Mom: Vielleicht, aber darum geht es nicht. Es geht um Lia.
Emma kommt herein, um Gute Nacht zu sagen, ihre Augen sind verquollen. Dad küsst sie; Dr.Marrigan schenkt ihr ein klinisches Lächeln. Ich ziehe Emma dicht an mich heran und flüstere ihr zu, dass das schriftliche Teilen ein blöder Kackarsch ist. Sie kichert und drückt mich ganz fest, dann rennt sie nach oben, um ihr Bad zu nehmen. Jennifer hat mir und Dr.Marrigan den Rücken zugewandt und fragt ihren Ehemann nach irgendwelchen albernen Dingen wie der Müllabfuhr morgen und seinen Socken im Wäschetrockner, unwichtiger Haushaltskram, der Ehefrau-Nummer-Eins daran erinnern soll, wer hier den Ring mit dem Diamanten trägt.
Ich fege die Krümel von der Tischdecke in meine Hand. An Drogen ist Cassie bestimmt nicht gestorben, es sei denn, es waren ein paar Packungen Schmerztabletten. Oder sie hat Wodka getrunken, bis sie ins Koma fiel. Oder sie hat zu tief geritzt. Oder vielleicht hat ein anderer sie umgebracht, irgendein mieser Typ, der sie verfolgte, ihr das Portmonee klaute und ihr Konto leer geräumt hat.
Nein, das hätte sicher in der Zeitung gestanden.
Ich hätte Elijah fragen sollen, was er gesehen hat, was die Polizei tatsächlich gesagt hat. Ich hätte ihm meinen Namen sagen sollen. Oder besser doch nicht. Eigentlich weiß ich ja gar nichts über ihn. Was, wenn das mit seinem Alibi gelogen war? Wenn die Polizei ihn für verdächtig hält? Und was für Typen wohnen überhaupt in gruseligen Motels? Vielleicht war er nur eine Ausgeburt meiner Fantasie. Der ganze Tag könnte ein Wachtraum gewesen sein, den ich mir zurechtgesponnen habe, weil das Eingeständnis, einen ganzen Tag im Bett verbracht zu haben, einfach zu erbärmlich gewesen wäre.
Eher unwahrscheinlich.
Puff! Jennifer ist wieder verschwunden.
Mom, die sich ein Mehrkornbrötchen aus dem Korb nimmt: Ich kann nicht mit zur Totenwache, weil ich Dienst habe. Gehst du?
Dad: Macht vielleicht einen komischen Eindruck. Ich habe seit Jahren nicht mehr mit ihnen gesprochen.
Lia: Ich gehe hin.
Mom: Auf gar keinen Fall. Du bist labil. Ich werde am Samstag unser Beileid bekunden, wenn wir auf der Beerdigung sind.
Lia: Aber du hast doch gerade so ein Theater darum gemacht, wie lange Cassie und ich befreundet waren.
Dad: Deine Mutter hat Recht. Das nimmt dich zu sehr mit.
Lia: Es nimmt mich doch auch jetzt nicht mit.
Mom: Das glaube ich dir nicht. Ich möchte, dass du öfter zu Dr.Parker gehst. Mindestens einmal die Woche, wenn nicht öfter.
Lia, leise: Nein, das ist Zeit- und Geldverschwendung.
Dad: Wie meinst du das?
Lia: Dr.Parker zieht meine Therapie in die Länge, damit sie weiter abkassieren kann.
Mom, die Körner aus dem Brötchen herauspopelt: Du verdankst ihr dein Leben.
Lia, die an Stellen blutet, die sie nicht sehen können: Übertreib doch nicht so.
Mom, krümelnd: Sie verfällt wieder ins Leugnen, David. Wieso lässt du das zu? Du unterstützt sie nicht beim Gesundwerden, du machst alles zunichte.
Dad: Was redest du da? Wir unterstützen sie hundertprozentig, nicht wahr, Lia?
Mom, mit Ätzblick: Ihr verhätschelt sie, du lässt sie machen, was sie will.
Dad, lauter: Hast du gerade gesagt, dass wir sie verhätscheln?
Sie gehen zum Angriff über, ein vertrauter Tanz, dessen Schrittfolge sich ins Gedächtnis ihrer Muskeln eingebrannt hat. Ich ziehe eine Kerze dicht an mich heran und drücke das weiche Wachs oben am Rand in die Flamme.
Meine Eltern lernten sich auf einer Feier zur Sommersonnenwende kennen, an einem See in den Bergen. Dad war gerade dabei, seinen Doktor zu beenden, und kannte den Besitzer der Berghütte. Mom hatte einen ihrer seltenen freien Abende zwischen ihrer Praktikums- und Assistenzzeit im Krankenhaus. Sie und ihre Freunde wollten eigentlich auf eine andere Party und hatten sich verlaufen.
Als ich noch ein richtiges Mädchen war, kuschelten sie immer mit mir auf dem Sofa und erzählten mir dabei die Märchenversion davon, wie sie sich ineinander verliebten:
Es war einmal ein Gitarrenspieler. Oft saß er am Ufer eines violetten Sees, der so tief war, dass er keinen Grund hatte, und spielte und sang. Eines Tages erblickte er dort eine Dame. Sie hatte langes, goldenes Haar und lief barfuß durch den Sand. Die Dame hörte das süße Lied des Mannes. Es war Schicksal, dass ihre Wege sich kreuzten.
In einem Kanu paddelten sie bis zur Mitte des Sees und lachten. Der Mond sah, wie hübsch und verliebt sie waren, und schenkte ihnen ein Baby, nur für sie allein. Genau in diesem Moment bekam das Kanu plötzlich ein Leck und begann zu sinken. Die beiden mussten paddeln und paddeln und paddeln, und sie erreichten das Ufer gerade noch rechtzeitig.
Sie nannten das Baby Lia, und so lebten sie glücklich bis an ihr Lebensende.
Die Haut meines Daumens verharrt auf dem Scheitelpunkt zwischen Unversehrtheit und Flamme.
Die wahre Geschichte ist unpoetisch. Mom wurde schwanger. Dad heiratete sie. Als ich geboren wurde, konnten die beiden sich nicht ausstehen. Sie waren Zufallsgötter, die sich an einem weinroten See gepaart hatten. Sie hätten mich in einen Fisch oder eine Blume verwandeln sollen, als sie es noch konnten.
Mom: Sie sieht furchtbar aus. Ich möchte, dass sie bis zur Abschlussprüfung wieder zu mir zieht.
Dad, die Serviette auf den Tisch werfend: Herrgott noch mal, Chloe…
Die beiden werden bis in alle Ewigkeit streiten.
Ich blase die Kerze aus.
Emma hört mich die Treppe raufkommen und fragt, ob ich einen Film mit ihr sehen will. Ich klebe Pflaster auf meine nässenden Schnittwunden, ziehe mir einen rosafarbenen Pyjama an, damit wir zusammenpassen, und kuschele mich zu ihr unter die Regenbogendecke. Sie verteilt alle ihre Stofftiere in einem Kreis um uns, dann drückt sie auf PLAY.
Als sie einschläft, zappe ich durch die Kanäle.
Dr.Marrigan geht eine Stunde später, ohne sich die Mühe zu machen heraufzukommen, um Gute Nacht zu wünschen oder zur Kenntnis zu nehmen, dass ich die meisten meiner Umzugskartons noch nicht ausgepackt habe und was für eine gute Fastschwester ich sein kann. Mit einem gedämpften Wums!, dessen Druckwelle sämtliche Fenster erzittern lässt, fällt die Haustür zu. Professor Overbrook legt den Riegel vor und schaltet die Alarmanlage ein. Ich knipse die Prinzessinnenlampe neben dem Bett aus. Emma atmet durch den weit geöffneten Mund.
Geister trauen sich hier nicht herein. Mit dem Kopf auf einem zerlumpten Elefanten sinke ich in den Schlaf.
020.00
»Wach schon auf, Lia!«, brüllt Emma mir ins Ohr. »Du kommst zu spät! Du kriegst bestimmt Ärger.«
Ich liege unter Emmas gebatikter Steppdecke mit dem Kopf auf dem Elefanten. Ihr Zimmer riecht nach Wäschetrocknerlaken und Katzen.
»Nicht wieder einschlafen!«
»Welcher Tag ist heute?«, frage ich.
»Das weißt du doch!«, sagt sie.
Heute ist Totenwachenmittwoch.
In Geschichte hören wir einen Vortrag über Genozid und kriegen zum Abschluss eine zehnminütige Diashow mit Bildern polnischer Kinder gezeigt, getötet von den Deutschen im Zweiten Weltkrieg. Ein paar Mädchen weinen, und die Typen, die sonst immer irgendwelche klugscheißerischen Bemerkungen loslassen, starren aus dem Fenster. Unser Lehrer in Trigonometrie ist von den Ergebnissen unseres letzten Tests zutiefst, zutiefst enttäuscht. In Physik ist mal wieder Zeit für ein Nickerchen einen Film: Einführung in Kollision und Impulsübertragung. Mein Englischlehrer rastet aus, weil die Regierung neuerdings noch einen weiteren Test von uns verlangt, mit dem unsere Lesefähigkeit bewertet werden soll, weil wir schließlich bald aufs College kommen und dann vielleicht mal was lesen müssen oder so.
Ich esse im Auto: Diätlimonade (0) + Salat (15) + acht Esslöffel Tomatensalsa (40) + hart gekochtes Eiweiß (16) = Mittagessen (71).
***
Am Ende des Schultags, zwei Minuten bevor der Gong ertönt, um uns zu erlösen, werde ich über Lautsprecher zur Studienberaterin MsRostoff gerufen. Die meisten Mädchen aus dem Fußballteam sind ebenfalls da, außerdem Cassies Freunde aus der Theatergruppe und aus dem Musical. Mira, mit der ich in Spanisch bin, winkt mir zu, als ich hereinkomme; sie war früher mit Cassie und mir bei den Pfadfindern.
Wir sind hier, um unsere Gefühle zu teilen und um über eine Gedenkfeier für Cassie zu sprechen, damit »ihr Geist weiterlebt«. Der Raum ist eiskalt.
MsRostoff hat Schachteln mit Papiertüchern auf dem runden Tisch verteilt, mit dekorativem Kätzchenaufdruck. Ein paar Zwei-Liter-Kartons Eistee vom Discounter und kleine Pappbecher sind hübsch um den Teller mit den Billig-Schoko-Vanille-Keksen arrangiert. MsRostoff glaubt an die heilende Wirkung von Zwischenmahlzeiten. Sie mag mich lieber als alle anderen, weil ich so ein Wrack bin, dass ich in der Echtwelt zu einem echten Therapeuten gehen muss. Außerdem muss ich auf das College gehen, wo mein Vater unterrichtet, also brauchte sie nur zwei Minuten, um mich zu beraten.
Die Theatermädchen besetzen das ramponierte Sofa mit dem Läufer davor. Das Fußballteam rollt Drehstühle aus dem Konferenzzimmer herbei. Ich nehme neben der Tür auf dem Boden Platz, den Rücken am Heizungsschacht.
Während wir auf die Nachzügler warten, beschweren sich die Fußballerinnen, dass sie den Kraftraum nicht oft genug nutzen dürfen, und die Theatermädchen jammern über die neue Regisseurin, eine Primadonna, die unsere Schule mit dem Broadway zu verwechseln scheint. Ich beurteile mich selbst: Ich kann weder schauspielern noch Fußball spielen, und die meisten hier haben bessere Noten als ich. Aber ich bin das schlankste Mädchen hier, keine Frage.
Es entsteht eine peinliche Gesprächspause, und es wird viel zu still im Raum. Jemand furzt leise. Die Heizung kommt so langsam in Gang.
Ich habe keine Ahnung, wie die das anstellen. Wie man es schafft, jeden Morgen aufzuwachen, zu essen und sich vom Bus zu jenem Fließband zu schleppen, an dem die Lehrerroboter uns Fach A und Fach B darreichen. Wie sie es schaffen, jeden Test zu bestehen, den man uns vorlegt. Unsere Eltern halten eine Liste mit Zutaten für uns bereit und ermahnen uns, eine gesunde Auswahl zu treffen: eine Sportart, zwei Vereine, ein künstlerisches Projekt, Gemeindearbeit, keine Noten schlechter als Zwei, denn hier ist wirklich niemand Mittelmaß, nicht bei uns. Es ist ein Tanz mit komplizierter Choreografie und wechselndem Tempo.
Ich bin das Mädchen, das über die Tanzfläche stolpert und nicht zum Ausgang findet. Alle Augen sind auf mich gerichtet.
MsRostoff wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr. Die zeigt die Zeit genauer an als die Uhr an der Wand. »Also jetzt aber, Mädchen.«
Ein Theatermädchen hebt die Hand – Body-Mass-Index20, vielleicht auch 19,5. Ihre Turnschuhe sind bemalt, der eine mit einem ungeheuer winzigen Schachbrettmuster aus tausend Farben, der andere abwechselnd mit gelben Smileys und schwarzen Totenköpfen. »MsRostoff? Können wir eine Schweigeminute einlegen?«
MsRostoffs Hirn arbeitet. Werden unsere Eltern bei der Schulbehörde Terror machen, wenn sie in ihrem Büro ein religiöses Ritual zulässt? Oder werden sie Terror machen, wenn sie uns den freien Ausdruck religiöser Gefühle verwehrt?
»Wollen das alle?«
Wir nicken und lassen die an unseren Köpfen befestigten Fäden zucken.
»Also gut.« Wieder ein Blick auf ihre Uhr. »Eine Schweigeminute für Cassie.«
Theater und Fußball neigen ihr Haupt. Ich ebenfalls. Anscheinend soll ich beten. Mit Schweigeminuten kenne ich mich nicht aus. Sie sind so… schweigsam. Leer.
Jemand schnieft und zieht sich ein Tuch aus der Schachtel. Ich blinzele durch meine Wimpern hindurch. Miras Augen sind fest geschlossen und ihre Lippen bewegen sich. Ein Mädchen, das ich nie zuvor gesehen habe, wischt sich mit einem schmutzigen Taschentuch aus ihrer Hosentasche über das Gesicht. Eine der Fußballerinnen zückt ihr Handy, um eine SMS zu lesen. MsRostoff reibt ihre künstlichen Fingernägel gegen ihren Daumen, dann sieht sie wieder auf die Armbanduhr.
»Danke euch allen.«
Sie verkündet die Regeln setzt den Rahmen für unsere Diskussion. Wir werden nicht darüber sprechen, wie Cassie gestorben ist oder warum oder wo oder wer in diesem Raum etwas hätte tun können, um sie auf- oder wenigstens hinzuhalten. Wir sind hier, um zu feiern, dass sie gelebt hat.
Dreiunddreißig Anrufe.
MsRostoff hat sich bereits um eine Gedenkseite im Jahrbuch gekümmert, und sie hat einen Nachruf für die Schülerzeitung verfasst.
Die Fußballerinnen erklären, dass sie den Rest der Saison Cassie widmen wollen, beide Wochen. Die Theatermädchen wollen ihr einen Moment kurz vor Beginn des Musicals schenken, wenn das Licht ausgeht und alles dunkel ist. Dann soll eine einzelne Rose aufleuchten, die in der Mitte der Bühne in einer Vase steht, während der Chor Amazing Grace singt, und danach wird der Star des Stücks ein Gedicht über die Tragik des frühen Todes vortragen.
Die Idee wird auf die Rose zurechtgestutzt, die einen Moment lang im Scheinwerferlicht zu sehen sein soll, sowie auf eine Erwähnung im Programmheft.
»Was ist mit dir, Lia?« Mira beugt sich vor, um mich besser sehen zu können. »Möchtest du irgendwas Besonderes machen? Ihr beide wart doch sehr gut befreundet.«
Wart.
»Das sind alles sehr gute Ideen«, sagen meine Lippen. »Aber ich finde, dass MsRostoff mit Cassies Eltern reden sollte, um sie nach ihrer Meinung zu fragen.«
Ablenkung gelungen. Die Studienberaterin spricht über das Schicksal der Familie und darüber, wie man sie unterstützen könnte, und wie man füreinander da sein muss und dass wir immer zu ihr kommen können und immer genügend Taschentücher für uns bereitliegen werden. Ehe wir gehen, erinnert die Mannschaftskapitänin ihr Team, heute Abend im Trikot zur Totenwache zu erscheinen. Und Mira verkündet, dass die Leute von der Theatergruppe alle Schwarz tragen werden.
021.00
Ich trage eine marineblaue Strumpfhose unter einer fleckigen Baggyjeans, ein langes Unterhemd, einen Rollkragenpullover, einen Kapuzenpulli, den ich aus dem Schrank meines Vaters geklaut habe, und in der Jacke eine Überraschung für Cassie, tief vergraben in der linken Tasche. Und Fäustlinge. Nicht unbedingt das, was man zu einer Totenwache anzieht.
Ich sage Jennifer, dass ich zum Abendessen nicht zu Hause sein werde, weil ich in der Bibliothek mithilfe von dämlichen Primärquellen recherchieren muss, was bedeutet, dass ich ein echtes Buch benutzen muss, das wahrscheinlich von hunderttausend Unbekannten berührt worden ist und an dem Gott weiß welche Virenmutationen kleben.
Es ist so eine miserable Lüge, dass sie mich bestimmt durchschaut, aber Jennifer steckt bis zu den Ellbogen in Pappmaschee und hilft Emma gerade dabei, einen griechischen Tempel zu bauen.
Mein Wagen parkt vor der Bibliothek. Ich haste die zwei Häuserblocks entlang bis zur Kirche, den Kopf gesenkt, die Haare im Gesicht. Vor einer Stunde ist die Sonne untergegangen. Kalter Wind bläst mir entgegen, darin der verbrannte Geruch von Herbstfeuer, dessen Flammen große Haufen von Blättern und anderen toten Dingen verschlingen. Rot-grüner Weihnachtsschmuck hängt an den Laternen und in allen Geschäften.
Ich spüre, wie die Schatten aus der Dunkelheit gekrochen kommen, um mich zu holen.
Als ich das letzte Mal eingesperrt war, ließ mich der Krankenhauspsychiater einen lebensgroßen Umriss meines Körpers zeichnen. Ich wählte einen dicken Wachsmalstift in der Farbe von Elefantenhaut oder einem verregneten Bürgersteig.
Dann entrollte er das Papier auf dem Boden, dünnes Packpapier, das zerknitterte, als ich mich draufkniete. Ich wollte meine Schenkel auf seinen Teppich malen, jeden so groß wie ein Sofa. Die Speckrollen an meinem Hintern und am Bauch würden über den Boden wabbeln und die Wände hochklatschen, meine Titten groß wie Wasserbälle, meine Arme wie zwei Rollen Fertigpizzateig aus der Kühltheke, der schon aus der Packung quillt.
Der Arzt wäre entsetzt gewesen. All seine Arbeit dahin, verloren in einer Endloslinie aus popelgrauem Wachsmalstift. Er hätte meine Eltern angerufen und es hätte weitere Beratungsgespräche gegeben (mit tickender Uhr, rotierendem Zähler und einer immer länger werdenden Rechnung). Dann wären meine Medikamente wieder mal umgestellt worden – eine Pille, die mein Selbstwertgefühl steigert, eine andere, um meine Verrücktheit zu minimieren.
Also malte ich eine rundliche Version von mir, einen Bruchteil meiner tatsächlichen Maße, Finger und Zehen vollzählig, Steine im Bauch, hübsche Ohrringe, Pferdeschwanz.
Er zog ein weiteres langes Papierstück von der Rolle, wo ich mich drauflegen sollte, damit er meine Umrisse in Lebensgröße nachzeichnen konnte. Der Wachsmalstift drückte sich eng an meinen Körper und ließ mich erzittern. An meine Innenschenkel wagte der Arzt sich nicht heran. Und über die Größe meiner inneren Organe stellte er keine Vermutungen an.
Ich nahm mir eine Zeitschrift vom Tisch, während er die Zeichnungen mit Klebeband an der Wand befestigte. Es war eine Köderzeitschrift, strategisch platziert, um Funken in die Luft zu schießen und Feuer zu entfachen, um die Verrücktheit seiner Patentrezepte Patienten einfach wegzubrennen.
In dieser Zeitschrift waren sogar die Hässlichen schön.
»Schau dir das mal an«, sagte er. »Was für Unterschiede fallen dir auf, Lia?«
Ehrlich? Beides waren scheußliche Wachsgeister auf Rollenpapier. Ich wusste, was er hören wollte. Er hielt es nicht aus, dass ich krank war. Niemand kann das. Alle wollen immer nur hören, dass du auf dem Weg der Besserung bist, gesund wirst, alles innerhalb von einem Tag. Wenn man in seiner Krankheit eingesperrt ist, soll man aufhören, ihre Zeit zu verschwenden und einfach nur sterben.
»Lia?«, wiederholte er.
Die Dollars klickerten durch.
Ich sagte meinen Text auf: »Das Bild, das ich gemalt habe, ist aufgebläht und unrealistisch. Ich glaube, ich muss noch ein bisschen mehr an meiner Selbstwahrnehmung arbeiten.«
Er lächelte.
Mir war klar, dass meine Augen schon seit Längerem nicht mehr funktionierten. Aber an diesem Tag begann ich mir ernsthaft Sorgen zu machen, dass die Fachleute vielleicht genauso blind waren.
Vor dem Blumenladen bleibe ich stehen. Oben in der zweiten Etage, in meinem alten Ballettstudio, brennt Licht. Ich habe Ewigkeiten damit verbracht, mich dort in den Spiegeln anzustarren. Ich beugte die Gliedmaßen, machte Sprünge, verneigte mich und schwebte dahin. Die Zuckerfee aus dem Nussknacker, eine Jungfrau, eine Puppe. Nach den Proben klaute ich meiner Mutter immer ihr Anatomiebuch, stellte mich nackt ins Bad und tastete die Muskeln ab, die unter meiner Haut schwammen, suchte nach den Stellen, an denen sie in dünne, starke Sehnen übergingen, die an den Knochen befestigt waren.
Dem Spiegelbildmädchen in der Schaufensterscheibe wachsen Weihnachtssterne aus Bauch und Kopf. Es hat die Form einer Bratwurst, die auf zwei Besenstielen steht, Zweige als Arme, das Gesicht mit einem Radiergummi verwischt. Ich weiß, dass ich das bin, aber ich bin es doch nicht, nicht wirklich. Ich weiß gar nicht, wie ich aussehe. Ich kann mich nicht erinnern.
Auf den roten Blättern der Weihnachtssterne sitzen Unmengen grauer Gesichter, Geister, die von mir kosten wollen. Ihre Hände schlängeln sich hervor, mit weit gespreizten Fingern. Ich gehe schnell weiter, entziehe mich ihren klebrigen Schatten. Als ich an einer Straßenlaterne vorbeigehe, brennt die Birne durch und es riecht nach verbranntem Zucker. Nach ihr. Ihr.
Den Rest des Weges zur Totenwache renne ich, den eisernen Haken, die sie nach mir auswirft, immer einen Schritt voraus.
022.00
Eine Schlange mit Menschen windet sich aus dem Hauptportal der Kirche die Treppe hinunter bis zum Bürgersteig. Sie alle warten darauf, den leeren Leichnam anzustarren. Düstere Orgelakkorde stehlen sich in die Nacht hinaus, verwandeln unsere Schuhe in Betonklötze und machen die Gesichter lang, bis wir aussehen wie Bäume mit schwarzen, schlaff herabhängenden Blättern.
Jeder ist schon mal hier gewesen. In der fünften Klasse wegen Jimmy Myers, Leukämie. In der achten starben Madison Ellerson und ihre Eltern bei einer Massenkarambolage während eines Schneesturms. Letztes Jahr war es ein Typ aus der Tennismannschaft, einer, der es bis in die Landesauswahl geschafft hatte. Hatte sich nicht angeschnallt, keine Airbags. Als sein Auto auf den Laster knallte, brach er durch die Windschutzscheibe und flog in hohem Bogen durch die Luft, ehe er landete, aufgespießt von den Zweigen einer Kiefer. Die Schlange seiner Totenwache reichte um den ganzen Block.
Als ich durchs Hauptportal eintrete, schlägt mir das Gewisper der Leute entgegen. Alle reden, wollen aber nicht gehört werden. Eltern knöpfen ihre Mäntel auf und hängen sie sich unbeholfen über den Arm. Auf den Wangen der Jungen erscheinen Schweißperlen, während sie an der Wand lehnen, die Hände in den Hosentaschen, die Krawatten gelockert. Die Mädchen staksen schwankend auf ihren höchsten Stöckelschuhen einher und danken Gott, dass sie es nicht sind, die da vorne in der hübschen Kiste liegen.
Ich lasse meine Jacke an, den Reißverschluss zugezogen. Zum ersten Mal seit Wochen ist mir fast warm. In den dunklen Fenstern flackern künstliche Kerzen mit orangefarbenen Glühbirnen. Die Schlange schiebt sich in gleichmäßigem Rhythmus nach vorn, als würden wir für ein Konzert oder ein Fußballspiel anstehen. Als die Fußballmannschaft am Sarg vorbeigeht, überreicht die Kapitänin Cassies Vater einen Ball, auf dem alle Spielerinnen unterschrieben haben. Er reicht ihn an einen Schwarzgekleideten weiter, der die Gabe zur Leiche in den Sarg hineinlegt, vorsichtig, damit sie nicht aufwacht.
Es nennt sich zwar Totenwache, aber dass die Tote aufwacht, will niemand.
Je näher ich dem Sarg komme, desto wärmer wird es. Braun geränderte Blütenblätter von Chrysanthemen fallen von den Kränzen herab, die auf Metallständern ruhen. Ich welke ebenfalls, und mein Kopf ist voller rostiger Nägel. Ich hätte keine Jeans anziehen sollen. Idiot.
Zwischen mir und dem Typ vor mir klafft eine Lücke, groß genug für vier Leute. Eine Dame zischt mir von hinten ins Ohr: »Geh schon weiter!«
Die Organistin hört plötzlich auf zu spielen. Leute halten mitten im Gemurmel inne. Sie greift nach oben, und ein ganzer Stapel Bücher kracht zu Boden, hallt donnernd über den Marmor wie ein Schuss. Manche Leute fahren erschrocken in die Höhe.
Nun kann ich das Sargende sehen. Der Fußball ruht neben einem gefalteten schwarzen T-Shirt von der Theatergruppe. Cassies Füße verbergen sich unter einem weißen Tuch aus Samt, die Zehen stehen gerade nach oben. Hoffentlich hat man ihr warme Pantoffeln angezogen und bequeme Socken. Und ich hoffe, dass sie ihr ihren Zehenring gelassen haben.
Die Musik setzt wieder ein, ein langer, vibrierender Mollakkord.
Der Kerl vor mir geht zu Cassies Eltern hinüber. Ihre Mutter schluchzt, und er legt seinen Arm um sie. Es ist Cassies Onkel, ein lustiger Typ, der uns Wasserskifahren beigebracht hat. Auch er weint und wimmert. In dieser ganzen heißen, überfüllten Welkeblütenblätterkirche sind die beiden die Einzigen, die sich trauen, das zu sagen und zu tun, woran jeder hier denkt.
Ich bin dran mit Starren. Bin an der Reihe, die Tote zu vergewaltigen.
Dornröschen trägt ein himmelblaues Kleid mit hochgeschlossenem Kragen und langen Ärmeln. Ihr Haar sieht aus wie die zu lang gekämmte Perücke einer Puppe, stumpfgelb, mit ein paar durchscheinenden blassroten Strähnen als Farbakzente. Sie trägt weder Ohrringe noch ihre Halskette aus Silberglöckchen, aber ihren Schulring hat man ihr auf den Finger gesteckt. Das Nasenpiercing und die Aknenarben verbergen sich unter dem Make-up, das man ihr aufs Gesicht gekleistert hat. Der falsche Farbton.
Ich möchte ihr das Kleid ausziehen und nachsehen, ob man den Bauch aufgetrennt hat. Ich möchte reingucken. Sie würde dasselbe wollen, denn genau darüber haben wir die ganze Zeit geredet. Über die verborgenen Viecher mit den kratzenden Flügeln und Fühlern, die uns stachen und dafür sorgten, dass wir ins Badezimmer stolperten – Cassie zum Klo, um alles loszuwerden, und ich zum Spiegel, damit das Mädchen auf der anderen Seite mich stark machte und hart wie Stahl.
Sie hätten ihr ihre Häkelnadel in den Sarg legen sollen und Garn, damit sie in der Ewigkeit auch was zu tun hat. Ein paar Bücher von Gaiman, Tolkien und Butler, einige Klatschblätter, Kaugummi – Peppermint, nicht Spearmint–, ihre Abzeichen vom Schwimmverein und den Pfadfinderinnen, die Plakate der Theaterstücke, bei denen sie mitwirkte. Bestimmt würde sie sich auch über eine Schachtel Cornflakes freuen, als Reiseproviant.
Das Schluchzen ihrer Mutter übertönt die Orgel.
Ich greife in meine Jackentasche und hole die kleine Scheibe aus grünem Meerglas hervor, geboren im Herzen eines Vulkans, mit der Fähigkeit, die Zukunft vorauszusagen. Als wir neun waren, habe ich sie aus Cassies Zimmer gestohlen, aber was ich auch tat, es funktionierte einfach nicht, ganz egal bei welcher Sternenkonstellation.
Ich schiebe ihr das magische Stück Glas in die erfrorene Hand.
Cassies Finger schließen sich darum.
Mein Herz beginnt zu stolpern.
Sie drückt die grüne Scheibe ganz fest, dann blinzelt sie – einmal, zweimal–, reißt die Augen weit auf und blickt mich direkt an. Sie hebt eine Hand und betastet ihr Haar, das ihr aus dem Kopf sprießt wie Pusteblumenflaum. Ein paar Haarsträhnen schlängeln sich bis zu den brennenden Kerzen ans Kopfende des Sarges und brennen ab wie Wunderkerzen.
Ich kriege keine Luft.
Cassie setzt sich langsam auf, hält sich das magische Stück Glas ans Auge, schaut hindurch und lacht, ein tiefes, schmutziges Lachen, das sonst nur um zwei oder drei Uhr morgens von ihr zu hören war. Sie steckt sich den Glastaler in den Mund und schluckt ihn hinunter, dann wischt sie sich mit der Hand über den Mund. Flecken aus Wachs und Blut erscheinen an ihren Fingern.
Sie runzelt die Stirn und öffnet den Mund…
… nein. Sie sitzt nicht dort. Sie ist gar nicht da. Kein Blut. Keine Wolke aus Puppenhaar, die im Kerzenschein verglüht.
Ich kneife die Augen zusammen. Sie liegt gar nicht mehr im Sarg. Der Fußball ist Richtung Kopfende gerollt, weil ihre Füße ihn nicht mehr abstützen.
Wieder kneife ich die Augen zusammen.
Sie ist immer noch weg, das weiße Samttuch ist beiseitegeworfen, als ob sie den Wecker nicht gehört hat und nun wirklich verdammt spät dran ist. Ihr Vater ist schon mit dem Auto los, weshalb sie nun mit mir fahren muss. Ein etwas unheimlicher Gedanke.
Von oben ergießt sich ein Schwall Orgelmusik und überflutet die Kirche.
***
Die Leute in der Schlange hinter mir beginnen zu murmeln. Sie müssen irgendwohin und irgendwas erledigen, und in einer halben Stunde kommt die neue Folge, und außerdem sind alle viel zu höflich, um zu merken, dass der Sarg leer ist. Der lustige Onkel knöpft sich den Mantel zu. Die Lücke vor Cassies Eltern wartet auf mich.
Eine Hand berührt mich an der Schulter, und irgendein Typ flüstert mir ins Ohr: »Das geht schon, na los. Ich bin direkt hinter dir.«
Ich stolpere mit gesenktem Blick zu ihrer Mutter hinüber. MrsParrish schlingt wortlos ihren Arm um mich und legt ihren Kopf an meine Schulter. Ich tätschele ihr den Rücken. MrParrish schüttelt dem Typ hinter mir die Hand und sagt etwas, was ich nicht hören kann, weil Cassies Mutter so schwer ist, dass sie mich unter das hüfthohe Wasser im Altarraum und hinunter zum Marmorboden zieht. Sie möchte, dass wir unters Fundament sinken, in die warme, krabbelige Erde. Dort hat Cassie schon ein Plätzchen für uns reserviert und wir können uns alle drei zu kleinen Kellerasseln zusammenrollen und auf den Frühling warten.
Wieder berührt mich von hinten diese Hand. MrParrish zieht uns aus der Erde und löst seine Frau von mir. Dann drückt er einen heftigen Kuss auf meine Stirn, aber ich weiß nichts zu sagen.
»Es tut uns so leid, was sie durchmachen«, höre ich diesen Elijah mit den rauchgrauen Augen sagen, der an der Hand hängt, die meine Hand hält. »Ich kann gar nicht sagen, wie sehr.«
Er zieht mich in den Menschenstrom, der nach draußen schwappt. Als ich stolpere, packt er meinen Arm, damit ich nicht hinfalle.
023.00
»Hier, trink.«
Elijah schiebt mir einen schweren Becher voll heißer Schokolade hin. Ich kann mich nicht erinnern, wer sie bestellt hat. Auch nicht daran, hierhergelaufen zu sein.
»Na los.«
Ich brauche beide Hände, um den Becher hochzuheben, und nehme einen Schluck. Verbrenne mir die Lippen, die Zunge und meine rosige Kehle. Geschieht mir ganz recht. Meine Hand zittert, als ich den Becher wieder absetze, und der Kakao schwappt auf den Tisch. Elijah zieht Papierservietten aus dem Metallständer und wischt alles auf.
Wir sind ein paar Häuserblocks von der Kirche entfernt. Ich kenne diesen Vegetarierladen von früher: Entspannungsmusik, Haschkekse und Unterschriftenlisten an der Kasse.
»Wie geht es dir, Emma?«, fragt er.
Ich brauche einen Moment, um zu kapieren, dass er mit mir redet. Dass ich ihm ja immer noch nicht gesagt habe, wer ich bin, weil lügen leichter ist. Ich sollte mit einem braven Mädchenlächeln antworten: »Viel besser, danke, und dir?« Aber dafür bin ich einfach zu saumäßig müde.
Er schiebt die durchweichten Tücher Richtung Tischkante. »Tote zu sehen, kann schon komisch sein.«
Ich halte meinen Finger in den Dampf, der aus dem Becher aufsteigt, und schaue zu, wie der Koch den Grill bedient, die Fritteuse, den Mixer. Auf jedem Stuhl sitzt Cassie, lachend, kauend, und deutet auf die Speisekarte, wo das Tagesgericht steht.
»Sie liegt nicht in ihrem Sarg«, bricht es aus mir hervor.
Er erstarrt für einen Moment und blickt mir unverwandt in die Augen. Sein Haar ist frisch gewaschen und zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengebunden. Den Holzstecker im Ohrläppchen hat er gegen einen Knochenring getauscht, der aussieht wie ein rundes Fenster neben seinem Unterkiefer. Er trägt ein angeschmuddeltes Hemd mit Knöpfen am Kragen und dazu eine traurige schwarze Krawatte. Seine Hände sind sauber. Sogar halbwegs rasiert ist er.
»Ich weiß«, sagt er. »Das ist nur ihre äußere Hülle, nicht ihre Seele.«
Ich schüttele den Kopf. »Das meine ich nicht. Sie hat sich im Sarg aufgesetzt. Und dann ist sie verschwunden. Hast du das denn nicht gesehen?«
Er legt seine Hände auf meine und lehnt sich vor. Sie sind so warm, dass sie bestimmt gleich zu glühen anfangen. »Tust du mir einen Gefallen?«, fragt er. »Trink noch ’nen Schluck, mach deine Augen zu und atme tief durch.«
»Bescheuert.«
Er lächelt und nickt. »Ja, ich weiß. Aber mach’s trotzdem.«
Meine Hände heben den Becher wieder an die Lippen. Samtweiche Laken hüllen mich ein. Die Perlen auf meinem Abakus klackern. 300ml heiße Schokolade = 400, aber mir ist eiskalt. Ich muss alles in einem Zug austrinken und noch mehr bestellen einen Schluck trinken und den Geschmack einfach nicht beachten. Ich nippe, setze den Becher wieder ab, ohne zu kleckern, und schließe die Augen. Durchatmen hat er gesagt. Ich atme Pfannkuchen und Pommes ein. Nervöse Gerüche.
»Weiteratmen«, kommandiert er. Seine Stimme gleicht entferntem Donnergrollen.
Der Koch legt irgendwas auf den Rost, was zu zischen beginnt. Stuhlbeine schaben über den Boden, als der Typ, der am Nachbartisch sitzt, aufsteht und geht. Jemand hebt ein Gestell mit Gläsern hoch, sie klimpern wie Regentropfen. Ein paar Frauen lachen; ihre Stimmen verheddern sich. Die Tür zum Toilettenraum quietscht.
»Fertig?«, fragt er mich. »Jetzt mach die Augen auf. Nicht nachdenken. Mach sie einfach auf und rühr dich nicht.«
Das Lokal rückt wieder in mein Bewusstsein: Tische, Stühle, Lichter, Küche. Überall Poster an den Wänden. Durch das Loch in Elijahs Ohrläppchen kann ich den Sichelmond und die Sterne sehen, die unter der Uhr an die Wand gemalt sind. Das Mädchen, das neben mir sitzt, ist nicht Cassie. Und der Kellner füllt auch nicht gerade ihren Becher auf.
Ich drehe mich um und schaue nach hinten. Niemand hier ist Cassie.
Ich habe nichts zu befürchten.
»Besser?«, fragt er.
»Besser. Danke.«
»Kein Problem.« Er nimmt seine Gabel und spießt ein Stück Waffel auf, von der Ahornsirup trieft. »Du warst kurz neben der Spur. So was kommt vor.« Er schaufelt sich die Waffel in den Mund.
»He, wo hast du die denn plötzlich her?«, frage ich.
Er deutet zum Nachbartisch, wo die Kellnerin noch nicht abgeräumt hat. Der Fünfdollarschein klemmt unter dem Salzstreuer, eine halb volle Tasse Kaffee steht da, eine schmutzige Gabel liegt herum, und auf dem leeren Platzdeckchen prangen ein paar Sirupflecken.
»Sonst hätten sie es weggeworfen.«
»Das ist ja ekelhaft! Und die Bazillen?«
»Von Gratismahlzeiten werde ich niemals krank. Willst du was?«
»Bloß nicht!«
Er lacht so laut, dass die Leute sich umdrehen und herüberstarren.
»Bist du immer so seltsam?«
Wieder lacht er. »Noch viel seltsamer. Schau mal hier.« Er krempelt seinen Ärmel hoch, um mir das Tattoo zu zeigen, das seinen ganzen Unterarm bedeckt: ein muskelbepacktes Etwas, halb Bulle, halb Mann, das auf einem Fahrrad durch eine Feuerwand fährt, mit Flügeln, die ihm aus Beinen, Armen und dem Helm wachsen.
»Was soll denn das darstellen?«
»Den Gott der Fahrradkuriere. Cool, oder? Ich hatte ’ne Vision von ihm, als ich mal ein Paket bei einer Anwaltskanzlei in Boston abliefern musste. Ich sah ihn plötzlich so deutlich vor mir, als würde er jeden Moment die Hand ausstrecken, um mich zu erwürgen. Der musste einfach unter meine Haut.«
»Du hast Visionen?«
»Das ist eine Gabe. Du solltest mal das Tattoo auf meinem Hintern sehen,«
»Nein, danke.«
Mein Blick wandert durchs Lokal. Immer noch keine Cassies. »Und was ist, wenn du eine Vision kriegst, die dir nicht gefällt?«
»Spielt keine Rolle, ob sie mir gefällt oder nicht. Wichtig ist, dass ich mich damit auseinandersetze und rausbekomme, weshalb sie mir gesandt wurde.«
Seine Augen fixieren pfeilschnell irgendetwas hinter mir, und plötzlich lässt er den Waffelteller über den Tisch schlittern, sodass er mir fast in den Schoß fällt.
Unsere Kellnerin erscheint: langer Jeansrock, dicker Islandpullover, winzige Muschelpiercings oben an den Ohrrändern. BMI23. Das Tablett hat sie auf ihrem Hüftpolster abgestützt. Sie schaut irritiert auf die Waffeln. »Wann habt ihr die denn bestellt?«
»Ich hab sie nicht bestellt«, sage ich.
Elijah versetzt mir unter dem Tisch einen Tritt. »Mein Kumpel hat sie ihr geschenkt«, erklärt er. »Der Typ mit der schmuddeligen Hockeyjacke – er ist vor ein paar Minuten gegangen.«
Die Augen der Kellnerin verengen sich zu Schlitzen. »Ach, tatsächlich?«
»Er hat uns doch nicht etwa mit der Rechnung sitzen lassen, oder?«, erkundigt sich Elijah.
»Nein.« Sie schüttelt den Kopf. »Er hat bezahlt.«
»Und er hat Ihnen doch auch reichlich Trinkgeld gegeben, also wo ist das Problem?« Er deutet auf ihr Tablett. »Ist das für mich?«
Sie stellt ihm den Teller mit ein paar Scheiben Mehrkorntoast und einem kleinen Töpfchen voll roter Marmelade hin und verschwindet ohne ein weiteres Wort.
Elijah klatscht sich die Marmelade aufs Brot und verteilt sie großzügig mit seinem Messer.
»Darf ich dich was fragen?«
Er beißt hinein. »Was du willst.«
»Was hat ein Fahrradkurier mit Visionen in der Pampa von New Hampshire zu suchen?«
»Ich wohne nicht in der Pampa, sondern in Centerville. Willst du mal beißen?«
Gern. »Nein.« Ich schüttele den Kopf. »Ich hab keinen Hunger.«
»Außerdem war ich früher mal Fahrradkurier. Im Moment bin ich Mädchen für alles. Und stelle fest, dass ich verdammt gut mit einem Schraubenschlüssel umgehen kann.« Er klappt seinen Toast zusammen und stopft sich fast alles auf einmal in den Mund. »Das ist echt der Hammer, ich kann einfach alles.«
»Ja, klar.« Ich lache und trinke aus Versehen ein bisschen heiße Schokolade. »Was zum Beispiel?«
»Wo soll ich da anfangen? Ich bin Dichter, Philosoph, Fischer. Mein Vater sagt, ich bin ein Penner, aber der hält sich selbst für die absolute Elite. Ich kann Holz hacken, Mulch verteilen, Bier zapfen und perfekte Tomaten züchten.«
»Klar.«
»Ich bin ein super Pokerspieler, ein Schamane und ein Wanderer auf der Suche nach der Wahrheit. Ich kann Taxi fahren und Motorrad und auf einem Bullen reiten, aber nicht sehr lange. Ich schaufele auf sehr originelle und künstlerische Art und Weise Kuhmist. Und sobald mein Auto wieder läuft, werde ich Zigeuner und entdecke vergessene Welten.«
»Und ein Dieb bist du auch«, ergänze ich.
»Wenn die Situation es erfordert…« Er zieht den verklebten Teller wieder zu sich heran und taucht seinen Toast in den Sirup.
»Warum nutzt du deine visionären Fähigkeiten nicht, um im Lotto zu gewinnen oder Geld auf Bäumen wachsen zu lassen, anstatt Essen zu klauen?«
»Das wäre doch langweilig.« Er leckt sich den Sirup von der Handkante. »Jetzt du. Wer oder was bist du?«
»Traurig.« Das Wort entschlüpft mir einfach.
»Du hast sie gut gekannt, stimmt’s?«
Hinter meinen Augen flimmern Lichter. Ich habe sie eine ganze Welt lang gekannt. Ich weiß von jeder Pyjamaparty, auf der sie war, von jedem Pfadfinderzeltlager und jeder Boyband, die sie toll fand. Ich weiß noch, wie ich mir das Bein gebrochen habe, als ich hinten bei ihr auf dem Rad mitfuhr, und wie ich ihr half, ihr Zimmer wieder weiß zu streichen, nachdem sie es vorher ohne Erlaubnis schwarz gestrichen hatte.
»Erzähl mir was von ihr«, sagt er. »Etwas Schönes.«
»Sie mochte Waffeln.«
»Tut das nicht jeder?«
»Sie meinte, die Welt wäre besser, wenn es immer Waffeln gäbe statt Brot.«
Elijah isst einen Löffel voll Marmelade. »Wieso?«
»Weil sie besser schmecken und ›Waffeln‹ schöner auszusprechen ist.«
»Da ist was dran.«
Die finster blickende Kellnerin kommt vorbei und legt die Rechnung mit den Zahlen nach unten auf den Tisch. Elijah dreht den Zettel um und wirft einen Blick auf die Endsumme.
Ich zücke meine Brieftasche. »Was kriegst du?«
Er greift in seine Hosentasche. »Schon okay.«
»Sicher?«
»Jawoll.« Er lässt eine Handvoll Kleingeld auf seinen Teller fallen. »Aber nur, wenn du deine heiße Schokolade austrinkst. Ich habe einen Jauchetank gesäubert, um dieses Geld da zu verdienen. Du musst deswegen aber kein schlechtes Gewissen haben oder so.«
Ich unterdrücke ein Lächeln und schließe meine Hand um den Becher. Ich bin ein gesundes junges Mädchen in einem Lokal und kann ruhig noch ein bisschen heiße Schokolade trinken. Es ist ein gutes Gefühl und Ich will noch nicht nach Hause, wo mir doch gerade ein wenig wärmer wird. Ich werde warten, bis sich auf der heißen Schokolade eine Haut bildet, vor der ich mich so ekle, dass ich nicht weitertrinken kann. Er kann doch nicht von mir verlangen, Haut zu trinken. Ich werde noch zwanzig Minuten bleiben, bis die Bibliothek schließt. »Hast du immer noch Hunger?«, frage ich.
»Ständig. Dieser Pommesgeruch macht mich echt wahnsinnig.«
»Warum bestellst du dir dann keine?«
»Geht nicht.« Er deutet auf den Kleingeldhaufen. »Mehr hab ich nicht dabei.«
Ich zücke meine Kreditkarte und wedele damit in seine Richtung. »Kein Problem.«
Zwei Pommes = 20.
024.00
Die ganze Rückfahrt über bin ich fast ein normales Mädchen. Ich bin in ein Lokal gegangen. Ich habe heiße Schokolade getrunken und Pommes gegessen. Habe mich mit einem Typ unterhalten. Ein paarmal gelacht. Ein bisschen so wie zum ersten Mal eislaufen, wackelig, aber ich habe mich getraut.
Als ich das Haus betrete, beginnt das Flüstern wieder…
… Sie hat
angerufen.
Dreiunddreißig Mal.
Und du bist nicht rangegangen.
Ihr lebloser Körper wurde im Zimmer
eines Motels aufgefunden, ganz allein.
Du hast sie im Stich gelassen.
Hättest, hättest, hättest irgendwasallesmenschenmögliche
tun sollen.
Du hast sie umgebracht.
Ich versuche, das Flüstern nicht zu beachten, indem ich mich konzentriere. Ich gehe die Treppe hinauf. Ich gehe in mein Zimmer. Ich…
Du hast sie im Stich gelassen.
… Halt die Klappe, ich werfe meine Geldbörse aufs Bett. Ich ziehe meinen Schlafanzug an. Ich brauche meinen Bademantel. Ich glaube, ich habe ihn aufgehängt…
Ich öffne meinen Kleiderschrank.
Du hast mich im Stich gelassen.
Cassie lehnt an einem Stapel Kartons, legt den Kopf schief und winkt mir zu. »Geht es dir gut?«
Ich knalle die Tür so heftig zu, dass der Rahmen knackt.
Vor zwei Jahren wäre sie fast zum Arzt gegangen. Das Fressen/Kotzen/Fressen/Kotzen/Fressen/Kotzen machte sie nicht dürr, sondern zur Heulsuse. Ihr Trainer schob sie gnadenlos in die Juniormannschaft ab, weil sie nicht schnell genug rennen konnte. Die Schauspiellehrerin meinte, es mangele ihr an »Ausstrahlung«, und gab die Hauptrolle jemand anders.
»Ich kann nicht aufhören, aber so weitermachen kann ich auch nicht«, erklärte mir Cassie. »Nichts klappt.«
Natürlich unterstützte ich sie. Ich recherchierte nach Ärzten und Kliniken. Ich schickte ihr Links zu Seiten mit Tipps zum Gesundwerden.
Und ich sabotierte jeden einzelnen ihrer Schritte.
Sie sei ja so was von stark, erzählte ich ihr, und dass sie wieder gesund werden würde, und wie stolz ich auf sie sei, und nebenbei ließ ich einfließen, wie viele Kalorien ich an diesem Tag gegessen hatte, die magische Zahl auf der Waage, den Umfang meiner Oberschenkel. Wir gingen ins Einkaufszentrum, wo ich darauf achtete, dass wir dieselbe Umkleidekabine benutzten, damit sie mein Gerippe im blauen Lichtschein aufglimmen sah. Wir gingen zum Food-Court, und sie bestellte Pommes mit Käsesoße, Chicken McNuggets und einen Salat. Ich trank schwarzen Kaffee und leckte Süßstoff aus meiner Handfläche. Dann bat sie mich, an der Tür Schmiere zu stehen, während sie ihr Mittagessen in die verdreckte Toilette des Einkaufszentrums kotzte.
Wir fassten uns an den Händen und folgten dem Lebkuchenpfad in den Wald, und von unseren Fingerspitzen tropfte Blut. Wir tanzten mit Hexen und küssten Ungeheuer. Wir verwandelten uns in Wintermädchen, und als Cassie sich davonmachen wollte, zog ich sie in den Schnee zurück, weil ich Angst davor hatte, allein zu sein.
Ich bleibe bis nach Mitternacht im Wohnzimmer und lese, in der Hoffnung, dass es Cassie in meinem Zimmer zu langweilig wird und sie abhaut. Gerade will ich in den Keller runter, um meine Beinmuskeln bis zum Sonnenaufgang wegzubrennen um zwanzig Minuten lang maßvoll zu trainieren, damit ich danach besser schlafen kann, als Dad die Treppe herunterpoltert. Ich höre, wie der Kühlschrank geöffnet wird, dann einen langen Sprühstoß der Dosenschlagsahne. Die Kühlschranktür fällt zu und Dad kommt aus der Küche.
»Lia?« Er trägt einen blau-grün karierten Bademantel, der älter ist als ich, eine Schlafanzughose aus Flanell und ein graues T-Shirt mit der Aufschrift ATHLETIC DEPARTMENT. Die Füße sind nackt. Sein zu langes Haar, mehr silbern als schwarz, steht nach allen Seiten ab. Er wirkt wie ein Obdachloser, der an irgendeiner Ecke um Kleingeld bettelt, nur dass er statt einer leeren Gelddose einen Kuchenteller hält, der unter einem Riesenberg Schlagsahne fast verschwindet. Bestimmt die letzten beiden Stücke Kürbiskuchen von Thanksgiving. »Wieso bist du denn noch wach?«, fragt er. »Du solltest längst schlafen.«
Ich halte Neil Gaimans neuesten Geniestreich in die Höhe. »Ich muss unbedingt noch wissen, wie es ausgeht. Und du?«
Er setzt sich vorsichtig in den Lehnstuhl, den Kuchenteller auf dem Schoß, und schaufelt sich den ersten Bissen rein. »Ich träume die ganze Zeit von meiner Forschungsarbeit und wecke Jennifer auf, weil ich auf die Matratze einschlage.« Er runzelt die Stirn. »Ich hätte die Finger von dieser Arbeit lassen sollen.«
»Warum?«, frage ich.
Er nimmt den nächsten Bissen und kaut. Der Geruch macht es sich neben mir gemütlich, süßer, süßer Kürbis, Schlagsahne, die mir auf der Zunge zergeht Dieser Kuchen ist fast eine Woche alt, und auf der Kruste hat sich bereits schleimiger Schimmel gebildet, von dem ihm schlecht werden wird.
Er wischt sich einen Klecks Schlagsahne vom Mund. »Ich hatte mich zu wenig vorbereitet, als ich den Forschungsantrag stellte. Ich war einfach davon ausgegangen, dass sich schon genügend Primärquellen finden würden, und habe überall großartige Erwartungen geschürt. Und jetzt stecke ich fest.«
»Dann sag es deiner Lektorin«, schlage ich vor. »Sag ihr, dass du dich geirrt hast, und biete ihr an, ein anderes Buch zu schreiben.«
»So einfach ist das nicht.« Er schaufelt sich ein weiteres riesiges Stück Kuchen rein.
Während ich zusehe, wie das Essen in seinem Mund verschwindet, wie seine Kiefer arbeiten wie ein Häcksler und er alles hinunterschlingt, kocht Panik in mir hoch. Meine Fingerspitzen fahren den Rand des Buches entlang und drücken auf die Ecken, bis es wehtut.
»Du hast doch immer gesagt, dass am nächsten Morgen alles schon wieder ganz anders aussieht«, sage ich. »Vielleicht solltest du einfach schlafen gehen.«
»Es geht hier um Erwachsenenprobleme, Lia. Die sind ein bisschen komplizierter. Aber das ist nichts, worüber du dir Sorgen zu machen brauchst.«
Natürlich nicht, ich bin ja auch noch ein kleines Mädchen und glaube ja auch noch an den Weihnachtsmann, an die Zahnfee und an dich.
Er kramt in der Bademanteltasche nach seiner Lesebrille. »Steht mein Laptop da drüben?«
Ich deute aufs Bücherregal über dem Fernseher.
»Ah!« Er steht auf und durchquert den Raum. »Iss doch den Rest«, sagt er und hält mir den Kuchen (545) direkt vors Gesicht.
»Ich möchte nicht.« Ich schiebe ihn von mir weg. »Er ist ekelhaft.«
Er runzelt die Stirn. »Ist doch bloß Kuchen.«
Immer noch hält er den Kuchenteller wenige Zentimeter vor mein Gesicht. Wenn ich ihm jetzt auf die Hand schlage, würde der Kuchen gegen die Multimedia-Anlage knallen und am Fernsehbildschirm runterrutschen.
»Wir wollen doch nicht, dass deine Mutter Recht hat, oder?«
»Womit?«, frage ich.
»Damit, dass du wieder alte Gewohnheiten annimmst. Schlechte Gewohnheiten.«
Ich stehe auf, zwinge ihn zurückzutreten und mir Platz zu machen. »Ich bin müde«, sage ich. »Ich gehe schlafen.«
Auf der mit Teppich ausgelegten Treppe machen meine Füße kein Geräusch. Ich öffne behutsam die Tür.
Cassie ist fort. Das Zimmer riecht ein bisschen wie eine Bäckerei in der Weihnachtszeit, aber sie ist nicht da. Ich lasse Countrymusik auf meinem Rechner laufen, weil Cassie die nicht ausstehen kann, und krieche ins Bett.
Gerade als ich beginne einzunicken, hört die Musik auf.
Cassie sitzt am Fußende meines Bettes und sieht besser und gesünder aus denn je, als hätte sie das Geisterdasein so langsam im Griff. Sie tätschelt die Umrisse meines Beines, das sich unter den Decken abzeichnet, und sagt: »Schlaf endlich. Alles wird gut.«
Keine Spinnen in Sicht, keine freundlichen Krabbeltiere, die Cassie verscheuchen. Ich will ihr sagen, dass sie mich in Ruhe lassen soll, aber mein Mund geht einfach nicht auf.
025.00
Donnerstag.
Als ich aufwache, atme ich Erde. Ich huste und spucke die Kieselsteine aus, die ich im Mund habe, aber als ich wieder einatme, füllen feuchte Lehmklumpen meine Lunge…
Nein, es ist das Betttuch über meinem Gesicht, ich reiße es herunter und stehe so schnell wie möglich auf. Im Haus ist es dunkel, es ist Viertel vor sechs. Das ist seit Wochen das erste Mal, dass ich vor Emma wach bin. Von der Diele unten höre ich, wie die Dusche meines Vaters anspringt. Wahrscheinlich mal wieder eine Sitzung seines Komitees.
Ich knipse alle Lichter an und erhasche einen kurzen Blick auf mein Spiegelbild. Mein Stoffwechsel arbeitet schon wieder verlangsamt. Unter meinem Kinn blähen sich gelbe Fettblasen.
Allmählich sehe ich wieder ekelerregend aus, schwach.
::dumm/hässlich/dumm/Schlampe/dumm/fett/
dumm/Baby/dumm/Loser/dumm/verloren::
Für solche Momente hat man mir Verhaltensregeln mitgegeben:
1. Finde heraus, um was für ein Gefühl es sich handelt.
2. Wiederhole magische Beschwörungsformeln deine Affirmation, lies dir deine Lebensziele noch mal durch, meditiere über positive Gedanken.
3. Rufe deinen Therapeuten an, wenn die negativen Selbstgespräche sich fortsetzen.
4. Die erforderliche Kalorienaufnahme und Flüssigkeitszufuhr beibehalten.
5. Exzessive sportliche Betätigung sowie Alkohol- oder Drogenkonsum vermeiden.
6. Mach’s wie Dorothy im Zauberer von Oz: Dreimal die Hacken der Schuhe zusammenschlagen und wiederholen: »Zu Hause ist’s am besten, zu Hause ist’s am besten, zu Hause ist’s am besten!« Und augenblicklich erscheint ein Wirbelsturm, um dich an einen sicheren Ort zu pusten. Oder dir fällt ein Haus auf den Kopf.
Nichts funktioniert nie funktioniert was es frisst mich einfach weiter von innen auf Ich lege mich auf den Boden und mache ein paar Hundert Übungen zur Stärkung der Bauchmuskulatur, bis mir der Schweiß in den Bauchnabel läuft.
Neue Regeln:
1. Maximal 800Kalorien am Tag, lieber nur 500.
2. Der Tag beginnt mit dem Abendessen. Wenn sie verlangen, dass ich mit ihnen esse, stopfe ich genug in mich rein, damit sie mir vom Hals bleiben. Als Ausgleich schränke ich mich tagsüber ein.
3. Wenn ich nicht frühstücke, fahre ich mit dem Bus zur Schule.
3a. Besser, ich laufe.
3b. Am besten, ich geh gar nicht erst.
4. Ich fange wieder mit dem Training an.
5. Bis sie beerdigt ist, lasse ich beim Schlafen das Licht brennen.
Ich lächele und spiele meine Rolle in der allmorgendlichen Küchenshow. Jennifer quält Emma mit Lernkärtchen zum schriftlichen Teilen, weil sie heute einen Mathetest schreibt. Sie merken kaum, dass ich da bin, und verlassen das Haus mit zehn Minuten Verspätung.
Unser Physiklehrer demonstriert Kollision und Impulsübertragung anhand einer Bowlingkugel und eines Squashballs. Die Bowlingkugel gewinnt. Statt Geschichte gehen wir rüber zur Turnhalle: Heute ist College-Messe. Vertreter von ein paar Hundert Hochschulen und von der Army stehen hinter kleinen Tischen mit Hochglanzbroschüren, die uns allesamt eine tolle und glanzvolle Zukunft versprechen.
Für die Herstellung dieser Broschüren hat man zweitausend Hektar Wald gerodet. Heute Abend werden sie alle im Müll landen. Muss ich mir so ein Heftchen mitnehmen? Nein. Wir wissen eh schon, auf welches College ich gehen werde. Möchte ich überhaupt aufs College? Nein.
Was möchte ich denn?
Auf diese Frage gibt es keine Antwort.
Ich hätte Cassies Meerglas behalten oder vor dem Zurückgeben wenigstens mal durchgucken sollen. Das wäre besser gewesen als so eine dämliche Broschüre.
Beim Mittagessen fragt mich die Theatergruppe, ob ich mich nicht zu ihnen setzen möchte. Eigentlich will ich bloß ins Krankenzimmer und dort ein bisschen schlafen, aber weil sie so nett sind, sage ich Ja und stelle mich mit ihnen in die Schlange.
Ich kaufe einen kleinen schrumpligen Apfel (70) und einen fettarmen Joghurt mit Süßstoff (60). Das Mädchen vor mir, Sasha, nimmt frittierte Käseröllchen mit Tomatensoße und einen Brownie. Dazu eine Flasche Wasser. Der Typ vor ihr (der Beleuchtung und Ton macht) nimmt Spaghetti und eine doppelte Portion Knoblauchbaguette. Ein anderer Typ kauft Pizza. Das Mädchen hinter mir holt sich eine Schüssel Blattsalat mit Sellerie und ein Schälchen Ketchup. Die anderen Mädchen kaufen Tacosalat.
Wir sitzen in der Mitte der Cafeteria, ein Fischbecken, gefüllt mit Elritzen, Guppys, Salmlern, Kärpflingen und Segelflossern. Haie umkreisen ihre Beute. Stachelaale hauen ihre Nasen an die Scheibe und suchen nach dem Ausgang. Fischfutterflocken und strichförmige Fischkacke schweben im Wasser. Der Boden ist von schleimigen, hellgrünen Algen überzogen.
Die Schauspieltruppe bespricht, wer bei der Totenwache geheult hat und wer nicht und wer deswegen heulte, weil sie von irgendjemandem abserviert wurden und nicht, weil Cassies Leiche dort im gepolsterten Sarg lag. Als sie mir Fragen stellen, sage ich die Sätze auf, die ich mir vorher schon notiert habe.
Ja, es ist so tragisch. Nein, ich hatte auch keine Ahnung. Ja, ich finde, dass der Bestatter miserabel gearbeitet hat. Nein, ich glaube nicht, dass ihr dieses Kleid gefallen hätte. Ja, es war schon komisch…
Ihre Münder öffnen sich, schließen sich, öffnen-schließen, Kiemen brechen hervor und flattern ihnen hinter den Ohren. Käseröllchenfett steigt zur Wasseroberfläche auf. Die Hausmeister werden es mit Sägemehl wegputzen. Der Pizzafischtyp kleckert sich Soße aufs Hemd. Eins der Tacosalatmädchen hat ein entzündetes Nasenpiercing. In der Siebten war sie mit mir zusammen im Ballettunterricht. Salatundketchup wirft mir immer wieder finstere Blicke zu, weil sie die letzten zehn Pfund einfach nicht loswird, da kann sie machen, was sie will.
Ich schneide die matschige Beule aus meinem Apfel, teile den Rest in acht Stücke, tauche eins davon in den Joghurt und lege mir den Schnitz auf die Zunge, glitschig lecker und weich.
Er holpert die Kehle abwärts und klatscht irgendwo unten auf.
»Ich war vorher noch nie auf einer Beerdigung«, sagt der blonde Tacosalat.
»Ich schon total oft«, erwidert Spaghetti. »In der Familie meines Vaters sterben sie am laufenden Band. Eine Beerdigung ist wie die andere.«
»Müssen wir das Loch selbst zuschaufeln?«, fragt der Tacosalat mit dem Nasenpiercing.
»Das machen die Leute vom Friedhof.« Spaghetti beißt krachend in sein Knoblauchbrot. »Sie benutzen so einen kleinen Mietlaster, wie auf einer Baustelle.«
»Wir können ja alle zusammen hingehen«, schlägt Sasha Käseröllchen vor und nippt an ihrem Wasser. »Genau wie bei der Totenwache. Ihre Eltern werden sich sicher drüber freuen.«
Cassie kommt zur Flügeltür hereingeschwommen, barfuß, das blaue Kleid wellt sich um ihren Körper. Die Haare wehen hinter ihr her, verheddert und verflochten mit Bändern aus Seealgen. An ihrem Hals und ihren Fingern haben sich kleine Schnecken festgesaugt.
Sie treibt über den ersten Tisch hinweg und blickt sich suchend in der Cafeteria um. Ich starre tief in meinen Joghurtbecher.
»Treffen wir uns bei mir, Lia?«, fragt der blonde Tacosalat. Sie hat Tomaten-Salsa auf der Bluse, merkt es aber nicht. »Ich krieg den Wagen von meiner Mutter, da passen wir alle rein.«
Cassie schwimmt schneller, dreht ihre Runden im Fischbecken und hält Ausschau nach mir. Ich frage mich, ob das Meerglas immer noch in ihrem Bauch liegt. Sie wird es auskotzen müssen, wenn sie in die Zukunft sehen will. Aber vielleicht funktioniert es ja anders, wenn man tot ist.
»Lia?«
»Ich glaube, ich komme nicht mit«, sage ich, als Cassie gerade in der Küche verschwindet.
»Was?«
»Meine Eltern wollen das nicht.«
»Du musst«, quengelt Salatundketchup. »Wir müssen alle hingehen, um unser Mitgefühl zu zeigen.«
»Was für ein Mitgefühl?«, frage ich.
»Das für Cassie!«, blafft sie mich an. »Das ist dir natürlich fremd!«
»Moment mal, ja?« Ich deute mit meinem Plastikmesser auf sie. »Ich war sehr viel länger mit ihr befreundet als du!«
»Ach, wirklich?« Sie setzt ihre Empörungsmiene auf: Augen weit aufgerissen, Kopf vorgestreckt, Mund sperrangelweit offen, damit auch jeder mitbekommt, wie wahnsinnig schockiert sie ist. »Deswegen hat sie ja auch nie mit dir geredet! Ich weiß genau, wie du sie fertiggemacht hast. So was würde eine echte Freundin niemals tun. Ich würde so was niemals tun!«
Die Leute an den Nachbartischen hören zu. Von der Theatergruppe wird erwartet, dass sie sich sanftmütig und deprimiert benimmt. Öffentliche Zickenkriege gibt es da sonst nie.
Ich würde am liebsten einfach davonschwimmen, aber meine Kiemen flattern und aus meinem Mund steigen wütende Blasen auf. »Wenn du ihre Freundin warst, wo warst du denn dann, als sie Angst hatte und sich verlassen fühlte?«, frage ich. »Bist du ans Telefon gegangen? Nein, bist du nicht. Du bist echt das Letzte!«
»Was redest du denn da? Cassie hat gar nicht bei mir angerufen.«
Sasha legt mir eine Hand auf den Arm. »Beruhig dich, Lia.«
»Beruhigen? Wie soll ich mich denn beruhigen? Sie ist tot!«
Ich bin aufgestanden. Ich schreie. Ich glaube, ich habe meinen Joghurt nach Salatundketchup geworfen.
Ein fetter Sicherheitsdienstfisch kommt herbeigeschwommen, um wieder Ruhe und Ordnung herzustellen.
026.00
Als ich das Haus betrete (musste nachsitzen, danke, nein, Sir, kommt nicht wieder vor, ja, es ist für uns alle nicht leicht), ist Jennifer gerade auf dem Sprung.
»Dein Vater hatte versprochen, heute den Einkauf zu erledigen«, sagt sie, als ich meine Jacke in den Garderobenschrank hänge.
»Lass mich raten: Er ist immer noch in der Bibliothek und geht nicht an sein Handy.«
»Er hat es auf der Kommode liegen lassen. Dieses verdammte Buch bringt ihn noch um.« Sie sieht aus, als ob sie noch mehr sagen möchte, es sich dann aber anders überlegt. »Ich fahr jetzt zum Supermarkt.«
»Kann ich irgendwas tun?«
»Könntest du staubsaugen? Die Putzfrau ist schon wieder nicht aufgetaucht und die Teppiche sind total verdreckt.«
Die Dame von der Kriminalpolizei klingelt, als ich Emma gerade mit dem Staubsauger durchs Wohnzimmer jage und so tue, als wäre er ein Drache.
Ich übergebe Emma das tödliche Ungeheuer und mache die Haustür auf.
Die Beamtin stellt sich vor: »Detective Margaret Greenfield.« Dann fragt sie, ob sie hereinkommen darf.
Ich habe Cassie nicht umgebracht.
Irgendwie landen wir in der Küche, die Dame auf Dads Stuhl, ich auf meinem und Emma auf meinem Schoß, sie zerquetscht mich.
Ichhabsienichtumgebrachtichhabsienichtumgebracht.
»Nur ein paar kleine Fragen«, sagt die Kriminalbeamtin. »Kein Grund zur Beunruhigung, nur die letzten fehlenden Puzzleteile.« Sie klappt herzhaft gähnend ihr Notebook auf. »Entschuldige bitte, der Schichtwechsel bringt meinen Schlafrhythmus jedes Mal durcheinander. Also: Die Telefonunterlagen zeigen, dass sie in der Nacht, in der sie starb, bei dir angerufen hat.«
Ich antworte wie in Trance. »Ach, wirklich? Das wusste ich nicht. Mein Telefon ist in meinem Zimmer Mein Handy ist seit Freitag weg. Schon das dritte in zwei Jahren, das ich verloren habe. Mein Vater wird ausrasten.«
»Das letzte Mal hat er wirklich gebrüllt«, fügt Emma hinzu. Sie verlagert ihr Gewicht auf meinem Schoß, quetscht mir die Hüftknochen an den Holzstuhl. »Lia wird richtig Ärger kriegen. Er gibt ihr mindestens hundert Jahre Hausarrest.«
»Könnten wir jetzt bitte wieder über Miss Parrish reden«, sagt die Kriminalbeamtin.
Ich lege Emma einen Finger auf die Lippen. »Pscht.«
»Na ja, ich weiß nicht, warum sie mich hätte anrufen sollen. Wir haben seit Monaten nicht mehr miteinander gesprochen. Unsere Freundschaft war beendet. Aus keinem speziellen Grund, so was passiert wohl einfach im letzten Jahr der Highschool.«
Die Beamtin nickt und klappt ihr Notebook zu. »Ich kann mich noch gut an die Zeit erinnern«, sagt sie. »Gott sei Dank ist das vorbei.«
»Können Sie mir sagen, was mit Cassie los war?«, frage ich.
»Nein, bedaure. Falls dir noch irgendetwas einfällt, hier ist meine Nummer.« Sie überreicht mir ihre Karte. »Richte deinen Eltern aus, dass sie mich anrufen können, wenn sie möchten. Wie gesagt, es gibt keinen Grund zur Sorge. Wir wollen den Fall nur abschließen.«
Nachdem Emma wegen des Polizeibesuchs bei Dad und Jennifer ein verdammtes Riesentheater gemacht hat… Nachdem ich eine Stunde brauchte, um die beiden wieder zu beruhigen, und dieselben Fragen immer und immer wieder beantworten musste… Nachdem Dad die Kriminalbeamtin angerufen hat, weil er mir nicht glaubte… Nachdem Jennifer die Steaks hat anbrennen lassen und der Rauchmelder ansprang und sie deswegen was beim Chinesen bestellt hat… Nachdem ich Emma ein Kapitel Harry Potter vorgelesen habe… Nachdem Jennifer die Wanne für ein ausgedehntes Schaumbad in Beschlag genommen hat… Nachdem Dad beim Auswerten von Unterlagen zum Vergleich der Wahlen von 1789 und 1792 eingeschlafen ist… ist endlich Ruhe im Haus.
***
Das Handy kriecht aus seinem Versteck unter der Schmutzwäsche hervor und stiehlt sich in meine Hand. Während ich Cassies Nachrichten immer und immer wieder abspiele, schalte ich den Computer an und entschwinde in ein Land, in dem ich seit Monaten nicht mehr gewesen bin, ein flüstergeheimer Blog für Mädchen wie mich…
Hab vom
Frühstück bis nach der Schule ein Pfund zugenommen.
Den Rest des Tages nur noch Wasser und dann werd ich ab morgen
wieder fasten.
Ich bin
ohnmächtig geworden und eine Treppe runtergefallen.
Deswegen hab ich zwei Schüsseln Cornflakes gegessen, und jetzt
fühle ich mich dermaßen dick. Wie lange muss ich joggen, um alles
wieder runterzukriegen?
Mann, ich bin
so eine FETTE KUH!
Ihr wisst, dass das stimmt.
Ich hab keine Lust mehr.
Ich hab zwei Wochen Zeit, um fünf Kilo abzunehmen. Hilfe!
Bleib stark, Schatzi, sei perfekt.
Hunderte und Aberhunderte seltsamer kleiner Mädchen, die hinter vorgehaltener Hand Schreie ausstoßen. Meine geduldigen Schwestern, die immer für mich da sind. Ich scrolle durch unsere Beichten, unser Gezeter, unsere Gebete, und die Verzweiflung frisst uns Bissen für Bissen auf.
Zwei Fliegen knallen gegen meinen Lampenschirm, summsumm, zwei Überbleibsel des Sommers, die nur noch ein paar Stunden zu leben haben. Als ich das Licht ausmache, schwärmen sie Richtung Computerbildschirm, tanzen über die Rippen und Hüften und Schlüsselbeine der Skinnygirls, die sich ihre Knochen unter der Haut hervorgezogen und obendrauf gelegt haben, damit sie schön in der Sonne trocknen können. Hübsch anzuschauen durch die Pergamentflügel zu spät geborener Fliegen.
Ich fahre den Rechner runter und krieche ins Bett.
Die Fliegen werfen sich gegen das feuchte Fenster, mit lautstarker Wut, dann kreisen sie über mir und warten auf einen günstigen Moment, um mir in den Mund zu kriechen. Vielleicht sind es ja Cassies Vertraute, Vorboten aus ihrem Grab, die ihre Ankunft ankündigen.
Ich kann ihr nicht allein gegenübertreten.
Ich schleiche mich die Treppe hinunter und stelle Emmas Stiefel auf die zweite Stufe von unten. Falls Dad wieder auftaucht, um einen Mitternachtsimbiss zu sich zu nehmen oder um zu arbeiten, wird er die Stiefel umstoßen und mich warnen.
Dann gehe ich in den Keller, schließe die Kellertür hinter mir ab und verbringe ein paar verschwitzte Stunden auf dem Stepper.
027.00
Am Freitag reißt mich eine Lautsprecherdurchsage mitten aus einem Englischtest und beordert mich ins Büro der Studienberatung. Dort teilt mir MsRostoff mit, meine Stiefmutter habe angerufen und ich müsse früher nach Hause, um einen Notfalltermin beim Therapeuten wahrzunehmen.
»Warum?«
»Cassie«, sagt MsRostoff. »Darüber zu reden, wird dir helfen.«
Der Riemen meiner Handtasche rutscht mir von der Schulter. Das tut er schon den ganzen Tag. »Vom Reden wird alles nur noch schlimmer.«
Sie wirft einen Blick auf ihren Bildschirm. »Physik würde also für dich ausfallen.«
»Oh«, sage ich und ziehe den Handtaschenriemen wieder hoch. »Das ist natürlich etwas anderes.«
Dr.Nancy Parker riecht nach Hustenbonbons mit Kirschgeschmack. Ich sitze auf ihrer wuchtigen Ledercouch, die Handtasche am Boden, und ziehe diese widerliche afghanische Tagesdecke über mich. Sie wickelt ein weiteres Hustenbonbon aus. Ich glaube, sie ist süchtig leidet an einer Abhängigkeit von diesem roten Farbstoff. Daran sollte sie dringend arbeiten.
Sie schaltet ihren Ventilator ein, der weißes Rauschen produziert, und steckt sich das Bonbon in den Mund. »Deine Eltern sind besorgt, dass Cassies Tod bei dir einen Prozess in Gang setzt.«
Von der Couch aus blickt man auf ein bis zur Decke reichendes Regal mit Büchern. Lauter Mist. Keins davon ist es wert, gelesen zu werden. Es gibt keine Märchen, keine Schwert schwingenden Prinzessinnen oder Blitze schleudernden Götter. Die Buchstaben, die Wörter ergeben, die Sätze ergeben, die Seiten ergeben, könnten ebenso gut mathematische Gleichungen sein, die ihrer logischen Lösung entgegenfiebern. Nancy Hustenbonbon ist keine Ärztin. Sie ist eine Buchhalterin.
»Ich frage mich, ob hier vielleicht zweierlei Konflikte nebeneinander bestehen.« Sie entledigt sich schwungvoll ihrer Schuhe und setzt sich im Schneidersitz hin. Die Falten in ihrem Gesicht verraten, dass sie schwer auf die Sechzig zugeht, aber durch Yogaunterricht ist ihr Körper so gelenkig geblieben wie der eines Mädchens. »Einerseits Verwirrung und Trauer über den Verlust einer Freundin, andererseits der Wunsch, deine Eltern auf Abstand zu halten.«
Sie wartet darauf, dass ich die Leere im Raum mit Worten fülle. Ich tue es nicht.
»Oder liege ich ganz und gar falsch«, fährt sie fort, »und nichts von alldem berührt dich auch nur im Geringsten?«
Regen rinnt die Fensterscheiben hinab.
Nach meinem ersten Aufenthalt im Gefängnis in der Klink begannen meine Sitzungen hier, weil Dr.N.Parker eine geniale Betrügerin eine Spezialistin für durchgeknallte Teenager für Heranwachsende mit Problemen ist. Bei meinen ersten Besuchen machte ich den Mund auf und gab ihr einen Schlüssel, der ihr Zutritt zu meinem Kopf verschaffte. Gigantonormer Fehler. Sie rückte mit Laterne, Schutzhelm und ellenlangen Sicherungsseilen an, um meine Höhlen zu erkunden. Und in meinem Schädel hinterließ sie Minen, die erst Wochen später detonierten.
Ich sagte ihr, wie sehr es mich ankotzte, dass sie die Dinge in meinem Kopf ohne Erlaubnis umherschob. Sie versteckte Sprengsätze, sodass bei jedem simplen Gedanken wie Physik ist Zeitverschwendung oder Ich muss mein Handy aufladen oder Japanisch zu lernen kann doch nicht so schwer sein die immer gleiche, nervige Frage aus den Tiefen der Hölle emporschnellte: Warum denkst du das gerade, Lia?
Ich konnte mir selbst keine Frage mehr stellen – Warum bin ich bloß so müde?–, ohne mit drei bis vier Antworten meiner Therapeutin bombardiert zu werden: Weil mein Zuckerspiegel zu niedrig ist oder Weil ich ein unbestimmtes Verlustgefühl empfinde oder Weil ich den Kontakt zur Realität verloren habe oder, immer wieder sehr beliebt, Weil ich einen an der Klatsche habe.
Einmal packte mich die Wut und ich riss die Klappe auf und erklärte ihr, sie sei eine erbärmliche Versagerin, die bestimmt weder Kinder noch Enkelkinder habe, und wenn doch, würden die sie bestimmt nie anrufen, und ihr Mann hätte sie wohl verlassen – oder ihre Freundin, wer weiß–, und sogar ihre eigene Mutter hätte sie längst aufgegeben, weil in ihrer irrealen Welt keine lebendigen Menschen existierten, denn sie verbarrikadiere sich ja immer nur hier in diesem Zimmer mit Pseudobüchern und Ventilatorwind und verregneten Fenstern.
Nichts von alledem löste Wut in ihr aus. Ohne mit der Wimper zu zucken, meinte sie, ich solle in dieser Stimmung bleiben und weiterreden. Also schwieg ich.
Früher habe ich immer davon geträumt, ein Messer zur Therapiestunde mitzubringen und Geschnetzeltes aus ihr zu machen.
Zehn Minuten sind vergangen. Während die Couch nach und nach wärmer wird, sinke ich tiefer in die Polster. Das Leder knarzt.
»Welche Wörter gehen dir gerade durch den Kopf, Lia?«
Beschissen. Schwein. Hass.
»Ich würde sie gerne hören.«
Gefängnis. Sarg. Ritzen.
»Du musst daran arbeiten, gesund zu werden, Lia. Scheintot zu sein, hat wenig mit Leben zu tun.«
»Mein Gewicht ist in Ordnung. Ich kann Jennifers blödes Notizbuch mitbringen, wenn Sie möchten.«
»Es geht nicht um die Zahl auf der Waage. Darum ging es nie.«
Hunger. Tot.
Zwanzig Minuten rasen dahin. Ich wickele meine Finger in die Decke ein und wieder aus. Sie ist die Spinne Charlotte und ich Schweinchen Wilbur,
::Was für ein Mädchen!/Hoffnungslos!/Durchgedreht!::
und dieser gehäkelte rosarote Albtraum aus Polyester ist Charlottes Spinnennetz. Nein, sie ist doch nicht Charlotte, sondern Charlottes nervige Cousine Mildred, diese Dumpfbacke, der das Netz immer kaputtgeht. Wenn meine Eltern mich das Geld, das sie an diese Dame hier verschwenden, hätten investieren lassen, besäße ich inzwischen eine Eigentumswohnung.
Vierzig Minuten. Ich habe von mindestens sieben verschiedenen Personen Haare aus der Decke gezupft: ein langes schwarzes, ein schimmerndes weißes, ein feines blondes, ein gelocktes rotbraunes, ein braunes, das an der Wurzel weiß ist, und ein kurzes, das vielleicht zu einem Kerl gehört – oder zu einer Frau, die sich einen Dreck um ihr Aussehen schert. Alles Haare reicher Leute, die einer fremden Person gern etwas vorjammern.
»Du hättest heute nicht herkommen müssen«, sagt sie zum Schluss. »Du hättest den Therapietermin als Ausrede benutzen können, dem Unterricht fernzubleiben und machen können, wozu du Lust hast. Ich berichte deinen Eltern nicht, was hier vorfällt, es sei denn, du erlaubst es mir ausdrücklich. Sie würden also nichts davon erfahren, wenn du hier nicht auftauchst.«
»Und was wollen Sie damit sagen?«, frage ich.
»Du hast dich frei entschieden herzukommen.« Sie lässt die Knöchel ihrer rechten Hand knacken und wackelt mit den Fingern. »Also denke ich, dass du über das eine oder andere reden möchtest.«
Ja, ich würde Ihnen gern erzählen, dass Cassies Stimme auf dem Handy in meiner Handtasche ist und dass sie mich verfolgt, weil ich sie sterben ließ. Wenn ich es tue, werden Sie mir noch mehr Pillen geben. Wenn ich Ihnen erzähle, wie viel ich heute gegessen habe, werden Sie Alarm schlagen und mich zurück ins Gefängnis schicken. Ich lege sämtliche Haare auf der Armlehne des Sessels ab. »Ich denke die ganze Zeit, ich könnte meine Haut aufreißen wie einen Reißverschluss und einfach aus diesem Körper steigen. Dann würde ich sehen, wer ich wirklich bin.«
Sie nickt langsam. »Wie, denkst du, würdest du aussehen?«
»Vor allem kleiner.«
Die letzten acht Minuten verstreichen in Stille, bis der Kurzzeitwecker auf ihrem Schreibtisch piept.
»Und kann ich zur Beerdigung?«, frage ich.
Sie angelt nach ihren Schuhen. »Ist dir klar, warum du zur Beerdigung willst?«
Um sicherzugehen, dass man sie einbetoniert, damit sie mich in Ruhe lässt. »Ich habe das Gefühl, irgendwie damit abschließen zu müssen.«
»Und die Beerdigung wird das ermöglichen?«
Ja, das habe ich doch gerade gesagt. »Ich habe mir das gründlich überlegt.«
Die Uhr tickt noch zwei Extraminuten lang. Ich rolle die Haare der Unbekannten zu einem Ball zusammen.
»Das ist eine gute Idee.« Sie streift sich die Schuhe über und steht auf. »Aber lass dich von deinem Vater oder deiner Mutter begleiten. Niemand sollte allein auf eine Beerdigung gehen.«
Auf dem Nachhauseweg krame ich das Handy aus meiner Handtasche, entferne die Speicherkarte und platziere sie kurz hinter dem Bahnübergang am Einkaufszentrum auf der eisernen Schiene. Das Telefon selbst lege ich unter den linken Hinterreifen und fahre dreiunddreißig Mal drüber, immer vor und zurück. Die Überreste werfe ich in den Müllcontainer einer Baustelle.
028.00
Elijah öffnet die Tür des Zimmers115 mit vorgelegter Kette und quetscht sein Gesicht durch den schmalen Spalt. Seine Augen sind vom Schlaf verquollen und blicken verwirrt.
»Emma?«, fragt er. »Was ist denn los?«
Ich weiß noch nicht, wie ich ihm die Sache mit dem Namen erklären soll. »Ich hab dir Pizza mitgebracht. Eine Gratismahlzeit.«
Die Kette rasselt, und die Tür öffnet sich vollständig. »Wo ist der Haken?«
Das warme Mozzarellafett hat sich durch den Boden des Pizzakartons gesogen und läuft mir auf die Finger. Am liebsten würde ich sie ablecken Am liebsten würde ich die Schachtel wegwerfen, ehe sie mich infiziert.
»Es gibt keinen Haken.«
Er lehnt sich an den Türrahmen. »Es gibt immer einen Haken.«
»Als Dank für deine Hilfe neulich.«
»Was für eine Sorte ist es denn?«
»Mit Extrakäse und Wurst.«
Elijah lächelt. »Das kann ich nicht essen. Ich bin Vegetarier.«
»Glaub ich dir nicht.«
Am anderen Ende des Motels öffnet sich eine Tür, und ein Mann schreit irgendetwas in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Die Frau, die er anbrüllt, lacht wie ein Schakal aus einer Zeichentrickserie. Von der River Road sind kreischende Reifen zu hören und ein aufheulender Motor.
Elijah reibt sich übers Gesicht und tritt einen Schritt zurück. »Okay, meistens bin ich Vegetarier. Aber Pizzatarier bin ich auch. Also komm rein.«
Im Zimmer riecht es nach Zigaretten und Wäsche, die zu lange in der Maschine gelegen hat. Die einzige Lichtquelle ist eine kleine Lampe auf dem Tisch, daneben liegt ein Stapel Spiralblöcke, auf dem ein schmutziger Aschenbecher und ein Sixpack Bier thronen.
Er nimmt mir den Pizzakarton ab und legt ihn aufs Bett. Spielkarten sind über die ineinander verwickelten Decken verstreut und am Kopfende türmen sich schmale Kissen aufeinander. »Wie spät ist es?«, fragt er.
»Fast fünf.«
»Verdammt! Ich muss eingeschlafen sein. Charlie wollte doch, dass ich die Regale in Zimmer204 repariere. Na ja. Er muss sich eben mit dem begnügen, was das Universum für ihn bereithält.«
»Das ist aber eine lahme Ausrede, um sich vor der Arbeit zu drücken.«
»Nein, ist es nicht. Nichts geschieht ohne Grund.« Er gähnt und streckt sich. »Das muss man einfach akzeptieren und sich mit dem Strom treiben lassen, anstatt gegen ihn anzuschwimmen.«
»Was für ein Mist.«
Seine Augen leuchten schelmisch auf. »Der Mist des einen ist der Dünger des anderen.« Er deutet auf die Wände. »Frag die hier.«
Die Wände sind von oben bis unten mit aus Büchern herausgerissenen Seiten tapeziert, manche Textpassagen leuchten in Rot, Gelb oder Grün von Filzmarkern. Ich beuge mich vor und versuche im schummrigen Licht etwas zu erkennen. WALDEN steht oben auf einer Seite.
»Was hast du angestellt? Eine Bibliothek ausgeraubt?«
»So ungefähr«, sagt er und verschwindet Richtung Badezimmer. »Emerson, Thoreau, Watts. Sonya Sanchez, hast du mal was von der gelesen? Ein paar Seiten Bibel. Die Bhagavad-Gita. Dr.Seuss, George Santayana. Ich habe sie alle aufgeklebt, um ein Energiefeld guter Ideen zu schaffen. Mein Geist saugt sie auf, während ich schlafe. Sekunde, bin gleich wieder da.« Er verschwindet im Bad.
Ich nehme mir den Spiralblock vom Tisch, der auf dem Stapel ganz oben liegt, und blättere ein bisschen herum. Elijah hat darin irgendwelche Zeitungsartikel eingeklebt und Gesichter gezeichnet, gar nicht mal schlecht. Charlie an der Motelrezeption. Eine müde Frau mit Lockenwicklern im Haar. Noch mehr seltsame Wesen, halb Mensch, halb sonst irgendwas, wie dieses Ding auf seinem Arm. Manche Seiten sind mit einer winzigen Handschrift ausgefüllt, die aussieht wie Ameisen, die übers Papier marschieren.
Elijah kommt mit einer Klopapierrolle in der Hand aus dem Bad. »Da stehen die Geheimnisse des Universums drin, weißt du? Du kannst dir echt was drauf einbilden, einfach so rumschnüffeln zu dürfen.«
»Entschuldige.« Ich lege den Block auf den Stapel zurück. »Du bist nicht hier aus der Gegend, stimmt’s?«
Er wirft die Klopapierrolle auf die Kissen, klappt den Pizzakarton auf und nimmt sich ein Stück. »Aus New Jersey.« Er beißt ab und die Käsefäden bilden eine Hängebrücke von seinem Mund bis zur Hand. »Auch ein Stück?«
Nur einmal abbeißen, bitte, und dann noch mal und noch mal Kruste und zerlaufener Käse mit Wurst mehr noch mehr Das Gefühl der Leere ist stark und unbesiegbar. »Ich hab schon gegessen.«
»Umso besser. Dann bleibt mehr für mich.« Er setzt sich aufs Bett. »Möchtest du Poker spielen?«
»Nein, danke.«
Er rafft eine Handvoll Karten zusammen, Karo und Pik. »Was spielst du am liebsten? Texas-Hold’em oder Five-Card-Draw? Und wie viel Cash hast du dabei?«
»Ich sagte Nein. Du willst mir doch nur mein Geld abknöpfen.«
Er klappt die Pizza in der Mitte zusammen und beißt wieder hinein. »Verdammt richtig«, nuschelt er durch die Schweinerei in seinem Mund. »Aber während ich es tue, wirst du eine Menge lernen. Ich bin einer der besten Bluffer der Stadt.«
Ich verstecke meine linke Hand hinter meinem Rücken und presse die Fingernägel in die Handfläche, bis der Schmerz den Duft Gestank des Essens überdeckt. »Ich kann aber kein Poker.«
»Ich bin entsetzt. Wie alt bist du?«
»Achtzehn.«
»Du kannst wählen und zur Army gehen, aber Poker spielen kannst du nicht? Jemand hat deine Erziehung schwer vernachlässigt, junge Dame.« Er mischt die Karten wie ein Profi. »Setz dich, ich bring’s dir bei.«
Ich mache zwei Schritte auf die Tür zu, schüttel den Kopf und muss ein Lächeln unterdrücken. »Sorry, das Universum teilt mir gerade mit, dass es Zeit ist, nach Hause zu gehen. Ich lasse mich mit dem Strom treiben, hinaus auf den Parkplatz.«
»Du hast es kapiert, cool!« Elijah wischt mit dem Klopapier einen Tomatenfleck vom Karobuben. »Warte, ich habe eine Frage: Weißt du, wo ich einen guten Schrottplatz finde? Charlie behauptet, in ganz New Hampshire gibt es keinen einzigen. Der El Camino da draußen gehört mir, aber ohne eine neue Verteilerkappe tut er’s nicht mehr.«
»Du holst dir die Teile für dein Auto vom Schrottplatz?«
»Du etwa nicht? Das ist am billigsten und dazu noch Eins-a-Recycling.«
»Ich frag mal meinen Vater.« Ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke zu. »Der kennt sich aus mit Autos.«
»Cool. Danke.« Er deutet auf den Pizzakarton. »Willst du ganz sicher kein Stück für unterwegs?«
Oh doch, gern. »Nein, danke.«
Ich stehe da. Und stehe und stehe.
Warten.
»Ich dachte, du wolltest gehen.« Elijah wirft sich ein Wurststück in den Mund. »Willst du einen Abschiedskuss? Damit kann ich gern dienen.«
»Nein.« Wieder presse ich mir die Fingernägel in die Handfläche, um mich anzufeuern. »Hör zu«, sage ich. »Ich muss dir ein Geständnis machen. Die Pizza ist nicht nur ein Dankeschön.«
»Wusste ich’s doch!« Er boxt triumphierend in die Luft. »Du hast dich in mich verknallt. Du willst Kinder von mir. Wir werden ein paar Pferde und einen Planwagen kaufen und nach Südamerika runtermachen, um dort Ziegen zu züchten.«
»Träum weiter.« Ich räuspere mich. »Ich habe die Pizza mitgebracht, um dich zu bestechen.«
»Ich bin bestechlich.«
Ich hole tief Luft. »Ich möchte gern, dass du mich auf Cassies Beerdigung begleitest. Sonntag Früh.«
Wieder ein Grinsen. »Siehst du? Du willst ein Date!«
»Nein, will ich nicht, du Idiot! Es ist eine Beerdigung. Eine grässliche Beerdigung und ich weiß nicht, wen ich sonst fragen soll.«
Er reißt ein Stück Kruste ab. »Was springt dabei für mich raus?«
»Ich hab dir gerade eine Pizza geschenkt.«
»Das reicht nicht. Beerdigungen bringen das Schlimmste in einem zum Vorschein. Ganz miese Schwingungen.« Er schüttelt den Kopf. »Nee, das schaffe ich nicht.«
»Du musst aber.«
»Nein, muss ich nicht.«
Ich sauge meine Wange ein. »Wie wär’s mit einer Runde Karten? Wenn ich gewinne, kommst du mit.«
»Und wenn du verlierst?«
Ich schlucke. »Wenn ich verliere, gebe ich dir fünfzig Dollar – unter einer Bedingung.«
»Na bitte, wie ich dir gesagt habe: Es gibt immer einen Haken. Nämlich?«
»Wir spielen Hearts statt Poker.«
029.00
Als ich nach Hause komme, haben Jennifer und Dad es sich auf dem Sofa vorm Gaskamin gemütlich gemacht, die Flammen sind auf klein gestellt und auf dem großen Bildschirm läuft irgendein Schmachtstreifen. Jennifer massiert Balsam in Dads rechtes Handgelenk. Das exzessive Tippen hat seine Sehnenscheidenbeschwerden offenbar verschlimmert.
»Wo ist denn Emma?«, frage ich. »Sie ist doch nicht schon im Bett?«
»Sie übernachtet heute bei den Grants«, sagt Jennifer. »Entgegen aller Vernunft.«
»Wieso?«
Jennifer lässt noch mehr Massageöl aus der Flasche in ihre Hand laufen. »Morgen ist das letzte Fußballturnier, den ganzen Tag lang. Sie wird erschöpft sein. Ich finde ja immer noch, wir hätten es ihr nicht erlauben sollen.«
»Lass dem Kind doch ein bisschen Spaß«, sagt Dad und zuckt leicht zusammen, als Jennifer sein Handgelenk zu kneten beginnt. »In zehn Jahren wird sich kein Mensch mehr daran erinnern, wie sie bei diesem Fußballturnier gespielt hat.« Er sieht zu mir hoch. »Warst du wieder in der Bibliothek?«
»Bei einer Freundin. Mira«, lüge ich. »Wir haben ein bisschen Physik gelernt, aber die meiste Zeit haben wir Karten gespielt und Pizza gegessen.«
»Wie schön«, sagt Dad und strahlt mich an. »Das hast du ja schon seit Ewigkeiten nicht mehr getan.«
Jennifer hat den Blick gesenkt. Ihr Daumen massiert Kreise in die Handballen meines Vaters. »Wie war deine Sitzung bei Dr.Parker?«, erkundigt sie sich.
Das geht dich einen Scheißdreck an. »Gut. Ich bin froh, dass ich da war. Wir haben über Cassie geredet.«
»Hervorragend«, sagt Dad. »Ich bin sehr stolz auf dich.«
»Danke. Ich geh schlafen. Bin alle.«
»Wart mal.« Jennifer legt seine Hand zurück auf seinen Schoß und schaut mich endlich an. »Was ist mit der Beerdigung?«
Ich bleibe in der Tür zur Diele stehen. »Sie hält es für eine gute Idee. Ich gehe mit Mira und ein paar von den Theatermädels hin.«
»Aber wenn du dich dort unwohl fühlst, verschwindest du einfach. Und wenn du deine Meinung änderst und lieber einen von uns mitnehmen möchtest, sag Bescheid.«
»Ich komm schon klar.«
Als ich mich abwende, fügt sie hinzu: »Moment, Lia, noch etwas.«
Ich drehe mich wieder um.
»Ich habe heute noch mal mit deiner Mutter gesprochen«, sagt Jennifer, ohne Dads erstaunte Miene zu beachten.
»Ja?« Mir schwant Schlimmes.
»Ich hab ihr versprochen, dich zu überreden, morgen bei ihr zu übernachten.«
Wusste ich’s doch. »Ich will aber nicht«, sage ich. »Ich wüsste nicht, aus welchem Grund.«
»Natürlich«, sagt Jennifer. »Du bist erwachsen und triffst deine eigenen Entscheidungen. So langsam begreifen wir das auch.« Sie lächelt, wodurch ihr Ton ein wenig weicher wird. »Aber manchmal bedeutet Erwachsensein auch, das Richtige zu tun, selbst wenn man keine Lust dazu hat.«
»Meiner Meinung nach ist es aber nicht das Richtige«, erwidere ich. »Mom und ich können kein Gespräch führen, ohne uns anzubrüllen. Es ist besser, wenn wir uns aus dem Weg gehen.«
»Du hast sie seit Monaten nicht mehr richtig gesehen«, gibt Jennifer zu bedenken. »Vielleicht hat sich ja etwas geändert.«
Dads Kopf geht hin und her, als würde er sich ein Tennisspiel ansehen, ohne die Sprache der Ansager zu verstehen.
»Nur eine Nacht«, sagt Jennifer. »Denk dran, was für ein gutes Vorbild du für Emma wärst. Dass du den Stier bei den Hörnern packst, wenn dir etwas unangenehm ist. Jeder muss das lernen.«
Wie unfair, Emma ins Spiel zu bringen. Eins zu null für Jennifer.
»Na gut«, sage ich. »Eine Nacht. Aber du sagst es ihr. Ich hasse es, mit ihr zu telefonieren.«
Ich dusche ausgiebig und wasche mir meine aufdringliche Stiefmutter, meinen verwirrten Vater und den Geruch von Käse, Peperoniwurst und Motel aus den Haaren.
Einen Erfolg habe ich an diesem Tag zumindest zu verbuchen. Ich habe auf Risiko gespielt und Elijah geschlagen. Morgen um zehn hole ich ihn ab. Keiner von uns beiden hat Lust auf den Gedenkgottesdienst im Beerdigungsinstitut, wir fahren direkt zum Friedhof. Auf dem Weg dahin kann ich ihm dann auch das mit meinem richtigen Namen erklären, falls er mal länger als dreißig Sekunden die Klappe hält.
Und nach der Beerdigung setzen wir uns vielleicht nach Südamerika ab, um Ziegen zu züchten.
***
Cassie wird mit jeder Nacht dreister, kommt früher, bleibt länger, treibt mich immer mehr in den Wahnsinn. Wenn ihr Sarg erst mal in der Erde ruht, wenn die magischen Gebete gesagt sind und sie mit Blumen bedeckt ist, wird sie für immer schlafen.
Aber ich brauche dringend Schlaf. Werfe eine Schlaftablette ein und schleiche auf Zehenspitzen nach unten, um mir einen Becher Kamillentee zu holen.
Der Film ist aus und Jennifer und Dad unterhalten sich leise, im Hintergrund murmelt der Wetterbericht. In der Küche bleibe ich stehen und lausche auf Kussgeräusche. Ich hasse es hereinzuplatzen, wenn sie gerade am Knutschen sind.
Vorsichtig spähe ich um die Ecke. Keine Küsse. Nur ein Gespräch, bei dem jeder ein Ende des Sofas besetzt, zwischen ihnen liegen Kissen.
Ehemann: Du übertreibst. Sie ist ein bisschen gestresst, aber sie gibt sich Mühe.
Ehefrau: Sie sieht nicht gut aus.
Ehemann: Du stellst sie doch jede Woche auf die Waage.
Ehefrau: Mir wäre wohler, wenn man sie durchchecken würde. Ein paar Blutwerte.
Ehemann: Wir können nur den Vorschlag machen. Aber ehrlich gesagt könnte es alles noch verschlimmern, wenn wir Druck ausüben.
Ehefrau: Chloe möchte, dass sie wieder bei ihr einzieht.
Ehemann (der nach der Fernbedienung greift, um die Flammen im Kamin zu regulieren): Ich dachte, nur für eine Nacht?
Ehefrau: Sie hat Angst, dass Lia wieder außer Kontrolle gerät. Und ich finde, sie hat Recht. Ein paar Monate mit ihrer Mutter helfen Lia vielleicht, wieder ins Lot zu kommen.
Ehemann: Du warst doch diejenige, die mich überredet hat, sie hier einziehen zu lassen. Du kannst nicht einfach so deine Meinung ändern, nur weil sie zurzeit eine schwierige Phase hat. Was machst du denn, wenn das bei Emma losgeht? Schickst du sie dann auch zu Chloe?
Ehefrau: Sei nicht albern. Emma und Lia sind total verschieden.
Ehemann: Heute Abend hat sie mit Freunden Pizza gegessen. Es geht ihr gut. Du und Chloe, ihr macht so ein Brimborium um die ganze Sache… Also, wann müssen wir morgen aufstehen?
Cassie erwartet mich oben an der Treppe. Sie hat alles mit angehört.
Ich versuche sie zu ignorieren, aber jedes Mal, wenn ich mich abwende, materialisiert sie sich direkt vor meinen Augen. Zusammen kriechen wir in den PC und scrollen durch den Chor der Mädchen.
Ich hab Bulimie, seit sechs Jahren jetzt, versuch jetzt seit Kurzem gesund zu werden und habe ordentlich zugenommen, aber jetzt ein Rückfall, denn ich ertrage das Gewicht nicht länger.
Was meint ihr, in wie vielen Tagen kann man es schaffen, 11Kilo abzunehmen?
Ich versuche
mit den Kalorien unter 500 zu bleiben.
Alles darüber ist inakzeptabel.
Mucho Love! Stark bleiben <333
Ich bin so
ekelhaft und widerlich fett. Heute war ich zwei Stunden lang joggen
und hab dann bis zum Abendessen gehungert, dann gefressen wie ein
Schwein.
Fühle mich manchmal so hilflos.
Hab den
geilsten Flow! Ich glaub, so langsam hab ich den Bogen echt raus.
An alle, die gerade eine miese Phase durchmachen, seid ganz doll
gedrückt!
Ihr schafft alles, wenn ihr euch genug Mühe gebt!
Als alle im Haus schlafen, mache ich die Musik aus und zünde eine Kerze an. Cassie sitzt auf der Fensterbank und guckt zu, wie ich meine Linien mit der Rasierklinge ziehe, vollkommen gerade, auf meiner rechten Hüfte.
Jetzt passt sie zur linken.
030.00
Am Samstagmorgen halte ich auf dem Weg zu Elijah an einem Laden und kaufe eine Karte und einen Kompass. Das Navi steht inzwischen mit Rotstift auf meinem Wunschzettel für Weihnachten. Was ich eigentlich richtig dringend bräuchte, ist eine Kristallkugel, aber die kann man hier nirgends kaufen.
Kaum dass ich wieder im Wagen sitze, öffne ich die Schachtel und hole den Kompass hervor. Doch ganz egal, wie ich ihn halte, die kleine Nadel dreht und dreht sich unablässig über der Skala.
Ich will mein Geld zurück.
Anstatt mich zu lotsen, redet Elijah die ganze Zeit über seine Pläne, nach Weihnachten Richtung Süden zu fahren. Wir verfahren uns gleich nach Verlassen des Motels und verlieren Zeit, indem wir Straßen benutzen, die gar nicht auf der Karte sind.
Als wir endlich zwischen den beiden steinernen Greifvögeln hindurch auf das Friedhofsgelände »Bergblick« fahren, sind wir spät dran.
Ein hagerer Typ im langen, schwarzen Mantel und mit einem Cowboyhut auf dem Kopf winkt mich zu einem kleinen Parkplatz. Mein Wagen ist der dritte dort.
Ich steige aus und wünschte, ich hätte eine Jogginghose an, denn die Luft riecht nach Schnee. Ich zerre am Saum meines Kleides und erschaure. Das Mädchen im Spiegel sah heute Früh fast hübsch aus: frisch gewaschenes Haar, dezent geschminkt, antike Silberohrringe, ein spinnengraues, kurzärmeliges Kleid (Konfektionsgröße0), das ihm gerade bis zu den Knien ging, und mörderhohe Absätze. Aber ich habe ganz vergessen, dass draußen nur ein paar Grad über null herrschen.
»Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«, fragt Elijah, als wir die Wagentüren zuschlagen.
Der Mann mit dem Hut kommt zu uns herüber. »Wenn ihr zwei euch beeilt, seid ihr vielleicht noch rechtzeitig oben, ehe der Gottesdienst losgeht.«
»Wo oben?«, frage ich.
»Na, auf dem Hügel da«, sagt er und deutet auf eine steile Straße. »Da findet der Gottesdienst für die Familie Parrish statt. Ihr müsst laufen. Die Parkplätze oben sind alle belegt. Schönen Tag noch.« Er macht die winzigste Andeutung einer Verbeugung und tritt den Rückweg zu seinem Platz an der Einfahrt an.
»In denen hier schaff ich das nie und nimmer«, sage ich und zeige auf meine Schuhe. »In denen komme ich ja kaum bis zur Toilette.«
»Warum ziehst du sie dann an?«, fragt Elijah. Er trägt dunkle Jeans, Arbeiterschuhe, dasselbe Hemd und die Krawatte, die er schon auf der Totenwache anhatte, und dazu eine Tarnjacke. Sein Ohrring ist ein massiver schwarzer Pflock.
»Weil sie gut aussehen.«
»Nein, tun sie nicht«, widerspricht er. »Wenn sie dir wehtun, sind sie hässlich.« Er macht einen leichten Buckel und geht in die Knie. »Na los«, sagt er. »Spring auf.«
»Was?«
»Ich trag dich da hoch. Wird mich zwar wahrscheinlich umbringen, aber wenigstens sterbe ich als Märtyrer mit Heiligenschein.«
»Nicht nötig.« Ich öffne den Kofferraum meines Wagens und krame darin herum, bis ich ein paar alte, knöchelhohe Sportschuhe finde, schmutzig weiß und übersät mit blauen Tintenblumen, die ich im Geschichtsunterricht gezeichnet habe. »Ich zieh die hier an.«
Ich setze mich auf die Stoßstange, ziehe die Stöckelschuhe aus und die Turnschuhe an. Sie riechen, als hätten sie in einem Kofferraum voller Müll ein Jahr lang vor sich hin gebrütet, aber meine Zehen freuen sich.
Ich erhebe mich. »Schick, was?«
Elijah mustert die Turnschuhe und das Kleid und merkt, dass ich zittere. Er zieht seine Jacke aus und gibt sie mir. »Keine Widerrede.«
Seine Jacke trieft vor Körperwärme und riecht nach Benzin und nach Mann. »Danke.«
»Jetzt«, sagt er, während er mich zum zweiten Mal von Kopf bis Fuß mustert, »jetzt siehst du gut aus.«
031.00
Als wir endlich oben ankommen, fühle ich mich nicht gut. Die frischen Ritzer an meiner Hüfte tun weh, und ich bin mir sicher, dass einer aufgegangen ist und blutet. Mit jedem Schritt, den ich mich Cassie nähere, wird mir frösteliger und matter zumute. Auch Elijah wirkt plötzlich unsicher. Er geht mit gesenktem Kopf, die Hände in den Hosentaschen vergraben.
Überall auf dem Gipfel des Hügels wimmeln Käfer mit schwarzen Rücken, Hunderte, die sich zum Aasfestmahl eingefunden haben. Schüler und Lehrer. Die Eltern, die immer überall dabei sind. Die Mitglieder der Theatergruppe stehen in Dreier- oder Vierergrüppchen herum, die Fußballmannschaft ist ein fester Block, die meisten von ihnen im Trikot. Meine Mutter ist nirgends zu sehen.
»Wie nah willst du ran?«, fragt Elijah mich leise.
»So nahe es geht.«
Er seufzt. »Okay. Mir nach.«
Wir schlängeln uns durch die Menge auf das weiße Pavillonzelt zu. Dort sitzen Cassies Eltern und andere Verwandte auf Plastikstühlen und lauschen dem Pfarrer, der neben MrParrish steht und ihm eine Hand auf die Schulter gelegt hat.
Der Sarg ist über und über mit blassrosafarbenen Rosen bedeckt und ruht auf einer Metallstütze wie ein heißes Keksblech auf einem Gestell zum Abkühlen. Streifen aus Kunstrasen sollen das Stützgestell verdecken, aber der Wind hat sie abgelöst.
Ich stelle mich auf die Zehenspitzen. Wenn wir noch ein wenig dichter dran wären, könnten wir bis auf den Grund der Grube gucken.
Cassies Eltern können es. Nur ein paar Zentimeter vor ihren Füßen klafft die Öffnung.
Ein bienenkorbförmiger Erdhaufen ragt hinter dem Zelt auf und wartet darauf, dass der Gottesdienst zu Ende ist. Die Totengräber werden die Erde in die Grube werfen, damit Cassie nicht mehr nach oben schweben und davonrennen kann.
Die Berge im Norden verstecken sich hinter einem Schneesturm. Hier unten fegt der Wind über die Reihen der gewittergrauen Grabsteine. Ich schließe die Augen.
Cassies Maus Pinky starb im Sommer vor Beginn der vierten Klasse. Cassie weinte so bitterlich, dass ich dachte, wir müssten den Krankenwagen rufen oder zumindest meine Mom. Ich half ihr die Treppe hinunter. Ihre Mutter war irgendwo unterwegs und ihr Vater guckte gerade Baseball und befahl Cassie, mit dem Weinen aufzuhören. Nach dem Spiel würde er die tote Maus in den Müll tun.
Cassie beherrschte sich, bis wir wieder in ihrem Zimmer waren. Dann warf sie sich aufs Bett und heulte. »Ich will ihn aber nicht in den Müll tun!«
»Machen wir auch nicht«, sagte ich. »Wir werden ihn anständig beerdigen.«
Ich benutzte einen Bratenwender, um Pinky aus seinem Käfig zu hieven, und legte ihn auf Cassies blaues Lieblingskopftuch. Dann rollte ich ihn ein wie einen Mausburrito und verschnürte ihn mit Zwirn. Ich sagte ihr, sie könne ihn runtertragen, aber als sie das Kopftuch berührte, schrie sie auf.
Ich zog mir Ofenhandschuhe über und trug Pinky in den Garten. Cassie kam mit einer kleinen Schaufel hinterher.
Im Rosengarten ihrer Mutter ging das Graben am einfachsten. Jeder Strauch hatte einen Namen, der in Schönschrift auf einem handgeschriebenen Schildchen stand. Wir entschieden uns für Mordent Blush und Nearly Wild, kratzten den frischen Mulch weg und schaufelten zwischen den beiden Rosensträuchern ein Loch.
Ich tat ein bisschen so, als würde ich Latein sprechen, und intonierte fast das ganze Vaterunser. Cassie fügte lange »Ommmmmms« hinzu und behauptete, es sei Chinesisch. (Ihre Eltern förderten das Erforschen fremder Kulturen.) Und während sie ommte, legte ich Pinky in das Loch und bedeckte ihn mit Erde.
»Hoffentlich buddelt ihn kein Hund aus«, sagte ich.
Ihre Gesichtszüge entgleisten.
»Warte mal.«
Ich rannte über die Straße und holte den Plastikeimer mit Steinen aus meinem Zimmer, die ich mal am Strand gesammelt hatte. Die legten wir aufs Grab, verteilten den Mulch darauf und leierten noch ein paar Gebete runter. So standen wir mit geschlossenen Augen da, hielten uns an den Händen und schworen, dass wir unseren unvergleichlichen Pinky nie, niemals vergessen würden.
Im Sommer darauf gewann die Nearly-Wild-Rose von Cassies Mutter den Großen Preis des Rosenzüchterverbands von Greater Manchester. Die Zeitung druckte eine farbige Doppelseite über den Garten und die Familie Parrish schmiss eine Party, um ihren Erfolg zu feiern.
Der Prediger steht am Kopfende des Sarges und breitet die Arme aus, um die Götter herbeizurufen. Er dankt allen für ihr Kommen, und dann senkt sich seine Stimme, sodass man ihn nicht mehr verstehen kann. Noch ein paar Nachzügler kommen den Hang hinaufgehastet, versuchen, sich zu beeilen, ohne aufzufallen. Eine von ihnen ist eine große Frau mit Stiefeln und einem langen Nerzmantel. Ihr strohblondes Haar ist zu einem makellosen französischen Zopf geflochten und sie trägt die obligatorische Sonnenbrille, obwohl die Wolken schwarz und tief herabhängen.
Meine Mutter.
Ich stelle mich hinter Elijah. »Halt mir den Wind vom Leib, okay?«
»Was?«, fragt er. »Klar.«
Ich zähle bis zehn, dann spähe ich hinter seiner Schulter hervor. Sie steht ganz hinten, gleich hinter der Fußballmannschaft, nickt und schenkt den Leuten um sich herum die Andeutung eines Lächelns.
Jemand tritt auf den Priester zu und flüstert ihm etwas ins Ohr. Vielleicht erklärt er ihm ja, dass kein Mensch auch nur ein Wort von dem versteht, was er da murmelt, weil es so windig ist.
Der Priester nickt und brüllt: »Lasset uns beten!«
Ich lehne mich mit der Stirn an Elijahs starken Rücken.
Am Tag, an dem wir Oma Marrigan beerdigten, folgte ich meiner Mutter über den Friedhof, während ihre Hand von Zeit zu Zeit hervorschoss, um mich vor freiliegenden Wurzeln zu warnen, damit ich nicht stolperte. Ich war dreizehn. Wir liefen unter sterbenden Eichen entlang, auf deren Ästen scharfäugige Krähen entlangschritten, und an zu Marmor erstarrten, engelsgleichen Teenagern, zwischen deren Köpfen und schmalen Schultern sich Spinnennetze spannten.
Oma wartete in ihrem Sarg neben der frisch ausgehobenen Grube im hinteren Teil des Friedhofs, wo die frisch Verstorbenen hinkamen. Sie hatte sich den Sarg, die Lieder und Gebete selbst ausgesucht. Und sie hatte darum gebeten, lieber für die Bibliothek zu spenden, anstatt Blumen zu schicken.
Der Pfarrer verteilte kleine Texthefte, damit man den Gebeten besser folgen konnte, aber ich wollte keins. Meine Mutter weinte, ohne das Gesicht zu verziehen, weil Oma es nicht mochte, wenn man sich in der Öffentlichkeit in Szene setzte. Ich war wegen der Tränen meiner Mutter so perplex, dass ich von dem Gottesdienst nicht viel mitbekam.
Die Totengräber hoben den Sarg meiner Großmutter, als lägen Federn darin. Als sie ihn in die Erde hinunterließen, wehte der Wind und Geisterschatten fielen auf den Boden, die wie Schmetterlingsflügel auf- und zuklappten. Die Marmormädchen flüsterten, und die Geisterschatten schlüpften in mich hinein und versteckten sich in meinem Brustkorb…
Ich öffne die Augen. Der Pfarrer zitiert immer noch aus der Bibel. Elijah hat den Kopf gen Himmel erhoben und ist die Ruhe selbst. Meine Mitschülerin Mira schluchzt im Arm ihres Vaters. Meine Mutter hat den Kopf gesenkt, ihre Lippen bewegen sich. Ich würde gern wissen, wofür sie betet.
MrsParrish lehnt an ihrem Ehemann. Er lässt seine Wange auf ihren Kopf sinken und seine Arme und Hände halten sie fest, damit sie nicht ins Grab springt. Die Rosenblätter auf dem Sarg wirbeln im Wind. Ein paar steigen kerzengerade in den Himmel auf.
Die anderen Trauernden erschauern, als der Sturm von Norden einfällt. Rastlose Wolken aus Geistern wirbeln Pfade von einem feuchten Grab zum nächsten.
»Amen!«, brüllt der Pfarrer gegen den Wind.
032.00
Geschafft.
Der Herr in Schwarz ruft mit Donnerstimme, dass die Familie alle zu sich nach Hause einlädt, um die Trauerfeier dort fortzusetzen und sich gegenseitig Kraft zu spenden. Als Cassies Eltern aus dem Zelt kommen, tritt meine Mutter auf sie zu und sagt irgendwas. Sie umarmen sich und Mom streicht ihnen über den Rücken.
»Beerdigungen sind ätzend«, sagt Elijah zu mir. »Beim nächsten Mal spielen wir unbedingt Poker. Fertig zum Aufbruch?«
»Nicht ganz«, antworte ich. »Ich will sehen, wie sie mit Erde zugeschüttet wird.«
Er verzieht das Gesicht. »Ich warte am Wagen auf dich. Bei Toten wird mir immer ganz komisch.«
»Lia!« Der Wind weht ihre Stimme fast davon, aber nur fast.
Verdammt. Sie hat mich entdeckt.
Ich trete hinter Elijah. »Beweg dich nicht.« Er will sich umdrehen, aber ich versetze ihm einen Stoß in die Rippen. »Ich mein’s ernst!«
»Was ist denn los?«, fragt er. »Vor wem versteckst du dich?«
»Vor meiner Mutter.«
Er versucht schon wieder sich umzudrehen. »Warum?«
Ich packe sein Hemd und halte ihn fest. »Sorg einfach dafür, dass sie mich nicht sieht.«
Ich drücke mich an seinen Rücken und verstecke mein Gesicht hinter einem Vorhang aus Haaren. Wagentüren werden geöffnet und zugeschlagen, Motoren heulen auf, Reifen knirschen im Kies.
»Und warum nicht?«, fragt er.
Als sie mich zum zweiten Mal stationär aufnahmen… Als sie mich zum zweiten Mal einsperrten, ging es mir sehr, sehr, sehr schlecht. Und meine Eltern wurden sehr, sehr, sehr sauer. Tote, verfaulende Töchter hinterlassen einen widerlichen Geruch, der nicht mehr weggeht, egal wie sehr die Putzfrau schrubbt. Dad und Mom schoben sich abwechselnd die Schuld zu und schoben damit auch Bohnenstange Lia, die kranke, verhungernde Bohnenstange Lia, hin und her, was stimmt bloß nicht mit ihr, das ist alles deine Schuldschuldschuld.
Meine Mutter wollte bestimmen, wie es weiterging, wollte Dr.Marrigan sein statt Mutter der kranken Lia. Was nicht funktionierte. Die Klinikärzte buddelten einen Burggraben um mich herum und verboten Mom durchzuschwimmen – sie hatte zu warten, bis sich die Zugbrücke für Besucher öffnete. Dann kam sie ein paarmal nicht zur Familientherapie. Sie hatte immer irgendwelche Entschuldigungen parat, aber ich hörte nichts, meine Ohren waren mit Brot und Nudeln und Milchshakes verstopft.
Ich humpelte neben den anderen kaputten Patientinnen her. Einem der Mädchen hatte man eine Plastiktür in den Bauch operiert, damit sie das Essen dort reinwerfen konnte und ihren Mund nicht benutzen musste. Jedes Mal, wenn sie wütend wurde, kotzte sie alles aus ihrer Bauchtür, knallte sie dann zu und schloss sich ein.
Ich musste mir meine stoppeligen Beine in Anwesenheit einer Krankenschwester rasieren, damit ich nicht versehentlich eine Ader aufschnitt. Sobald ich eine glatte, rosarote Nacktmaus war, nahm sie mir den Rasierer wieder weg, und ich rollte mich in einer Streichholzschachtel voll Sägemehl zusammen und versteckte mein Gesicht unter dem kalten Mäuseschwänzchen. Die Seelenklempner griffen in ihre Trickkiste und teilten Tabletten aus, wenn es in die Heia ging: Ballaballa-Bonbons in Babyblau und Grau.
Wochenlang experimentierten sie an mir herum. 40Kilo. 41. 42. 43. Sie stopften die Lia-Gans mit geschmolzenem Käse und Brotbrocken. 44,9. 46,7. 47,1. 47,6. 48. Als mein Gewicht 50Kilo erreichte, wurde ich mit einem nuttenroten Ringbuch voller Vorschriften entlassen: Essenspläne, weitere Sitzungen, magische Beschwörungsformeln Affirmationen, um mich vor negativem Denken zu schützen.
Ich weigerte mich, zu meiner Mutter zurückzuziehen. Wenn ich so ein schwieriges Kind war, so eine Last für sie, würde ich eben eine andere Unterkunft finden. Sie versuchte es mir auszureden, aber ich zog die Zugbrücke hoch, schob einen eisernen Riegel vor und stellte bewaffnete Wachtposten auf.
Die Ärzte überreichten Dad und Jennifer eine schwarze Plastiktüte mit rasselnden Fläschchen voller Psychopillen, super geeignet auch als Minikastagnetten, klapperdiklapperdiklapper.
Elijah lässt die Knöchel knacken. »Warum gehst du deiner Mutter aus dem Weg?«
»Magst du etwa deine Eltern?«, frage ich.
»Ich liebe meine Mutter. Mein Dad hat mich windelweich geschlagen und dann rausgeworfen.«
»Oh«, sage ich. »Das tut mir leid.«
»Sekunde, wir müssen etwas mehr nach links«, sagt er und dreht sich ein bisschen, um mich weiter von den Blicken meiner Mutter abzuschirmen.
»Danke. Schaut sie gerade her?«
»Hatte sie, aber dann haben sich zwei Frauen mit Regenschirmen auf sie gestürzt. Und nun schlagen sie ihr gerade die Handtaschen ins Gesicht. Warum willst du nichts mit ihr zu tun haben? Hat sie deine Puppen als Opfergaben verbrannt? Oder deine Mails gelesen?«
»Sie will mein Leben managen«, erkläre ich.
»Was für eine fiese Ziege! Man könnte glatt meinen, dass sie sich für deine Mutter hält oder so.«
»Sie ist psychisch gestört«, sage ich. »Das Ganze ist kompliziert.«
»Psychisch Gestörte können sich keine Pelzmäntel leisten.«
»Die hier schon. Was tut sie gerade?«
»Ihr Kopf dreht sich wie wild im Kreis, und sie spuckt Frösche und Kröten.«
»Was erzählst du denn…« Ich luge hinter seiner Schulter hervor.
Sie steht nur drei Gräber von uns entfernt. »Lia?«, ruft sie.
»Lia?«, wiederholt Elijah wie ein Echo.
Er tritt beiseite und nimmt mir meine Deckung.
Ich trete auf das nächste Grab, Fanny Lott, 1881–1924, und hoffe, dass der Erdboden mich verschluckt. Er tut es nicht.
»Was machst du denn hier?«, fragt Mom Dr.Marrigan.
»Äh«, sage ich.
»Du heißt Lia?«, fragt Elijah.
»Ich dachte, wir hätten uns geeinigt, dass du nicht herkommst«, sagt sie.