»Ich muss nicht so essen wie ihr.«
»Verdammt noch mal, Lia!«, brüllt er. »Das ist nicht wahr, und das weißt du! Sollen wir denn zulassen, dass du dich zu Tode hungerst?«
Früher hat mir Dads Brüllstimme immer Angst eingejagt. Nun werde ich einfach gemein. »Deine Frau sieht mir doch zu, wie ich jede Woche auf diese alberne Waage steige.«
»Und du hast abgenommen. Diese Woche war es wie viel? 47Kilo? Du hast mir hoch und heilig versprochen, die 50Kilo zu halten.«
»Ich bin zierlich gebaut und habe einen schnellen Stoffwechsel.«
»Wieder dieser Blödsinn!« Er sprüht Sandwichspucke über den Tisch. »Du hast mich angefleht, hier einziehen zu dürfen! Nicht eine Minute länger könntest du bei deiner Mutter leben. Du hast behauptet, sie wäre das Problem, und ich habe dir geglaubt, genau wie ich dir geglaubt habe, als du versprochen hast, ehrlich zu sein.«
Ich versuche meine Stimme zu senken. Je schlimmer er ausrastet, desto besser muss ich mich im Griff haben. »Als ob deine Versprechungen irgendwas wert wären. All die abgesagten Wochenenden, unsere geplanten Ausflüge, das Haus am See, das du angeblich kaufen wolltest…«
Er funkelt mich wütend an. »Jetzt wechsele nicht das Thema.«
»Ich brauche Zeit, Dad«, sage ich. »Ich schaffe es einfach nicht, mir Essen in den Mund zu stopfen. Ich muss mein Leben ganz von vorn beginnen.«
»Und wann genau wird das passieren?« Seine Stimme ist nun nicht mehr nur laut, sondern klingt auch widerlich. Dieselbe Stimme, die früher immer mit meiner Mutter stritt, wenn ich eigentlich schlafen sollte. »Noch irgendwann in diesem Jahr? In diesem Jahrhundert?«
»Ich arbeite dran«, sage ich.
»Nein, tust du nicht! Du wohnst jetzt seit sechs Monaten hier und hast deine verdammten Kartons noch immer nicht ausgepackt.«
»Ach, ist dir das auch schon aufgefallen?«, schnauze ich zurück.
»Was soll das denn heißen?«
»Du bist doch nie da! Jennifer kümmert sich um alles, damit du zu deinen Meetings gehen kannst und in die Bibliothek und zum Squash und zu deinen schicken Abendessen. Oh, Moment mal, wann habe ich das schon einmal erlebt? Hast du etwa eine neue Freundin, Daddy? Alles klar für Runde zwei vorm Scheidungsgericht? Vergiss nicht, für Emma einen guten Therapeuten aufzutreiben; sie hält dich nämlich für einen Gott!«
Sein Gesicht sieht aus, als hätte er gerade einen Herzinfarkt. Die Muskeln seiner Kiefer sind so heftig angespannt, dass die Zähne zersplittern könnten. Jeden Moment wird er mich hochheben und durch ein Fenster schleudern, und dann fliege ich so ungefähr tausend Kilometer, ohne den Boden zu berühren.
Er greift nach der Milchkanne und schenkt sich nach. Nimmt einen großen Schluck und stellt das Glas dann sehr behutsam zurück auf den Tisch. »Mach jetzt keine Bestandsaufnahme meiner Fehler daraus. Wir reden über dich, Lia.«
Seine Gesichtszüge sind vor Enttäuschung erschlafft. Seine Augen sind rot umrändert von langen Nächten, zu vielen Fehlern und einer missratenen Tochter. Es ist leichter, sich zu wehren, wenn er brüllt.
»Ich wünschte, ich könnte verstehen, was in dir vorgeht.« Wieder neigt er den Zauberstab, ohne jedoch auf das Geglitzer zu achten. »Wovor du solche Angst hast.«
In meinem Kopf beginnt sich das Karussell wieder zu drehen, so schnell, dass ich nur noch honiggelbe, erdbeerrote und traubenblaue Blitze an meinen Augen vorbeihuschen sehe. Ich hätte niemals herkommen sollen, aber ich konnte nirgendwo anders hin.
»Bitte, Lia.« Seine Stimme ist zu einem Flüstern gesenkt. »Bitte, iss.«
Das Karussell kracht auseinander, und Splitter und Farbfetzen fliegen mir durch den Kopf.
Ich schnappe mir das Sandwich von seinem Teller und stopfe es mir in den Mund.
»So richtig?«, schreie ich. »Guck doch, Lia isst! Lia isst!« Bei jedem Kauen reiße ich meinen Mund so weit auf, dass Brot, Gelee, Erdnussbutter und Spucke in den Abgrund kleckern, der zwischen uns liegt. »Bist du nun zufrieden?«
Er ruft meinen Namen, als ich aus dem Zimmer renne.
Er läuft mir nicht hinterher.
047.00
In meinem Zimmer stelle ich den Heizlüfter auf die höchste Stufe und drehe die Stereoanlage bis zum Anschlag auf. Die Musik lässt die Luft flüssig werden und fegt die Blätter von meinem Schreibtisch. Ich krieche ins Bett, aber die Matratze ist mit Steinen und Muscheln gefüllt und ich kann einfach keine bequeme Position finden. Ich schlage Bücher auf, aber die Geschichten haben sich alle verbarrikadiert und ich kenne das Losungswort nicht.
WasWarumWannWieWer?
WasWarumWannWieWer?
WasWarumWannWieWer?
Was jagt mir solche Angst ein? Warum kann ich mir noch nicht einmal wünschen, dass es mir besser geht? Wann bin ich ich und wie erkenne ich es, und wer wäre ich, wenn ich täte, was sie verlangen?
Wie bin ich so geworden?
Vielleicht hat Mom ja Drogen genommen, als sie mit mir schwanger war. Im selben Jahr begann ihre Assistenzzeit im Krankenhaus – wahrscheinlich hat sie die ganzen neun Monate nicht geschlafen und ich kam mit fetalem Koffeinsyndrom zur Welt. Oder Professor Overbrook rauchte Gras, das mit irgendeiner experimentellen Chemikalie vermischt war, und schwängerte Mom deswegen mit mutierten Spermien.
Ist auch egal.
Ich wische Staub auf meinen Regalen und auf der Fensterbank und gehe nach unten, um den Staubsauger zu holen, ein Glas mit Eiswürfeln (Professor Overbrook versucht mit mir zu reden, zu dumm, dass er nicht existiert, ich habe weder Vater noch Mutter, ich habe nur weiße Räume ohne Wände)und die Schachtel mit den Mülltüten. Als der Teppich sauber gesaugt ist, reiße ich einen der Kartons mit all dem Mist aus dem Haus meiner Mutter auf und stopfe alles in eine Mülltüte. Schaue es mir nicht mal an. Höre nicht auf meine Finger, die sagen, es ist eine Puppe, eine Kette, ein Taschenbuch von Jane Yolen, eine Münzsammlung. Ich zerbeiße Eis zwischen meinen Zähnen und schlucke die Splitter runter. Alles ist Müll.
Professor Overbrook kommt herein, als ich den dritten Sack zuschnüre. Ich schaue zu, wie sein Mund sich bewegt. Er reicht mir einen Becher frischen Pfefferminztee und einen Teller mit den hässlich glasierten Plätzchen, die Jennifer für den Schulverkauf besorgt hatte. Dann geht er schnell ins Büro, um irgendwelches Quellenmaterial zu holen, das er dort vergessen hat.
Nachdem er die Flucht ergriffen hat, brösele ich die Plätzchen ins Klo und spüle sie weg. Ich stecke mir eine Extraportion Psychopillen in den Mund und spüle sie mit Eiswasser hinunter, dann quäle ich mich durch fünfhundert Sit-ups…
::dumm/hässlich/dumm/Schlampe/dumm/fett/
dumm/Baby/dumm/Loser/dumm/verloren::
… obwohl mir davon der Bauch wehtut. Gerade weil er wehtut.
Lia die Abscheuliche ruft bei der Rezeption des Motels an. Lia die Abscheuliche teilt Charlie, der den Hörer abnimmt, mit, dass sie die Polizei rufen und aussagen wird, er habe sie sexuell belästigt, falls er nicht augenblicklich Elijah ans Telefon holt.
»Moment«, sagt er.
Während ich warte, kratze ich mir den Nagellack ab. Die dämliche Therapeutin Parker behauptet, dass ich, wenn ich traurig bin, eigentlich wütend bin und wenn ich wütend bin, eigentlich Angst habe. Nicht zu fassen, dass sie dafür bezahlt wird, sich so einen Schwachsinn zusammenzufantasieren. Mir ist danach, einen Krieg zu beginnen oder ein Haus in die Luft zu sprengen oder jede Fensterscheibe in diesem Haus hier zu zertrümmern. Was das ihrer Meinung nach wohl zu bedeuten hat?
Endlich geht Elijah ans Telefon. »Hallo. Was gibt’s?«
Lia: Ich muss mit dir reden.
Elijah: Bist du heute Emma oder Lia?
Lia: Du lügst doch auch andauernd.
Elijah: Ist eine schlechte Angewohnheit.
Lia: Es tut mir leid. Ich entschuldige mich.
Elijah: Okay. Kein Ding.
Lia: Also vertragen wir uns wieder?
Elijah: Ich denk schon.
Lia: Gut. Was macht dein Auto?
Elijah: Wird bis zum Winter fertig, wenn Charlie hier dichtmacht.
Lia: Und wo geht es dann hin?
Elijah: Vielleicht nach Oxford, Mississippi. Oder vielleicht auch zurück nach Mexiko. Hat mir gefallen dort. (Er legt die Hand über die Muschel und sagt etwas zu Charlie.) Ich muss auflegen. Mein Chef hat die seltsame Vorstellung, dass ich auch arbeiten sollte, wenn er mich bezahlt.
Lia: Nein, warte, ich habe eine Frage.
Elijah: Schieß los.
Lia: Du hast erzählt, dass du Cassie zum ersten Mal gesehen hast, als du ihre Leiche gefunden hast.
Elijah: Das ist keine Frage, stimmt aber.
Lia: Auf dem Friedhof hast du mich gefragt, warum ich nicht ans Telefon gegangen bin, als sie mich in dieser Nacht anrief. Woher wusstest du, dass sie mich angerufen hat?
Elijah der Schweigsame.
Lia: Bist du noch da?
Elijah: Können wir später darüber reden?
Lia: Nein. Du musst es mir sagen. Das wollte sie so.
Elijah, nach einmal tief Luft holen: Sie hat Donnerstagabend eingecheckt, aber ich bin ihr erst am Samstag über den Weg gelaufen. Sie hat mich eingeladen, ein bisschen mit ihr zusammen abzuhängen, also ging ich nach der Arbeit zu ihrem Zimmer. Sie hatte getrunken – viel getrunken. Ich hab ein paar Kekse gegessen und fand das alles gar nicht cool. Also ging ich wieder.
Lia: Woher weißt du, dass sie mich angerufen hat?
Elijah: Ich hab bis Mitternacht mit Charlie Karten gespielt und wollte dann in die Stadt fahren. Cassie sah mich vorbeilaufen und machte ihre Tür auf. Sie weinte sich die Augen aus und brabbelte irgendwas von Lia, die sauer auf sie sei, Lia, die nicht ans Telefon gehe. Ich meinte zu ihr, schlaf erst mal drüber. Aber sie ließ mich nicht in Ruhe, bis ich mir deine Telefonnummer aufschrieb und versprach, dir was auszurichten. Ich hab dann geguckt, dass ich wegkam.
Lia: Was hat sie gesagt?
Elijah: Ich hab das übrigens auch schon alles der Polizei erzählt. Die haben sich die Bänder der Überwachungskameras angesehen. Gut, dass Charlie so paranoid ist. Ich hab sie nie angerührt. Nicht mal ihre Handtasche geklaut, obwohl ich es hätte tun können. Sie taucht auf dem Video auf, ein paar Stunden nach meiner Abfahrt. Man sieht, wie sie über den Parkplatz taumelt und den Mond ansingt. Dann ist sie wieder reingegangen.
Lia: Was solltest du mir ausrichten?
Elijah: Ach, eigentlich nichts. Vergiss nicht, dass sie besoffen war.
Lia: Sag’s mir.
Elijah: Sie hat gesagt: Richte Lia aus, dass sie gewonnen habe. Ich hab verloren, und sie hat gewonnen. Genau so hat sie es gesagt. Damals erschien mir das total wichtig, aber inzwischen finde ich es irgendwie albern. Hattet ihr zwei eine Wette am Laufen? Was hast du denn gewonnen?
Ich lege auf, ohne mich zu verabschieden.
Ich habe die Wintermädchenreise über die Grenze ins Land der Gefahren gewonnen.
048.00
Ich drehe die Musik wieder bis zum Anschlag auf und gehe ins Badezimmer, um mir den Anruf, den Staub und das Sandwich aus dem Mund zu schrubben.
1.2.3.4.5.6.7.8.9.10.11.12.13.14.15.16.17.18.19.
20.21.22.23.24.25.26.27.28.29.30.31.32.33.
Ich habe nicht gewonnen. Nicht zu fassen, dass sie das gesagt hat. Typischer Cassie-Schwachsinn, melodramatisch und übertrieben. Es ist nicht meine Schuld, dass sie so schnell ausrastete oder dass ihre Eltern sie nie beachteten. Nicht meine Schuld, dass sie gekotzt hat oder dass Kotzen für sie die einzige Möglichkeit war, sich besser zu fühlen.
Sie hat mich angerufen.
Ich bürste, bis mein Zahnfleisch blutet, danach bürste ich härter. Lia-Saft tropft mir das Kinn hinunter und verwandelt mich in einen hungrigen Vampir, bereit, jedem, der mir auf die Nerven geht, das Leben auszusaugen. Vielleicht ist das ja mein Problem. Vielleicht gehöre ich zu den Untoten. Vampire sind blass, kalt und dünn, so wie ich. Insgeheim verabscheuen sie den Geschmack von Blut, hassen es, wie sie Menschen zum Weinen bringen, hassen Friedhöfe und Särge und das innere Scheusal, das sie antreibt. Und sie werden diesen Hass leugnen, bis ihnen jemand einen Pflock ins Herz treibt.
… lebloser Körper, allein…
Ich halte meinen Mund unter den Wasserhahn, spüle und spucke aus.
Die Waage auf dem Fußboden gerät in mein Blickfeld, die richtige, nicht die Lügenwaage. Ich ziehe mich aus, stelle mich drauf, um meine Ausrutscher zu wiegen und meine Sünden zu messen.
40Kilo.
Ich könnte sagen, dass ich nun glücklich bin, doch das wäre gelogen. Die Zahl spielt keine Rolle. Wenn ich es bis auf 32Kilo runterschaffen würde, würde ich 29 wiegen wollen. Wenn ich 5Kilo wöge, wäre ich erst zufrieden, wenn es 2,5 sind. Die einzige Zahl, die wirklich okay wäre, ist die Null. Null Kilo, null Leben, Konfektionsgröße null, Doppel-null-Abkommen, bei null anfangen. Null im Tennis nennt man love, also Liebe. Endlich geht mir ein Licht auf.
Ich öffne das Fenster und werfe die Waage auf die Auffahrt. Drehe die Dusche heiß auf, starre in den Spiegel. Die Löcher in meinem Gesicht sind mit Sand und Eiter gefüllt. Das Weiß meiner Augen bildet Pfützen aus verschütteter Limonade, mit lilafarbenen Schatten darunter. Meine Nase besteht aus Haaren und Schnodder, meine Ohren sind aus Kerzenwachs, mein Mund ist eine Kloake. Ich bin gefangen im Spiegel und es gibt keine Tür, die hinausführt.
::dumm/hässlich/dumm/Schlampe/dumm/fett/
dumm/Baby/dumm/Loser/dumm/verloren::
Oma Marrigans Messer mit dem Elfenbeingriff schlüpft unter der Matratze hervor, gleitet ins Badezimmer und legt sich auf die linke Seite des Waschbeckens mit der Klinge zum Spiegel.
Die Tabletten, die ich vor einer Stunde genommen habe, poltern mir durch die Adern wie scheppernde Metallmülleimer, die der Sturm die Straße entlangweht. Die Schlangen in meinem Kopf erwachen, gleiten am Hirnstamm hinauf und schnappen nach den dösenden Geiern. Die Vögel schlagen einmal, zweimal, dreimal mit ihren Nachtflügeln, und schon kreisen sie hoch am Himmel. Ihre Schatten verdunkeln die Sonne.
Ich benutze meine Bluse, um den beschlagenen Spiegel sauber zu reiben. Die Perlenketten aus Wasserdampf winden sich meinen Arm hinauf, perlen über meinen Flaum, meine kleinen weißen Härchen, die mir gewachsen sind, um mich warm zu halten.
Idiotischer Körper. Wozu wächst dir ein Fell, wenn dir gleichzeitig die Haare auf dem Kopf ausfallen?
»Würde dich das nicht interessieren?«, antwortet der idiotische Körper.
»Du gewinnst«, fügt Cassie hinzu.
Ich gewinne, weil ich schlanker bin. Ich bin eine Doppelnull. Ich bin stark geblieben und habe mir alles verboten. Sahnehäubchen gab es für mich nie.
Ich drücke meine Fingerspitzen in die Wangenknochen. Wenn ich meinen Kopf gegen eine Wand schlagen würde, könnte ich bestimmt jeden einzelnen Knochen in meinem Gesicht brechen. Die Finger fahren über mein Kinn, den Hals hinunter, vorbei an den Schmetterlingsflügeln meiner Schilddrüse, hinab bis zu der Stelle, wo meine Schlüsselbeine am Brustbein befestigt sind wie das Gabelbein eines Vogels.
Emmas Katzen sind in der Diele und kratzen unten an der Tür, weil sie ins Bad wollen.
Meine Hände lesen eine Braille-Landkarte aus Knochen, beginnen bei meinen leeren Brüsten mit den blauen, eisigen Venen-Flüssen. Ich zähle meine Rippen wie die Perlen eines Rosenkranzes, murmele Beschwörungsformeln, meine Finger schlängeln sich unter das knochige Gerüst und können fast berühren, was sich dort drinnen verbirgt.
Meine Haut hängt schlaff über dem leeren Bauch, ebenso über die scharfe Kurve meiner Hüftknochen, die Eingeweide wölben sich hervor wie aus Stein herausgemeißelt, bemalt mit verblassenden rosafarbenen Rasierklingennarben. Mein Spiegelbild ist verzerrt. Meine Rückenwirbel sind weiße übereinandergestapelte Murmeln. Aus meinen geflügelten Schulterblättern könnten jeden Moment Federn sprießen.
Ich nehme das Messer.
Die Sehnen an meinem Handrücken spannen sich an, wie Seile, die ein Zelt im Sturm am Boden halten. Schmale Narben winden sich über die Innenseite meiner Handgelenke und werden zur Armbeuge hin breit wie Bänder, jene Stelle, wo ich in der neunten Klasse zu tief geschnitten habe.
Ich gewinne, ich habe gewonnen.
Ich bin verloren.
Die Musik aus meinem Zimmer dröhnt so laut gegen den Spiegel, dass es mir in den Ohren pfeift. Ich starre auf das Geistermädchen auf der anderen Seite, dessen Korsett darauf wartet, noch viel enger geschnürt zu werden, damit es sich selbst immer wieder und wieder in der Mitte falten kann, bis es die Nullgrenze überschreitet und verschwindet.
Ich schneide.
Der erste Schnitt geht vom Hals bis genau unter mein Herz, tief genug, dass ich endlich etwas fühlen kann. Aber nicht tief genug, dass die Haut richtig aufklafft. Der Schmerz ist wie ein Lavastrom und nimmt mir den Atem.
Als Nächstes schneidet das Messer eine Verbindungslinie zwischen zwei Rippen ins Fleisch, dann zwischen die beiden Rippen darunter. Dicke Blutstropfen spritzen auf den Rand des Waschbeckens, reife rote Samenfrüchte. Ich bin dermaßen stark, so eisern und magisch, dass das Messer eine dritte Linie zwischen zwei Rippen zieht, fein säuberlich und gerade. Blut sammelt sich in den Hohlräumen meiner Hüften und tropft auf den Fliesenboden.
Vor meinen Augen reißen schwarze Löcher auf, und der wilde Vogel, der in meinem Herzen gefangen sitzt, beginnt wie verrückt mit den Flügeln zu schlagen. Ich schwitze, endlich ist mir warm.
Die Musik bricht a…
049.00
Die Badezimmertür geht auf.
Emma sieht meine blutverschmierte Haut und die eingeritzten roten Flüsse auf meinem Körper. Das nasse Messer, Silber und Elfenbein.
Die Schreie meiner kleinen Schwester bringen die Spiegel zum Bersten.
050.00
In der Notaufnahme ist überall Nebel. Wütende Schatten huschen die Wände hinauf und hinunter und dann an der Decke entlang.
Cassie hält meine Hand und flüstert mir die Zahlen zu. »Im Krankenwagen war dein Puls bei 33, schlimme Bradykardie. Das EKG war seltsam, wahrscheinlich aufgrund der Dehydrierung und des Blutverlustes. Deine Atmung ist in Ordnung, aber dein Blutdruck und deine Körpertemperatur sind miserabel.«
Ich schließe die Augen.
Als ich sie wieder öffne, kommt Cassie mit den Laborwerten an mein Bett.
»Anämie«, sagt sie. »Und der Blutzucker ist zu niedrig, niedriger Phosphatspiegel, niedriger Kalziumspiegel, T3-Wert zu niedrig – keine Ahnung, was das ist – weiße Blutkörperchen erhöht, Blutplättchen vermindert. Sie haben dich mit schwarzem Zwirn wieder zugenäht, ausgerechnet mit dreiunddreißig Stichen, ist das nicht verrückt? Ach, und du hattest Ketone im Urin. Mach weiter so, dann können wir zusammen Silvester feiern. Bleib stark, Schatz.«
»Wo ist Emma?«, frage ich.
Eine Krankenschwester hängt mir Ketten aus Plastikschläuchen und grünen Drähten um und dekoriert das Zimmer mit Tüten voll Wasser und Blut. Sie sticht mich mit einer Nadel.
Ich lege mich zurück und bin in einem Glassargtraum, in dem Rosenranken die Wände hinaufklettern und eine dornige Festung um mich spinnen.
051.00
Zwei Tage später, zwei Tage vor Weihnachten werde ich als hinreichend fett und vernünftig befunden, dass man mich aus dem Krankenhaus werfen kann. Aus dem Plan, mich gleich wieder ins New Seasons zu schicken, wird nichts. Der Gasthof hat für eine mit lauter Dreck aufgepumpte Lia-Lederhaut kein Zimmer frei. Im Moment nicht. Der Leiter verspricht Mom Dr.Marrigan, dass er nächste Woche ein Bett für mich organisiert.
Bis dahin bin ich stabil genug, um nach Hause zu gehen. Alle behaupten, ich sei stabil.
Ich habe es nicht geschafft zu essen, nicht geschafft zu trinken, nicht geschafft, mich nicht in Schnipsel zu schneiden. Habe es nicht geschafft, eine Freundin zu sein. Eine Schwester. Eine Tochter. Habe es nicht geschafft, mit Spiegeln, Waagen und Telefonanrufen klarzukommen. Gut, dass ich stabil bin.
***
Dad holt mich vom Krankenhaus ab. Er war jeden Tag ohne Jennifer hier (und achtete dabei darauf, Mom nicht in die Arme zu laufen) und hat mit seinem Kopf auf meiner Matratze geweint, aber gesagt hat er kaum etwas, nicht mal, als er mir beim Einsteigen ins Auto half.
Während ich an den Schläuchen hing, hat es geschneit. Die weißen Felder reflektieren die Sonne, so hell, dass man fast nicht hinsehen kann. Ich klappe die Sonnenblende herunter und ein fremdes Mädchen starrt mich aus dem Spiegel darin an. Ein Teil meines Gehirns – der mit Wasser versorgte und mit Glykogen ernährte – weiß, dass ich mich selbst betrachte. Aber der andere, größere Teil bezweifelt es. Ich weiß überhaupt nicht mehr, wie ich aussehen sollte. Sogar der Name auf dem Krankenhausarmband erscheint mir seltsam, als stünden die Buchstaben nicht in der richtigen Reihenfolge oder als ob ein Teil des Namens fehlte.
Ich klappe die Sonnenblende wieder hoch und hoffe, dass Dad nicht bemerkt hat, wie ich zusammengezuckt bin.
Die Ärzte haben mich mit Zwirn wieder zusammengeflickt. Ich vergesse die Nähte immer, bis ich mich zu schnell bewege und der Schmerz urplötzlich losbricht. Außerdem hat man mich mit Zuckerlösung vollgepumpt, und die Mahlzeiten wurden auf einem in fünf Rechtecke unterteilten Plastiktablett serviert. Dieses Gehirn da stand unter der einen Droge, dieser Körper da unter einer anderen. Diese Hand da stopfte mir Essen in den Mund, zu schnell, um die Bissen zählen zu können.
Sie haben mich wieder zusammengeflickt, aber nicht mit Doppelknoten. Meine Innereien sickern aus den Versagerlinien meiner Haut hervor, das spüre ich, aber jedes Mal, wenn ich nach den Verbänden taste, sind sie trocken.
Ich zerre dieses Ich da wieder zurück in den Körper auf den Beifahrersitz im Wagen meines Vaters.
»Wo ist Emma?«, frage ich. »Fangen heute nicht die Winterferien an?«
Dad drückt einen Knopf am Armaturenbrett. Eine Jazztrompete fällt viel zu laut über uns her. Ich strecke die Hand nach dem Lautstärkeregler aus, verziehe dabei vor Schmerzen mein Gesicht, drehe leiser.
Er fährt vierundzwanzig Kilometer weiter, ohne einen Ton zu sagen.
Als wir den Highway verlassen, biegt er nicht rechts ab, sondern links, nach Norden, auf die dunkle, Sturm verheißende Wolkenfront zu, die noch mehr Schnee aus der Arktis bringt.
»Wo fahren wir hin?«
»Ich bringe dich nach Hause.«
»Das ist aber nicht der Weg.«
Seine Finger schließen sich fester um das Lenkrad. »Du wohnst bis zur stationären Aufnahme bei deiner Mutter.«
»Nein, Daddy, bitte! Was ist mit Emma? Sie will, dass wir noch mal Plätzchen zusammen backen, und sie braucht Hilfe beim Einpacken deiner Geschenke, und wir wollen doch zusammen Weihnachtslieder in der Kirche singen. Und ich habe versprochen, mit ihr Schlittenfahren zu gehen und Schnee-Engel zu machen.«
Er wechselt ohne Schulterblick auf die Überholspur. »Du wirst Emma nicht mehr sehen, bis es dir besser geht. Vielleicht spornt dich das ja ein bisschen an. Wenn du dir für dich selbst keine Mühe geben willst, dann tu es wenigstens für sie.«
Seine Stimme zerbricht. Er schnieft, schluckt heftig und tritt aufs Gaspedal, sodass die Tachonadel blitzartig in den roten Bereich schnellt. Ich begreife diesen Mann nicht. Ich kralle mich am Türgriff fest und bin mir nicht sicher, ob wir heil ankommen werden.
***
Er hat immer noch einen Hausschlüssel von ihr an seinem Bund, zusammen mit denen fürs Büro, für die Turnhalle, Jennifers Hausschlüssel und drei Autoschlüsseln. Dad schließt auf, tritt ein und wartet, dass ich ihm folge.
Mom Dr.Marrigan ist in der Bibliothek und diktiert Notizen in ihren Computer. Als wir hereinkommen, hebt sie rasch einen Finger und dokumentiert weiter ihren letzten vierfachen Bypass, ein Herr, der sich die letzten vierzig Jahre von Cheeseburgern ernährt hat.
Dad trägt mein Gepäck nach oben ins Gästezimmer in mein Zimmer. Als er wieder runterkommt, sieht es einen Moment lang so aus, als wollte Mom Dr.Marrigan ihm ein Trinkgeld geben wie einem Hoteldiener oder Laufburschen.
»Hast du dich darum gekümmert, wie sie morgen zu Dr.Parker kommt?«, erkundigt sie sich.
»Jennifer wird sie um eins hier abholen und nach dem Termin wieder zurückbringen.« Dad zieht den Reißverschluss seiner Jacke hoch und streift Handschuhe über. »Und hast du für morgen Früh alles geregelt?«
»Wieso muss Jennifer mich denn fahren?«, frage ich. »Ich kann doch selbst hinfahren, wenn ihr mir einen Wagen leiht.«
Sie schauen mich nicht einmal an. Anscheinend bin ich hier gar nicht anwesend.
Mom Dr.Marrigan nickt Dad Professor Overbrook zu.
»Wenn ich das Haus verlasse, wird Melissa, eine meiner Krankenschwestern hier sein, bis Jennifer kommt. Sie kann auch nach Weihnachten helfen, wenn sie dienstfrei hat. Fünfzehn Dollar die Stunde, bar auf die Hand.«
»Gut«, sagt Dad.
»Ihr habt mir einen Babysitter besorgt?«, frage ich.
Sie reagieren nicht. Ich bin immer noch nicht anwesend.
»Wann ist sie zurück?«, fragt Mom.
»Es ist ein Zweistundentermin, also mit Fahrt so gegen halb fünf, Viertel vor fünf«, sagt Dad. »Bist du bis dahin zu Hause?«
Mom Dr.Marrigan rückt den Stapel medizinischer Fachzeitschriften auf dem Beistelltischchen zurecht. »Ich hab bis sieben Uhr Dienst. Morgen ist Heiligabend. Melissa geht zu ihrem Bruder, wenn Lia um eins das Haus verlässt. Wir können nicht von ihr verlangen, an Heiligabend noch mal zu kommen.«
Dad runzelt die Stirn. »Ich denke, Jen könnte bis sieben hierbleiben.«
»Wenn alles ruhig ist, kann ich früher Schluss machen«, sagt sie.
»Das wäre schon gut.«
Sein Abschiedskuss auf meiner Wange ist so flüchtig, dass ich ihn nicht spüre. Er geht zur Haustür hinaus und nimmt sich sogar die Zeit, von außen abzuschließen.
»Die Decke auf dem Sofa ist angeschlossen und aufgeheizt«, sagt Mom Dr.Marrigan. »Und da steht auch eine Schale mit Suppe, Rinderbrühe mit Gerste. Während du die verschwinden lässt, werde ich erklären, wie die Dinge hier laufen werden.«
»Sprichst du gerade mit mir?«, frage ich.
»Ich komme gleich, muss das nur noch schnell fertig machen.«
Nach weiteren zehn Minuten Diktat kommt sie herein und nimmt auf der Kante des anderen Sofas Platz. Ihre Körperhaltung ist so gerade, als würde sie eine Krone auf dem Kopf balancieren. Sie wartet darauf, dass ich den ersten Schritt mache.
»Ich will wieder zurück zu Dad und Jennifer.«
Sie greift nach links, um eine Lampe anzuknipsen. Am Jahresende geht die Sonne früh unter.
»Wir sind uns alle darüber einig, dass du hierbleiben solltest«, erwidert sie. »New Seasons haben vorhin angerufen und deine Aufnahme nächste Woche bestätigt.« Sie wischt ein Staubflöckchen vom Lampenschirm. »Sie haben bereits alle Unterlagen vom Krankenhaus erhalten und werden nach deinem Termin morgen ein Konferenzgespräch mit Dr.Parker führen.«
»Ich bin achtzehn. Was ich ihr erzähle, ist privat.«
»Nicht, wenn ein Gericht entscheidet, dass du für dich und andere eine Gefahr bist.«
»Seit wann denn das?«
»Ich habe die Hälfte aller Richter hier im Landkreis operiert, Lia. Wenn es sein muss, krieg ich das durch.«
Ich bin nicht achtzehn, sondern zwölf, eingezwängt in Spitzentanzschuhe, um wieder den pas de Mom zu tanzen, und sie steht neben der Bühne und sagt mir, was ich alles falsch mache.
Dampfwirbel steigen von der Suppe auf. »Die haben mir damals schon nicht geholfen. Es ist sinnlos, mich wieder dort hinzuschicken.«
»Das meinte dein Vater auch.«
»Wirklich?«
»Aber er hat seine Meinung geändert, nach dem, was du getan hast. Er gibt endlich zu, wie schlimm die Lage ist, glaubt aber nicht daran, dass die Behandlung anschlagen wird.«
Ich kann nicht anders. »Warum nicht?«
»Weil du nicht gesund werden willst. Er sagt, dass sich nichts bessern wird, solange du nicht gesund sein und ein richtiges Leben führen willst. Und ich bin im Großen und Ganzen derselben Ansicht.«
»Warum mich also hinschicken?«, frage ich. »Wozu das Geld verschwenden?«
»Weil du stirbst, wenn wir es nicht tun.«
»Du übertreibst.« Ich schließe meine Hände um die Suppenschale und beuge mich über den Dampf, begierig auf das brennende Ziehen meiner Nähte. Ich nehme den Löffel und rühre um. Der Bodensatz aus Gemüse und Gerste wirbelt nach oben. Oma hat diese Suppe immer gekocht, aber ich darf nicht kosten. Der erste Schluck würde die Eisschicht zum Schmelzen bringen, auf der ich stehe, die Eisschicht über dem offenen Abgrund.
Ich lasse den Löffel los und vergrabe meine Hände unter der Heizdecke. »Warum heizt du den Raum nicht richtig?« Die Worte kommen zu laut heraus, als wäre mein Lautstärkeregler kaputt.
»Du hast nicht genügend Körperfett, um deine Temperatur zu halten. Die Lösung dafür ist, alle paar Stunden etwas Nahrhaftes zu dir zu nehmen. Ganz einfach.«
»Ich brauche nicht alle paar Stunden was essen. Ich habe einen langsamen Stoffwechsel.«
»Dein Stoffwechsel hat sich verlangsamt, weil dein Körper denkt, dass du mitten in einer Hungersnot steckst. Er hält jeden Milliliter fest, um dich am Leben zu erhalten.«
Meine Fäuste ballen sich im Verborgenen. »Du bauschst meine Probleme unverhältnismäßig auf, um dich nicht der Frage stellen zu müssen, warum es dir selbst so mies geht.«
»Hör auf, vom Thema abzulenken.«
»Hör auf, mich zu schikanieren. Es ist mein Leben. Ich kann tun und lassen, was ich möchte.«
Mom schlägt mit der Hand auf das Beistelltischchen. »Nicht wenn du dich umbringst!«
Ein Windstoß weht heulend durch die französischen Türen zwischen uns und lässt mich erzittern. Sie erhebt sich und beginnt, auf und ab zu gehen. Ich hefte meinen Blick auf einen blassen Farbfleck an der Wand.
»Was soll dieses irrationale Verhalten?«, fragt sie mit dem Rücken zu mir. »Was versuchst du zu beweisen?«
»Glaubt ihr denn, dass es mir Spaß macht, Emma so zu erschrecken und euch so wütend zu machen, dass ihr mich nicht mal mehr anseht?«
Sie dreht sich um. »Ich weiß es nicht. Ich verstehe nichts von dem, was du tust. Trink diese Suppe.«
Ich ziehe mir die Decke bis ans Kinn. »Du kannst mich nicht zwingen.«
Sie zieht die schweren Gardinen zu, wodurch der Luftzug nachlässt und ich in Schatten gehüllt werde. Dann knipst sie zwei weitere Lampen an, ehe sie tief durchatmet und sich wieder hinsetzt.
»Dein Körper möchte leben, Lia, auch wenn dein Kopf es nicht will«, sagt sie. »Deine Werte haben sich im Krankenhaus schnell gebessert. Die Leberfunktion ist besser geworden, dein QT-Intervall ist besser geworden, die Phosphat- und Kalziumwerte ebenfalls. Du bist zäh, und das meine ich im besten medizinischen Sinne.«
Zähes Leder, hartnäckiger Fleck, Säure, die das Gebäude rosten und bröckeln lässt.
»Wenn du nicht isst, werde ich dir das Essen nicht hineinzwingen, auch wenn die Versuchung groß ist. Aber du musst mit Flüssigkeit versorgt werden. Wenn du dich weigerst, Flüssiges zu dir zu nehmen, wirst du in die Psychiatrie eingewiesen. Sofort. Ich habe mich bereits mit Dr.Parker abgesprochen und wegen der Papiere mit jemandem von der Staatsanwaltschaft.«
»Ich werde dich für immer und ewig hassen, wenn du mich in eine Irrenanstalt steckst.«
»Und du musst deine Medikamente nehmen, und zwar alle.« Sie entfernt einen Fussel von der Tagesdecke. »Melissa und ich werden dich nach der Einnahme eine Stunde lang im Auge behalten, um sicherzugehen, dass die Medikamente auch wirklich in deinen Körper gelangen. Und wir werden messen, wie viel du trinkst, und wie viel du wieder ausscheidest.«
»Ihr wollt meine Pisse messen?«
»Das ist die beste Methode, um sicherzustellen, dass du nicht dehydrierst. Unten im Bad ist ein Plastikbehälter für den Urin.«
»Das ist doch lächerlich. So krank bin ich nicht.«
»Deine Unfähigkeit zu einer sachlichen Einschätzung deiner Situation ist die Folge der Unterernährung und eines gestörten Hirnstoffwechsels.«
»Ich hasse es, wenn du wie ein Fachbuch redest.«
Sie beugt sich vor. »Und ich hasse es, wenn du dich zu Tode hungerst. Ich hasse es, wenn du deine Haut aufschneidest, und ich hasse es, wenn du uns so wegstößt.«
Der Wind drückt so heftig gegen die Glastüren, dass die Gardinen sich bauschen.
»Ich hasse es auch«, flüstere ich. »Aber ich kann nicht anders.«
»Du willst nur nicht anders.«
Der verletzende Tonfall ihrer Stimme erschreckt uns beide.
Sie steht wieder auf, greift hastig nach ihrer afghanischen Tagesdecke und muss dabei heftig schniefen, um ihre Tränen herunterzuschlucken. Zuerst denke ich, dass sie wegwill, die Decke vielleicht in den Schrank oder in die Waschmaschine legen will. Aber sie tut es nicht. Sie legt die Decke über die Heizdecke, unter der ich kauere, zieht sie mir fest um Schultern und Hüften.
»Tut mir leid«, sagt sie. »Das war gemein.«
»Es war ehrlich«, erwidere ich. Das Gewicht der Decken fühlt sich herrlich an. »Dr.Parker würde das befürworten.«
Einen Moment lang setzt der Wind aus. Das Haus ist still, wartet darauf, dass ich ihr alles erzähle.
Ich könnte es versuchen. Vielleicht nicht alles. Vielleicht nur die Schimpfwörter,
::dumm/hässlich/dumm/Schlampe/dumm/fett/
dumm/Baby/dumm/Loser/dumm/verloren::
die auf mich einhämmern, wenn ich daran denke, einen Zimtbagel zu essen oder eine Schüssel Blaubeerpops. Und dann diese Sache, zwischen den Welten gefangen zu sein ohne Kompass oder Karte.
Sie streichelt mir mit dem Handrücken über die Wange und beugt sich vor, küsst mich jedoch nicht. Dann schnuppert sie ein-, zwei-, dreimal an meinem Kopf.
»Was tust du denn da?«, frage ich.
Sie setzt sich neben mich. »An der Uni haben wir damals eine Studie darüber gelesen, dass Mütter ihre Babys einen Tag nach ihrer Geburt am Geruch erkennen können. Ich hielt das für Blödsinn.«
»Und stimmt es?«
»Ich hab dich nach wenigen Stunden am Geruch erkannt. Er hat mich beruhigt, fast wie eine Droge. Ich liebte den Geruch meiner Tochter. Als du ein Baby warst, habe ich dauernd an deinem Kopf geschnuppert.«
»Mom, das ist verrückt. Und wenn ich es schon für verrückt halte, hast du wirklich ein Problem.«
»Ich habe nach deinem Auszug monatelang auf deinem Kopfkissen geschlafen und mir eingeredet, ich könnte dich noch immer riechen. Blöd, was?«
Ich schlucke heftig. »Eigentlich nicht.«
»Ich bin fast gestorben, als du weggingst.«
»Ich musste.«
»Ich weiß.« Sie blickt auf ihre magischen Hände herunter. »Mein einziges Kind verhungerte, und ich konnte nichts dagegen tun. Ich habe mich gefragt, was für eine Mutter ich bin. Ich war fix und fertig.« Sie holt tief Luft. »Ich wollte dich bei mir haben, aber du wolltest nicht hier sein. Ich wollte dich von Cassie fernhalten, weil sie sich in Probleme hineinmanövrierte. Du warst so entschlossen, zu ihr zu stehen. Cindy hat mir damals erzählt, dass Cassie eure Freundschaft beendet hat. Ich war so froh, dass ich vor Glück fast auf der Straße getanzt hätte…«
»Rieche ich nach Keksen?«, unterbreche ich sie.
»Wie bitte?«
Ich räuspere mich. »Ob ich nach Keksen rieche? Mein Kopf, meine ich. Nach Ingwer und Gewürznelken und Zucker?«
Ihr Lächeln ist warm und aufrichtig. »Nein, ganz und gar nicht. Ich fand immer, dass du nach Erdbeeren riechst. Ist das auch verrückt?«
Wir wagen beide nicht zu atmen, weil wir uns gerade im selben Raum, in derselben Zeit befinden, Mom und Lia, ohne Handys oder Skalpelle oder Worte wie Flammenwerfer. Keiner von uns will den Zauber zunichtemachen.
Wenn ich ihr jetzt von meiner ganzen Hässlichkeit erzähle, wird diese zarte Brücke unter ihrer Last zusammenbrechen.
»Nein, es ist nicht verrückt«, sage ich. »Es ist süß.«
Zum Abendbrot trinke ich Elektrolytlösung, die so schmeckt, wie Krankenhaustoiletten riechen (= ? Mom hat das Etikett abgemacht und die PC-Kabel verschwinden lassen, damit ich die Kalorien nicht kontrollieren kann.) Außerdem esse ich eine kleine Banane (90). Sie schmeckt nach Banane.
Mom isst einen Hähnchensalat mit Schlabberdressing und zwei Scheiben Pumpernickel. Dann sieht sie sich eine Dokumentation über Südkorea an, während ich so tue, als würde ich lesen. Als der Film vorbei ist, schaut sie nach meinen Nähten, fühlt meinen Puls, misst den Blutdruck und gibt mir Medikamente, sogar meine Schlaftablette.
Ich schlafe schneller ein, als ich will, und wache mitten in der Nacht wieder auf, wieder verwirrt, weil ich nicht weiß, wo ich bin und warum und wer. Tausend Finger greifen durch die Matratze hindurch nach mir, durchbohren meine Haut, um an meinen Knochen zu kratzen. Ich springe aus dem Bett und beginne hin und her zu gehen, um das Gefühl abzuschütteln.
Drüben vor Cassies Haus buddelt ein Wolfsrudel im Rosenbeet. Es ist auf der Suche nach fressbaren Körpern und Knochen, die sich knacken lassen. Ich merke nicht mehr, wann ich schlafe und wann ich wach bin oder was davon schlimmer ist.
052.00
Hoch- und Tiefdruckgebiete haben sich über Nacht verlagert. Anstatt aufs Meer hinauszublasen, hat sich der Wintersturm nun mitten über Neuengland festgesetzt. Für heute sind mindestens sechzig Zentimeter Schnee angesagt.
Ich überlege, irgendjemanden anzurufen, der mit Emma Schlitten fahren geht. Mira vielleicht. Oder Sasha. Würden sie überhaupt rangehen, wenn sie wüssten, dass ich der Anrufer bin?
Wenn ich an Emma denke, würde ich mir die Fäden am liebsten mit einer Zange rausreißen. Für das, was ich ihr angetan habe, müsste man mich auf dem Scheiterhaufen verbrennen. Oder mich auf einer treibenden Eisscholle aussetzen. Ich wünschte, man könnte sie das, was sie gesehen hat, irgendwie vergessen machen, ihre Erinnerung daran irgendwie auslöschen. Es gibt auf der ganzen Welt nicht genügend Seife und Putzzeug dafür.
Ich bräuchte gar keine Zange. Ich könnte die Fäden mit der Nagelschere durchschneiden und dran ziehen, bis dieser Körper hier auseinanderfällt.
Meine Mutter ruft mich. Ich gehe nach unten.
Der Wachhund Krankenschwester Melissa kommt, als wir mit dem Frühstück fertig sind (eine halbe Grapefruit = 37, trockener Toast = 77), nach einem Riesendrink mit Elektrolyten (= ?) und hübschen Pillen (= weiße Samttücher umhüllen mein Gehirn). Sie ist nur wenige Jahre älter als ich und hat schon diese Wag-es-ja-nicht-Falten auf der Stirn, die gute Krankenschwestern vom Dauerbösegucken bekommen.
Eine Stunde später pinkele ich fünfhundert Milliliter gelbes Wasser. Melissa steht im Bad und sieht mir zu.
»Dafür wirst du nicht gut genug bezahlt«, bemerke ich.
Sie gibt den Flüssigkeitsbericht per Telefon an Mom Dr.Marrigan weiter.
Ich möchte so gern wissen, wie viel ich wiege. Hier gibt es keine Waage, und im Krankenhaus wollte es mir keiner sagen. Sie haben so viel Glibberkram in mich hineingepumpt, dass ich bestimmt vier Kilo zugenommen habe. Von dem ganzen neuen Fett juckt meine Haut. Sie wird aufreißen und sich abschälen. Melissa gibt mir Hautcreme und schaut dabei zu, wie ich mir Arme und Beine einreibe.
Den ganzen restlichen Morgen über schlafe ich unter einem Berg aus Decken.
Jennifer fährt mich, ohne einen Ton zu sagen, zu Dr.Parker. Ich kann’s ihr nicht verübeln. Ich an ihrer Stelle würde auch nicht mit mir reden. Bestimmt hat sie Angst, mich tagelang ununterbrochen anzubrüllen, wenn sie erst einmal den Mund aufgemacht hat, und dann wäre Weihnachten endgültig im Eimer.
Die ganze Strecke über fährt ein Schneepflug vor uns. Das Autoradio ist voll aufgedreht, Jennifers Hände klammern sich so fest ans Lenkrad, dass die Knöchel weiß hervortreten. Das Schneetreiben macht es schwer, sich zu orientieren, und wir sehen kaum was, bis wir dem Schneepflug fast hinten drauffahren.
Schließlich biegt Jennifer zum Bürokomplex ab und hält am Bordstein.
Ich wage einen Versuch. »Also dann… bis um vier, ja?«
Sie nickt einmal. Ihre Augen starren in den Sturm.
»Und, äh, ich komme dann also am Weihnachtsmorgen zu euch rüber? Damit wir zusammen Geschenke auspacken können?«
»Deine Mutter soll mich anrufen.« Sie dreht das Gebläse auf, um die Wärme wegzupusten.
»Okay.« Ich öffne die Wagentür.
»Warte.« Jennifer packt mich am Arm. Zum ersten Mal, seit ich auf der Tragbahre festgeschnallt wurde, blickt sie mir in die Augen. »David will nicht, dass ich dir das sage, aber was soll’s. Ich liebe dich, Lia. Als ich deinen Vater heiratete, habe ich geschworen, dich so zu lieben wie mein eigenes Kind. Aber du hast meiner kleinen Tochter wehgetan.«
Sie zittert vor Wut.
»Dein Hungern hat ihr wehgetan, deine Lügen haben ihr wehgetan, und dass du jeden bekämpfst, der dir zu helfen versucht. Im Moment kann Emma nur ein paar Stunden pro Nacht schlafen. Sie hat Albträume von Monstern, die unsere gesamte Familie auffressen. Sie fressen uns langsam auf, sagt sie, damit wir ihre scharfen Zähne spüren.«
Mein Herz schaltet vom Leerlauf in den vierten Gang, beschleunigt wie ein Rennwagen, der auf der Spur ins Schleudern gerät.
»Es tut…«
Sie lässt meinen Arm los und legt mir die Hand auf den Mund. »Sei still. Du gehst jetzt da rein und erzählst dieser Frau dort die Wahrheit. Sag ihr, was in deinem Kopf los ist und warum du diese Dinge tust. Und sag ihr, dass es ganz danach aussieht, dass du nie wieder bei deinem Vater wohnen kannst, also findet ihr zwei am besten raus, wie du mit deiner Mutter klarkommst.«
»Ich darf nicht zurück?«
»Ich werde nicht zulassen, dass du Emma mit zugrunde richtest. Niemals.«
Sie zieht sich wieder auf ihren Sitz zurück, ihre Vorstadtstiefmutter-Maske sitzt akkurat an ihrem Platz. »Vier Uhr. Vielleicht etwas später, je nachdem, wie frei die Straßen sind.«
053.00
Die Empfangsdame, Sheila, sitzt nicht an ihrem Platz. Wahrscheinlich ist sie früher nach Hause gegangen, um für Weihnachten zu kochen. Ich drücke mein Ohr an die Bürotür von Dr.Parker; drinnen weint jemand. Die Stimme der Therapeutin murmelt, dann ist das nervige Klingeln der Zeitstoppuhr zu hören.
Ich blicke zu Boden, während die weinende Patientin durch das Wartezimmer geht und die Tür öffnet, die in den Sturm hinausführt. Sie schnieft immer noch und hat vor lauter Schluchzen einen Schluckauf.
Zwischen den Sitzungen geht Dr.Parker immer ins Bad und legt manchmal auch eine Meditationspause ein. Es wird noch mindestens fünf Minuten dauern, bis sie mich hereinruft. Ich bin darauf eingestellt und hab mich mit meinem Strickzeug ausgerüstet. Ich muss mit diesem Schal/dieser Stola/dieser Decke fertig werden, damit ich Emma was stricken kann. Eine Mütze vielleicht. Oder einen Pullover für ihren Plüschelefanten.
Ich schaue aus dem Fenster. Draußen auf dem Parkplatz steckt ein Wagen im Schnee fest. Der Motor heult auf, als die Fahrerin die Reifen durchdrehen lässt, aufs Gaspedal tritt, ohne so recht vom Fleck zu kommen. Schneepflüge rumpeln mit rasselnden Ketten und Klingen vorbei, Funken sprühen, während sie das Eis von der Straße kratzen. Alles ist mit Schnee bedeckt. Es sieht aus wie eine andere Welt.
»Scheußlich, was?«, sagt Cassie.
Mein Herz knallt gegen den Brustkorb.
Sie sitzt auf der anderen Seite des Raums, die Füße auf dem Beistelltisch, auf dem Schoß eine Zeitschrift mit aufgeschlagener Kreuzworträtselseite. Sie ist passend zum Wetter gekleidet: blaues Totenkleid, graue Skijacke, Strickmütze, auf dem Stuhl neben ihr die dazu passenden Fäustlinge, feuchte, gefütterte Stiefel.
»Die nerven echt immer rum, oder? Dauernd heißt es: ›Red mit der Therapeutin, red mit deiner Mutter, tu, was man dir sagt, wann wirst du endlich erwachsen?‹« Sie füllt ein paar Kästchen im Kreuzworträtsel aus und radiert dann alles wieder weg. »Dreizehn senkrecht. Anderes Wort für Vertrag, vier Buchstaben?«
»Warum lässt du mich nicht in Ruhe?«
»Ich vermisse dich.«
Ich bekomme das Gefühl, dass ich gleich in Ohnmacht falle. Ich lehne mich gegen Sheilas Schreibtisch und kneife in eine der Schnittwunden zwischen meinen Rippen. Der Schmerz weckt mich auf wie ein Elektroschocker. »Du weißt, was Emma gesehen hat, oder?«
Cassie trägt ein Lösungswort ein. »Bund, das passt. Vielleicht.«
»Nicht zu fassen, dass ich ihr das angetan habe.«
»Du verdienst es nicht zu leben.« Sie sagt es, als würde sie mir mitteilen, welche Jeans mir steht. »Nimm das nächste Mal ein größeres Messer. Schneide tiefer. Bring es hinter dich.«
»Ich glaube nicht, dass ich sterben will.«
Sie schnaubt verächtlich. »Ja, schon klar. Du kannst doch nicht mal eine Schüssel Cornflakes essen, ohne einen Nervenzusammenbruch zu kriegen! Glaubst du im Ernst, dass du jemals irgendwas Schwieriges hinkriegst, aufs College gehen zum Beispiel? Dir einen Job besorgen? Allein leben? Einkaufen gehen? Uuuuuh – Hilfe!«
Dr.Parkers Klospülung ist zu hören.
Ich rücke ein Stück näher zur Tür. »Warum bist du so gemein?«
»Freunde sagen sich nun mal die Wahrheit.«
»Ja, aber nicht um zu verletzen. Sondern um zu helfen.«
Gerade sitzt sie noch in dem Sessel am Fenster. Dann steht sie urplötzlich vor mir, direkt vor meiner Nase, und lässt die Temperatur auf den Nullpunkt sinken. Ihre Haut ist rau wie eine Friedhofsstatue. Ihr Geruch erstickt mich.
»Du willst, dass ich dir helfe, Lialein?«
Kann man Gespenster töten, indem man ihnen eine Stricknadel ins Herz stößt? Oder kann man sie dadurch wenigstens in die Erde zurückverfrachten, wo sie hingehören?
»So wie du miiiir geholfen hast?« Sie dehnt das Wort so lang, dass es in ihrer Kehle rasselt. »Wie wär’s denn damit: Du bist nicht schlank. Du bist ein Walross voller Eiter. Deine Mutter wünscht, sie hätte dich zur Adoption freigegeben. Dein Vater bezweifelt insgeheim, dass du seine leibliche Tochter bist. Die Leute lachen dich aus, wenn dein Fett wabbelt. Du bist hässlich. Du bist dumm. Du bist langweilig. Das Einzige, was du gut kannst, ist hungern. Und nicht mal das bekommst du richtig hin. Du bist ein hoffnungsloser Fall.«
Sie zwinkert. »Und genau dafür liebe ich dich. Beeil dich, ja?«
Dr.Parker öffnet die Tür. »Können wir?«
054.00
Sie stellt den Heizlüfter an und gibt mir vorsorglich eine zweite Decke, die ich über die hässliche haarige Afghanendecke legen kann. »Entschuldige, dass es so kalt ist. Diese Fenster müssen wirklich ausgewechselt werden.«
Ich rolle mich auf der Couch zu einem Ball zusammen und drücke mir mein Strickzeug auf den Bauch.
Sie nimmt ihre Position hinter dem Schreibtisch ein. »Du hast einiges durchgemacht. Ich bin wirklich froh, dass du hier bist. Diese Nähte tun bestimmt weh, kann ich mir vorstellen.«
Zunächst halte ich mal fünfzehn Minuten lang den Mund und pflücke mir dabei den weißen Flaum von den Armen. Aber mein Herz ist voller Gift und schwillt an, wirft sich gegen den Brustkorb, so heftig, dass mir die Zähne klappern und meine Nähte kurz vorm Platzen sind.
»Es fühlt sich an, als hätten sie ein ganzes Meer in mich hineingepumpt«, sagen meine Lippen.
»Die Infusionen?«, fragt sie.
»Ich schwappe bei jedem Schritt.«
»Du warst stark dehydriert. Hattest du auch aufgehört zu trinken? Nicht mal Wasser?«
Ich hole das Strickzeug aus der Tasche. Rechts, rechts, links. »Ich weiß nicht mehr. Vielleicht.«
»Was machen die Schnittwunden?«
»Die Stiche sind schlimmer als die Schnitte. Der Arzt hat zu viele gemacht. Ich kann mich kaum rühren, ohne alles aufzureißen.«
Sie lässt eine Minute verstreichen, dann fragt sie: »Darf ich die Nähte sehen?«
»Nein«, sage ich. »Noch nicht.«
Sie nickt. »Was plagt dich sonst noch?«
»Dieser Geruch macht mich verrückt.« Mist. Das wollte ich gar nicht sagen.
»Welcher Geruch?«
Ich lege die Stricknadeln in den Schoß und sehe zu, wie der Faden sich um meine Hände windet. »Sie riechen es nicht, oder?«
Sie schüttelt langsam den Kopf, ängstlich bemüht, dieses seltsam daherredende Mädchen, das in meiner Haut steckt, nicht zu erschrecken. »Kannst du ihn beschreiben?«
»Am Anfang dachte ich, es wären Kekse, Weihnachtsplätzchen, und dass ich das nur rieche, weil mein dummes Gehirn mich irgendwie verführen will zu essen. Aber das ist es nicht. Es ist Cassie. Wenn ich es rieche, ist sie ganz in der Nähe.«
»Cassie, das ist deine Freundin, die letzten Monat gestorben ist.«
»Ingwer, Gewürznelken und Zucker. Wie verbrannte Plätzchen. Zuerst war es noch schön. Es hat mich an sie erinnert. Jetzt macht es mir Angst.«
»Ich verstehe nicht ganz.«
Oh Gott. Oh Gott. Ich steh auf dem Gipfel eines irrsinnig hohen Berges. Der vereiste Boden erzittert, ein Erdbeben, die Welt unter mir öffnet sich und spuckt Feuer, stählerne Arme wollen mich in den Abgrund ziehen.
Ich muss mich rühren. Ich halte es hier nicht mehr aus.
Ich stürze mich vom Berg in die Tiefe und öffne den Mund.
Ich erzähle von Oma Marrigans Beerdigung und den Schatten, die seither an allen Dingen haften. Ich erzähle ihr von den Geistern, die ich in Schaufensterscheiben und alten Spiegeln sehe, und dass die meisten von ihnen ganz nett sind, aber nicht alle.
Während meine Lippen sich bewegen, wird der Raum immer schmaler und länger, als bestünden die Wände aus rotem Gummi und würden von einem Riesen zu einem Korridor auseinandergezogen. Dr.Parkers Stimme wird leiser und leiser, ihr Schreibtisch rückt immer weiter von mir weg.
»Jagen die Geister dir Angst ein?«
»Cassie schon.«
Die Wolle zieht sich fester um meine Hände, bis meine Finger blau anlaufen.
»Magst du mir von ihr erzählen?«
Ich erzähle es ihr. Ich erzähle ihr jedebekloppteCassiegeschichte, wie sie sich in ihrem Sarg aufrichtete, wie sie mich nachts beobachtete, wie sie in meinen Kopf kroch, mich auf Schritt und Tritt verfolgte, es in der Apotheke schneien ließ. Wie ich aufhörte, meine Tabletten zu nehmen, extraviele Tabletten schluckte, nachts stundenlang trainierte, aufhörte zu trinken, ritzte und ritzte, um Cassie loszuwerden, um alles loszuwerden. Dass nichts hilft. Regen, Regen, Regen läuft mir übers Gesicht, sodass ich fast ertrinke.
Und die ganze Zeit heftet Dr.Parker ihre kleinen Spinnenaugen auf mich und entlockt mir die Worte, indem sie einfach nur dahockt und mit angehaltenem Atem bewegungslos in der Mitte ihres Netzes wartet. Ich rede und rede, bis mein Hals leer ist und meine Hände sich taub anfühlen.
Sie kommt hinter ihrem Schreibtisch hervor und wickelt sanft die Wolle von meiner Hand. Das Blut strömt in meine Finger zurück. Dann wischt sie mir die Tränen mit einem weichen Taschentuch ab und setzt sich neben mich.
»Wer weiß sonst noch davon?«
»Niemand. Nein, Moment, das stimmt nicht. Cassie natürlich.«
»Du hast deinen Eltern nie gesagt, dass du Geister siehst? Auch nicht, als du jünger warst?«
»Nie im Leben. Mom hätte mir geantwortet, ich solle nicht so ein Theater machen. Dad hätte bestimmt vorgeschlagen, Dichtkunst als Hauptfach zu belegen oder in Gothic zu promovieren. Sie hören mir nie zu, sie halten es kaum mit mir aus. Ich bin eine Puppe, für die sie inzwischen zu alt sind.«
Dr.Parker kramt ein Halsbonbon mit Kirschgeschmack aus der Tasche ihrer Strickjacke, wickelt es aus und steckt es sich in den Mund. Eine Weile lässt sie das Bonbon zwischen den Zähnen klickern. Draußen türmen sich die Schneemassen immer höher.
Schließlich beginnt sie zu sprechen. »Warum erzählst du mir das alles, warum heute?«
Ich muss heftig schlucken. Ich stecke bereits bis zum Hals drin. Also kann ich ihr ebenso den Rest geben.
»Cassie versucht mich umzubringen. Sie sagt, ich sei zwischen den Lebenden und den Toten gefangen, und ich soll in ihre Gruppe. Sie sitzt gerade drüben im Wartezimmer und löst ein Kreuzworträtsel.«
»Du hast sie dort gesehen?« Dr.Parker streicht mir mit ihren Fingerspitzen über den Handrücken.
»Ich hab ihr gesagt, sie soll mich in Ruhe lassen. Aber sie tut’s nicht.«
Ring! Der Halt’s-Maul-Zeitstopper unterbricht mich.
Dr.Parker presst ihre Lippen zusammen und erhebt sich langsam, streckt die Muskeln in Beinen und Rücken. »Und siehst du sie jetzt gerade auch?«
»Nein, sie ist nicht hier im Raum, sie ist hinter der Tür. Oder war. Gehen Sie doch rüber und schauen Sie sich das Kreuzworträtsel an. Sie hat dreizehn senkrecht falsch gelöst und Bund eingetragen, obwohl es eigentlich Pakt hätte heißen müssen.«
Während ich all das erkläre, gießt Dr.Parker Wasser in einen Styroporbecher und stellt ihn in die Mikrowelle.
»Gucken Sie nur in die Zeitschrift.« Ich stopfe die Wolle zurück in meine Tasche. »Ich denke mir das nicht aus. Ich halluziniere nicht. Es ist so real wie das Blut auf meinem Verband oder das Halsbonbon in Ihrem Mund.«
»Man kann unmöglich beweisen, wer dieses Kreuzworträtsel ausgefüllt hat«, erwidert sie.
»Aber ich habe Ihnen doch von dem Fehler erzählt, den sie gemacht hat.«
Dr.Parker holt den Becher aus der Mikrowelle, taucht einen Teebeutel hinein, schüttet ein Tütchen Zucker dazu und rührt mit einem Plastiklöffel um. »Den könntest du beim Blättern entdeckt haben, oder du hast ihn selbst gemacht.«
»Kann sein.«
Im Wartezimmer sind Stimmen zu hören. Ein weiterer Patient, der verzweifelt genug ist, um sich an Heiligabend durch einen Schneesturm herzukämpfen.
Dr.Parker reicht mir den Becher. »Tee«, sagt sie. »Das hilft immer.«
Ich trinke einen Schluck. Es schmeckt wie Bleistiftspäne mit Süßstoff.
Sie setzt sich wieder an ihren Schreibtisch und greift zu ihrem Füller. »Ich bin wirklich stolz auf dich, Lia. Du hast heute mehr erreicht als in den ganzen letzten zwei Jahren.« Sie notiert etwas auf einem gelben Block. »Bekomme ich deine Erlaubnis, über die heutige Sitzung zu reden?«
Ich putze mir die Nase. »Klar, warum nicht?«
»Danke. Ich möchte mit dem Leiter vom New Seasons darüber sprechen. Vielleicht werden wir eine Änderung im Behandlungsplan vornehmen. Seine Einrichtung ist möglicherweise nicht die richtige für dich.«
Ich putze mir die Nase. »Dann kann ich also zu Hause bleiben und ambulant behandelt werden?«
Sie notiert noch etwas, ehe sie weiterredet: »Nein, das habe ich nicht gesagt.«
Irgendein Unterton ihrer Stimme lässt mich schockgefrieren, meine Hand, die gerade nach einem neuen Taschentuch greifen wollte, hält in der Luft inne. »Verstehe ich nicht.«
Draußen ist ein Krachen zu hören, mitten im Sturm beginnt es zu donnern. Die Fenster klirren. Dr.Parker spricht völlig beiläufig weiter, als gehöre es zu ihren alltäglichen Gewohnheiten, kleine verängstigte Mädchen ins Irrenhaus zu stecken.
»Dir steht das Bestmögliche zu«, fährt sie fort. »Geschulte Leute, die wissen, wie sie deine Psyche wieder ins Gleichgewicht bringen. Wenn die Halluzinationen und Wahnvorstellungen erst einmal unter Kontrolle sind, wird es dir leichter fallen, an deinem Selbstbild zu arbeiten. Und auch an den zwischenmenschlichen Beziehungen, die dich so unglücklich machen.«
»Sie denken, ich habe mir das alles ausgedacht«, sage ich. »Sie glauben nicht, dass ich Geister sehe.«
»Ich glaube, dass du dir ein bildliches Universum geschaffen hast, um darin deine schlimmsten Ängste zum Ausdruck zu bringen. In gewisser Hinsicht glaube ich an Geister, ja, aber wir erschaffen sie selbst. Wir quälen uns, und manchmal sind wir dabei so erfolgreich, dass wir den Bezug zur Wirklichkeit verlieren.« Sie steht auf. »Ich breche hier nur ungern ab, aber draußen wartet der nächste Patient. Du solltest wirklich stolz auf dich sein, Lia. Du hast heute einen Durchbruch geschafft. Wie kommst du nach Hause?«
»Jennifer.«
Sie zieht den Vorhang beiseite und wirft einen Blick auf den Parkplatz. »Ein schwarzer SUV, oder? Ich sehe da draußen keinen.«
»Sie hasst es, bei schlechtem Wetter zu fahren.«
»Sie wird sicher gleich da sein.«
Entschuldigen Sie, aber haben Sie mir vor zwei Minuten empfohlen, in eine Irrenanstalt zu gehen, nur weil ich Ihnen endlich die Wahrheit gesagt habe? »Besser spät als nie.«
Ich folge ihr ins Wartezimmer, wo eine äußerst genervte Mutter mit gesenkter Stimme ihre Tochter anzischt, deren Augen nach Mord aussehen. Dr.Parker winkt die beiden in ihr Zimmer.
»Pass auf dich auf, Lia«, sagt sie zu mir. »Ich rufe dich morgen an.«
055.00
Cassie ist verschwunden.
Ich schlage das Kreuzworträtsel in der Zeitschrift auf. Dreizehn senkrecht – Bund. Fünfzehn waagerecht – Cassandra. Sieben senkrecht – Lia. Unsere Namen sind nicht die richtigen Lösungen, aber sie passen in die Kästchen.
Das würde Dr.Parker gefallen. Sie hätte mich auch gern in einem Kasten, groß genug für ihre Diagnose. Sie wird mich darin einsperren, damit die Leute mich anstarren und ihre Finger durch die Gitterstäbe stecken können.
***
Ich kenne drei Mädchen aus dem New Seasons, die in die Psychiatrie gesperrt worden waren: Kerry, Alvina und Nicole. Sie erzählten Horrorgeschichten darüber, während wir nachts um drei im Duschraum bei Mondlicht Sit-Ups, Liegestütze und Hampelmänner machten. Die gepolsterten Wände gebe es wirklich, sagten sie. Auch die gepolsterten Liegen, auf denen man die Leute festschnalle, wenn sie vollkommen durchtickten. Medikamentöse Nebelschleier, so dicht, dass sie ihre Namen nicht mehr wussten. Schreiende Menschen auf den Korridoren, Licht, das nie abgeschaltet wurde. Es wurde nie Morgen und wurde nie Nacht, sagte Kerry. Nie.
War das schlimmer als das Schicksal jener erwachsenen Frauen, die bei uns auf dem Flur wohnten, aber kaum mit uns redeten? Wintermädchen, die fünfundzwanzig, dreißig, siebenundfünfzig Jahre alt waren und in ihren elf Jahre alten Knochenkäfigen herumliefen. Die sich leer und mit blutunterlaufenen Augen von einer Anwendung zur nächsten schleppten, ständig gewogen wurden und immer zu wenig hatten. Der Wind wird sie eines Tages davonwehen, und niemand wird es merken.
Ein Wagen rollt auf den Parkplatz, nicht Jennifer. Vielleicht wäre ich ja zu Fuß schneller, nur dass ich jetzt schon halb erfroren bin und müde.
Ich betrachte die Diplome an der Wand. Ich habe Dr.Parker Angst eingejagt. Sie kann nicht zugeben, dass meine Geister existieren. Wenn sie es täte, wäre ihre Vorstellung von Realität dahin. Ihre Ideen von Trauma und Verhaltensänderung und Affirmation und Bewältigung sind nichts als Schwindel. Fantasie. Gutenachtgeschichten, die man absonderlichen Patienten erzählen, die ein bisschen Schlaf brauchen.
Wir haben beide Recht.
Die Toten wandern sehr wohl umher und spuken und kriechen nachts zu dir ins Bett. Sie schleichen sich in deinen Kopf, wenn du gerade nicht aufpasst. Sterne formieren sich zu Konstellationen und Vulkane spucken Glasstücke aus, die die Zukunft voraussagen können. Giftbeeren machen Mädchen stärker, bringen sie manchmal aber auch um. Wenn man den Mond anheult und einen blutigen Eid schwört, geht alles in Erfüllung, was man sich wünscht. Vorsicht mit dem Wünschen! Irgendwo gibt es immer einen Haken.
Dr.Parker und alle meine Eltern leben in einer Welt aus Pappmaschee. Sie basteln aus Zeitungspapierschnipseln und etwas Klebstoff Probleme zusammen.
Ich lebe im Grenzgebiet. Das Wort Geist klingt wie Erinnerung. Das Wort Therapie klingt wie Exorzismus. Meine Visionen vervielfachen sich wie Echos. Ich weiß nicht, wie ich herausfinden soll, was sie bedeuten. Ich kann nicht sagen, wo sie beginnen oder ob sie aufhören werden.
Aber eins weiß ich. Wenn sie meinen Kopf noch weiter schrumpfen oder mich in einem Meer aus Tabletten fortspülen, kehre ich nie mehr zurück.
056.00
Ich benutze den Apparat am Empfang, um Jennifer anzurufen. Ihr Handy schaltet sofort auf Mailbox. Dads ebenso. Dr.Marrigan ist immer noch im Dienst, da brauche ich es gar nicht erst zu versuchen.
Der Schnee fällt so schnell, dass man die Straßenlaternen kaum erkennen kann. Bucklige Schattenrissautos kriechen dahin, mit kleinen Bergen auf ihren Dächern. Jennifer bekommt bei Schnee Panik, hat ständig Angst, dass die Reifen durchdrehen und das Heck ausschert. Aber sie hat es versprochen. Sie wird schon auftauchen, mich zum Haus meiner Mutter fahren, zum Haus ohne Weihnachtsbaum, weil ein Baum so viel Arbeit macht. Ich werde Flüssigkeit aufnehmen und in einen Plastikbehälter wieder ausscheiden. Mom wird Anrufe tätigen und Anrufe entgegennehmen und alles Notwenige tun, um mich in meinem eisernen Verlies gefangen zu halten.
Der Schnee fällt schnell genug, um uns alle zu ersticken.
Ich rufe ein Taxi und biete an, wegen der Wetterverhältnisse den doppelten Fahrpreis zu zahlen.
Nach genau zwei Minuten ist der Fahrer da. Immer noch keine Jennifer. Ich steige ein, sage ihm, wohin ich will. Er entschuldigt sich für seine nicht funktionierende Heizung. Ich sage, das spiele keine Rolle.
Das Taxi hält vor der Bank, wo man mich noch reinlässt, obwohl sie in einer Minute schließen.
Das Taxi hält vorm Pizzaladen, der rund um die Uhr geöffnet hat.
Er möchte nicht zum Gateway Motel rausfahren, sagt, dass er dort unmöglich einen Fahrgast finden wird, der zurück in die Stadt will, und was ist, wenn er im Schnee stecken bleibt?
Ich wedele ihm drei Zwanzigdollarscheine ins Gesicht und sage ihm, er soll sich beeilen.
Auf dem Motelparkplatz erhebt sich ein einziger wagenförmiger Buckel, ein El Camino. Der Taxifahrer weigert sich weiterzufahren, weil der Parkplatz nicht geräumt wurde. Ich gebe ihm sein Geld, nehme meine Handtasche, meinen Strickbeutel und die Pizza und wate in den Schnee hinaus.
***
Elijah öffnet mit vorgelegter Kette die Tür zum Zimmer115. Der Wind bläst mir die Kapuze vom Kopf. »Bitte.«
057.00
Ich schleppe den Sturm mit meinen Stiefeln herein und rede extrem schnell. »Okay, hör zu. Mein Vater hat mich rausgeworfen und die Vorschriften meiner Mutter sind geistesgestört.«
Er starrt mich bloß an. Ich schiebe ihm den Pizzakarton hin.
»Krieg ich ein Zum-Beispiel?«
»Zum Beispiel lässt sie mich jedes Mal, wenn ich auf Toilette muss, in einen Plastikbecher pinkeln, um den Inhalt zu messen.«
Er legt den Karton aufs Bett. »Warum?«
»Sie ist wie besessen von meinem Körper. War sie immer schon. Hat mich als Kleinkind mit Tofu statt mit normaler Babynahrung gefüttert. Und mit drei steckte sie mich in den Ballettunterricht. Wer tut denn so was?«
»Also bist du hergekommen, um für eine Nacht aus allem raus zu sein? Eine kleine Elternauszeit?«
Ich ziehe meine Handschuhe aus. »Nicht so ganz. Wann fährst du los?«
Er greift nach meinen Fäustlingen und trägt sie ins Bad. »Morgen, falls die Straßen dann geräumt sind. Gib mir deinen Mantel. Ich hänge ihn über die Badewanne.«
Ich knöpfe mir den Mantel auf und ziehe ihn aus. »So schnell?«
»Über Weihnachten hat hier niemand reserviert.« Er trägt den Mantel ins Bad und greift sich im Vorbeigehen einen Bügel aus dem Schrank. »Charlie ist zu seiner Schwester nach Rhode Island gefahren, bevor der Sturm losbrach. Ich muss nur noch alles abschließen, wie ein Bekloppter Schnee schippen, und dann geht es nach Süden.«
Ich brauche eine Minute, um Atem zu schöpfen, und sehe mich dabei im Zimmer um. Buchseiten und Klebeband sind sorgfältig von den Wänden geschält. Die Kleidung aus dem Schrank und aus den Schubladen ist in schwarzen Mülltüten verstaut, die neben der Tür stehen. Der Stapel mit den Spiralblöcken steckt in einer zerschrammten Holzkiste.
»Nimm mich mit.« Ich zittere. »Ich hab gerade mein Konto leergeräumt. Ich hab den Lohn von einem ganzen Leben als Babysitter dabei, bar. Ich kann fürs Benzin bezahlen und dich beim Fahren ablösen.«
»Weiß nicht«, erwidert er. »Ich bin es gewohnt, allein zu reisen.«
Er sagt noch mehr, aber meine Ohren versagen ihren Dienst. Schwarze Punkte drohen mich zu Boden zu ringen. Ich darf nicht ohnmächtig werden. Das hier ist meine einzige Chance.
»Ich glaube, du hast mich nicht verstanden«, sage ich. »Ich hab fast tausend Dollar dabei und dazu eine Kreditkarte, die wir benutzen können, bis mein Vater sie sperren lässt. Du willst…«
::Schwindel/Schwerkraft/Fußboden/Dunkelheit/::
058.00
Ich wache in seinem Bett auf. Komplett angezogen. Unter den Decken sind meine Füße auf Kissen so hoch gelagert, dass ich nicht an ihnen vorbeigucken kann.
Elijah beugt sich über mich. »Alles okay? Was zum Teufel ist passiert?«
Ich fühle eine Beule auf meiner Stirn. »Ich muss ohnmächtig geworden sein. Du hast doch nicht den Krankenwagen gerufen, oder?«
»Hätte ich sollen?«
»Nein.« Ich setze mich mühsam auf.
»Bist du krank?«
»Ein bisschen.« Die schwarzen Punkte tanzen wieder vor meinen Augen. Ich lege mich zurück. »Ich musste für ein paar Tage ins Krankenhaus, weil ich dehydriert war. Bin immer noch ein bisschen wackelig, aber das ist echt keine große Sache.«
Er macht große Augen. »Machst du Witze? Es ist eine Riesensache. Du kannst nicht mitkommen. Du kannst auch nicht hierbleiben. Wenn ich am Ende wieder mit einem toten Mädchen dasitze, wird es den Bullen egal sein, dass ich ein Videoalibi habe. Du musst weg hier.«
»Ich kann nicht nach Hause.«
»Ist mir egal, wo du hingehst, bei mir bleiben kannst du auf gar keinen Fall.«
Ich zeige aus dem Fenster. »Siehst du den Sturm? Die Polizei hat nicht genug Leute für all die Unfälle. Die Hälfte aller Straßen ist wegen Auffahrunfällen gesperrt. Ich bin achtzehn, ich bin nüchtern, ich habe keinen laufenden Haftbefehl. Sie werden bestimmt nicht herkommen, um nach dem Rechten zu sehen, das kannst du mir glauben.«
»Vielleicht die nicht, aber deine Eltern.«
»Sie wissen nicht, dass ich schon mal hier war. Ich habe ihnen nicht erzählt, wo du arbeitest oder woher ich dich kenne.«
Er greift nach dem Kartenspiel auf dem Fernseher und lässt eine Karte nach der anderen auf den Stapel zurückfallen. Ein paar rutschen weg und landen auf dem Fußboden. »Ich hab kein gutes Gefühl bei der Sache.«
Er wird mich rauswerfen und ich werde sie anrufen müssen, und dann werden sie ewig so tun, als hätten sie sich Sorgen gemacht, damit ich in ihr Auto steige und sie mich in eine Nervenklinik fahren können, wo die Fenster überstrichen sind und ich nie weiß, ob es Tag oder Nacht ist, und dort werden sie mich lassen, bis ich meinen Namen vergessen habe, weil danach nichts mehr eine Rolle spielen wird.
Wieder läuft mir der Regen vom Gesicht herunter. »Bitte.«
»Nein, nicht. Nicht weinen. Hör auf. Ich hasse es, wenn Mädchen weinen.« Er geht ins Bad und kommt mit einer Rolle Klopapier zurück. »Hier.«
Ich reiße ein Stück ab, wische mir die Augen und putze die Nase, aber die Tränen laufen immer noch.
»Was ist passiert?« Er kniet sich neben das Bett, damit wir auf Augenhöhe sind. »Was zum Teufel ist nur los?«
»Ich habe Mist gebaut«, flüstere ich. »Großen. Richtig großen.«
»Bist du schwanger? Rauchst du Crack? Hast du eine Bank überfallen? Jemanden erschossen?«
»Ich zeig’s dir.«
Ich setze mich langsam wieder auf und ziehe mein Sweatshirt aus, dann den Rollkragenpullover, dann das lange Unterhemd. Als ich die letzte Stoffschicht in Angriff nehme, hebt er abwehrend beide Hände.
»Nein. Hör auf. Das lassen wir lieber. Mir reicht es jetzt schon. Völlig. Moment mal, ist das Blut?«
Ich ziehe mein Hemd aus und zucke dabei zusammen. »Hilf mir auf.«
Er lässt zu, dass ich mich auf seinem Arm abstütze. Ich stehe und zähle bis zehn, um sicher zu sein, dass ich nicht wieder in Ohnmacht falle, dann löse ich die Verbände und lasse die Mullbinden zu Boden fallen.
Seine Augen wandern über die Stiche und Nähte, die schwarzen Fäden, die wie Drahtstücke hervorschauen. Die Blutergüsse haben die Hautoberfläche erreicht, auf den straff umspannten Knochen zeichnen sich sämtliche Farben des Sonnenuntergangs ab. Elijah sieht weder meine Brüste noch meine Taille noch meine Hüften. Er sieht einzig und allein den Albtraum.
»Wie ist das passiert?«, flüstert er.
»Ich bin von der Landkarte gefallen.« Ich greife nach dem Unterhemd und ziehe es wieder an. Es scheuert nicht so wie das Verbandszeug. »Meine Schwester hat mit angesehen, wie ich das getan habe. Sie heißt Emma. Die, die Fußball spielt, obwohl sie es hasst. Sie ist neun und liebt mich sehr und…«, ich warte, bis meine Stimme wieder da ist, »… und ich hab sie für den Rest ihres Lebens verkorkst. Ich kann nicht hierbleiben. Ich habe zu vielen Menschen wehgetan.«
Der Schnee segelt herab, eine schwerelose Flocke setzt sich auf die nächste, bis sie zusammen genügend Gewicht haben, um Dächer einzuschlagen.
»Darf ich deinen Arm berühren?«, fragt er schließlich.
»Klar.«
Er nimmt meine rechte Hand in seine und schiebt seinen Daumen am Unterarm hinauf, entlang der Vertiefung zwischen meiner Elle und meiner Speiche. Seine Finger wandern über die Spitze meines Ellbogens und formen mit Daumen und Zeigefinger einen Ring, der sich mühelos um meinen Bizeps schließt.
»Wie viel wiegst du?«, fragt er.
»Nicht genug.« Ich schniefe. »Zu viel.« Ein Schluchzer entfährt mir. »Keine Ahnung.«
»Zieh dich an.« Er reicht mir das lange Unterhemd. »Du kannst mitkommen, unter zwei Bedingungen.«
»Was für welche?« Ich stecke Kopf und Arme hinein, ziehe das Hemd herunter und nehme den Rollkragenpulli.
»Du musst genug essen, um weder ohnmächtig zu werden noch zu sterben.«
»Klingt fair.«
»Zweitens: Du musst deine Eltern anrufen und ihnen sagen, dass dir nichts passiert ist.«
»Nein, ich kann nicht mit ihnen reden.«
»Wenn du sie nicht anrufst, nehm ich dich nicht mit.«
»Wie oft rufst du denn deine Familie an?«
Sein Gesicht verhärtet sich. »Ich habe keine Familie.«
»Du hast doch erzählt, dein Vater sei ein Arsch, aber dass du deine Mutter liebst.«
»Ich hab gelogen. Ich wurde in einem Ei ausgebrütet und hab mich selbst großgezogen.«
Der Sturm bläst den Schnee gegen das Motel.
»Du wolltest doch nicht mehr lügen.«
Er blickt an mir vorbei auf die nackte Wand. »Du willst die Wahrheit wissen?«
»Ja.«
Elijah hebt mein Sweatshirt auf, sein Daumen streicht über die weiche Innenseite des Stoffes. »Meine Mutter ist tot. Sie starb, als ich fünfzehn war. Eine Woche später schlug mich mein Vater zum allerletzten Mal. Er hat mich aus dem Haus geworfen, weil ich mich gewehrt habe. Das war das Beste, was er je für mich getan hat.«
Er reicht mir das Sweatshirt.
»Oh.« Mehr fällt mir nicht ein.
»Ich mein es ernst«, sagt er mit versteinerter Miene. »Wenn du deine Eltern nicht sofort anrufst, rufe ich bei der Polizei an und melde dich als Einbrecher.«
Ich hinterlasse bei meiner Mutter zu Hause eine Nachricht auf dem AB, so wird es eine Weile dauern, bis sie sie bekommt. Ich sage, dass es mir gut gehe, dass ich bei einem Freund sei und sie später wieder anrufen werde.
Elijah findet im Fernsehen einen Weihnachtsfilm, den wir uns schweigend anschauen. Er isst ein paar Stücke Pizza, dann zeigt er auf mich. Ich esse ein paar Stücke Kruste.
Zwei Stunden und zwei Schlaftabletten später schlafe ich ein. Keine Cassie in meinem Kopf. Kein Cassiegeruch in meiner Nase. Keine Messer, keine Schlösser, kein einziger Schatten in den Ecken. Ich habe Pizzakruste im Bauch und möchte nicht mal hineinstechen.
Zweimal wache ich auf.
Das erste Mal zeigt der Digitalwecker 1:22Uhr an. Ich träume davon, Asche zu schaufeln. Der Griff der Schaufel ist so heiß, dass ich sie fallen lasse. Ich schlage die Augen auf. Die Tabletten haben meinen Kopf so schwer gemacht, dass ich ihn nicht vom Kissen heben kann.
Elijah sitzt an dem winzigen Tisch neben dem Fenster, Zigarette im Mund, das Flackern vom Fernseher lässt sein Gesicht aufleuchten. Er mischt seine Karten einmal, zweimal, dreimal, teilt ein Blatt aus. Legt es zurück auf den Stapel und mischt wieder – einmal, zweimal, dreimal. Seine Ärmel sind bis zum Bizeps hochgerollt. Das Männermonster-Tattoo auf seinem Unterarm leuchtet heller als das glühende Ende seiner Zigarette. Rauch steigt von seiner Haut auf und hängt über seinem Kopf, als stünde er in Flammen. Elijah wird zu dem Monster auf der Haut oder das Monster wird zu ihm, sie wechseln so schnell hin und her wie die Karten, die auf dem Tisch landen: zack, zack, zack.
Meine Augen versinken in Schwärze.
Als ich zum zweiten Mal aufwache, knallt die Sonne durch die Löcher im Vorhang herein.
Er ist weg.
059.00
Ich ziehe die Vorhänge auf. Die Stelle, wo der El Camino parkte, ist teilweise mit Schnee zugeweht. Sieht so aus, als ob Elijah beim Rausfahren vom Parkplatz zweimal stecken geblieben ist. Ich hätte die durchdrehenden Reifen und das Aufheulen des Motors hören müssen. Wäre auch so gewesen, wenn ich diese zweite Pille nicht genommen hätte.
Er ist nicht wirklich weg. Wahrscheinlich nur tanken gefahren und etwas fürs Frühstück besorgen. Wir hätten das gestern Abend besprechen sollen. Ich wette, ich könnte einen halben Bagel essen, vielleicht ein bisschen Joghurt.
Ich krieche unter die Decken zurück, die nach Rauch riechen, und schlafe wieder ein.
***
Ein Uhr nachmittags. Ich glaube, es ist Weihnachten.
Die Räumfahrzeuge waren da. Ob er einen Unfall hatte? Hat er sich verfahren?
Ich trinke mehrere Becher heißes Wasser aus dem Hahn, bis mein Kopf endlich wieder klar ist. Zwei Schlaftabletten waren eindeutig ein Fehler, weil ich nämlich jetzt erst merke, dass die Kiste mit den Spiralblöcken fehlt. Und ebenso seine Taschen mit den Buchseiten und der Kleidung.
Aber er wird zurückkommen. Er muss.
Um zwei schalte ich den Fernseher ein und beginne zu stricken, vor und zurück, vor und zurück, mache Laufknoten und verdrehte Maschen, die auf den langen Nadeln alles zusammenhalten. Ich stricke den ganzen Nachmittag über. Ich stricke Gründe, warum Elijah zurückkommen muss. Ich stricke Entschuldigungen an Emma. Ich stricke wütende Knoten und verlorene Maschen für jeden Fehler, den ich je begangen habe, und ich stricke nasse, aufgequollene Maschen, die scheußlich aussehen. Ich stricke die Sonne in den Untergang.
Ich schlafe.
Wache im Dunkeln auf, taste nach dem Licht, stehe auf, um pinkeln zu gehen.
Als ich zurückkomme, sehe ich den Zettel unter meiner Handtasche. Falte ihn auseinander. Drinnen finde ich einen Schlüssel und seine Nachricht.
L.
Ich weiß, dass du verfolgt wirst, ich sehe es in deinen Augen. Du musst deine Visionen ernst nehmen. Versuch mit ihnen umzugehen.
Du kannst mich dafür hassen, dass ich dein Geld geklaut habe, aber nicht dafür, dass ich ohne dich gefahren bin. Deine Familie will dir helfen. Sie lieben dich.
Es ist nicht richtig, davor wegzulaufen.
Peace,
E.
PS: Der Schlüssel ist der vom Büro. Der Snack-Automat ist nicht abgeschlossen. Iss nicht die Käsecracker, die sind älter als du.
Einen Zwanzigdollarschein hat er mir dagelassen. Für ein Taxi, nehme ich an.
Es schneit wieder. Ich schlucke zwei weitere Tabletten und versinke in Weiß.
060.00
Sie sagen: »Iss das, Lia. Iss das bitte iss bitte bloß dieses bitte kleine Stück.«
»Bitte.«
Die Krähen verfolgen mich, die Flügel ordentlich hinterm Rücken gefaltet, ihre hungrigen gelben Augen taxieren meine Weichteile. Sie umkreisen mich einmal, zweimal, dreimal, ihre Klauen kratzen über den Steinfußboden der Kirche.
Ich rolle mich auf dem gefrorenen Altar zusammen. Sie flattern näher heran, schwarze Federn füllen meinen Mund, meine Augen und Ohren.
mein
Körper
mein Motelzimmer
ganz allein
Sie fressen. Sie schnappen sich kleine Bissen mit ihren Schnäbeln – einen aus meiner Wade, einen aus der Armbeuge–, reißen das Fleisch vom Knochen und fliegen mit ihren Schätzen davon.
061.00
Es dauert Stunden, mich aus meinem Traum zu zerren, zurück in das Bett im Zimmer115. Nein, Tage. Stunden oder Tage oder Wochen. Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wie viele Tabletten ich genommen habe.
Alles tut weh. Würmer nagen an meinen Schnittwunden, kriechen mir durch die Gelenke, in meine hässlichen Knochen. Mein Herz rast kaninchenschnell und legt sich dann in den Dreck, um zu überwintern. Hätte ich ein Messer zur Hand, würde ich tief genug schneiden, um das Spiel zu beenden. Aber ich habe nicht mal eine Plastikgabel.
Ich hebe meine Stricknadeln auf.
Ich könnte.
Wenn ich wirklich sterben möchte, gleich hier, augenblicklich, kann ich mir in eine Vene stechen. Die sind ganz leicht zu erkennen. Ich könnte in den Schneesturm hinausgehen, mich in den Schnee legen und verbluten. Unterkühlung und Blutverlust wirken, als ob man einschläft, als würde ich mir den Finger an einem Dorn oder an einer Spindel stechen.
Ich könnte.
Am Lampenschirm baumelt eine Spinne. Sie schwingt auf mich zu, streift mein Gesicht und landet auf der Ablage an meinem Kopfende. Sie tanzt den Faden an die richtige Stelle und schwingt sich wieder zurück. Wiederundwiederundwieder. Zieht unermüdlich Fäden mit ihren winzigen Händen, ihre Beine durchschneiden das Licht wie schwarze Messer. Ihr Netz wächst Faden um Faden. Sie legt Pfade an, von denen aus sie den nächsten Schritt tun kann. Die senkrechten zuerst, die dann durch die waagerechten miteinander verbunden werden. Immer mehr Spinnenseide, immer mehr Spannung, immer mehr Wege, sie webt eine ganze Welt aus sich heraus.
Wenn ich eine Spinne wäre, würde ich einen Himmel weben, wo die Sterne in Reih und Glied stehen. Matratzen würden auf ihren Lastern festgebunden, und kein einziger Körper würde je durch eine Windschutzscheibe fliegen. Über einem weinrot dunklen Meer würde der Mond aufgehen und nur jenen Jungfrauen und Musikern Babys bescheren, die lang und inbrünstig gebetet haben. Verirrte Mädchen bräuchten weder Kompass noch Landkarte. Für sie gäbe es Lebkuchenpfade, die in den Wald hinein- und wieder herausführen.
Und nie würden sie in silbernen, mit weißem Samt ausgekleideten Kisten schlafen, nicht, ehe sie Großmütter wären, knittrig wie Papier und bereit für ihre Reise.
Die Spinne seufzt und singt leise vor sich hin.
Ich heiße Lia. Meine Mutter ist Chloe, mein Vater David. Meine Schwester Emma. Und Jennifer.
Meine Mutter kann ihre Hände in die geöffneten Brustkörbe von Fremden stecken und ihre kaputten Herzen reparieren, aber sie weiß nicht, welche Musik mir gefällt. Mein Vater denkt, ich bin elf. Seine Frau hält, was sie verspricht. Sie hat mir eine Schwester geschenkt, die darauf wartet, dass ich nach Hause komme und mit ihr spiele. Ich heiße Lia.
Meine Knochen schleppen sich aus dem Bett, über den Boden bis zum Fenster. Ich ziehe an der Schnur zum Öffnen der Vorhänge. Die Sonne klebt am Boden. Ich weiß nicht, wo Osten ist, kann nicht sagen, ob das der Sonnenauf- oder Sonnenuntergang ist.
Ich setze mich wieder hin. Der Spiegel reflektiert das schummerige Licht im Fenster hinter mir. Und den Schnee. Mich selbst sehe ich nicht. Ich bin nicht dort. Bin auch nicht hier. Ich schließe meine Augen, öffne sie wieder. Kein Unterschied.
Mein Kopf dreht sich nach einem Geräusch – Luft, die durch Wasser blubbert. Meine Lunge. Ich atme noch, das ist ein gutes Zeichen.
Möglich, dass ich weiterleben will, wenn ich ein bisschen geschlafen habe.
062.00
Ich erwache in Schwärze.
Die Zeit klebt in Sirup fest, schwarzem Sirup, den man in eine Rührschüssel gegeben hat. Der Spiegel zeigt, dass es draußen dunkel ist. Nacht. Also ging die Sonne unter und nicht auf.
Ich bin im Motel, Zimmer115. Monster-Boy ist weg. Ich greife zum Telefonhörer. Kein Freizeichen. Das Motel schläft, ist bis zur nächsten Saison geschlossen.
Meine Arme kämpfen sich durch die Decken, meine Füße finden den Fußboden. Sie warten gar nicht erst ab, bis ich eine Entscheidung treffe. Sie gehen los. Wir gehen. Die Kälte wirbelt mir um die Knöchel und will mich zu Boden ziehen. Es dauert einen Monat, bis ich meine Jacke finde. Ein Jahr, um mir die Stiefel zu schnüren.
Das Strickzeug nehmen. Die Handtasche nehmen. Den Schlüssel.
Mein Herz wabbelt, ein Klumpen aus roter Götterspeise.
Zur Tür hinaus.
Es hat aufgehört zu schneien. Hoch oben hängt die Mondsichel, die Sterne reiben sich mit klappernden Zähnen die Hände. Ein Gletscherwind schneidet in die Hohlräume zwischen meinen Rippen und fährt in die winzigen Risse meiner Knochen. Mir bleibt nicht viel Zeit.
Ich schlurfe zum Büro hinüber. Die Tür zu Zimmer113 steht offen. Das Licht ist an.
Nein.
Das kann nicht sein. Alles ist abgeschlossen. Alles ist zugefroren.
Nein.
Doch.
Ich spähe hinein. Cassie sitzt im Schneidersitz auf dem Bett, vor sich eine ausgelegte Patience. Als ich die Schwelle überschreite, wirft sie die Karten in die Luft.
»Na endlich!«, schreit sie. »Warum dauert bei dir immer alles so lange? Du hast dich wieder verlaufen, stimmt’s?«
Ihr Zimmer ist warm. Im Fernsehen läuft ein schlechter Zeichentrickfilm. Auf dem Tisch steht eine flache Schale mit angebissenen Ingwerkeksen, daneben eine Flasche Wodka. In der Mikrowelle knattert Popcorn.
Sie zieht mich neben sich. »Okay, hör zu. Die nächsten paar Minuten werden total beschissen. Da kommt man nicht drum rum, tut mir leid. Ich würde es dir gern irgendwie erleichtern, wenn ich könnte.«
»Wovon redest du?«
Sie kichert. »Jetzt hör auf rumzublödeln. Das hier ist ein ernster Moment. Du überschreitest die Grenze.«
»Ich muss meine Eltern anrufen.«
»Kannst du nicht.«
»Wieso? Was ist hier los?«
Sie klopft mir mit steinernen Fingern auf die Schulter. »Lia-Schatz? Du stirbst. Dir ist irgendwie schwindelig, oder? Fühlst du dich nicht total komisch? Dein Herz bleibt jeden Moment stehen.«
Ich schiebe ihre Hand weg. »Ich will deine Spielchen nicht.«
»Du hast keine Wahl. Es ist dein Schicksal. Es wird Zeit.« Wieder streckt sie ihre Hand nach mir aus. Dünne Nebelbänder fließen aus ihren Fingern und wickeln sich um meine Arme. »Ganz ruhig. So weh tut es nun auch wieder nicht.«
»Ich will nach Hause.«
»Schau nach links und rechts, ehe du rübergehst.«
»Ich muss Emma das Stricken beibringen. Ich hab’s ihr versprochen.«
»Die besorgen ihr eine DVD.«
»Aber ich will nicht.«
Sie spricht langsam. »Vor ein paar Stunden haben deine Nieren versagt. Hungern und Dehydrierung und völlige Erschöpfung und obendrauf noch eine Fast-Überdosis? Nicht übel, Lia. Deine Lunge füllt sich mit Wasser. Es dauert nur noch ein paar Minuten. Entspann dich.«
Sie beugt sich vor und atmet einen Kranz aus Nebelschwaden aus, die mich einhüllen wie Feuerqualm. Mein Herz flattert kurz. Ich versuche zu atmen, aber meine Lunge dehnt sich nicht.
Einen Augenblick lang, einen Glassarg-Moment, möchte ich aufgeben. Erfrieren. Verbluten. Die Kapitulation wäre so einfach. Danach könnte ich für immer schlafen.
Wieder zuckt mein dummes Herz im Morast, unwillig, jetzt schon seinen Winterschlaf anzutreten. Noch einmal, dann ein dritter Schlag, diesmal schneller. Er entfacht eine Art Feuer in meinem Blut.
Ich wedele mit den Armen, um die Nebelwand zu durchbrechen. »Mach den Mund auf!«
»Hä?«
»Wenn ich sterbe, musst du nett zu mir sein. Komm schon, Cassie, tu mir den Gefallen.«
Sie zuckt mit den Schultern, seufzt und öffnet den Mund. Auf ihrer Zunge liegt die kleine grüne Scheibe, das Meerglas, das aus einem Vulkan stammt und zusammen mit ihr in die Erde hinuntergelassen wurde. Blitzschnell schnappe ich es mir.
»Nein!«, kreischt sie.
Ich versuche aufzustehen, aber meine Beine gehorchen nicht.
»Das ist meins!« Sie schlägt mir auf den Arm.
Das Stück Glas fliegt durch die Luft und fällt auf den Teppich. Wir wälzen uns übereinander, Körper und Schatten, Knochen und Schimmer. Sie kommt dichter heran als ich, aber sie sieht es nicht. Ich greife unter den Beistelltisch und tue so, als läge es dort. Sie packt mich von hinten an der Jacke und zerrt mich zur Seite.
»Ha!«, murmelt sie und tastet unter dem Tisch.
Meine Fingerspitzen kriechen über den Teppich, bis sie das Glas zu fassen kriegen. Cassies Kopf steckt zur Hälfte unter dem Tisch. Ich halte die Scheibe an mein Auge.
Sie ist dreckig.
Ich lecke sie ab, ein grüner Lutscher, der auf meiner Zunge zischt. Das Geräusch lässt Cassie erstarren. Sie dreht sich um, als ich das Glas wieder in die Höhe halte und durch das lindgrüne Kristall aus dem Fenster blicke, auf die Sternenreihe über uns.
Ihr Schrei ist wie in weißen Samt gehüllt, elegant und gedämpft.
Das Licht vor meinen Augen blitzt mit hundert Zukunftschancen für mich auf. Ärztin. Kapitänin eines Schiffes. Försterin. Bibliothekarin. Geliebt von jenem Mann, jener Frau, jenen Kindern oder jenen Leuten, die für mich gestimmt haben oder die mich auf Leinwand malen. Dichterin. Akrobatin. Ingenieurin. Freundin. Beschützerin. Wütender Wirbelsturm. Eine Million Zukunftschancen – nicht alle schön, nicht alle lang, doch alle gehören sie mir.
»Du hast gelogen«, sage ich. »Ich habe sehr wohl eine Wahl.«
Cassie plumpst aufs Bett zurück, macht einen Schmollmund und verschränkt die Arme vor der Brust. »Na bitte. Dann geh doch. Lebe ein richtiges Leben. Pech für mich, dass ich’s verbockt hab.«
Ich halte ihr das Stück Glas hin. »Schau da durch. Vielleicht kannst du zurück.«
»So funktioniert das nicht. Es gibt ein paar real existierende physikalische Gesetze, weißt du? Man kann sie nicht ändern. Ich sitze für immer hier fest.«
»Auf der Grenze? Zwischen den Welten?«
»Ja. Das ist doch die klassische Definition eines Geistes, oder?«
»Möchtest du denn dann nicht lieber ganz und gar tot sein?«, frage ich.
»Doch.« Sie schüttelt den Kopf, schert sich nicht um die Tränen in ihren Augen. »Nein. Vielleicht. Manchmal erhasche ich einen Blick darauf, so wie wenn man vom Flugzeug aus auf eine Landschaft sieht. Irgendwie erinnert es mich an meine Kindheit, als die Welt noch unser Königreich war, keine Ahnung, warum.«
Mein Herz wedelt mit einer roten Fahne. Ich muss mich beeilen.
»Schnell«, sage ich. »Sag mir, was du am meisten vermisst.«
»Wie?«
»Was vom Leben vermisst du am meisten?«
Ihr Blick verwischt mit Sommerwolken. »Wie meine Mutter gesungen hat, immer ein bisschen schief. Wie mein Vater jedes Mal zum Schwimmunterricht mitkam und ich seine Pfiffe hörte, wenn mein Kopf unter Wasser tauchte, obwohl er mich hinterher angebrüllt hat, ich solle mir gefälligst mehr Mühe geben.«
Während sie redet, rücke ich langsam und unbemerkt Richtung Tür.
»Ich vermisse es, in die Bibliothek zu gehen. Den Geruch der Wäsche, wenn sie frisch aus dem Trockner kommt. Vom obersten Sprungbrett zu springen und eine Punktlandung hinzulegen. Ich vermisse Waffeln. Oh.« Ihr Kopf fällt in den Nacken, als würde sie auf einer Schaukel in den Himmel fliegen. Ihre Umrisse werden schwächer. »Oh, Lia, das ist wunderbar! Ich habe nie daran gedacht, die besten Dinge mitzunehmen.«
Ich öffne die Tür. »Fühlst du dich besser?«
Sie ist durchsichtig. »Bestens.«
»Gut.« Mein Herz schlingert.
»Geh ins Büro«, sagt sie, während ihr Körper sich auflöst wie Nebel in der Sonne. »Das Münztelefon an der Wand funktioniert noch. In der obersten Schublade ist Kleingeld. Beeil dich.«
»Es tut mir leid«, sage ich. »Es tut mir leid, dass ich nicht rangegangen bin.«
Ihre Augen funkeln wie Sterne. »Mir tut es leid, dass ich nicht früher angerufen habe.«
063.00
Es dauert fast den Rest meines Lebens, bis ich endlich im Büro bin, aber weil der Mond über meine Visionen wacht und die Sterne alle in einer Reihe stehen, liegt das Kleingeld tatsächlich dort in der Schublade, und das Münztelefon funktioniert.
Ich rufe meine Mutter an und beschreibe ihr, wo sie mich findet. Ich erzähle ihr, dass ich endlich wieder lebe, aber sie soll sich beeilen.
Die Sanitäter berühren mein Herz mit ihrem Zauberstab, während wir ins Krankenhaus rasen. Einmal, zweimal, dreimal.
064.00
Sie sagen mir, dass ich zehn Tage im Krankenhaus war.
Ich schlief. Traumlos.
065.00
Mein dritter Besuch im New Seasons ist der bisher längste, eher ein Marathonlauf als ein Sprint zur Zielgeraden. Die meiste Zeit gehe ich nur. Mache Pausen und setze mich hin, wenn ich müde bin. Stelle viele Fragen. In regelmäßigen Abständen durchlebe ich ein bis drei Tage mit Sturmwolken im Kopf. Dann setze ich mich noch öfter hin und bin still, bis es vorüber ist.
Keine Spielchen diesmal. Keine Sportpartys um Mitternacht im Duschraum, nicht für mich. Kein Essen wird mehr in den Zimmerpflanzen abgeladen oder in der Unterwäsche versteckt, kein Aufseher mehr bestochen, damit er falsche Angaben über meine Kalorienaufnahme macht. Ich gehe dem Drama der Mädchen aus dem Weg, die immer noch bis zum Hals im Schnee stecken und vor dem Schmerz davonrennen, so schnell sie können. Hoffentlich kriegen sie es irgendwann hin.
Die Vorstellung zu essen ist unheimlich. Die ekelhaften Stimmen sind stets zur Stelle, eifrig bemüht, mich wieder herunterzuziehen,
::dumm/hässlich/dumm/Schlampe/dumm/fett/
dumm/Baby/dumm/Loser/dumm/verloren::
aber ich lasse sie nicht. Ich stecke mir alle Bissen in den Mund und versuche nicht zu zählen. Das ist schwer. Wenn ich mir einen halben Zimtbagel nehme, springen die Zahlen mich an, buh! Ein halber Bagel (165). Ein ganzer Bagel (330). Zwei Esslöffel voll Frischkäse, Doppelrahmstufe (80).
Ich atme langsam ein. Essen ist Leben. Ich atme aus, hole erneut Luft. Essen ist Leben. Und das ist das Problem. Wenn man am Leben ist, können die anderen einen verletzen. Es ist einfacher, in einen Knochenkäfig zu kriechen oder in eine Schneewehe der Verwirrung. Es ist einfacher, alle anderen auszublenden.
Aber es ist eine Lüge.
Essen ist Leben. Ich nehme mir auch noch die zweite Hälfte des Bagels und schmiere Frischkäse auf beide. Keine Ahnung, wie viel ich wiege. Das jagt mir fast Todesangst ein, aber ich arbeite daran.
Ich fange langsam an, mich nach meiner Stärke zu beurteilen, nicht nach den Kilos. Manchmal auch danach, wie oft ich lächele.
Ich lese viel. Emerson, Thoreau, Watts. Sonya Sanchez; Elijah hatte Recht, sie ist unglaublich. Die Bibel, ein paar Seiten. Die Bhaghavad-Gita. Dr.Seuss, George Santayana. Ich schreibe unbeholfene Gedichte, ganz spontan. Als alle von unserem Korridor einen Ausflug ins Restaurant machen, esse ich eine Waffel mit Sirup und bestelle Nachschlag.
Man bringt mir Bridge bei. Poker interessiert mich nicht. Spiele mit Wetteinsatz sind out. Sonst ist alles möglich.
Mom, Dad und Jennifer kommen zu Besuch. Wir reden und reden, bis der Damm bricht und Tränen mit ein bisschen Blut fließen, weil wir alle so wütend sind. Aber keiner rennt bei unseren Sitzungen hinaus. Keiner beschimpft den anderen. Wir wechseln einander dabei ab, uns durch den Schlamm von Jahren zu schaufeln. Manchmal denke ich, meine Haut könnte jeden Moment in Flammen aufgehen. Ich bin sauer auf meine Eltern. Ich bin sauer auf uns. Ich bin sauer, dass ich mein Gehirn verhungern ließ, dass ich nachts zitternd in meinem Bett gesessen habe, anstatt zu tanzen oder Gedichte zu lesen oder Eiscreme zu essen oder einen Jungen zu küssen oder vielleicht auch ein Mädchen mit sanften Lippen und starken Händen.
Ich lerne, wütend zu sein und traurig und einsam und fröhlich und aufgeregt und ängstlich und glücklich. Ich lerne, alles zu schmecken.
Diesmal belüge ich die Krankenschwestern nicht. Ich streite nicht mit ihnen und werfe nichts und schreie nicht. Ich streite mit den Ärzten, weil ich nicht an ihre Art von Magie glaube, nicht hundertprozentig, und das ist etwas, worüber ich reden muss. Sie hören zu. Machen sich Notizen. Schlagen vor, dass ich die Dinge aus meiner Perspektive aufschreibe. Immerhin halten sie mich nicht für verrückt, weil ich Geister sehe.
Mein Gehirn reckt und streckt sich und gähnt, während sie die Pillen absetzen. Es wächst, wenn ich es füttere.
Wieder ein neues Kalenderblatt. Jetzt nicht mehr März, sondern April. Dr.Parker kommt mich besuchen. Sie und die ungeduldige Ärzteschaft basteln an einem Übergangsplan, damit ich von der Krankenhaus-Lia wieder zur echten Lia werde.
»Wen kümmert’s, ob wir es Depression oder Geistererscheinung nennen?«, sagt sie. »Du hast nicht mehr geritzt, seit du hier bist. Du redest. Du isst. Du blühst auf. Einzig und allein darauf kommt es an.«
***
Cassies Eltern kommen eines Tages, als die Krokusse gerade aufgehen. Wir weinen.
Ich vermisse Cassie so sehr, dass ich immer nur kurz und traurig an sie denken kann. Sie taucht ab und an auf, sagt aber kaum etwas. Meistens schaut sie mir beim Stricken zu. Ich stricke einen Pullover für Mom.
Jeden Tag schreibe ich einen Brief an Emma. Als sie endlich zu mir darf, bringt sie mir eine Genesungskarte mit, auf der alle in ihrer Klasse unterschrieben haben. Ihr Gips ist wieder ab, aber Softball spielen will sie nicht. Dieses Jahr ist der angesagte Sport Lacrosse.
Ihre Umarmung macht mich stark genug, um die ganze Welt auf meinen Schultern zu tragen. Sie möchte, dass ich bald nach Hause komme.
Ich bin fast so weit.
Ich spinne all die Seidenfäden meiner Geschichte und webe daraus den Stoff meiner Welt. Aus der kleinen tanzenden Elfe wurde eine Holzmarionette, an deren Fäden unachtsame Menschen zogen. Ich habe die Kontrolle verloren. Das Essen fiel mir schwer. Das Atmen fiel mir schwer. Zu leben war am schwersten.
Ich wollte die bitteren Pillen des Vergessens schlucken.
Genau wie Cassie.
Wir klammerten uns die ganze Zeit aneinander, zwei Verirrte im Dunkeln, die ewig im Kreis liefen. Sie wurde zu müde und schlief ein. Ich schüttelte die Dunkelheit irgendwie ab und holte mir Hilfe.
Ich spinne und webe und stricke meine Worte und Visionen, bis langsam ein Leben daraus wird.
Es gibt kein magisches Heilmittel, nichts, was all das für immer verschwinden lässt. Es gibt nur kleine Schritte nach vorn. Ein leichterer Tag, ein unerwartetes Lachen, ein Spiegel, der keine Rolle mehr spielt.
Ich taue auf.
Danksagung
Ins Land der Wintermädchen reiste ich aufgrund der zahllosen Zuschriften von Lesern, die mir von ihren Problemen mit Essstörungen, Selbstverletzung und Verlassenheitsgefühlen berichteten. Ihr Mut und ihre Ehrlichkeit waren mir Wegbereiter und Hilfe, um zu Lia zu finden und ihre Gebrochenheit zu begreifen. Ihre Geschichte hat keine realen Personen zum Vorbild, wurde jedoch durch diese Leser inspiriert, wofür ich mich bei ihnen bedanke.
Dr.Susan J.Kressly aus Doylestown, Pennsylvania, ist eine außergewöhnliche Kinderärztin, meinen Töchtern eine wunderbare Stiefmutter und mir eine sehr gute Freundin. Sie ermunterte mich jahrelang, das Thema Essstörungen anzugehen, und gab mir zu den ersten Entwürfen des Manuskripts wertvolle Rückmeldungen. Für beides, ihre Hartnäckigkeit und die Hilfe, bin ich dankbar. Ohne sie wäre dieses Buch nicht geschrieben worden.
Die Psychotherapeutin Gail Simon in Buckingham, Pennsylvania, ist seit dreiundzwanzig Jahren darauf spezialisiert, Patienten mit Essstörungen zu behandeln, zudem arbeitet sie seit fast zwei Jahrzehnten in einer stationären Einrichtung für derartige Störungen. Sie hat das Manuskript großzügigerweise gelesen, um sicherzustellen, dass Lias physischer und psychischer Verfall realistisch beschrieben werden. Ich bin ihr für ihre Mitarbeit sehr dankbar.
Ein ganzes Dorf ist vonnöten, um ein Buch herzustellen. Meins sitzt in einem Hochhaus in Lower Manhattan, in dem sich die Büros von Penguin Books befinden. Ich schätze mich glücklich, als Autorin mit der hervorragenden Lektorin Joy Peskin zusammenzuarbeiten. Ihre vorsichtigen Fragen und ihr wachsamer Blick trugen dazu bei, dass ich Lias Geschichte deutlicher vor mir sah, und ihre moralische Unterstützung half, mich aus den Stürmen meiner Selbstzweifel herauszulotsen. Vielen Dank auch an Regina Hayes, Vorsitzende und Verlegerin der Viking-Abteilung von Penguin, die auf mehr Arten, als ich aufzählen könnte, eine Heldin für mich ist. Meine Redakteurin Susan Casel bewahrte mich vor einem öffentlichen Semikolonskandal. Ich danke ihr, dass sie angesichts der stilistischen Eigenarten des Textes keinen Nervenzusammenbruch bekam. Dank auch an die Korrekturleserin Shelly Perron und die Chefredakteurin Janet Pascal, die mithalfen, dass mein Text den schmalen Pfad von Grammatik und Logik nicht verließ.
Dem Designteam von Penguin, bestehend aus Linda McCarthy, Natalie Sousa, Dani Delaney und Nancy Brennan, gebührt all meine Anerkennung und tiefe Dankbarkeit für die Herstellung dieses schönen Buches. Das Bild auf dem Umschlag ist eine Fotoarbeit des jungen und ungeheuer begabten Alexandre Denomay aus Montreal, Kanada. Ich danke ihm für den Einsatz seines Talents für meine Geschichte.
Greg Anderson, mein erster Ehemann (nun verheiratet mit Dr.Susan J.Kressly, s.o.) und immer noch ein Freund, hilft mir für gewöhnlich mit einer grammatikalischen Durchsicht meiner Manuskripte, was bei Wintermädchen nicht möglich war. Ich habe ihm versprochen, das zu erwähnen. Falls also jemand einen Grammatikfehler entdecken sollte, ist es demzufolge nicht Gregs Schuld.
Meine ersten Leser, Genevieve Gagne-Hawes, meine Töchter Stephanie und Meredith Anderson, Allison Sands und Maria Grammer machten allesamt wertvolle Vorschläge und unterstützten mich. Meredith und insbesondere Allison reagierten auf die Geschichte, wie jeder Autor es sich erträumt. Danke auch an meine Kinder Jessica und Christian für so viel Ermutigung und fürs konsequent leise Musikhören, während ich versuchte, Handlungsstränge zu entwirren.
Bücher dieser Art zu schreiben bringt Autoren oft an die Grenze zwischen Realität und Fantasie. Deswegen brauchen wir praktisch veranlagte Menschen, die mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen stehen. Gedankt sei Amy Berkover und all den anderen von Writers House dafür, dass sie immer die Details im Auge behielten und mir ermöglichten, die Wälder meiner Fantasie zu durchwandern. Ich kann mich als Autorin glücklich schätzen, dass Amy eine so wertvolle Freundin und obendrein auch noch meine Agentin ist.
Ohne die Kraft und Liebe meines Mannes, Scot, wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. Mir fehlen die Worte, um auszudrücken, was für eine wichtige Rolle es für meine Arbeit spielt, dass er da ist. Ich vertraue darauf, dass er meine tiefe Dankbarkeit sieht, wenn er mir in die Augen schaut.
Und zum Schluss noch eine längst überfällige Würdigung.
Als ich in der achten Klasse war, gewährte man mir ein Stipendium für die Manlius Pebble Hill School in Dewitt, New York. Ich weiß nicht genau, warum ich es bekam. Ich war keine hervorragende Schülerin und verbrachte die meiste Zeit damit, in der letzten Reihe vor mich hin zu träumen. Irgendwer irgendwo muss wohl Potenzial in mir gesehen haben, vielleicht war es aber auch einfach eine Namensverwechslung. Was auch immer der Grund war, ich erhielt jedenfalls erhebliche finanzielle Unterstützung und verbrachte das wichtigste Jahr meiner Ausbildung an dieser guten Schule.
Mein Englischlehrer dort war ein älterer Herr namens David Edwards. Er stand kurz vor der Pensionierung, und hinter ihm lag eine lange Karriere an einer Militärakademie, wo er fast nur Jungen unterrichtet hatte. Eine seltsamere Lehrer-Schüler-Kombination kann man sich nicht vorstellen. MrEdwards unterrichtete mich in g riechischer Mythologie, ganz nach alter Schule. Er füllte meinen Kopf mit Geschichten von Göttern, Sterblichen, Magie und Verwandlung und legte damit den Grundstein zu meinem Leben als Schreibende. Schade, dass er starb, ehe ich ihm eins meiner Bücher schenken konnte.
Ich fürchte, dass ich MrEdwards frustrierte, weil er glaubte, ich würde in seinem Unterricht nicht aufpassen. Tat ich aber. Für das, was er mir beigebracht hat, stehe ich auf immer und ewig in seiner Schuld.