Jene von Staunen erfüllt nun streckete hurtig die
Hände nach dem ergötzlichen Spiel; doch auf tat flugs sich die
weite Erd’ in der Nysischen Flur, […] sie schrie laut auf mit der
Stimme […], und der Unsterblichen keiner und keiner der sterblichen
Menschen hörte der Jungfrau Ruf.
Homer: Hymne an die Göttin
Demeter,
Nachdichtung von Eduard Mörike
Der König ordnete an, dass man sie in Frieden schlafen lassen
sollte, bis die Stunde gekommen sei, zu der sie aufgeweckt werden
würde.
Charles Perrault: Die schlafende
Schöne im Walde,
1697,
übersetzt von Doris Distelmaier-Haas
001.00
Und dann sagt sie es mir, Wörter und Cranberrymuffin krümeln aus ihrem Mund, die Kommas fallen ihr in den Kaffee.
Sie teilt es mir in vier Sätzen mit. Nein, fünf.
Ich will das nicht hören, aber es ist zu spät. Die Wahrheit pirscht sich heran und bohrt sich in mich hinein. Als sie zum Schlimmsten kommt,
… ihr lebloser
Körper wurde im Zimmer eines Motels
aufgefunden, ganz allein…
gehen bei mir sämtliche Rollläden herunter, ich mache dicht. Ich nicke nur noch, tue nur noch so, als ob ich hinhöre, als ob wir ein Gespräch miteinander führen – ein Unterschied, der ihr nie auffällt.
Es ist nicht schön, wenn ein Mädchen stirbt.
002.00
»Wir wollten nicht, dass du es in der Schule erfährst oder aus den Nachrichten.« Jennifer stopft sich das letzte Stück Muffin in den Mund. »Geht’s dir auch wirklich gut?«
Ich öffne den Geschirrspüler und beuge mich in die Dampfwolke, die herausquillt. Am liebsten würde ich hineinkriechen und mich zwischen Schüsseln und Tellern zusammenrollen. Dann könnte meine Stiefmutter Jennifer die Klappe schließen, auf 60°C INTENSIV stellen und anschalten.
Der Dampf wird eiskalt, als er mein Gesicht berührt. »Ich komm schon klar«, lüge ich.
Sie greift nach der Schachtel Haferflockenkekse, die auf dem Tisch steht. »Das muss schrecklich für dich sein.« Reißt das Pappband auf. »Schlimmer als schrecklich. Gibst du mir mal eine saubere Dose?«
Ich hole eine leere Plastikdose aus dem Schrank und reiche sie ihr über die Kücheninsel. »Wo ist Dad?«
»Er hat eine Personalbesprechung.«
»Woher weißt du das mit Cassie?«
Sie bröselt die Kekse an den Rändern ab, ehe sie sie in die Dose legt, damit sie wie selbst gebacken aussehen. »Gestern Abend hat deine Mutter angerufen und mich informiert. Sie möchte, dass du sofort zu Dr.Parker gehst, statt bis zum nächsten Termin zu warten.«
»Was hältst du davon?«, frage ich.
»Finde ich gut«, sagt Jennifer. »Ich schau mal, ob sie dich heute Nachmittag noch zwischenschieben kann.«
»Spar dir die Mühe.« Ich ziehe die obere Lade des Geschirrspülers heraus. Die Gläser stoßen kleine Schreie aus, als ich sie berühre. Wenn ich sie in die Hand nehme, werden sie zerspringen. »Nicht nötig.«
Sie hält mitten im Krümeln inne. »Cassie war deine beste Freundin.«
»Das war einmal. Ich gehe nächste Woche zu Dr.Parker, wie geplant.«
»Na ja, das musst du wohl selbst entscheiden. Versprichst du mir, deine Mutter zurückzurufen, um mit ihr darüber zu reden?«
»Versprochen.«
Jennifer wirft einen Blick auf die Uhr der Mikrowelle und brüllt: »Emma! Vier Minuten!«
Meine Stiefschwester Emma antwortet nicht. Sie ist im Wohnzimmer, hypnotisiert vom Fernseher und ihrer Schüssel Blaubeerpops.
Jennifer knabbert an einem Cookie. »Ich rede nicht gern schlecht über Tote, aber es ist gut, dass du dich nicht mehr mit ihr rumgetrieben hast.«
Ich schiebe die obere Lade wieder hinein und ziehe die untere heraus. »Warum?«
»Cassie war völlig am Ende. Sie hätte dich mit runtergerissen.«
Ich greife nach dem Steakmesser, das sich zwischen den Löffeln versteckt. Der schwarze Griff ist warm. Als ich es herausziehe, fährt die Klinge durch die Luft und schneidet die Küche in Streifen. Dort ist Jennifer, die ihrer Tochter für die Schule gekaufte Kekse in eine Plastikdose packt. Dort ist der leere Stuhl von Dad, der so tut, als wären diese morgendlichen Arbeitstreffen ganz und gar unvermeidlich. Und dort der Schatten meiner Mutter, die lieber telefoniert, weil ein Gespräch unter vier Augen zu lange dauert und normalerweise in Geschrei endet.
Hier steht ein Mädchen mit einem Messer in der Hand. Auf dem Herd klebt Fett, der Geruch von Blut liegt in der Luft, und in den Ecken sammeln sich haufenweise böse Worte. Wir sind darauf getrimmt, es nicht zu merken. Nichts von alldem.
… ihr lebloser
Körper wurde im Zimmer eines Motels
aufgefunden, ganz allein…
Irgendwer hat mir gerade die Augenlider abgerissen.
»Gott sei Dank bist du stärker, als sie es war.« Jennifer trinkt ihren Kaffee aus und wischt sich die Krümel aus den Mundwinkeln.
Mit einem Flüstern gleitet das Messer in den Messerblock. »Ja.« Ich greife nach einem Teller, von dem jetzt Blut und Knorpel abgeschrubbt sind. Zehn Pfund wiegt er.
Jennifer klickt die Keksdose zu. »Ich muss nachher noch zu einem Schlichtungsgespräch. Außergerichtliche Einigung. Kannst du Emma zum Fußball fahren? Das Training geht um fünf los.«
»Auf welchem Platz?«
»Richland Park, du musst am Einkaufszentrum vorbei und dann noch ein Stück weiter. Hier.« Sie gibt mir den schweren Kaffeebecher mit dem blutroten Lippenstiftmond am Rand. Ich stelle ihn auf der Anrichte ab und räume einen Teller nach dem anderen aus der Maschine, während meine Arme zittern.
Emma kommt in die Küche und stellt ihre Schale, noch halb voll mit himmelblauer Milch, neben die Spüle.
»Hast du an die Kekse gedacht?«, fragt sie ihre Mutter.
Jennifer schüttelt die Plastikdose. »Wir sind spät dran, Schatz. Hol deine Sachen.«
Emma stapft mit offenen Schnürsenkeln zu ihrem Rucksack hinüber. Eigentlich könnte sie noch schlafen, aber die Frau meines Vaters bringt sie dreimal die Woche früher in die Schule, zum Geigenunterricht und zur französischen Konversation. Schließlich ist es in der dritten Klasse höchste Zeit für Zusatzförderung.
Jennifer steht auf. Ihr Rock spannt so sehr an ihren Schenkeln, dass man das Innenfutter der Taschen sehen kann. Sie versucht, die Falten glatt zu streichen. »Lass dich von Emma bloß nicht beschwatzen, ihr vor dem Training Chips zu kaufen. Wenn sie Hunger hat, soll sie einen Obstsalat essen.«
»Soll ich sie dann auch abholen?«
Jennifer schüttelt den Kopf. »Das übernehmen die Grants.« Sie nimmt ihren Mantel von der Rückenlehne des Stuhls, schlüpft in die Ärmel und knöpft ihn zu. »Iss doch einen Muffin! Ich hab auch Orangen gekauft, oder mach dir einen Toast oder Waffeln, wenn du willst…«
Ich will aber nichts wollen Ich brauche keinen Muffin (410), ich will weder eine Orange (75) noch Toast (87), und von Waffeln (180) kriege ich Erstickungsanfälle.
Ich deute auf eine leere Schüssel, die neben lauter Pillendöschen und einer Packung Blaubeerpops auf der Anrichte steht. »Ich esse Pops.«
Ihr Blick wandert automatisch zum Schrank, an den sie meinen Essensplan geklebt hatte. Er war bei den Entlassungspapieren dabei, als ich vor sechs Monaten hier einzog. Drei Monate später, an meinem achtzehnten Geburtstag, habe ich ihn abgehängt.
»Das ist zu wenig für eine volle Mahlzeit«, sagt sie vorsichtig.
Ich könnte die ganze Packung leer essen Ich werde wahrscheinlich nicht mal die Schüssel vollmachen. »Ich hab mir den Magen verdorben.«
Wieder öffnet sie den Mund. Zögert. Ein saurer Hauch aus morgendlichem Atem mit Kaffeenote kommt durch die stille Küche herübergeweht und springt mich an. Sag es nicht… Sagsnicht.
»Vertrauen, Lia.«
Sie hat es doch gesagt.
»Das ist hier das Thema. Gerade jetzt. Wir möchten nicht…«
Wenn ich nicht so müde wäre, würde ich Vertrauen und Thema in den Müllhäcksler stopfen und ihn den ganzen Tag lang laufen lassen.
Ich hole eine extragroße Müslischüssel aus der Spülmaschine und stelle sie auf die Anrichte. »Ich. Komme. Klar. Okay?«
Sie zwinkert zweimal und knöpft sich den Mantel fertig zu. »Okay. Verstehe. Mach die Schnürsenkel zu, Emma, und steig schon mal ins Auto.«
Emma gähnt.
»Warte.« Ich bücke mich und binde Emma die Turnschuhe. Mit Doppelknoten. Dann hebe ich den Kopf. »Ich kann das nicht ewig machen, klar? Dafür bist du schon viel zu alt.«
Sie grinst und küsst mich auf die Stirn. »Klar kannst du, du Dummi.«
Als ich aufstehe, macht Jennifer zwei unbeholfene Schritte auf mich zu. Ich warte ab. Sie ist ein blasser, dicker Nachtfalter, eingestäubt mit eierschalenfarbenem Kompaktpuder, bereit, dem Tag ins Auge zu blicken, und bewaffnet mit ihrer Banker-Aktentasche, ihrem Portmonee und dem Funk-Autoschlüssel für den geleasten Geländewagen. Nervös tritt sie von einem Bein aufs andere.
Ich warte ab.
Das ist der Moment, in dem wir uns umarmen oder küssen sollten – oder zumindest so tun sollten, als ob.
Sie zieht den Gürtel enger um ihre Taille. »Hör zu… Lenk dich heute ein bisschen ab, okay? Versuch, nicht zu viel nachzudenken.«
»Gut.«
»Verabschiede dich von deiner Schwester«, fordert sie Emma auf.
»Wiedersehen, Lia.« Emma winkt und schenkt mir ein kleines Blaubeerlächeln. »Sind echt lecker, die Pops. Du kannst die Schachtel leer machen, wenn du willst.«
003.00
Ich schütte zu viele Blaubeerpops (150) in die Schale, gieße zweiprozentige Milch (125) drüber.
Das Frühstück ist ja Diewichtigstemahlzeitdestages. Das Frühstück macht mich sta-aaaaaaaa-rk.
… Als ich noch ein richtiges Mädchen war, mit Vater und Mutter und einem Haus und ohne blitzende Klingen, gab es zum Frühstück Müsli mit frischen Erdbeeren obendrauf, und beim Essen las ich ein Buch, mit der Obstschale als Buchstütze. Bei Cassie zu Hause aßen wir immer Waffeln mit echtem Ahornsirup, nicht mit diesem künstlichen Ersatzmist aus Mais, und wir lasen die Witzseite…
Nein, das tu ich mir jetzt nicht an. Ich will nicht denken. Ich will nicht hinsehen.
Und ich will meine Eingeweide auch nicht mit Blaubeerpops oder Muffins oder kratzraspeligen Toaststücken verschmutzen. Der Dreck und die Fehler von gestern sind durch mich hindurch. Nun bin ich innen blitzblank und rosig. Ein gutes Gefühl, leer zu sein. Ein Gefühl von Stärke.
Aber ich muss noch fahren.
… Letztes Jahr bin ich auch gefahren, mit offenen Fenstern, lauter Musik, am ersten Samstag im Oktober, so raste ich zur Aufnahmeprüfung fürs Studium. Ich saß hinterm Steuer, damit Cassie ihren Nagellack auftragen konnte. Wir waren heimlich verbündete Schwestern mit dem Plan zur Weltherrschaft, die Möglichkeiten umsprudelten uns wie Champagner. Cassie lachte. Ich lachte. Wir waren vollkommen.
Ob ich gefrühstückt hatte? Natürlich nicht. Hatte ich am Abend zuvor was gegessen oder mittags oder überhaupt?
Der Wagen vor uns bremste ab, als die Ampel erst auf Gelb und dann auf Rot sprang. Mein Flipflop schwebte über dem Pedal. Vor meinen Augen verschwamm alles. Schnörkelige schwarze Schauer wanden sich meine Wirbelsäule hinauf und legten sich um meine Augen wie ein Seidenschal. Das Auto vor uns verschwand. Lenkrad und Armaturenbrett verschwanden. Es gab keine Cassie, keine Ampel. Wie sollte ich dieses Ding anhalten?
Cassie schrie in Zeitlupe.
::Explosion/Marshmallow/Airbag::
Als ich aufwachte, blickte ich in die besorgten Gesichter eines Sanitäters und eines Polizisten. Der Fahrer des Wagens, in den ich reingefahren war, brüllte in sein Handy.
Mein Blutdruck glich dem einer kalten Schlange. Mein Herz war müde. Meine Lunge wollte eine kleine Pause. Man steckte eine Nadel in mich hinein, blies mich auf wie einen Heißluftballon und verfrachtete mich in ein Krankenhaus, wo Krankenschwestern mit stahlhartem Blick jeden schlechten Wert notierten. Erwischt.
Mom und Dad stürmten herein, ausnahmsweise einmal Seite an Seite, froh, dass ich nicht tot war. Eine Krankenschwester gab meiner Mutter meine Krankenakte. Sie las sich alles durch und erklärte die Katastrophe meinem Vater, worauf zwischen ihnen Streit ausbrach, eine wahre Schlammschlacht, die über die antiseptischen Betttücher und sogar bis in den Korridor hinausspritzte. Ich war gestresst/überfordert/verrückt/nein, deprimiert/nein, ich brauchte Aufmerksamkeit/nein, brauchte Disziplin/brauchte Ruhe/brauchte/deine Schuld/deine Schuld/Schuld/Schuld. Sie trugen ihren Streit auf dem Rücken des klapperdürren Mädchens aus.
Es wurde telefoniert. Meine Eltern eskortierten mich in die Berghölle in die Klinik New Seasons…
Cassie kam davon, wie immer. Ohne jeden Kratzer. Die Versicherung übernahm mehr als nur den Schaden, sodass am Ende ein reparierter Wagen und neue Lautsprecher für sie heraussprangen. Unsere Mütter trafen sich zu einem Gespräch, aber jedes Mädchen macht doch mal so eine Phase durch, was soll man da schon groß tun? Cassie meldete sich für die Nachprüfung an und ließ sich die Nägel im Nagelstudio machten, Delfinblau, während man mich einsperrte und Zuckerlösung in meine leeren Venen tropfte…
Lektion gelernt. Zum Autofahren braucht man Benzin.
Nicht Emmas Blaubeerpops. Zittrig schütte ich den größten Teil der ekligen Pampe in den Müllhäcksler und stelle den Rest auf den Boden. Emmas Katzen, Kora und Pluto, kommen durch die Küche getappt und stecken ihre Köpfe in die Schale. Ich zeichne ein Comicgesicht mit einer großen Zunge auf einen Klebezettel, schreibe LECKER, EMMA! DANKE! drauf und klatsche ihn auf die Blaubeerpopsschachtel.
Ich esse zehn Rosinen (16), fünf Mandeln (35) und eine grüne Birne (121) (=172). Die Bissen kriechen mir die Kehle hinab. Dann nehme ich meine Vitamine und diese Tabletten für Verrückte, die verhindern, dass mein Hirn explodiert. Eine lange violette, eine dicke weiße, zwei klatschmohnrote. Alles spüle ich mit heißem Wasser hinunter.
Hoffentlich wirken sie schnell. Auf meinem Handy wartet schon die Stimme eines toten Mädchens auf mich.
004.00
Das Treppensteigen dauert länger als gewöhnlich.
Ich schlafe am hinteren Ende des Flurs, in dem kleinen Kabuff, das immer noch wie ein Gästezimmer eingerichtet ist. Weiße Wände. Gelbe Vorhänge. Das Bettsofa wird nie zusammengeklappt, der Schreibtisch stammt von einem Flohmarkt. Jennifer will mir ständig neue Möbel kaufen. Und streichen. Oder tapezieren. Dann sage ich ihr, dass ich mich noch nicht entschieden habe, was ich möchte. Wahrscheinlich sollte ich erst mal die ganzen eingestaubten Kartons auspacken.
Mein Handy wartet auf dem Haufen Schmutzwäsche, genau da, wo es Sonntag Früh gelandet ist, als ich es an die Wand geschmissen habe, weil mich das ewige Geklingel verrückt machte und ich zu müde war, um es auszuschalten.
… Vor sechs Monaten telefonierte ich das letzte Mal mit ihr, nach meiner zweiten Entlassung aus der Klinik. Ich hatte sie vier- oder fünfmal am Tag angerufen, aber sie ging einfach nicht ran und rief auch nicht zurück – bis endlich dieser Anruf kam. Ich solle zuhören, meinte sie, es werde auch nicht lange dauern.
Ich sei die Wurzel allen Übels, sagte Cassie, ein schlechter Einfluss, ein giftiger Schatten.
Während ich eingesperrt war, hatten ihre Eltern sie zu einem Arzt geschleift, der sie einer Gehirnwäsche unterzog und mit Pillen und leeren Worten kleinmachte. Sie müsse nun nach vorn schauen, ihr Leben in die Hand nehmen, ihre Grenzen neu abstecken, erklärte mir Cassie. An mir liege es, dass sie den Unterricht schwänze und in Französisch durchfalle, ich sei der Grund für alles Schlimme und Gefährliche.
Falsch. Falsch. Falsch.
An mir lag es, dass sie nicht schon im ersten Schuljahr davongelaufen war. Ich hatte verhindert, dass sie das Röhrchen Schlaftabletten schluckte, nachdem ihr Freund sie betrogen hatte. Ich hatte ihr stundenlang zugehört, als ihre Eltern ihr eine Modelkarriere überstülpen wollten, für die sie nicht gemacht war. Ich konnte verstehen, wenn sie zusammenbrach, jedenfalls meistens. Ich wusste, wie weh es tat, Eltern zu haben, die einen einfach nicht wahrnahmen, nicht einmal, wenn man direkt vor ihnen stand und mit den Füßen aufstampfte.
Aber Cassie schaffte es nicht, sich all das einzugestehen. Für sie war es leichter, mich ein letztes Mal abzuservieren. Sie machte meinen Sommer zur öden Wüste. Als die Schule wieder anfing, blickte sie in den Korridoren durch mich hindurch, und ihre neuen Freunde hingen ihr am Hals wie Billigschmuck. Sie löschte mich aus ihrem Leben.
***
Aber irgendetwas muss geschehen sein. Mitten in der Nacht von Samstag auf Sonntag hat sie mich angerufen.
Natürlich ging ich nicht ran. Entweder war sie betrunken oder es war eins von ihren Spielchen. Ich würde nicht noch einmal auf ihre Beteuerungen reinfallen, dass alles wieder gut sei, nur damit sie mir dann wieder die kalte Schulter zeigen und mich aufs Neue zermalmen konnte.
… ihr lebloser
Körper wurde im Zimmer eines Motels
aufgefunden, ganz allein…
Ich ging nicht ran. Ich habe auch die Mailbox nicht abgehört. Ich war zu wütend, um auch nur einen Blick aufs Telefon zu werfen.
Sie wartet immer noch auf mich.
Ich setze mich auf den Berg ungewaschener Klamotten und grabe das Handy hervor. Klappe es auf. Sie hat dreiunddreißig Mal angerufen, der erste Anruf ist von 23:30Uhr Samstagnacht.
MAILBOX ABHÖREN.
»Lia? Ich bin’s. Ruf mich an.«
Cassie.
Zweite Nachricht: »Wo bist du denn? Ruf mich zurück.« Cassie.
Die dritte: »Das ist kein Witz, ich muss mit dir reden.«
Cassie vor zwei Tagen, Samstag.
»Ruf mich an.«
»Bitte, bitte ruf an!«
»Hör zu, es tut mir leid, ich war eine blöde Kuh. Bitte!«
»Ich weiß genau, dass du die Nachrichten abhörst.«
»Du kannst später sauer auf mich sein, okay? Ich muss dringend mit dir sprechen.«
»Du hattest Recht. Es war nicht deine Schuld.«
»Es gibt sonst keinen, mit dem ich reden kann.«
»Oh Gott!«
Zwischen 1:20Uhr und 2:55Uhr hat sie fünfzehn Mal gleich wieder aufgelegt.
Die nächste Nachricht: »Bitte, Lia, Lia!« Sie lallt.
»Ich bin so traurig. Ich komm da nicht raus.«
»Ruf an. Was für ein Albtraum.«
Noch zwei Anrufe ohne Nachricht.
3:20Uhr, sehr vernuschelt: »Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
3:27Uhr: »Ich vermiss dich. Vermiss dich.«
Ich vergrabe das Handy ganz tief unten im Wäscheberg und ziehe mir noch einen dicken Kapuzenpulli über, ehe ich zum Auto gehe. In New Hampshire kommt der Winter früh.
005.00
Mein Timing ist mal wieder spitze und ich lande mitten in einem Stau. In den anderen Autos sitzen fette Kühe und brüllende Stiere. Wir schleichen mit zehn Stundenkilometern dahin. Da bin ich schneller, wenn ich renne. Bremsen. Sie sind am Wiederkäuen und muhen in ihre Handys, bis die Herde Gang wechselt und weiterrollt.
Vierundzwanzig Stundenkilometer. So schnell kann ich nicht rennen.
Irgendwo zwischen Martins Corner und der Route28 fange ich an zu heulen. Ich schalte das Radio an, singe aus voller Kehle mit, schalte es wieder aus. Ich schlage mit den Fäusten aufs Lenkrad ein, bis blaue Flecken zu sehen sind, und mit jedem Kilometer wird das Weinen schlimmer. Wie Regen, der mir das Gesicht hinunterläuft.
… ihr lebloser
Körper wurde im Zimmer eines Motels
aufgefunden, ganz allein…
Was hat sie dort gemacht? Was hat sie gedacht?
Hat es wehgetan?
Zwecklos, nach dem »Warum« zu fragen, obwohl jeder es tun wird. Ich weiß, warum. Die schwierigere Frage lautet: Warum nicht? Kaum zu glauben, dass ihr tatsächlich vor mir die Antworten ausgegangen sind.
Ich müsste jetzt laufen, fliegen, so heftig mit den Flügeln schlagen, dass ich nichts höre außer meinem pochenden Herzschlag. Regen, Regen, Regen, in dem ich ertrinke.
Ob es wohl leicht war?
Ich nehme keine Abkürzung und vergesse auch nicht, am Feinkostladen abzubiegen. Ich verfahre mich nicht, auch nicht absichtlich. Ich fahre wie ein Roboter zur Schule, komme für ihre Begriffe spät an, für meine früh. Die letzten Busse sind eben erst vorgefahren.
Ich steige aus und schließe den Wagen ab.
Der unerbittliche Novemberwind bläst mich zum Haupteingang. Von den Zuckergusswolken über mir trudeln spitze Schneeflocken herab.
Der erste Schnee. Zauberei. Alle bleiben stehen und schauen hoch. Die Busabgase gefrieren, hüllen sämtliche Geräusche in eine grobkörnige Wolke. Selbst die Eingangstüren zur Schule sind eingefroren.
Wir legen die Köpfe in den Nacken und reißen die Münder auf.
Der Schnee weht in unsere Zombiemäuler, in denen es wimmelt von Fett und Flüchen und Tabakkrümeln und Karies und den Körperflüssigkeiten von Freund oder Freundin, den Flecken der Lüge. Einen kurzen Moment lang sind wir nicht nur verhauene Tests und geplatzte Kondome und bescheißen beim Aufsatz; wir sind Buntstifte und Butterbrotdosen und schaukeln so hoch in den Himmel hinauf, dass unsere Turnschuhe Löcher in die Wolken treten. Einen Atemzug lang fühlt sich alles besser an.
Dann schmilzt er weg.
Die Busfahrer lassen ihre Motoren aufheulen und die Eiswolke bricht auseinander. Alle schlendern weiter. Sie wissen nicht, was gerade passiert ist. Sie erinnern sich nicht.
Sie hat mich angerufen.
Ich gehe zurück zu meinem Auto, steige ein, drehe die Heizung auf und wische mir das Gesicht an meinem Pullover ab. 7:30Uhr. Emma hat gerade die Französischstunde hinter sich und packt ihre Geige aus. Sie wird sich zu viel Zeit nehmen, um ihren Bogen zu harzen, und zu wenig für das Stimmen der Saiten. In ein paar Wochen steht das Winterkonzert an, und sie kann ihre Stücke immer noch nicht. Eigentlich sollte ich ihr dabei helfen.
Cassie liegt wohl im Leichenschauhaus. Die letzte Nacht hat sie dort in einer silbernen Schublade geschlafen, und ihre Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt.
Jennifer sagt, dass eine Autopsie gemacht wird. Wer wird ihr die Kleider herunterschneiden? Wird man sie baden, werden Fremde ihre Haut berühren? Kann sie ihnen zuschauen? Wird sie weinen?
Es läutet zum letzten Mal, und die Nachzügler auf dem Parkplatz hasten Richtung Tür. Nur noch ein paar Minuten. Ich kann nicht reingehen, ehe die Flure leer sind und die Lehrer jeden mit ihrer Langeweile betäubt haben; niemand soll mich sehen, wenn ich die Gänge entlangschleiche.
Ich drehe mich um und mache auf dem Rücksitz Platz, schiebe die ganzen Prüfungsbogen, Klamotten und überfälligen Büchereibücher zur Seite, damit Emma irgendwo sitzen kann, wenn ich sie nachher abhole. Jennifer besteht darauf, dass Emma hinten sitzt. Das sei sicherer.
Es gibt kein Sicherer. Nicht mal ein Sicher. Hat es nie gegeben.
Für Cassie war der Himmel ein Märchen für Dumme. Wie soll man einen Ort finden, an den man nicht glaubt? Das geht nicht. Wo kommt sie jetzt also hin? Was ist, wenn sie zurückkommt, mit Augen, die vor Wut Funken sprühen?
7:35Uhr: Zeit, in die Schule zu gehen und meinen Kopf abzuschalten.
006.00
In diesem Jahr habe ich keine Chance auf das Begabtenprogramm. Ich habe zeitgenössische Weltliteratur belegt, Sozialwissenschaft12 – Holocaust, Physik, Trigonometrie (zum zweiten Mal) und Mittagessen. Kein Sport, dank Dr.Parkers Zauberbrief. Neben meinem Namen steht ein Sternchen, und eine Fußnote erläutert die Situation.
… Als ich noch ein richtiges Mädchen war, verabreichte mir meine Mutter löffelweise Luftschlösser. Auf die Uni. Harvard. Yale. Princeton. Duke. Studentin. Humanmedizin. Praktisches Jahr, Assistenzzeit, meine Güte. Sie bürstete mir das Haar und flocht Fremdwörter darin ein, webte die lateinischen Wurzeln und griechischen Herleitungen in meinen Kopf, damit mir das Anatomielernen leichter fallen würde. Mom Dr.Marrigan war wütend, als die Vertrauenslehrerin mich aus dem Begabtenprogramm ausschloss und auf die normale College-Laufbahn zurückstufte. Sie schlug vor, ich sollte später doch aufs College meines Vaters gehen, weil sie dort verpflichtet seien, mich aufzunehmen. Erlass der Studiengebühren für Kinder der Lehrkräfte, erinnerte sie uns.
Ich war erleichtert.
Noch am selben Abend teilte Dr.Marrigan mir mit, ich sei zu klug, um als faules Lehrerkind zu gelten. Sie ließ mich noch einmal auf eigene Kosten testen, um zu beweisen, wie hochbegabt ich sei und wie wenig mir die Schule gerecht wurde. Aber als ich dann wieder alles vermasselte, steckten sie mich zurück in die Klinik, und nach meiner Entlassung stellte ich meine eigenen Regeln auf.
Ich habe mir oft ausgemalt, einen IQ-Test zu machen und allen zu beweisen, dass ich keine Versagerin bin. Vielleicht hätte ich ja die absolut granatenmäßige Geniepunktzahl erreicht. Dann hätte ich das Testergebnis hunderttausendmal kopiert, die Kopien bei meiner Mutter zu Hause an die Wände gekleistert, mir einen Eimer rote Farbe geholt und eine Million Mal ein fettes Ha! draufgepinselt.
Aber die Chancen, bei so einem Test durchzurasseln, standen ziemlich gut. Eigentlich wollte ich das Ergebnis gar nicht wissen.
Der Gong ertönt. Schüler strömen von einem Raum in den anderen. Die Lehrer binden uns an den Stühlen fest und träufeln uns Welten in die Ohren.
Die Jalousien sind heruntergelassen und im Physikraum ist alles dunkel, damit wir einen Film über Lichtgeschwindigkeit und Schallgeschwindigkeit und irgendwelchen anderen unwichtigen Müll sehen können. In den Schatten des Saals warten Geister, geduldige blasse Schimmer. Auch die anderen können sie sehen, das weiß ich. Wir haben alle Angst, über das zu sprechen, was uns aus der Finsternis anstarrt.
Wellen aus Physikteilchen durchwabern den Raum.
Sie hat mich dreiunddreißig Mal angerufen.
Ein Geist hüllt mich ein, streicht mir übers Haar und lässt mich einschlafen.
Der Gong ertönt. Meine Klassenkameraden schnappen sich ihre Bücher und stürmen zur Tür. Ich habe den Tisch vollgesabbert.
Mein Physiklehrer (wie heißt er noch mal?) blickt mich stirnrunzelnd an. Wenn er durch den Mund ausatmet, rieche ich seinen nächtlichen Zungenbelag und das Spiegelei, das er zum Frühstück gegessen hat. »Hast du vor, den ganzen Tag hier zu verbringen?«, fragt er.
Ich schüttele den Kopf. Ehe er noch mal versucht, witzig zu sein, greife ich nach meinen Büchern und stehe auf. Zu schnell. Der Boden will mich vornüber nach unten ziehen, aber mein Lehrer mit Zungenbelag von letzter Nacht schaut zu, also reiße ich mich zusammen und wehe davon, mit Sternchen vor den Augen.
1.2.3.4.5.6.7.8.9.10.11.12.13.14.15.16.17.18.19.
20.21.22.23.24.25.26.27.28.29.30.31.32.33.
***
»Wandelnde Leiche«, sagen die Jungs in den Korridoren.
»Wie macht sie das nur?«, flüstern die Mädchen auf der Toilette von Kabine zu Kabine.
Ich bin dieses Mädchen.
Ich bin die Lücke zwischen meinen Schenkeln, durch die Tageslicht scheint.
Ich bin die Bibliotheksaushilfskraft, die sich in Fantasybücher flüchtet.
Ich bin die Zirkusattraktion unter einer Schicht aus Bienenwachs.
Ich bin die Knochen, die sie alle wollen, aufgefädelt zu einem Gerippe aus Porzellan.
Wenn ich näher komme, weichen sie zurück. Die Kameras in ihren Augenhöhlen filmen den Pickel an meinem Kinn, den Regen in meinen Augen, das blaue Wasser unter meiner Haut. Ihren am Kragen festgeklemmten Mikrofonen entgeht kein Laut. Sie wollen mich einfangen, aber sie haben Angst.
Ich bin ansteckend.
Ich taumele ins Krankenzimmer und stütze mich an der Wand ab, um in der Senkrechten zu bleiben. Wenn ich renne oder zu tief atme, reißen die billigen Fäden, die mich zusammenhalten, und die klebrige Masse in mir wird auslaufen und sich durch den Betonboden ätzen.
Der Krankenschwester sträuben sich die Haare, als ich hereinschlüpfe. Sie stellt den Jazz im Radio leiser und mustert mich von oben bis unten, die Hände in die Hüften gestemmt, mit traurigen, freundlichen Augen.
»Ich dachte, du bleibst heute bestimmt zu Hause«, sagt sie. »Muss doch ein Schock für dich sein. Cassie stand dir sehr nahe, oder?«
»Mir ist nicht gut«, sage ich. »Kann ich mich einen Moment hinlegen?«
»Du kennst die Regeln.«
Sie ist eine listige Hexe in Krankenschwesternmontur.
»Okay.« Ich nehme auf dem Stuhl neben ihrem Schreibtisch Platz und lasse sie Fieber und Blutdruck messen.
Sie zieht mir die Manschette über den Armknochen. »Wirst du immer noch regelmäßig gewogen?«
»Einmal die Woche. Alles bestens. Ich muss nicht auf Ihre Waage.«
»Du siehst aber nicht bestens aus.« Sie notiert meine Werte. »Wenn du hierbleibst, musst du was zu dir nehmen. Sonst heißt es: ab in den Unterricht.«
Will ich von innen nach außen sterben oder von außen nach innen?
Sie öffnet eine Packung Orangensaft, gießt ihn in einen Pappbecher und reicht ihn mir, während sie mir das Thermometer wieder abnimmt. »Das meine ich ernst.«
Ich nehme den Becher. Meine Kehle will, mein Hirn will, mein Blut will Meine Hand will nicht, mein Mund will nicht.
Die Krankenschwester will und ich will nicht, dass sie was merkt. Also zwinge ich den Saft in mich hinein.
Die Tür geht auf, und zwei Typen kommen herein. Der eine blutet aus der Nase, der andere ist vom Anblick des Blutes völlig neben der Spur. Die Krankenschwester lässt den Blutenden Platz nehmen und den Kopf in den Nacken legen. Sein Freund soll sich hinsetzen und den Kopf zwischen den Beinen nach unten hängen lassen, um nicht in Ohnmacht zu fallen.
Ich werfe den Pappbecher in den Mülleimer, nehme die Zeitung von ihrem Schreibtisch und verziehe mich auf die Liege am anderen Ende des Zimmers.
»In einer Viertelstunde trinkst du noch einen«, sagt die Krankenschwester. »Oder du nimmst dir einen Lutscher: Traube oder Limette.«
»Okay.«
Ich ziehe den kleinen Sichtschutz vor die Liege, setze mich hin und blättere in der Zeitung. Lokalteil, Seite zwei. Der Artikel ist ziemlich lang und steht neben einer Werbung für Pelzmäntel mit 30% Preisnachlass.
Die Polizei
ermittelt im Fall der verstorbenen neunzehnjährigen Cassandra
Parrish aus Amoskeag, New Hampshire. Die Leiche des Mädchens wurde
am frühen Sonntagmorgen in einem Zimmer des Gateway Motels in der
River Road in Centerville aufgefunden. Ein Mitarbeiter des Motels
hatte die Tote entdeckt und die Polizei verständigt, die um
4:43Uhr am Ort des Geschehens eintraf. Erste Hinweise
lassen vermuten, dass Miss Parrish eines natürlichen Todes starb,
die Polizei will jedoch bislang Fremdeinwirkung oder
Drogenmissbrauch nicht ausschließen.
»Wir sammeln nach wie vor Indizien«, sagte Polizeisprecherin
Sergeant Anna Warren. Ȇber Zeitpunkt und Todesursache werden wir
Angaben machen, sobald das Ergebnis der Autopsie
vorliegt.«
Miss Parrish, von ihren Freunden »Cassie« genannt, war eine
beliebte Sportlerin und Mitglied der Theatergruppe der Highschool
von Amoskeag. Ihr Vater, Jerry Parrish, ist Leiter der Park Street
Grundschule. Ihre Mutter Cindy engagiert sich für schulische
Aktivitäten und Gemeindeanliegen. Der Oberschulrat von Amoskeag,
Nelson Bushnell, spricht von einem »unendlich traurigen
Schicksalsschlag« für die Familie Parrish.
»Cassie war so, wie wir uns alle unsere Kinder wünschen: klug,
fleißig und liebenswürdig«, äußerte sich Bushnell.
Die Gerüchte, dass Miss Parrish persönliche Probleme gehabt haben
soll, kommentierte er mit den Worten: »Heutzutage haben doch die
meisten Jugendlichen irgendwelche Probleme. Cassie hatte große
Fortschritte darin gemacht, ein gesundes Leben zu führen. Ihr Vater
erzählte mir bei unserem letzten Gespräch, dass sie gerade dabei
war, ihr College-Hauptfach zu wählen; sie schwankte zwischen
Psychologie und französischer Literatur. Ihr Tod ist gleichermaßen
tragisch und erschütternd.«
Der Autopsiebericht wird gegen Ende der Woche erwartet. Ein
Beerdigungstermin stand bei Redaktionsschluss noch nicht
fest.
Ich strecke mich auf der Liege aus. Der Kissenbezug aus Papier raschelt in meinen Ohren wie Radiorauschen.
Der Gong ertönt. Ein Fluss aus Körpern ergießt sich in die Halle, und Stimmen flüstern, Cassie sei ermordet worden/nein, sie hat sich erhängt/nein, sie hat sich ins endgültige Aus geraucht oder gekokst. Die hat doch alles ausprobiert, habt ihr von der Sache unter der Zuschauertribüne gehört/im Einkaufszentrum/im Sommercamp? Die war immer auf der Überholspur/ist ohne Fallschirm gesprungen schnallte sich einen Gürtel mit Gewichten um und hüpfte ins Meer.
Sie opferte sich freiwillig dem großen, bösen Wolf und schrie nicht mal, als er zubiss.
… ihr lebloser
Körper wurde im Zimmer eines Motels
aufgefunden, ganz allein…
Die Jungs sind wieder fort. Die Krankenschwester nimmt mir die Zeitung weg und breitet eine dünne Decke über mich.
»Kann ich noch eine kriegen?«, frage ich. »Mir ist kalt.«
»Natürlich.« Sie geht zum Vorratsschrank, ihre Schuhe quietschen über den gebohnerten Boden.
»Wissen Sie irgendwas über die Beerdigung?«, frage ich.
»Das Schulratsamt hat eine Mail geschickt«, sagt sie. »Die Totenwache findet Mittwochabend in der St.-Stephen-Kirche statt. Beerdigt wird sie dann am Samstag.« Sie kommt zu mir herüber, die Arme schwer beladen. »Jetzt schlaf ein bisschen und denk dran, deinen Orangensaft zu trinken, wenn du aufwachst.«
»Versprochen.«
Sie deckt mich mit allen Decken zu, die sie hat (fünf) und zusätzlich noch mit den Jacken aus dem Fundsachenkarton, weil mir eiskalt ist. Ich tauche in die Achselhöhlen fremder Menschen ein, schmecke ihr wildes Salz und schlafe ein, um alles zu vergessen.
007.00
Emma sitzt angeschnallt auf dem Rücksitz und guckt einen Film auf ihrem Laptop. Dabei isst sie Kartoffelchips und schüttet einen Slushie in sich hinein.
»Erzähl bloß Jennifer nichts davon«, sage ich.
»Hm.«
»Im Ernst. Sonst brüllt sie rum.«
»Ich hab’s kapiert. Nix erzählen, sonst brüllt sie rum.« Emmas Augen kleben am Bildschirm, während jeder einzelne Kartoffelchip auf einem rosafarbenen Förderband in ihrem Mund verschwindet.
Wir haben uns verfahren. Mal wieder. Mein Vater will nicht, dass ich ein Navi kaufe, weil er meint, ich müsse lernen, mich selbst zurechtzufinden. Wie soll ich wissen, wo ich hinmuss, wenn ich mich dauernd verfahre? Ich werd mir eins von Jennifer wünschen. Bald ist Weihnachten.
Wir kommen an einer verfallenen Scheune mit kaputtem Dach vorbei, und neben einem Geschwindigkeitsschild liegt eine alte, fleckige Matratze. Würde man nicht merken, wenn einem die Matratze vom Wagen fällt? Vielleicht lag sie ja hinten auf der Ladefläche eines Lasters, zusammen mit dem gesamten Besitz eines Mädchens, das mit einem Typ unterwegs war, den es im Internet kennengelernt hatte. Dem es sich mit Leib und Seele versprochen hatte. Er stellte ihr drei Mahlzeiten am Tag und ein Haus in Aussicht mit dem Hinweis, ein paar zusätzliche Möbel könnten nicht schaden. Als die Matratze herunterfiel, hielt er nicht an. Eine neue Ehefrau verdient ein sauberes Bett, pflegte er zu sagen.
Vielleicht kommt anderthalb Kilometer hinter mir ja eine Bikerin in Lederkluft angerauscht, stark wie ein Kerl. Und jede Sekunde kann irgend so ein Idiot sie schneiden, und sie gerät ins Trudeln, und das Motorrad wird sich überschlagen, woraufhin sie schreit und schreit, weil sie mal wieder ihre Flügel vergessen hat und die Schwerkraft keine Fehler duldet.
Und dann –
wird sie auf dieser ekligen Matratze landen. Jawohl, und sie wird mit drei gebrochenen Rippen, einem Oberschenkelhalsbruch und einer überstreckten Halswirbelsäule davonkommen, aber die vom Rettungsdienst werden kein Wort darüber verlieren. Sie werden immer nur davon erzählen, wie die fleckige Matratze am Straßenrand dem Mädchen das Leben rettete.
Es ist wohl der Geruch von Emmas Kartoffelchips, der all das in meinem Kopf auslöst.
***
Als ich den Sportplatz endlich gefunden habe, hat das Training bereits begonnen. Emma will im Wagen sitzen bleiben, bis ihr Film zu Ende ist.
»Du musst los«, sage ich.
Stöhnend klappt sie den Laptop zu. »Ich hasse Fußball.«
»Dann sag ihnen, dass du aufhörst.«
»Mom sagt, die Saison ist fast vorbei und ich darf nicht.«
»Na, dann geh hin und spiel mit. Macht doch Spaß!«
Unsere Augen treffen sich im Rückspiegel. »Ich krieg nie den Ball zugespielt.«
Emma ist eine Matratze, die vom Laster fiel, als ihre Eltern sich trennten. Ich kann mich nicht mehr dran erinnern, wann ihr Vater das letzte Mal angerufen hat. Jennifer ist jedenfalls fest entschlossen, aus Emma ein perfektes kleines Mädchen zu schnitzen, das sich in eine perfekte junge Dame verwandeln wird, deren glänzende Leistungen der Welt beweisen werden, dass sie eine absolut perfekte Mutter hat.
Man kann doch einer Matratze keinen Vorwurf machen, wenn man sie nicht gut genug festgebunden hat.
Ich öffne meine Wagentür. »Also los. Ich spiel dir den Ball zu.«
Sie wirft den Laptop neben sich. »Nein, du hast doch gesagt, du musst Hausaufgaben machen.« Plötzlich kann sie gar nicht schnell genug aussteigen. »Tschüss, Lia! Fahr vorsichtig.«
Ich brauche ein paar Sekunden, um zu kapieren, was gerade passiert ist. Eins. Zwei. Drei. Wieder bringen die Gerüche meine Nervenzellen durcheinander.
Ich lasse die Scheibe herunter. »Emma, warte mal!«
Langsam kommt sie zum Wagen zurückgelaufen, den Fußball fest an sich gepresst. »Was ist?«
»Ich hab’s mir anders überlegt. Ich will dir beim Training zusehen. Wo kann ich sitzen?«
Sie macht große Augen. »Nein, das geht nicht.«
»Warum denn nicht? Andere Leute schauen doch auch zu.«
»Ähm, na ja…« Sie betrachtet ihre Stollenschuhe und murmelt: »Du kannst ja vom Auto aus zugucken. Da ist es wärmer.«
Vom Platz hallen Rufe herüber, Neunjährige, bereit zum Angriff. Mannschaften, die in die Liga kommen wollen, geben alles.
»Emma, schau mich an!« Wie hat sich Jennifers Stimme in meinen Mund geschlichen? »Warum willst du nicht, dass ich aus dem Auto steige?«
Sie tritt in den Kies. Kleine Steinchen fliegen nach oben und klickern gegen den Lack meiner Tür.
»Der Trainer hat mich gefragt, ob es stimmt, dass du Krebs hast.« Ein zweiter Kiestritt. »Weil er gehört hat, dass du im Krankenhaus warst, und… na ja. Ich hab gesagt, es stimmt.« Pfiffe schrillen über den Sportplatz. »Es tut mir leid. Ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte.«
»Schon gut«, sage ich. »Ich versteh dich. Mach dir deswegen keine Gedanken.«
Der Ball fällt ihr aus der Hand und rollt Richtung Platz. »Du bist nicht sauer auf mich?«
»Ich kann nie sauer auf dich sein, du Dummi.«
Endlich hebt sie den Kopf. »Danke, Lia.«
»Und du hast ja Recht. Ich habe wirklich jede Menge Hausaufgaben auf.« Ich lasse den Motor an. »Meine Lehrer werden dir ewig dankbar sein, dass du mich zwingst, sie zu machen. Bis später dann?«
Sie lächelt. »Okay. Ich glaube, es sind noch ein paar Chips übrig, falls du Hunger hast.«
Ich fahre das Fenster wieder rauf.
Ich wünschte, ich hätte Krebs.
Für diesen Wunsch werde ich in der Hölle schmoren, aber es ist nun mal die Wahrheit.
008.00
An der Tankstelle steht die Luft; es riecht nach Diesel und dem ranzigen Frittierfett von McDonald’s gleich nebenan. Vor fünf Tagen wog ich 46.86Kilo. An Thanksgiving musste ich essen (mit lauter Geiern an einem Tisch), aber seither hab ich mich fast nur von Wasser und Reiswaffeln ernährt. Ich bin so hungrig, dass ich meine rechte Hand abnagen könnte. Ich stecke mir drei Kaugummis in den Mund, schmeiße Emmas Chips aus dem Wagen und mache den Tank voll. Ich bin widerlich.
… Als ich zum ersten Mal stationär aufgenommen wurde, war ich grün und blau und rot, weil ich das Bewusstsein verloren hatte und den Wagen vor uns rammte, während Cassie schrie und das Lenkrad explodierte. Dieser Körper wog 42Kilo.
Meine Zimmernachbarin im Gefängnis New Seasons war eine lange, schrumplige Zucchini, die im Bett heulte und sich den Rotz über die Wangen laufen ließ. Die Leute vom Personal hatten allesamt den Körperumfang von Walen und schwitzten. Die Krankenschwester, die die Medikamente verteilte, war so fett, dass ihre Haut spannte. Wenn sie sich zu schnell bewegt hätte, wäre alles aufgeplatzt, und ihre gelbe Füllung wäre herausgespritzt und hätte ihr Disney-T-Shirt eingesaut.
Ich biss mich durch die Tage, abgeknabberte Maiskolben, deren Körner mir im Mund zerplatzten und zwischen den Zähnen hängen blieben. Abbeißen, kauen, schlucken. Und noch mal. Abbeißen, kauen, schlucken. Und noch mal.
Ich war ein braves Mädchen, weil ich mir keine Löcher in die Haut bohrte (alle Narben wurden notiert) oder depressive Gedichte schrieb (Tagebücher wurden bei jeder Sitzung kontrolliert), und ich aß und aß. Sie mästeten mich wie ein kleines rosa Schweinchen vor dem Markttag. Sie quälten mich mit matschigen Äpfeln und Nudelwürmern und kleinen Kuchen, die aus dem Ofen marschierten und sich hinlegten und auf ihren Zuckerguss warteten. Ich biss ab, kaute und schluckte Tag für Tag, und ich log und log und log. (»Wieder so werden wie früher«? Wieso? Ich hatte Jahre gebraucht, um so abzunehmen. Ich war doch nicht krank – ich war stark.) Aber stark zu bleiben hätte bedeutet, dass man mich weiter einsperrte. Der einzige Weg, der nach draußen führte, war, Essen in mich reinzustopfen, bis ich kaum noch laufen konnte.
Ich würgte irgendeinen Schwachsinn hervor, über Gefühle und Probleme und meine Schenkel. Die Ärzte nickten und belohnten mich mit Aufklebern für meine Ehrlichkeit. Vier Wochen später öffneten sich die Tore. Mom Dr.Marrigan fuhr mich heim zu sich nach Hause und wir taten so, als wäre nichts von alldem jemals geschehen – abgesehen von den Ernährungsplänen und den Regeln und den Terminen und der Waage und dem Wirbelsturm mütterlicher Enttäuschung.
Cassie verstand mich. Sie hörte sich all meine Erlebnisse an und lobte mich für meine Tapferkeit…
Ich fahre in die Garage, der Kopf schwirrt mir vom Benzingeruch. Wie ich nach Hause gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Eines Tages werde ich nach Hause kommen und der Nachrichtensprecher im Fernsehen wird gerade verkünden, dass sich in der Innenstadt soeben ein Unfall mit Fahrerflucht ereignet habe. Die Kamera wird Blutspuren und Glasscherben auf dem Bürgersteig zeigen. Ein Reporter interviewt eine schluchzende Frau, die den Unfall vor dem Kaufhaus in der Bartlett Street beobachtet hat. Und plötzlich werde ich einen seltsamen Geschmack im Mund haben, weil ich eine Tüte aus diesem Kaufhaus in der Hand halte. Und wenn ich in die Garage zurückrenne, finde ich dort die Leiche einer Frau, die in meiner Windschutzscheibe steckt, und überall ist Blut.
So etwas kann passieren.
Ich steige aus und kontrolliere das ganze Auto – Türen, Motorhaube, Stoßstangen, Scheinwerfer, Kühlergrill und Kofferraum–, um sicherzugehen, dass ich keinen Unfall hatte, ohne es zu merken. Keine kaputten Scheinwerfer oder verbeulten Türen. Keine toten Frauen in der Windschutzscheibe. Nicht heute.
009.00
Ich gehe direkt zum Kühlschrank und krame die Reste der Thanksgiving-Truthahnfüllung hervor.
… Als ich noch ein richtiges Mädchen war, feierten wir Thanksgiving bei Oma Marrigan in Maine oder bei Großmutter Overbrook in Boston. Bei Oma hatte der Truthahn immer eine Austernfüllung. Bei Großmutter waren es Kastanien und Wurstbrät.
Oma liebte Kürbiskuchen über alles, mit einer Kruste aus Zimt und Pecannüssen. Großmutter dagegen machte immer Pasteten mit Hackfleischfüllung, weil das schon ihre eigene Großmutter immer gemacht hatte. An den Tischen drängten sich die Erwachsenen, die nach den vollen Schüsseln griffen und viel zu laut redeten. Cousins und Großonkel und Freunde, die weit, weit weg wohnten. Der Geruch von Bratensaft und Zwiebeln sorgte dafür, dass meine Eltern zu streiten vergaßen, der Geschmack von Preiselbeeren erinnerte sie daran, wie man lacht. Ich dachte, meine Großmütter würden ewig leben, und an Thanksgiving gäbe es für immer und ewig Tischdecken aus Spitze, feinstes Porzellan und schweres Silberbesteck, das ich, auf einem Hocker stehend, polierte.
Doch sie starben.
Thanksgiving letzte Woche schmeckte nach Süßstoff, angereichert mit Konservierungsstoffen und Anspannung, eingewickelt in Frischhaltefolie. Dads Schwestern kommen nicht mehr, weil ihnen die Fahrt zu weit ist. Jennifers Familie feiert bei ihrem Bruder, weil er mehr Schlafgelegenheiten hat. (Mom Dr.Marrigan hat wahrscheinlich an ihrem Schreibtisch gegessen oder hat pro forma eine Portion Kartoffelpüree mit Bratensoße in der Krankenhauscafeteria zu sich genommen.)
Wir waren nur wir vier und zwei von Dads College-Absolventen. Die eine war Veganerin und aß drei Portionen Süßkartoffeln und fast das ganze Kürbisbrot, das sie mitgebracht hatte. Der andere war aus Los Angeles und meinte, er würde fasten, weil man an Thanksgiving dem Völkermord der Ureinwohner Amerikas gedenkt. Nachdem sie gegangen waren, erkundigte sich Emma bei Dad, warum der Fastentyp denn überhaupt gekommen sei. Um sich einzuschleimen, weil er ein Empfehlungsschreiben haben wollte, erklärte Dad. Und Jennifer meinte, der Typ würde hoffentlich daran ersticken.
Ich lade mir ein bisschen von Jennifers Truthahnfüllung auf einen Teller (und lasse ein paar Löffel für die Katzen auf den Boden fallen), klatsche Ketchup drauf und erhitze das Ganze lang genug in der Mikrowelle, dass es überallhin spritzt. Danach lasse ich die Mikrowellentür sperrangelweit offen stehen, damit der Gestank die ganze Küche verpestet.
Kontrollblick auf die Uhr. Zehn Minuten.
Ich tupfe mir ein bisschen Ketchup in die Mundwinkel, kratze den ganzen Mist ins Spülbecken, lasse heißes Wasser laufen und betätige den Schalter vom Müllhäcksler, der im Abfluss eingebaut ist. Während der Häcksler läuft, versuche ich mich abzulenken – die Verfassung auswendig aufsagen, die Reihenfolge der amerikanischen Präsidenten, wie heißen Schneewittchens sieben Zwerge–, aber ich kann nicht aufhören, daran zu denken:
Sie hat mich angerufen.
Ich schließe die Mikrowelle. Trage den schmutzigen Teller mit der Gabel ins Wohnzimmer und stelle ihn auf einem Beistelltisch ab.
Sieben Minuten.
Ich muss wirklich etwas essen.
Sie hat mich dreiunddreißig Mal angerufen.
Eine große Reiswaffel = 35. Mit einem Teelöffel scharfem Senf obendrauf: plus 5. Zwei Teelöffel = 10. Reiswaffeln mit scharfer Soße sind besser. Man isst und wird gleichzeitig mit jedem Bissen bestraft. Jennifer kauft keine scharfe Soße mehr. Zwei Reiskekse, vier Teelöffel Senf = 90.
Am liebsten würde ich kotzen können. Ich versuche es immer und immer wieder, aber ich schaffe es einfach nicht. Der Geruch macht mich wahnsinnig, mein Hals macht dicht, und ich kann einfach nicht.
1.2.3.4.5.6.7.8.9.10.11.12.13.14.15.16.17.18.19.
20.21.22.23.24.25.26.27.28.29.30.31.32.33.
Jennifer kommt nach Hause und sagt, ich soll meinen Teller in die Spülmaschine stellen und die Sauerei wegmachen, die ich in der Mikrowelle veranstaltet habe. Ich entschuldige mich und tue, was sie verlangt, während sie umständlich versucht, eine glitschige Flasche kalten Chardonnay zu öffnen. Als ich schon auf der Treppe bin, platzt Emma zur Haustür herein, mit dreckigem Fußballtrikot und glühend roten Wangen.
»Ich hab fast ein Tor geschossen!«, brüllt sie.
»Super!«, sage ich.
»Willst du jetzt mit mir kicken?«
Zu viele Seile ziehen mich hinab in den Boden. »Ich kann nicht, Emmaschatz. Ich bin fix und fertig. Außerdem ist es schon dunkel. Morgen, okay?«
Ihr Lächeln bröckelt. Ich schleppe mich die restlichen Stufen hinauf.
Mach die Tür zu. Mach die Tür zu.
Mein Strickzeug ist eines der wenigen Dinge, die ich ausgepackt habe, seit ich hier eingezogen bin. Ich sitze auf meiner Bettkante und wühle in dem Korb herum, taste mich an dem nie endenden Projekt Schal/Decke vorbei, an einsamen Stricknadeln ohne Partner und an orangefarbenen, braunen und roten Wollknäueln bis zur magischen Flasche mit den zartroten Notfallpillen. Cassie hat sie mir besorgt, aber sie wollte nicht verraten, woher sie sie hat. Ich nehme eine, nur eine.
An der kalten Decke hängen erwartungsvolle Plastiksterne, die den Lichtschalter beobachten, aufgeregt, weil es bald dunkel wird und sie dann dran sind mit Leuchten. Dieses Mädchen hat Physikhausaufgaben. Dieses Mädchen muss einen Aufsatz über Völkermord schreiben und die Trigonometrieaufgaben von letzter Woche lösen und ein Quiz über literarische Stilmittel in irgend so einer bescheuerten Geschichte.
Dieses Mädchen zittert, kriecht angezogen unter die Bettdecke und versinkt in einem überfälligen Büchereibuch, einem Märchen, in dem Ratten und wilde Verwünschungen vorkommen. Die Sätze bilden einen Schutzwall um sie, eine Times-New-Roman-10-Punkt-Schriftmauer, die die gefährlichen Stimmen in ihrem Kopf fernhält.
Als Dad nach Hause kommt, wird sein Abendessen in der Mikrowelle aufgewärmt. Wieder wird Wein eingeschenkt. Jennifer erklärt Emma, dass sie längst im Bett sein sollte. Ich blättere eine stille Seite nach der anderen um, aber inzwischen sehe ich keine Buchstaben und verstehe keine Wörter mehr.
Seine Schritte auf der Treppe.
Ich lege mein Gesicht auf das Buch, mittendrauf, mein Haar breitet sich über den Seiten aus wie wiegende Algen im Erzählstrom der Geschichte, der mich hinabzieht in den Schlaf. Die eine Hand lasse ich locker über die Bettkante hängen.
Nein, lieber nicht. Ich ziehe sie wieder ein.
Seine Schritte im Flur. Die Tür öffnet sich.
»Lia?«
Lia ist gerade nicht erreichbar. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Piepton.
Sie hat mich dreiunddreißig Mal angerufen.
***
»Lia? Bist du wach?«
Mit ihrer nörgeligen Mamastimme fordert Jennifer von Emma: »Zum letzten Mal, geh nach oben!« Emmas Antwort ist zu leise, um sie zu verstehen.
Dad setzt sich auf meine Bettkante, streicht mir das Haar aus dem Gesicht, beugt sich vor und küsst mich auf die Stirn. Er riecht nach aufgewärmtem Essen und Wein.
»Lia?«
Hau ab. Lia will hundert Jahre lang in einem verschlossenen Glassarg schlafen. Alle Leute, die das Versteck des Schlüssels kennen, werden sterben, dann hat sie endlich mal ein bisschen Ruhe.
Er hebt meinen Kopf an und zieht das Buch darunter hervor. Ich öffne ein Auge einen Spaltbreit, linse durch die stacheligen Wimpern. Dad markiert die Stelle, wo das Buch aufgeschlagen war, indem er ein Eselsohr in die Seite macht, dann liest er den Text, der hinten auf dem Umschlag steht. Oberhalb seines Kragens pulsiert die Haut, der Blutstrom, der sein riesiges Gehirn versorgt.
Mein Vater ist Geschichtsprofessor, groß und mächtig, der Experte zum Thema Unabhängigkeitskrieg. Er hat den Pulitzerpreis und den National Book Award gewonnen und ist Berater bei einer Nachrichtensendung. Das Weiße Haus lädt ihn so oft zum Abendessen ein, dass er einen Smoking besitzt. Er hat mit zwei Vizepräsidenten und einem Verteidigungsminister Squash gespielt. Er weiß, wie wir wurden, was wir heute sind, und wie es nun weitergehen sollte. Meine Lehrer sagen, ich könnte froh sein, so einen Vater zu haben. Vielleicht wäre ich es, wenn ich Geschichte nicht so hassen würde.
»Lia? Ich weiß, dass du wach bist. Wir müssen miteinander reden.«
Ich halte die Luft an.
»Schatz, das mit Cassie tut mir leid.«
Um mich herum knackt das Glas. Cassie hat mich angerufen, ehe sie starb. Wieder und wieder hat sie angerufen und darauf gewartet, dass ich rangehe.
1.2.3.4.5.6.7.8.9.10.11.12.13.14.15.16.17.18.19.
20.21.22.23.24.25.26.27.28.29.30.31.32.33.
Mein Vater streicht mir noch einmal über das Haar. »Gott sei Dank lebst du.«
Feine Risse fressen sich über die Oberfläche des Glaskastens, als wäre plötzlich ein Körper vom Himmel gefallen und dort gelandet. Dad hört weder den Aufprall noch riecht er das Blut.
Er atmet tief durch und klopft mir sanft auf die Schulter, die sich unter der Steppdecke verbirgt. »Wir reden später«, lügt er.
Wir reden nie. Wir tun bloß so, als würden wir es in Erwägung ziehen, und sagen ab und an, dass wir uns demnächst wirklich mal hinsetzen und reden sollten. Es wird nie dazu kommen.
Das Bett knarrt, als er aufsteht. Er knipst die Nachttischlampe aus und durchquert im schwachen Schein der an der Decke klebenden Plastikgalaxie das Zimmer. Als der Schnapper mit einem Klicken im Türrahmen einrastet, bin ich erlöst.
Ich rolle mich mit dem Gesicht zur Wand. Glasscherben rasen auf mein Herz zu, weil Cassie tot wie Stein ist. Sie starb im Gateway Motel, und ich bin schuld. Nicht die Modezeitschriften oder das Internet oder die fiesen Lästermädchen im Umkleideraum oder die hormongeschädigten Jungs auf dem Pausenhof. Nicht die Trainer oder Studienberater oder Lehrer oder die Erfinder von Kleidergröße0 und 00. Nicht mal ihre Eltern.
Ich bin nicht rangegangen.
010.00
… Als ich noch ein richtiges Mädchen war, hieß meine beste Freundin Cassandra Jane Parrish. Sie zog im Winter her, als ich in die dritte Klasse ging. Ich saß da, das Kinn aufs Fensterbrett gestützt, und starrte hinüber, als sie den Umzugswagen ausluden. Ein Kerl trug ein Kinderfahrrad und ein rosafarbenes Plastikpuppenhaus heraus. Ich schöpfte Hoffnung. Das Neubaugebiet wurde gerade erst erschlossen, es gab fast nur Rohbauten und zugefrorene Matschgruben. Ich sehnte mich nach anderen Kindern in meinem Alter, mit denen ich spielen konnte.
Meine Babysitterin ging mit mir und einer Kanne Kaffee hinüber, um die Neuankömmlinge zu begrüßen. Ihr Haus war genau wie unseres, nur andersherum gebaut, und es roch genauso nach frischer Farbe und sauberen Teppichen. Die Mutter, Mrs Parrish, wirkte so alt wie eine Großmutter. Ihre blauen Augen waren ständig weit aufgerissen, als würde sie alles, was sie sah, in Erstaunen versetzen. Die Babysitterin stellte mich vor und erklärte die Sache mit meinen Eltern und ihren Millionen-Stunden-pro-Woche-Jobs. MrsParrish rief die Treppe hinauf nach ihrer Tochter. Und Cassandra brüllte zurück, dass sie nie wieder aus ihrem Zimmer kommen werde.
»Geh ruhig rauf, Liebes«, sagte MrsParrish zu mir. »Ich weiß, dass sie sich nach einer Freundin sehnt.«
Cassie war gerade dabei, einen Karton mit Taschenbüchern auszupacken. Als sie aufstand, sah ich, dass sie mich um einen ganzen Kopf überragte und lange blonde Locken hatte, die sich ihren Rücken hinunterschnörkelten. Zuerst wollte sie nichts sagen, schaute mir nicht einmal in die Augen, aber immerhin durfte ich Pinky, ihre Maus, in die Hand nehmen. Das pochende Mäuseherz pulsierte gegen meine Fingerspitzen.
Cassies Zimmer hatte dieselbe Größe wie meins und war genauso geschnitten. Aber es standen ganz andere Sachen drin: ein Himmelbett, eingerahmt von Vorhängen aus Spitze, das Puppenhaus mit schwarzen Buntstiftkrickelspuren, ein hoher, schmaler Spiegel, der allein in der Ecke stand, und ein Bücherschrank, der zu klein wirkte, um all die Bücher aus den Kartons darin unterzubringen. Cassie zeigte mir ihre wertvollen alten Puppen, die Plastikpferdesammlung und – das war das Beste – eine echte Schatztruhe voller Rubine und Gold und einem grünen Stück Meerglas, das, wie sie sagte, aus dem Herzen eines Vulkans stammte.
Ich erklärte ihr, dass Meerglas aus dem Meer kommt.
»Das hier nicht«, erwiderte sie. »Es ist Mehrglas mit ›h‹, so wie ›mehr wissen‹. Wenn die Sterne richtig stehen und man da durchguckt, weiß man mehr über seine Zukunft.«
»Oh«, sagte ich und streckte meine Hand danach aus.
»Aber heute nicht.« Sie legte das Mehrglas wieder weg und schloss die Schatztruhe. Ich sah, wo sie den Schlüssel versteckte.
Wir setzten uns einander gegenüber und begannen, den Karton auszupacken, der zwischen uns stand. Während ich ihr Buch für Buch reichte, verglichen wir unsere Lieblingsserien und Lieblingsschriftsteller und dann Filme und Fernsehshows und Musik, die wir angeblich hörten, obwohl wir noch viel zu jung dafür waren. Als MrsParrish und meine Babysitterin hereinkamen, legte Cassie mir den Arm um die Schultern.
»Das ist Schicksal«, sagte sie zu ihrer Mutter. »Wir sind dazu bestimmt, Freundinnen zu sein.«
MrsParrish lächelte. »Ich hab dir doch gesagt, dass hier alles gut wird.«
Cassies Vater war der neue Schuldirektor, der von einer Schule im Norden angeheuert worden war, nachdem unser alter Direktor einen Schlaganfall erlitten hatte. Cassies Mutter wurde Gruppenleiterin bei unseren Pfadfinderinnen, stellte sich als freiwillige Begleitperson bei Exkursionen zur Verfügung und nähte Kostüme für Theateraufführungen in der Schule. Sie lud meine Mutter zum Kartenspielen, zu Bastelabenden und Literaturzirkeln ein, aber Mom war zu sehr mit ihren Herztransplantationen beschäftigt. MrParrish spielte kein Squash und mein Vater spielte kein Golf, und damit war auch diese Sache erledigt.
Cassie war ein wenig launisch, aber daran gewöhnte ich mich. Ich übernachtete fast jedes Wochenende bei ihr, sie jedoch nie bei mir. Dass sie schlafwandelte, war ein Tabuthema, genau wie ihre Wutausbrüche, wenn ihre Mutter an ihr herumnörgelte oder wenn ihr Vater sie anhielt, irgendwelche Hausarbeiten noch ein zweites Mal, aber diesmal gründlicher, zu erledigen.
Einmal hörte ich, wie ihre Mutter sich mit meiner Babysitterin über etwas Schlimmes unterhielt, was in ihrer alten Wohngegend passiert war, etwas mit einem Jungen. Ich fragte Cassie danach, und sie sagte, ich würde sie fertigmachen wollen und dass sie mich hasste und wir keine Freundinnen mehr wären. Ich setzte mich auf die kleine Treppe vor unserem Haus, las Die Zeitfalte und knabberte an den Spitzen meiner Ponyfransen, bis sie eine Stunde später wieder zu mir kam und fragte, ob wir Fahrrad fahren sollten – so als wäre nichts geschehen.
Im Sommer kletterten wir nachmittags immer in mein Baumhaus und verschlangen Bücher über gefährliche Schatzsuchen und atemberaubende Abenteuer. Ich bastelte uns Schwerter aus Ästen und schärfte die Spitzen mit einem Steakmesser, das ich aus der Küche geklaut hatte. Cassie pflückte giftige Beeren und schnitt im Garten ihrer Mutter eine Rose ab. Wir schmierten uns die Beeren ins Gesicht und stachen uns mit einem Rosendorn in den Finger. Dann schworen wir heilige Eide, stark zu sein, die Welt zu retten und für immer und ewig Freundinnen zu bleiben.
Sie zeigte mir, wie man Solitaire spielt, und ich brachte ihr Hearts bei.
Im Frühjahr der fünften Klasse erschien die Busenfee mit ihrem Zauberstab und zog Cassie damit so heftig eins über, dass sie die Erste in unserer Klasse war, die einen richtigen BH brauchte. Die Jungen glotzten und kicherten. Die Glitzergirlies mit ihren gespaltenen Zungen und scharfen Krallen tuschelten. Insgeheim war ich heilfroh über meine Hühnerbrust und meine Unterhemden.
Die Jungs probierten wochenlang alle dreckigen Wörter und blöden Sprüche, die sie auf Lager hatten, an Cassie aus. Sie tat, als würde sie nichts hören, aber ich wusste es besser. Die Dinge eskalierten an einem Freitagmittag, als wir in der Cafeteria zum Mittagessen anstanden. Thatcher Greyson ließ den Rückenriemen von Cassies BH so laut schnalzen, dass alle es hörten. Sie fuhr herum, stieß ihn zu Boden, sprang auf ihn drauf und begann, ihn zu verprügeln. Als sie endlich irgendjemand wegzog, hatte er ein blaues Auge und eine blutige Nase.
Thatcher musste zur Schulkrankenschwester. Und Cassie schickte man ins Büro zu MrParrish, weil er der Direktor und zugleich ihr Vater war. Er brüllte sie dermaßen laut an, dass man es draußen im Flur hörte. Danach schickte er sie und Thatcher für den Rest des Tages nach Hause und wir anderen verbrachten den Nachmittag damit, Aufsätze über Toleranz und gute Umgangsformen zu schreiben. Weshalb die Glitzergirlies wiederum stinksauer waren und sagten, Cassie sei an allem schuld.
Am nächsten Montag verkündeten die Mädchen, Cassie sei eine Lesbe, und stießen sie aus ihrer Gemeinschaft aus. Ich wusste nicht, was eine Lesbe ist, aber es hörte sich an wie etwas Schlimmes. Ich kaute auf dem Radiergummi meines Bleistifts herum und sprach den ganzen Tag kein Wort mit Cassie. Am Dienstag saß sie beim Mittagessen ganz allein. In der Pause spielte sie allein. Und statt den Bus zu nehmen, wurde sie von ihrer Mutter abgeholt.
Am Mittwoch flüsterten die Jungs immer wieder »Titten, Möpse, Euter, Glocken«, wenn der Lehrer gerade nicht aufpasste. Thatcher zeichnete ein Bild von Cassie mit melonengroßen Brüsten und reichte es in der Klasse herum. Die Glitzergirlies kicherten und wickelten sich Kaugummis um die Finger.
In der Hackordnung der fünften Klasse stand ich ziemlich weit oben, weil meine Eltern reich waren und mein Vater den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika getroffen hatte. In der komplizierten Mathematik der Unterstufe war ich immerhin eine ganze Zahl, nicht irgendeine Bruchzahl.
Cassie und ich hatten einen heiligen Eid mit Giftbeeren und Blut geschworen, also hatte ich keine Wahl. Ich musste sie retten.
In der Mittagspause setzte ich mich zu Cassie ans Ende des Tisches, wo die Loser saßen. Ich schenkte ihr all meine Pommes und redete laut darüber, dass wir beide zusammen mit ihrer Mutter nach Boston fahren würden, um ein Museum zu besichtigen. Die anderen Mädchen glotzten uns an. Ihre Zungen witschten über ihre Zahnspangen, leckten am Lipgloss und prüften die Windrichtung.
In der Pause ging ich zu Thatcher. Ich, ein dürres, elfenhaftes Mädchen von der Größe einer Zweitklässlerin, legte mich mit dem zukünftigen Footballstar der Schulmannschaft an, einem Angriffsspieler.
»Na los, schlag mich«, sagte ich.
»Du? Forderst mich heraus?« Er musste so lachen, dass es ihm die Sprache verschlug.
Ich schubste ihn. »Und ob! Wenn du dich nicht traust, bist du ein Weichei.« Ich schubste ihn noch einmal, kräftiger. »Und wenn du dich traust, bist du ein noch viel größeres Weichei, weil es nämlich schlimmer ist, Schläge einzustecken als auszuteilen.«
Keine Ahnung, wie sich diese Worte in meinen Mund geschlichen hatten.
Ein Raunen ging durch die Menge, und um uns herum bildete sich ein Kreis. Thatcher blickte sich nach einem Lehrer um, der ihm aus der Patsche helfen konnte. Ich schloss die Augen und hielt mir die Daumen.
»Na los!«, sagte ich.
Er schlug so hart zu, dass meine Lippe aufplatzte und der wackelige Backenzahn, an dem ich schon mit der Zunge herumgespielt hatte, herausbrach. Ich konnte ihm den blutigen Zahn gerade noch ins Gesicht spucken, dann fiel ich in Ohnmacht.
Die Glitzergirlies wechselten wieder mal die Seiten. Ich hatte es Thatcher gezeigt – Frauenpower, Mädchen an die Macht! Sie flochten mir Armbänder aus Stickgarn und Perlen, aber ich wollte sie nicht annehmen, solange sie Cassie nicht auch welche machten. Sie nahmen Cassie wieder in ihren Club auf, weil Thatcher nämlich echt ein fieser Arsch war und an allem selber schuld.
Nach dieser Sache erzählten Cassie und ich überall herum, wir wären Zwillinge.
… ihr lebloser
Körper wurde im Zimmer eines Motels
aufgefunden, ganz allein…
Der Körper von Cassandra Jane Parrish schläft in einem kalten, silbernen Kasten. Am Samstag wird man ein Loch in die Erde buddeln und sie einpflanzen.
Und was ist mit dem Rest von ihr, der richtigen Cassie?
Bestimmt taucht sie hier auf.
011.00
Emma geht zu Bett und Jennifer geht zu Bett und Dad geht zu Bett. Auf der anderen Seite der Stadt bleibt meine Mutter noch viel zu lange auf, aber dann geht sie schließlich auch zu Bett.
Ich kann nicht schlafen. Glühende Blitze zischen mir durch den Schädel, ein Kurzschluss in den Leitungen meines Kopfes. Erst ist mir kalt, dann heiß, dann kann ich meine Finger und Zehen nicht mehr spüren. Da steht jemand draußen vor meiner Tür, das spüre ich. Aber… nein. Alle schlafen. Alle sind verzaubert, eingehüllt in einen Traum.
Der Mond tropft durch mein Fenster.
Ich warte.
Spinnen schlüpfen in meinem Bauchnabel und kriechen hinaus ins Freie, haarige kleine Teerperlen mit Ballerinafüßchen. Sie wimmeln umher und spinnen einen Seidenschleier, einhunderttausend ineinander verwobene Spinnengedanken, bis sie mich in ein weiches, kuscheliges Leichentuch gewickelt haben.
Ich atme ein. Das Netz presst sich an meine geöffneten Lippen. Es schmeckt nach Staub, wie alte Vorhänge.
Ein Hauch von Ingwer, Gewürznelken und karamellisiertem Zucker weht über mein Bett, der Duft ihres Duschgels, Shampoos und Parfums. Sie kommt. Jeden Moment ist es so weit.
Ich atme aus, und dann geht es los.
Dornige Ranken kommen über den Boden gekrochen, knisternd wie Feuer. Schwarze Rosen erblühen im Mondlicht, tot geboren und zerbrechlich. Das Netz über meinem Gesicht hält meine Augen offen und zwingt mich hinzusehen, als Cassie aus den Schatten hervortritt, Dornenranken winden sich um ihre Beine und ihren Körper hinauf, durchziehen ihr Haar. Gerade steht sie noch an der Tür, im nächsten Moment blickt sie bereits auf mich herunter. Die Temperatur im Zimmer ist um zwanzig Grad gesunken. Ihre Stimme ist in meinem Kopf.
»Lia«, sagt sie.
Ich kriege keinen Ton heraus. Spinnen krabbeln mir übers Gesicht und springen auf Cassies Arme hinüber. Hin und her fliegen sie und weben uns zusammen.
»Komm mit«, sagt sie. »Bitte.«
Das Netz lässt uns erstarren, und wir blicken einander an, während der Mond über den Himmel schlittert und die Sterne einschlafen.
012.00
»Aufwachen, Lia!« Emma rüttelt mich an der Schulter.
Ich stöhne und vergrabe mich tiefer in meinem warmen Kokon.
»Wach auf!« Sie macht das Licht an. »Du kommst zu spät.«
Ich öffne die Augen und halte schützend eine Hand ins grelle Licht. Ich stecke noch immer in den Kleidern von gestern. Draußen ist es dunkel. »Wie viel Uhr ist es?«
»Oh, Mann!«, sagt Emma. »Nach halb sieben.«
Mein Zimmer riecht nach Schmutzwäsche und alten Kerzen, nicht nach Gewürzen oder Karamell. Ich vergrabe mein Gesicht wieder im Kissen. »Noch fünf Minuten.«
»Du musst jetzt aufstehen!« Sie zieht mir die Steppdecke weg. »Hat Mom gesagt.«
»He, es ist kalt!«
»Brüll nicht rum, Mom hat Migräne. Ich hab ja versucht, dich nett aufzuwecken, aber du hast dich nicht gerührt.«
Ich schwinge die Beine aus dem Bett und setze mich auf. Keine Spinnweben in Sicht, keine Rosenblätter auf dem Teppich. Cassie liegt mit aufgeschlitztem Bauch im Leichenschauhaus und läuft aus wie ein frisch gefangener Fisch. Es war alles nur Einbildung.
Ich zittere, ziehe die Steppdecke wieder hoch und lege sie mir um die Schultern. »Wo ist mein Vater?«
»Wir haben Dienstag, Dummi. Squashtag.«
Mist. Dienstag.
»Wo ist Jennifer?«
»Föhnt sich die Haare. Wo willst du hin?«
Dienstag.
Ich rase nach unten in die Wäschekammer, so weit weg von Jennifers Ohren wie nur möglich. Drehe den Wasserhahn auf, beuge mich übers Becken und saufe, bis mein Bauch ein großer Wasserballon ist. Die Flut trägt mich zurück in Richtung Küche, schwer beladen, und die Wellen gluckern.
Als Jennifer mit trockenen Haaren und verwackeltem Lidstrich in die Küche kommt, trinke ich meine erste Tasse Kaffee. Schwarz. Vor mir steht Dads schmutziger Teller, damit es so aussieht, als hätte ich Marmeladentoast gegessen.
»Migräne?«, frage ich.
Sie nickt einmal, zuckt zusammen und stellt eine Tasse Wasser in die Mikrowelle.
Meine kleine Nichtschwester schiebt mir über den Tisch ein Schuhkarton-Diorama zu. »Das ist ein Kolosseum aus Griechenland«, erklärt sie mir. »Wo man Leute folterte und sie den Tigern zum Fraß vorwarf.«
»Klingt nach ’nem ganz normalen Schultag«, sage ich.
»Sehr witzig«, sagt Jennifer. »Und es ist das Kolosseum in Rom, nicht in Griechenland. Jetzt hör auf, daran rumzufummeln, Emma. Der Kleber ist noch nicht trocken.« Die Mikrowelle piepst. Sie holt die Tasse heraus, lässt einen Teebeutel, der nach Zitrone riecht, hineinfallen. Dann wirft sie einen Blick auf die Uhr und sagt: »Also komm, Lia. Gehen wir hoch.«
***
Als man mich vor sechs Monaten zum zweiten Mal aus dem Gefängnis New Seasons der Klinik entließ, ließ ich mich von meiner Mutter Dr.Marrigan scheiden und zog ins Jenniferland.
Nachdem sich Dad vom ersten Schock erholt hatte, begann er sich mit dem Gedanken anzufreunden. Es wäre ein Neuanfang, meinte er. Mit einem strukturierten Tagesablauf und jemandem, der kochen kann. Und den ganzen Sommer über schlurfte ich jeden Morgen wie eine brave Tochter in die Küche und setzte mich mit meinem Vater an den Frühstückstisch. (Genau so, wie es in den Entlassungspapieren der Klinik hieß: »Die gemeinsamen Mahlzeiten sollten in freundlicher und entspannter Atmosphäre eingenommen werden.«) Er hielt mir dann immer Vorträge über seine neuesten Erkenntnisse über das langweilige Leben irgendeines toten Typ, während ich winzige Omelettstückchen auf meine Gabel schob und an einem Zimtbagel mit Butter herumknabberte.
Die Ärzte empfahlen Dad, eine Blubber-O-Meter 3000 zu kaufen, eine Badezimmerwaage mit einer riesigen, gut lesbaren Anzeige. Jennifer musste die Drecksarbeit übernehmen, mich in meinem zerschlissenen gelben Bademantel wiegen und dafür sorgen, dass ich fett blieb. In den ersten paar Monaten ermittelte sie meine Sünden jeden Morgen und besprach sich wegen der Ergebnisse einmal pro Woche mit meinem Arzt. Die scheußlichen Zahlen brachten mich zum Heulen.
Aus dem täglichen Wiegen wurde ein Jeden-zweiten-Tag-Wiegen und daraus ein Jeden-Dienstag-Wiegen, weil eigentlich niemand von uns Lust dazu hatte.
In meinem Zimmer schlüpfe ich in den gelben Bademantel und vergewissere mich, dass die 25-Cent-Stücke, die ich in die Taschen eingenäht habe, den Stoff nicht nach unten ziehen. Als ich ins Badezimmer komme, steht Jennifer gerade vor dem Spiegel und zieht ihren Eyeliner nach.
48 geschummelte Kilo.
Sie schreibt die Zahl in ein kleines grünes Notizbuch, das seinen Platz im Schrank gleich neben der antiseptischen Wundsalbe hat, dann blättert sie durch vierundzwanzig Wochen demütigender Gewichtsprotokolle. »Das ist ein Viertelpfund weniger.«
»Aber weit über der problematischen Grenze.«
Sie räuspert sich, und das Notizbuch landet wieder im Schrank. Der Umschlag beginnt sich bereits aus der Ringspirale zu lösen.
Ich steige von der Waage und wechsele das Thema. »Kann ich nach der Schule mit Emma Eisessen gehen?«
Der Stiefmuttermund öffnet sich, aber es kommt kein Ton heraus.
Emma ist neun. Emma ist rund. Rund, nicht stämmig, nicht schwer, nicht fett. Sie ist kräftig gebaut – wie ihr Vater, sagt sie–, und das Runde steht ihr perfekt. Emma könnte ein Model sein; das haben wir schon eine Million Mal bei Schulkonzerten und Fußballturnieren gehört. Sie ist das moderne All American Girl, ein Mädchen aus Fleisch und Blut mit schokoladigen M&Ms-Augen, wippendem Haar und einer sinnlichen Speckrolle am Bauch.
Jennifer hält Emma für fett mollig, aber sie traut sich nicht, es auszusprechen.
»Eine Kugel«, verspreche ich. »Im Becher.«
»Heute nicht.« Der Lippenstift blutet ihr bis in die Mundwinkel hinein. Sie zieht ein Papiertuch aus der Schachtel und beugt sich näher an den Spiegel, um den Fehler zu korrigieren. Es ist ein antiker Spiegel mit leichten Wellen im Glas. Manchmal macht er aus dir die eleganteste Prinzessin in Zeit und Raum. Manchmal aber auch ein Schwein.
Ich ziehe den Duschvorhang zurück und drehe das Wasser auf. Jennifer kleckst, kleckst, kleckst immer noch an sich herum. »Chloe hat angerufen«, sagt sie. »Schon wieder.«
»Hier?«
»Nein, in Davids Büro.«
Ich stelle das Wasser heißer. Ich mag es nicht, wenn sie den Namen meiner Mutter in den Mund nimmt.
»Hast du gehört, was ich gesagt habe?«
»Dass Mom Dad angerufen hat.«
»Du hast mir gestern versprochen, dich bei ihr zu melden, Lia.«
Ich sitze am Badewannenrand und prüfe mit den Fingern die Temperatur. »Tut mir leid, hab ich vergessen.«
»Nicht so schlimm. Sie möchte, dass du dieses Wochenende bei ihr übernachtest. Sie meint, es sei für euch beide an der Zeit, es noch mal miteinander zu versuchen, besonders jetzt nach Cassies Tod. Sie macht sich große Sorgen um dich.«
»Nein.«
Jennifers Spiegelbild blickt mich stirnrunzelnd an. Sie versucht nach wie vor, den Weg durch das Minenfeld zu finden, das sich zwischen ihrem chaotischen Stiefmutterland und dem sagenumwobenen Reich von Ehefrau-Nummer-eins befindet. Sie kriegt ein Fleißkärtchen für ihre Mühe. Jennifer holt tief Luft. »Ich halte es für eine gute Idee.«
»Ich nicht.«
»Komm schon, Lia, du solltest…«
»Es steht dir nicht zu, so was zu sagen.« Dampfschwaden steigen auf. Ich möchte mich am liebsten ausziehen, um mich zu kochen, aber wenn sie mich nackt sieht, wird sie ausrasten, und wenn ich mit Bademantel unter die Dusche steige, rastet sie noch mehr aus. »Dr.Parker sagt, ich brauche mir von niemandem ein Du-solltest gefallen zu lassen.«
»Entschuldige.« Sie reibt eine klare Stelle in den beschlagenen Spiegel. »Ich versuche nur, dir zu helfen.«
»Ich weiß.«
Als sie meinen Vater geheiratet hat, war ich eine Besucherin, die einmal im Monat auftauchte, unaufgefordert die Küche sauber machte und kostenlos den Babysitter spielte. Ich wette, sie bereut, keine Rücktrittsklausel in den Ehevertrag geschrieben zu haben.
»Was hat denn Dad zu Mom gesagt?«, frage ich.
»Dass er mit dir reden wird.«
Das Wasser rauscht herab, neunzehn Liter pro Minute verschwinden im Abfluss. Jennifer verblasst hinter einer Dampfwolke.
»Es ist doch nur eine Nacht.« Ihre Stimme klingt verklebt, als hätte sie Lippenstift auf der Zunge. »Fahr am Samstag zum Abendessen hin, und nach dem Frühstück kommst du wieder nach Hause.«
Ich öffne den Mund, um sie zu fragen, ob sie mit mir zur Beerdigung geht und morgen zur Totenwache, ob sie meint, dass ich Cassies Eltern anrufen soll, oder ob das alles nur noch schlimmer macht. Ich öffne den Mund, aber Dampf quillt hinein und brennt die Wörter weg.
»Hast du was gesagt?«, fragt sie.
»Gehst du heute noch einkaufen?«
»Was?«
»Ob du heute noch einkaufen gehst? Ich hab keine Tampons mehr!« Glatt gelogen, geniale Ablenkung.
»Klar. Ich bring welche mit. Und du rufst Chloe an?«
»Ich rufe sie heute Nachmittag an. Könntest du mich jetzt vielleicht bitte…« Ich stehe auf und greife nach meinem Bademantelgürtel.
Sie geht hinaus in den Flur und lässt die Tür halb offen. »Danke, Schatz. Ich sag David Bescheid.«
Ich starre in den Dampf, bis ich weiß, dass sie die Treppe hinuntergegangen ist.
»Ich bin nicht dein Schatz.«
013.00
Ich stelle die Dusche ab. Überall hängen Dampfwolken. Tränen kullern am Spiegel, an den Fliesen und Fenstern nach unten. Ich warte auf das magische Geräusch und als sich das Garagentor endlich schließt, beginne ich zu zählen, während ihr Wagen die Auffahrt hinunterrollt und losfährt, Richtung Grundschule.
… Als sie die Dosierung der grünen und orangefarbenen Pillen herabsetzten, weil ich so ein supersuperbraves Mädchen war, lichtete sich der Nebel in meinem Kopf allmählich, und mein Hirn schaltete wieder auf Betrieb. Es dauerte eine Weile, sich an das Leben im Jenniferland zu gewöhnen. Zum einen waren ständig Leute da. Jennifer hatte Freunde. Dad lud Kollegen zum Grillen ein. Und Emma überredete die beiden, dass ich auf sie aufpassen durfte, außer an den Tagen, an denen ich Ferienkurse hatte.
Mein Vater (»Fünfzig Kilo, Kleines – du siehst toll aus!«) kaufte mir ein neues Auto (»Drei Jahre alt, 128744Kilometer, aber neue Reifen und sehr sicher.«), damit ich Emma ins Schwimmbad und zum Fußball und zu ihren Freunden fahren konnte. Ich hatte sonst ja auch nichts vor. Cassie hatte mich verstoßen. Meine anderen Freundschaften waren eingeschlafen, ohne dass ich es so richtig mitbekommen hatte. Dad versprach mir einen Haufen gemeinsamer Ausflüge, damit ich mich wieder besser fühlte. Wir würden uns den Sonnenuntergang am Meer anschauen, uns Sinfoniekonzerte anhören, nach Kanada rauffahren, dort einen Kaffee trinken und uns dann gleich wieder auf den Heimweg machen. Es klang alles so überzeugend, dass ich ihm eine ganze Weile glaubte. Aber dann weigerte sich sein Verleger, den Abgabetermin für sein Manuskript erneut zu verschieben, und er musste ein Seminar im Sommersemester übernehmen, und wir fuhren nirgendwohin.
Mein Auto fuhr mich zu einem Sanitätsfachhandel, wo ich mir eine supergenaue Digitalwaage kaufte. Eine, an der sich nichts drehen ließ, nicht so eine wie die Blubber-O-Meter 3000 …
Ich hole die richtige Waage aus ihrem Versteck im Wandschrank und nehme sie mit ins Bad. Zum Wiegen braucht man eine harte Unterlage. Die Telefone klingeln, eins in jedem Zimmer des Hauses, fröhliche Dingeling-Klingeltöne. Der Anrufbeantworter geht ran.
Ich pinkele das überflüssige Wasser aus mir heraus und entkleide mich. Im Stehen bin ich ein Meter fünfundsechzig, kleiner als ein Neuntklässler. Zu dieser Zeit hörten auch meine Tage auf. Ich tue so, als wäre ich ein dicker, gesunder Teenager. Sie tun so, als wären sie meine Eltern. Alles ist gut.
Ich schließe die Augen.
Während ich auf die Waage steige, warnt Jennifer Emma vor Eiscreme.
Während ich auf die Waage steige, hat Emma Angst vor Vanille.
Während ich auf die Waage steige, schlitzt Mom gerade irgendeinen fremden Menschen auf.
Während ich auf die Waage steige, rücken die Schatten näher.
Während ich auf die Waage steige, ist Cassie am Träumen.
Ich öffne die Augen: 44,9Kilo. Ich stehe ganz offiziell auf der Ziellinie. Ziel Nummer eins.
Ha!
Wenn mein Arzt davon wüsste, würde er mich packen wie ein Wrestler und zurück in den Behandlungsring werfen. Es gäbe Diskussionen und Konsequenzen, weil ich (wieder einmal) die Regeln für Lia mit den perfekten Maßen gebrochen hätte.
Ich muss so dick sein, wie sie wollen. Ich muss meine Affirmationen immer wieder aufsagen wie Zauberformeln, die die bösen Stimmen aus meinem Kopf vertreiben. Ich muss mich verpflichten, gesund zu werden, so wie eine Nonne in einem Kloster Körper und Seele verpfändet.
Das sind doch Idioten. Dieser Körper hat einen anderen Stoffwechsel. Er hasst es, die Ketten mit sich herumzuschleppen, die sie ihm anlegen. Beweise? Mit 44,9Kilo kann ich klarer denken, sehe besser aus, fühle mich stärker. Mit Erreichen des nächsten Ziels wird es genauso sein, nur besser.
Ziel Nummer zwei sind 43Kilo, die perfekte Balance. Mit 43Kilo werde ich rein sein. Leicht genug, um erhobenen Hauptes zu gehen, schwer genug, um alle anderen zu täuschen. Mit 43Kilo werde ich stark genug sein, um alles unter Kontrolle zu haben.
Ich stelle mich auf die Spitzenverstärkung, die sich vorn in meinen Satinballettschuhen versteckt, mit an den Waden angenähten rosafarbenen Bändern, so erhebe ich mich in die Luft: Zauberei.
Mit 41Kilo werde ich schweben. Das ist Ziel Nummer drei.
Cassie sieht mir zu, halb versteckt hinter dem Duschvorhang.
»Hör auf damit«, flüstert sie.
014.00
Ich bin wieder spät dran. Ich träume vor mich hin (44,9! 44,9! 44,9! Morgen werden es 44,4 sein!) und bin schon fast zur Tür hinaus, als mir das rote Blinklicht auffällt. Der Anrufbeantworter. Nicht mein Problem. Jennifer wird ihn abhören, wenn sie nach Hause kommt.
Aber was, wenn es Jennifer ist, mit der Bitte, Emma von der Schule abzuholen? Oder mein Vater, der irgendwelche wichtigen Unterlagen vergessen hat? Oder Cassie…
Ach nein, Cassie nicht.
Ich setze meinen Rucksack ab, gehe zurück durch die eingefrorene Küche und drücke auf PLAY.
»Äh, hallo? Ich hoffe, das hier ist die richtige Nummer.«
Eine Männerstimme. Tief. Niemand, den ich kenne.
Ein Husten. »Ich suche jemanden namens Lia. Äh, Lia, falls das die richtige Nummer ist, na ja, oh Mann, falls das nicht die richtige Nummer ist, wirst du die Nachricht ja wohl kaum bekommen. Kannst du bitte im Gateway Motel anrufen oder mal vorbeikommen, wenn du in der Nähe bist? Frag nach Elijah, das bin ich. Ich hab Cassie versprochen, dass ich…«
Der AB schneidet ihm das Wort ab.
Ich ziehe eins von Dads supergroßen T-Shirts an, weil ich nicht mehr aufhören kann zu zittern. Höre mir die Nachricht ein Dutzend Mal an, dann rufe ich bei der Schulkrankenschwester an, um ihr mitzuteilen, dass es mir heute wirklich richtig mies geht und ich gleich einen Notfalltermin bei meinem Psycho habe. Sie verspricht, im Sekretariat Bescheid zu sagen.
Ich schnappe mir die Schlüssel.
015.00
In den Vorgärten, an denen ich vorbeifahre, herrscht Dekorationschaos – in den einen stehen noch die aufblasbaren Truthähne von Thanksgiving, in den anderen schon die Schneemannattrappen, und edle Adventskränze hängen an den Haustüren. An jedem Briefkasten klebt der Hinweis auf ein Kameraüberwachungssystem. Die Wohngegend hier ist nicht so teuer wie die, wo Cassie und ich aufgewachsen sind, aber sie strengt sich mehr an.
Der Wagen steuert auf die Umgehungsstraße zu. Ich weiß, dass ich mich wieder verfahren werde. Ich verfahre mich dauernd. Ich hätte mir zu Hause die Wegbeschreibung ausdrucken sollen.
Wer ist dieser Typ und woher hat er meine Telefonnummer und ist das ein Betrüger und sollte ich vielleicht die Polizei rufen?
Ich drehe die Heizung auf Saunatemperatur. Die erste Ausfahrt führt zu ein paar niedrigen Bürobauten mit halb leeren Parkplätzen. Ich fahre denselben Weg zurück auf die 101. Bei meinem Glück komme ich bei der nächsten Ausfahrt wahrscheinlich am College raus und treffe direkt auf meinen Vater oder auf einen seiner raffinierten Absolventen.
Dritte Abfahrt: River Road. Rechts abbiegen. Kleine Läden tupfen die Häuserfronten: ein Nagelstudio, ein extrabilliger Billigladen, Imbiss, Matratzengeschäft, Karateschule, Möbelverleih. Im Waschsalon steht ein kleiner Junge, dem ein Fläschchen aus dem Mund hängt, auf einem Stuhl und presst beide Hände an die Fensterscheibe. Als er lächelt, fällt die Flasche zu Boden. Hinter ihm stopft eine Frau Wäsche aus einem schwarzen Müllbeutel in eine der Maschinen.
Ich rolle aus der Ödnis hinaus, vorbei an ein paar verkrüppelten Zedern und einer mit Brettern vernagelten Kirche. Ein paar Kilometer weiter – Blinker setzen, Blick in den Rückspiegel – biege ich links auf das Gelände des Gateway Motels ein. Parkplätze gibt es massenhaft.
Das Gebäude erinnert mich an Emmas Schuhkarton-Diorama. Alle paar Meter sind Löcher reingeschnitten: fette für Fenster, dünne für Türen. Wegen der lecken Dachrinnen sind die abblätternden Stuckwände mit Rostflecken übersät. Das Büro liegt am anderen Ende des Parkplatzes, wo ein rotes Neonschild im Fenster blinkt: ZIMMER F EI.
Ich steige aus, schließe das Auto ab und laufe hinüber, wobei ich einen großen Bogen um den halb gerupften Kadaver eines Vogels mache.
016.00
Im Büro ist es genauso kalt wie draußen. Im Anmeldetresen klafft ein stiefelgroßes Loch. Dahinter sitzt ein alter Mann mit Brille, der seine Glatze mit ein paar quer gekämmten Strähnen schlecht kaschiert hat, und liest Zeitung. Der Minifernseher, der an der Wand hängt, läuft mit flackerndem Bild und ohne Ton. Über einem Regal, auf dem ein paar ausgeblichene Touristenprospekte über den Canobie-Lake-Park, die Robert-Frost-Farm und das Schneemobilmuseum von New Hampshire ausliegen, ist ein zerkratzter Münzfernsprecher angebracht. Auf der einen Tür steht PRIVAT, auf der anderen TOILETTE – NUR FÜR GÄSTE.
Ich habe hier nichts verloren. Ich sollte im Unterricht sitzen, Trigonometrie. Nein, Geschichte. Ich sollte wieder ins Auto steigen und zur Schule fahren, an Zebrastreifen die Geschwindigkeit drosseln und an gelben Ampeln anhalten. Mich an all die aufgestellten Schilder mit den Geschwindigkeitsbegrenzungen halten.
»Ja?« Der Mann blickt zu mir auf und blinzelt. »Willst du ein Zimmer?«
Ich schüttele den Kopf. »Nein, Sir.«
»Na, was dann?« Seine Stimme trieft vor Teer. »Kommst du, um zu sehen, wo sie gestorben ist?« Es ist nicht die Stimme auf dem AB.
Ich nicke unmerklich.
»Einmal gaffen macht zehn Mäuse.« Er hält die Hand auf und schnippt die Finger Richtung Handfläche.
Ich öffne meinen Geldbeutel. »Ich hab nur fünf.«
»Passt auch.« Kaum hab ich ihm den Schein gegeben, brüllt er: »Eliiii-jah!«
Die Tür zur Toilette öffnet sich. Der Typ, der herauskommt, wirkt ein paar Jahre älter als ich und ist bestimmt dreißig Zentimeter größer, mit dickem schwarzem Haar, das ihm bis zu den Schultern geht. Seine Haut ist weiß wie Zucker, und unter einem dünnen Bart graben sich Krater in sein Gesicht wie auf einem Lavafeld. Er trägt Stiefel mit Stahlkappen, eine schlabberige schwarze Arbeitshose und ein Footballteam-Sweatshirt, das am Kragen gerissen ist. Seine Augen haben die Farbe von Rauch und sind dick mit Eyeliner umrandet. Ein brauner Stecker aus Holz füllt sein gesamtes linkes Ohrläppchen aus.
Er schwenkt den blitzenden Schraubenschlüssel in seiner Hand und grinst. »Ihr habt nach mir gerufen, Eure Schleimigkeit?«
Das ist die Stimme.
»Sie will es sehen«, sagt der Ältere, während er sich mein Geld in die Tasche steckt. »Zeig’s ihr.«
Sein Übermut schwindet und das Lächeln erstirbt. Er legt den Schraubenschlüssel auf den Tresen und murmelt: »Komm mit.«
Als ich gehe, ruft der Alte mir nach: »Wehe, du klaust was! Das ist alles Eigentum des Motels!«
Wir laufen an Metalltüren vorbei: 103, 105, 107. Bei 109 fehlt der Türknauf. Auf 111 ist ein schwarzer Schriftzug gesprüht, aber ich kann nicht entziffern, was da steht.
Vor dem Zimmer mit der Nummer113 bleibt der Typ so abrupt stehen, dass ich gegen seinen Rücken knalle.
»’tschuldigung.«
»Kein Problem.« Kopfschüttelnd macht er einen schweren Schlüsselbund von seinem Gürtel los. »Bist du wegen einer Wette hier?«
»Wie bitte?«
»Vor einer Stunde kam einer…« Sein Blick ist auf die Hände gerichtet, die immer noch nach dem richtigen Schlüssel suchen. »Seine Freunde hatten gewettet, dass er sich nicht traut.«
Er hält einen der Schlüssel zwischen Daumen und Zeigefinger fest und lässt die anderen im Bund nach unten gleiten. »Er wollte gucken, ob irgendwo Blut zu sehen ist.«
Braune Blätter huschen an uns vorbei. Der Wind bläst mir die Haare ins Gesicht, ich streiche sie mir hinter die Ohren. »Warst du hier?«
Er steckt den Schlüssel ins Schloss, mit dem Rücken zu mir. Seine Stimme ist tonlos wie die eines Museumsführers. »Ich hatte an dem Abend frei. Hab in einer Kneipe in der Stadt Basketball geguckt und bin dann zu einem Kumpel zum Pokern. Achtzig Mäuse gewonnen. Dadurch hatt’ ich ein Superalibi.«
Die Tür quietscht, als er sie aufstößt. »Haben sie schon rausgefunden, woran sie gestorben ist?«
Ich schüttele den Kopf. »Ich glaube nicht.«
Wieder ein Windstoß. »Hoffentlich ging’s schnell.«
Der Raum hinter ihm ist voll mit Finsternis. Ich erschauere. Dies ist die letzte Tür, durch die Cassie gegangen ist. Sie ging lebend hinein und kam tot wieder raus.
Ich hätte nicht herkommen sollen.
»Hast du auch einen Namen?«, fragt er.
»Was, ich?« Ich zittere so heftig, dass meine Zähne klappern. Ich kenne diesen Typ nicht und ich habe keine Ahnung, warum er mit mir sprechen will. »Ja, ähm, ich heiße Emma. Und du?«
»Elijah.«
Ich schlinge beide Arme um mich. »War sie durcheinander, als sie eincheckte?«
Er schüttelt den Kopf. »Ich hab sie erst zu Gesicht bekommen, als es zu spät war. Ich wohne in der Nummer115. Als ich nach dem Pokern nach Hause kam, sah ich, dass die Tür offen stand und das Licht brannte. Ich hab sie gefunden.«
Ich wende mich schnell von ihm ab und kneife die Augen zu. Jede Stelle meines Körpers tut mir weh, wie bei einer Grippe oder als hätte die aus Zimmer113 ausströmende Luft mich irgendwie infiziert. Mein Herz hämmert gegen seinen knöchernen Käfig, wieder und wieder, und Blut sickert nach unten bis zu den Ritzen im Boden.
»Ich hab ihren Puls kontrolliert«, fährt er fort. »Und den Rettungsdienst angerufen.«
»Hör auf«, flüstere ich.
Er käut für mich zum x-ten Mal seine Geschichte wieder, wie für jeden zahlenden Kunden, der sich am Schicksal der toten Blondine weidet. Hereinspaziert zur Freakshow, Sie können gern mit dem Handy filmen, stellen Sie das Blut ins Netz. Genießen Sie, wie sich die Drahtschlinge in Ihnen zuzieht, bis Ihnen der Atem stockt.
Ich schlage die Augen auf und drehe mich wieder um. Er ist dort drin, in den Schatten, und streckt die Hand nach der Lampe auf der Frisierkommode aus.
»Ich sagte, hör auf«, wiederhole ich laut. »Ich will nichts mehr sehen.« Ich mache mich mit zitternden Beinen davon. »Ich muss jetzt gehen.«
»He!«, ruft er mir hinterher. »Komm zurück!«
Ich summe vor mich hin, um seine Stimme zu übertönen.
»He, warte!«, schreit er. »Kennst du ein Mädchen namens Lia?«
Ich bleibe stehen, die Hand schon an der Wagentür. »Wie bitte?«
Er sprintet zu mir herüber und bleibt ein paar Schritte vor dem toten Vogel stehen. »Ich suche nach jemandem namens Lia. Sie könnte auf deine Schule gehen.«
»Warum?«
Er verschränkt die Arme vor seiner Brust und erschauert. Der Wind hat gedreht und weht nun nach Norden. »Ich muss sie halt finden.«
Die Vogelflügel flattern, Knochen rasseln wie Würfel.
»Tut mir leid«, sage ich. »Nie gehört.«
017.00
Das Kino ist leer, nur ich in der letzten Reihe und weiter vorn drei Kindermädchen Mütter mit verschwitzten Kindern. Das Licht des Projektors fängt eine durch die Luft wirbelnde Galaxie aus Hautschuppen und Popcornspelzen ein. Auf der Leinwand kämpfen Cartoonfiguren, die ihre Gestalt wechseln können, gegen Bösewichte. Eine zweitklassige Manga-Matinee.
Ich greife in die Tüte aus dem Drogeriemarkt.
Zwei Kindermädchen Mütter unterhalten sich, während die dritte lautstark in ihr Handy schimpft. Die Kinder hüpfen wie wild auf ihren Sitzen auf und ab. Über ihnen zerstören die Robotermonster gerade ein Dorf. Die großäugigen Helden verwandeln sich in Fuchsmenschen, die mit den Pfoten schießen.
Ich hole die Packung Rasierklingen raus.
::dumm/hässlich/dumm/Schlampe/dumm/fett/
dumm/Baby/dumm/Loser/dumm/verloren::
Ein lila Robotermonster schleudert einen riesigen Lastwagen nach einem Fuchsjungen. Die Lautsprecher vibrieren mit Donnerhall, als der Laster zu Boden kracht. Die Kinder im Zuschauerraum sehen nicht mal hin, sondern kloppen sich um Popcorn und Süßigkeiten und jammern, sie müssten mal aufs Klo.
Die Schachtel geht auf und Klingen gleiten heraus, ein süßes Flüstern.
Früher war mein ganzer Körper meine Leinwand – brennende Schnitte, die wie Flammen an meinen Rippen leckten, Leitersprossen, die meine Arme emporkletterten, dicke Stängel von Unkraut, die um meine Schenkel wucherten. Als ich ins Jenniferland zog, stellte mein Vater eine Bedingung. Eine Tochter, die vergisst, wie man isst, war zwar schlimm, aber das war eben eine Phase, und die hatte ich überwunden. Aber eine Tochter, die ihre Hauthülle öffnet, die ihren Panzer abwirft, damit sie tanzen kann? Das war schlicht und ergreifend krank.
Kein Ritzen, Lia Marrigan Overbrook. Nicht unter meinem Dach. Schluss, aus, Ende.
Vertragsbruch.
Auf der großen Leinwand verwandeln die Fuchshelden ihre Augen in Blitze. Sie beißen die Zähne zusammen und zucken, wenn die Monster sie an den Berg schleudern, aber jedes, jedes Mal stehen sie wieder auf, rücken ihre roten Halstücher zurecht und lachen.
All die Schlechtheit kocht mir unter der Haut wie prickelnde Gingeralebläschen, die an die Luft wollen. Ich öffne meine Jeans, ziehe den Reißverschluss Zahn um Zahn weiter herunter. Drehe mich auf die rechte Seite und ziehe den Gummizug meines Slips nach unten. Meine linke Hüfte wölbt sich nach oben, blau schimmernd im Kinolicht.
::dumm/hässlich/dumm/Schlampe/dumm/fett/
dumm/Baby/dumm/Loser/dumm/verloren::
Ich ritze dreimal in meine Haut, drei zarte Linien untereinander: Sei still, sei still, sei still. Geister tröpfeln heraus.
Die Verwandlungskünstler schnallen sich Flugdüsen auf den Rücken und folgen den Monstern auf einen Asteroiden. Eines der Kindermädchen Eine der Mütter schleift das Kind, das pinkeln muss, ins Foyer hinaus.
Ich lege die Klinge zurück in die Schachtel und die Schachtel zurück in die Tüte und presse meine Hand auf die feuchten Schnitte, bis der Abspann läuft. Kurz bevor das Licht angeht, stecke ich mir die Finger in den Mund.
Ich schmecke metallisch, wie dreckiges Kleingeld.
018.00
Nach einem albtraumhaften Tag bringt mich der Wagen fort vom Kino, dem Drogeriemarkt und jenem Motel, das Mädchen zu kleinen Häppchen zermalmt. Wir rollen zurück auf den Highway und die Hügel hinauf, erklimmen unsere Siedlung, zurück zum Haus meines Vaters, das in den Wolken liegt.
Alle drei haben sich um den Esstisch versammelt, die Kerzen tanzen zur Cembalomusik, die aus den Boxen wabert. Die Luft ist feucht vom Essensgeruch – Truthahnreste, stinkender Rosenkohl, Salat, Vollkornbrötchen, mit Käse überbackene Kartoffeln, Emmas Leibgericht. Ein Familienessen zur Erinnerung, dass wir eine Familie sind. Wir sind keine Realityshow (noch nicht) oder Fremde, die sich ein Haus teilen und hinterher die Rechnung. Wir sind kein Motel.
Gegenüber von Emma ist ein leerer Platz – Teller, Papierserviette, Besteck aus rostfreiem Edelstahl. Als meine Eltern sich trennten, bekam Mom das Tafelsilber. Das von Oma Marrigan, die immer sagte, dass Essen mit Billigbesteck nach Blech schmeckt. Sie hatte Recht.
Dad blickt auf, an seiner Gabel baumelt ein Stück Truthahn. »Du bist spät dran, Kleine. Setz dich doch.«
»Ich bin länger geblieben, um noch an einem Projekt zu arbeiten. Darf ich oben essen? Ich ertrinke in Hausaufgaben.«
Emma hüpft auf ihrem Stuhl auf und ab. »Ich hab die Kartoffeln gemacht, Lia. Fast ganz allein!«
Jennifer nickt. »Bitte, Lia. Es ist schon eine ganze Weile her, dass wir schön gemeinsam gegessen haben.«
Mein Magen zieht sich zusammen. Dort drinnen ist für all das kein Platz.
»Ich hab den Sparschäler benutzt und ein Messer!« Emma grinst so breit, dass die Glastropfen, die vom Kronleuchter herabhängen, vibrieren. »Und Mom hat die ganzen Kartoffeln in Scheiben geschnitten.«
»Toll.« Ich ziehe meinen Stuhl hervor und setze mich. »Wenn du sie gemacht hast, müssen sie lecker sein.«
Dad schluckt und zwinkert mir zu.
»Kann ich den Salat haben?«, frage ich.
Er reicht mir die Kasserolle mit Bratensaft und Truthahnresten. Ich brauche beide Hände, um sie zu halten, weil sie mehr wiegt als alles andere auf dem Tisch, plus der Tisch selbst, plus der Kronleuchter und die Vitrine für Emmas Glasfigürchen, eine Spezialanfertigung.
Ich stelle die Kasserolle neben meinen Teller. Schließe das Dad-Emma-Jennifer-Trio in meiner Hand ein, als ich nach der Gabel greife. Ich ziehe eine superfettige Scheibe Bratenfleisch mit blutigem Sud (250) heraus und lasse sie auf meinen Teller fallen. Flatsch!
Ich halte Jennifer die Kasserolle hin. »Willst du noch ein Stück?«
Sie stellt sie in die Mitte des Tisches zurück und lenkt das Gespräch wieder auf Emmas Schwierigkeiten beim schriftlichen Teilen.
Dad versucht gar nicht erst zu verbergen, dass er auf meinen Teller starrt.
Ich nehme mir ein ganzes Weizenbrötchen (96) aus dem Korb und zwei Stück in Butter geschwenkten Rosenkohl (35), obwohl ich Rosenkohl hasse. Im Jenniferland bin ich ein gutes Vorbild und muss mindestens zwei Bissen von allem nehmen.
Ich platziere das Brötchen auf den Tellerrand, die Rosenkohlröschen rechts oben und rechts unten, schön symmetrisch. Danach stehe ich auf, um an die Käsekartoffeln heranzukommen, und klatsche mir einen ekelhaften Löffel voll orangefarbener Pampe (70) neben den Truthahn.
Nur weil ich mir etwas auf den Teller tue, muss ich es noch lange nicht herunterschlucken. Ich bin stark genug, um durchzuhalten die Kartoffeln duften köstlich, bleib stark, leer, leer die Kartoffeln duften stark/leer/stark/atme/tu so, als ob/mach weiter.
Den Rest des Tellers fülle ich mit Salat auf, nehme mir extraviele Pilze und lasse die Oliven in der Schüssel. Fünf Pilze = 20. Iss fünf Zauberpilze und trink dazu ein großes Glas Wasser, dann quellen sie in deinem Bauch auf wie nebelgraue Schwämme.
Stark/leer/stark.
Jennifer fragt Emma, was achtundvierzig durch acht ist. Emma beißt in ihr Brötchen. Dad nickt mit einem anerkennenden Blick auf meinen Teller und sagt, dass er Emma nach dem Nachtisch abfragen wird. »Sogar Geschichtsprofessoren müssen wissen, wie man multipliziert und dividiert, Emmalein.«
Ich lege mir die Serviette auf den Schoß, dann schneide ich den Truthahn in zwei Teile, dann in vier, dann in acht, dann in sechzehn weiße Häppchen. Die Rosenkohlröschen werden geviertelt. Ich kratze den Käse von einer dünnen Kartoffelscheibe – die mich nicht umbringen wird, Kartoffeln sind selten eine Todesursache–, schiebe sie mir in den Mund und kaue, kaue, kaue, während ich über die ellenlange Tischdecke lächele. Dad und Jennifer betrachten das Arrangement auf meinem Teller, sagen aber nichts dazu. Kurz nach meinem Einzug hätte das hier als »gestörtes Verhalten« gegolten, Jennifers Stimme wäre schrill geworden und Dad hätte begonnen, an seinem Ehering zu drehen. Inzwischen fällt so etwas unter die Kategorie »Keinen Streit wert, immerhin sitzt sie am Tisch und isst mit uns, und ihr Gewicht ist noch nicht im kritischen Bereich«.
Ich lasse die linke Hand auf meinen Schoß sinken, schiebe sie unter die Serviette und in den Hosenbund, wo ich die drei schorfigen Zeilen fühle, gerade Linien, wirklich vorhanden.
Bei jedem Bissen drücke ich meine Finger in die Schnittwunden.
»Das hast du toll gemacht, Emma!«, lobe ich sie. »Die Kartoffeln sind unglaublich.«
Während sich Dad über einen Professor aus Chicago beschwert, der soeben haargenau dasselbe Buch veröffentlicht hat wie das, an dem er gerade schreibt, schiebe ich das Essen auf dem Teller immer ein Stückchen weiter im Kreis herum und quetsche es mit der Gabel, bis der Bratensaft zwischen den Zinken hervorquillt.
Jennifer stellt Emma die Aufgabe, hunderteinundzwanzig durch elf zu teilen. Emma kann es nicht.
Ich kaue jeden Bissen zehn Mal, ehe ich ihn hinunterschlucke. Fleisch in den Mund, zehn Mal kauen, Salat in den Mund, kauen, kauen, kauen, kauen, kauen, kauen, kauen, kauen, kauen, kauen, matschiger Rosenkohl, Pilzhut, kauen, kauen, kauen. Ich trinke die Milch in kleinen Schlucken, bekomme eine weiße Oberlippe und bin der Beweis dafür, dass es uns allen richtig gut geht.
»Kriegst du heraus, was hundert durch zehn ist?«, fragt Jennifer.
Eine Träne rollt Emmas Wange hinunter und landet mit einem Platsch! auf ihren Käsekartoffeln.
Dad unterbricht sein Geschimpfe und wiegelt ab. »Kein Grund zu weinen, Emma. Lia hat auch ackern müssen, bis sie sich alles merken konnte, aber irgendwann hat es dann geklappt.«
Mein Stichwort. »Weißt du, was meine Rettung war?«, frage ich. »Der Taschenrechner. Solange man einen Taschenrechner hat, ist alles okay. Glaub mir, wegen Mathe zu heulen, ist die Sache nicht wert.«
Jennifer wirft mir einen schnellen Stiefblick zu, schärfer als sonst, dann gießt sie sich noch ein Glas Wasser ein. »Hast du heute nicht einen Test geschrieben?«
Ich spieße die dünnste Kartoffelscheibe auf. »In Physik? Der Lehrer hat ihn verschoben. Keiner hat die Lichtgeschwindigkeit kapiert. Was macht die Migräne?«
»Es ist, als hätte man eine trampelnde Rinderherde im Kopf.«
»Aua«, sage ich.
Emma versucht, ein Rosenkohlröschen mit ihrer Gabel zu zerteilen, aber es springt ihr vom Teller und kommt über den Tisch auf mich zugekullert. Jennifer zuckt zusammen, als die Gabel kreischend über den Teller schrappt. Ich rolle den ausgebüxten Rosenkohl wieder zu Emma zurück, die ihn kichernd einfängt und sich mit dem Ärmel über die Augen fährt.
Jennifer greift hinüber, um Emma den Rosenkohl aus der Hand zu nehmen, wobei sie das Milchglas umstößt. Emma zuckt zusammen, als die Milch ihren Teller überflutet, dann die Tischdecke durchweicht und auf den neuen Teppich zu tropfen beginnt.
Das Telefon klingelt. Jennifer vergräbt ihr Gesicht in den Händen.
Dad steht auf. »Lass den AB rangehen«, sagt er. »Ich mach die Schweinerei hier weg.«
Jennifer atmet tief durch und geht Richtung Küche. »Ich hasse Leute, die erst mal warten, wer anruft. Ich geh schon ran.«
Dad wischt die Pfütze auf, klopft Emma auf den Rücken und sagt, es sei ja nur ein Glas Milch. Ich fege mein Brötchen und die Hälfte vom Fleisch in die Serviette, falte sie zusammen und lege sie mir auf den Schoß.
Jennifer kommt mit einem Mund zurück, der an einen Knoten erinnert, und hält Dad das Telefon hin. »Sie.«
Jennifer war nicht der Grund für die Scheidung meiner Eltern. Der Grund hieß Amber und davor Whitney und davor Jill und all die anderen. Als Mom ihn schließlich rauswarf, ging Dad zu einer anderen Bank, um ein neues Girokonto zu eröffnen. Jennifer arbeitete dort. Er war so verknallt, dass er eine Woche lang jeden Tag wieder dort hinging und sich dusselige Fragen über Hypotheken und Altersvorsorge ausdachte. Die beiden waren bereits verheiratet, bevor ich mich an die Tatsache gewöhnt hatte, dass meine Eltern sich wirklich hatten scheiden lassen.
Dad greift nach dem Telefon. »Hallo? Sekunde mal… Chloe, ich höre dich gut…«
Jennifer runzelt die Stirn und schüttelt den Kopf.
Dad versteht den Wink. »Wir essen gerade«, sagt er, während er hinausgeht und das Telefon ein paar Zentimeter von seinem Ohr weghält. »Ja, wir alle zusammen. Sie kommt gut damit klar.«
Als er den Flur entlangläuft, hört die Musik auf. Der Player klickt zweimal kurz hintereinander und wechselt die CD: Tschaikowsky, Schwanensee. Und Jennifer sagt Emma, sie soll sich die Käsesoße vom Gesicht wischen.
019.00
Eine halbe Stunde später öffnet Dad die Haustür und lässt Mom herein. Ihre Stimme in der Diele fesselt mich wie mit Dornenranken an meinen Stuhl. Zum letzten Mal habe ich sie am 31. August gesehen, am Tag, an dem ich achtzehn wurde.
Sie darf mich nicht so sehen stark/leer/stark.
Die Trennung von meiner Mutter ist eine Geschichte, die schon Millionen Mal zuvor erzählt wurde: Ein Mädchen kommt zur Welt, lernt sprechen und laufen, spricht Wörter falsch aus und fällt hin. Immer und immer wieder. Mädchen vergisst zu essen, kommt mit der Pubertät nicht klar, Mutter wäscht ihre Hände in Unschuld, schrubbt sie mit Desinfektionsmittel und einer Bürste volle drei Minuten lang und zieht sich dann die Handschuhe über, ehe sie das Mädchen den Experten übergibt mit der Aufforderung, nach Gutdünken zu experimentieren. Irgendwann entlässt man es wieder, Mädchen rebelliert.
Mom betritt das Esszimmer und im nächsten Moment ist Jennifer – puff! – verschwunden. Für sie ist es ein Verstoß gegen die Naturgesetze, sich im selben Zimmer aufzuhalten wie die erste Ehefrau.
»Nächtliche Hausbesuche?«, fragt Dad.
Mom beachtet ihn gar nicht und kommt auf mich zu. Sie küsst mich auf die Wange und weicht dann wieder zurück, um mich mit ihrem Röntgen/MRT/CT-Blick zu mustern. »Wie fühlst du dich?«
»Super«, sage ich.
»Ich hab dich vermisst.« Sie küsst mich noch mal, mit kühlen, rissigen Lippen. Als sie auf Jennifers Stuhl Platz nimmt, zuckt sie zusammen. Bei Wetterumschwüngen hat sie immer Schmerzen in den Knien.
»Müde siehst du aus«, sagt sie.
»Das sagst ausgerechnet du«, erwidere ich.
Dr.Chloe Marrigan trägt ihre Müdigkeit wie eine Rüstung. Um die Beste zu sein, muss man jederzeit alles geben und noch etwas mehr: Hundert-Stunden-Woche, erdrückende Patientenzahlen, Wunder vollbringen, wie andere Leute Burger braten. Aber heute Abend sieht sie noch schlechter aus als sonst. Ich kann mich nicht erinnern, diese Falten um ihren Mund schon mal gesehen zu haben. Ihr maisgelbes Haar ist zu einem Zopf gebändigt, aber ein paar einzelne Silbersträhnen blitzen im Kerzenschein auf. Ihre Gesichtshaut war früher straff gespannt wie eine Trommel. Jetzt hängt sie am Hals ein wenig herunter.
Dad versucht es wieder mit Small Talk. »War es ein Notfall?«
Sie nickt. »Fünffacher Bypass. Der Kerl war in einem furchtbaren Zustand.«
»Kommt er durch?«, erkundigt sich Dad.
Sie legt ihren Piepser neben Jennifers benutzte Gabel. »Eher unwahrscheinlich.« Sie mustert die drei übrig gebliebenen Truthahnhäppchen auf meinem Teller und die Brotkrümel, die ich daneben verteilt habe. »Lia sieht blass aus. Hat sie gegessen?«
»Natürlich«, sagt Dad.
Sie hat nur sieben Sätze gebraucht, um mir auf die Nerven zu gehen. Das ist olympiareif. Ich klappe den Mund zu, stehe auf, nehme meinen Teller und den meines Vaters und verlasse den Raum.
Jennifer und Emma sitzen am Küchentisch, zwischen sich einen Stapel Lernkarten zum Dividieren, damit das Abfragen weitergehen kann. Ich belade die Spülmaschine so langsam wie möglich und verrate Emma die Lösungen, indem ich hinter Jennifers Rücken Zahlen in die Luft male.
Dad ruft mich aus dem Esszimmer. »Lia, komm bitte wieder herein!«
»Viel Glück«, murmelt Jennifer, als ich hinausgehe.
»Danke.«
Ich lege Emmas Besteck auf den Teller, aber Dad sagt: »Lass das Geschirr, wir müssen reden.«
Reden = brüllen + schimpfen + streiten + fordern.
Dr.Marrigan schiebt die Ärmel ihres grünen Seidenrollkragenpullovers nach oben. Ihre Fingernägel sind kurz und unlackiert, die magischen Finger, die an der Hand sitzen, die mit dem Unterarm verbunden ist, der mit stählernen Muskeln und Sehnen zu den Schultern führt, zum Hals, zum hyperaktiven Gehirn. Ihre Fingerspitzen trommeln auf den Tisch. »Setz dich bitte«, sagt sie.
Ich setze mich.
Dad: Deine Mutter ist besorgt.
Mom: Mehr als besorgt.
Lia: Warum?
Dad: Ich hab ihr erzählt, dass bei dir alles in Ordnung ist, seit wir’s erfahren haben.
Lia: Dad hat Recht.
Mom, deren Rücken nicht die Lehne berührt: Ich befürchte, dass Cassies Tod bei dir etwas auslösen könnte. Aus der Fachliteratur geht hervor…
Lia: Ich bin keine Laborratte.
Mom betrachtet eingehend den leeren Bildschirm ihres Piepsers und hofft, dass er Alarm schlägt.
Lia: Wir hatten schon seit Monaten keinen Kontakt mehr.
Mom: Ihr wart neun Jahre lang die besten Freundinnen. Das ist nicht einfach so zu Ende, nur weil man ein paar Monate nicht miteinander redet.
Lia starrt einen Fleck auf der Tischdecke an.
Dad: Weißt du, wie sie gestorben ist?
Mom, die sich ein Brötchen aus dem Korb nimmt: Cindy meldet sich, wenn der Autopsiebericht vorliegt. Ich hab angeboten, ihn mit ihr zu besprechen.
Dad: Ich wette, es kommt raus, dass Drogen mit im Spiel waren.