicht böse.

»Bitte, bitte mit gefalteten Händen.«

Sie lachte wieder. »Wieso willst du das wissen?«

»Weil mich meine Fantasie umbringt. Du hast dich so verschlafen angehört, als du ans Telefon gegangen bist, dass ich mir einfach vorstellen musste, wie du ganz warm und weich unter deiner Decke liegst. Alles Weitere ist wie von selbst daraus erwachsen.« Er bedachte sein erigiertes Glied mit einem ironischen Blick.

»Du kannst deine Fantasien wieder einpacken. Ich schlafe nicht nackt, falls du darauf gehofft hast.«

»Und was hast du an? Ich muss das wissen, damit ich genauer fantasieren kann.«

»Einen Pyjama.«

Verflucht, Pyjamas hatte er ganz vergessen. »Mit kurzem Höschen?«, fragte er hoffnungsvoll.

»Im Oktober wechsle ich zu langen und im April zu kurzen zurück.«

Sie raubte ihm alle Illusionen. Er sah sie in einem eng geschnittenen Pyjama vor sich, aber der Effekt war einfach nicht der gleiche. Er seufzte. »Du hättest dir keinen Zacken aus der Krone gebrochen, wenn du behauptet hättest, dass du splitternackt

schläfst«,

schmollte

er.

»Hätte

das

irgendjemandem geschadet? Ich hatte so viel Spaß.«

»Vielleicht ein bisschen zu viel«, meinte sie trocken.

»Und längst nicht genug.« Seine Erektion schmolz dahin, der Inbegriff von vergeblicher Liebesmühe.

»Entschuldige, dass ich dir nicht weiter entgegenkommen kann.«

»Schon

okay

Du

kannst

mir

dann

persönlich

entgegenkommen.«

»Du träumst wohl.«

»Honey, du hast gar keine Ahnung, wovon ich träume. Also, weshalb ich anrufe –«

Sie lachte, und er spürte so was wie Eichhörnchensprünge in seiner Magengrube. Seine Innereien begannen tatsächlich zu hüpfen, nur weil er sie zum Lachen gebracht hatte. Mal wieder.

»Ich habe heute nichts zu tun, und mir ist langweilig. Sollen wir nach Disneyland fahren?«

»Was?«, hörte er sie fassungslos fragen. Man hätte meinen können, er hätte unverständliches Kauderwelsch von sich gegeben.

»Disneyland. Du weißt schon, das bei Paris. In den USA war ich auch noch nie in einem. Warst du schon mal in Disneyland?«

»Zweimal«, bestätigte sie. »Tina und ich waren zweimal mit Zia dort. Averill ist beide Male nicht mitgekommen, er hatte was gegen Schlangestehen.«

»Man muss ein echter Kerl sein zum Schlangestehen.«

»Und zwar ohne Jammern«, ergänzte sie.

»Ohne Jammern.« Wie hätte er da widersprechen sollen?

»Ich habe jemanden auf diese Sicherheitssystemsache angesetzt, aber heute werde ich wahrscheinlich nicht mehr viel erfahren. Ich muss die Zeit totschlagen, du musst die Zeit totschlagen, warum sollten wir also in getrennten Zimmern die Wand anstarren, wo wir gemeinsam durch Cinderellas Schloss tanzen können?«

»Es ist Schneewittchens Schloss, nicht Cinderellas.«

»Auch egal. Ich persönlich fand Cinderella immer hübscher als Schneewittchen, weil sie so blond war. Ich hab eine Schwäche für blonde Frauen.«

»Ist mir noch gar nicht aufgefallen.« Sie klang, als müsste sie gleich wieder lachen.

»Siehʹs doch mal so: Glaubst du, dich würde irgendwer in Disneyland vermuten?«

Es blieb kurz still, während sie überlegte, ob an seinem Argument etwas dran war. Er konnte ihr schlecht erklären, dass er vor allem wegen Franks Unfall so unruhig und nervös war und dass er wahrscheinlich wahnsinnig werden würde, wenn er den ganzen Tag in seinem Hotelzimmer hocken müsste. Er war kein großer Fan von Freizeitparks, aber auf diese Weise wären sie beide beschäftigt und mussten nicht auf Schritt und Tritt mit einem Hinterhalt rechnen. Nervi würde nicht im Traum daran denken, Disneyland überwachen zu lassen, denn welcher Idiot würde sich mitten in einem tödlichen Katz‐und‐Maus‐Spiel verdrücken, um kurz mit der Big‐Thunder‐Mountain‐Achterbahn zu fahren?

»Außerdem soll heute die Sonne scheinen. Komm schon«, gurrte er. »Es wird bestimmt schön. Wir können Teetassen‐Karussell fahren, bis uns schwindlig ist und wir kotzen müssen.«

»Das klingt wirklich zu verlockend. Ich kann es kaum erwarten.« Sie versuchte, ein Kichern zu unterdrücken, aber er hörte das leise Glucksen in ihrer Stimme.

»Du kommst also mit?«

Sie seufzte. »Warum nicht? Entweder ist es eine dumme Idee oder ein genialer Schachzug. Ich weiß nur nicht, was.«

»Super. Setz einen Hut und deine Sonnenbrille auf und schleich dich hierher, dann können wir noch frühstücken, ehe wir losbrausen. Mich jucktʹs schon im großen Zeh, weil ich endlich mal den kleinen Flitzer ausfahren will, den ich mir anstelle

des

Jaguars

geholt

habe.

Er

hat

zweihundertfünfundzwanzig Pferde unter der Haube, und ich will mindestens zweihundert davon zum Laufen bringen.«

»Ach so! Jetzt weiß ich, warum du angerufen hast. Du willst wie ein Wahnsinniger über die Autobahn preschen und brauchst dazu eine Frau, die dich bewundernd ansieht und im passenden Moment Ah und Oh stöhnt.«

»Bitte, tuʹs mir zuliebe. Ich habe in letzter Zeit viel zu wenig Stöhnen gehört.«

»Ich werde mein Bestes versuchen. Gegen acht bin ich bei dir; wenn du davor hungrig wirst, kannst du dir gern was bestellen. Ich kann auch später essen.«