Kapitel 15

I

Im fünften Stock hielt Westmore inne, um eine Pause einzulegen. Er trat hinaus auf die Steinveranda einer der Suiten, wo er sich eine Zigarette anzündete und beobachtete, wie der Rauch davongetrieben wurde. Die Sonne war bereits untergegangen. Das Gelände vor der Villa präsentierte sich in gespenstisches Mondlicht getaucht.

Er hatte alle Räume im Haus durchsucht, alle Schränke, Gänge und Dachkammern, die er finden konnte. Von Reginald Hildreth fehlte jede Spur. Ebenso wenig gab es Anzeichen dafür, dass sich sonst jemand heimlich im Gebäude aufhielt.

Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es 23:59 Uhr war. Um zwei soll ich die Seitentür für Clements öffnen. Mittlerweile wusste Westmore nicht mehr, was er glauben sollte. Seine Stimmung und seine Überzeugungen schwenkten mal in die eine Richtung, mal in die andere. Vielleicht sollte ich Clements einfach anrufen und ihm sagen, dass ich die Villa durchsucht, aber keinerlei Anzeichen gefunden habe, dass sich Hildreth dort aufhält. Auch Toms Informationen würden den Mann zweifellos interessieren; vor allem jene, dass sich Debbie Rodenbaugh definitiv auf dem Gelände der Universität von Oxford aufhielt.

Er wird mir zwar nicht glauben, aber es ist trotzdem eine gute Idee. Und noch etwas anderes fiel ihm ein. Vivica sollte ich auch noch einmal anrufen. Sie hatte sich nach seiner unangenehmen Nachricht von vorhin nicht gemeldet, was Westmore höchst interessant fand.

Er verfluchte sich, als er in seine Tasche fasste und merkte, dass sie leer war. Idiot! Wahrscheinlich HAT sie längst zurückgerufen. Ich muss das verfluchte Telefon in Hildreths Büro liegen gelassen haben!

Westmore schleppte sich zurück in den dritten Stock zum Büro. Sein Handy lag noch auf dem Schreibtisch. Er wollte es gerade in die Hand nehmen, um die Mailbox abzufragen, als plötzlich ...

»An alle!«, quäkte Nyvysks Stimme aus den Lautsprechern der Kommunikationsanlage. »Kommt aufs Dach!«

Hä? Nyvysk hörte sich beunruhigt an. Westmore eilte wieder hinaus und wäre beinahe mit Cathleen zusammengestoßen, die auf die Treppe zurannte.

»Was ist passiert?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie.

»Wie kommen wir aufs Dach?«

»Weiß ich auch nicht!«

Oben im fünften Stock endeten die Treppen. Nyvysk wiederholte seinen Aufruf über die Kommunikationsanlage. »Wo zum Teufel ist die Treppe zum Dach?«, brüllte Westmore in das Mikrofon zurück.

Mack und Karen tauchten am anderen Ende des Flurs auf. »Hier lang!«

Sie liefen hinter den beiden eine weitere Treppe hinauf. Dann gelangten sie zu viert auf eine vornehme Terrasse mit Brüstung, Clubsesseln, Sonnenschirmen und Blumentöpfen.

»Adrianne hat mir in der Kommunikationszentrale eine Nachricht hinterlassen«, teilte ihnen Nyvysk mit, der an der hohen Steinmauer lehnte. Er wirkte niedergeschlagen. »Sie meinte, sie würde von hier oben aus eine Astralwanderung antreten.«

»Was stimmt denn nicht?«, wollte Karen wissen.

»Sehen Sie selbst.«

Nyvysk deutete über den Rand der Brüstung nach unten. Alle Blicke folgten seinem ausgestreckten Arm.

»Oh du lieber Himmel«, murmelte Westmore und fuhr sich mit der Hand an den Kopf.

Cathleen und Karen stießen einen erstickten Schrei aus. Mack und Nyvysk starrten wortlos hinunter.

Adriannes nackter Körper lag ausgestreckt auf dem Natursteinweg. Durch den fünf Geschosse tiefen Sturz war er übel zugerichtet und durch ein gebrochenes Rückgrat in einem Winkel von fast 90 Grad verkrümmt. Um ihren Kopf herum hatte sich eine Blutlache gebildet.

»Jemand muss sie runtergeworfen haben«, stieß Karen schluchzend hervor.

»Ja«, pflichtete Nyvysk ihr bei. »Und zwar, während sie sich außerhalb ihres Körpers befand. In ihrem schutzlosesten Zustand.«

Cathleen wischte sich über die Augen. »Na ja, vielleicht auch nicht. Sie hatte in der Vergangenheit häufiger mal Selbstmordgedanken.«

Verstört streckte Westmore die Hand aus. »Jetzt hören Sie aber auf. Selbstmord? Sie ist nackt. Wahrscheinlich wurde sie erst vergewaltigt und dann vom Dach geworfen. Warum sollte sie die Kleider ausziehen, um Selbstmord zu begehen?«

»Manchmal legen Astralwanderer ihre Kleider ab, bevor sie ihren Körper verlassen«, gab Cathleen zu bedenken. »Ich tue oft dasselbe, wenn ich eine Divination beginne oder mich in Trance versetze.«

Westmore schüttelte den Kopf. »Das kaufe ich Ihnen nicht ab. Es ist offensichtlich, dass sie jemand über die Brüstung geschleudert hat.« Ein unwillkürlicher Reflex ließ ihn auf Mack schauen. Einige andere taten es ihm gleich.

»He, lecken Sie mich, Mann!«, wehrte sich Mack. »Das könnte jeder gewesen sein. Sie zeigen bloß auf mich, weil ich nicht zu ihrem übersinnlichen Hokuspokusverein gehöre. Und wo bitteschön waren eigentlich Sie, als es passiert ist?«

»Er kam gerade aus dem Büro, ich habe ihn gesehen«, beteuerte Cathleen.

Mack runzelte die Stirn. »Er hätte es jederzeit tun können!«

»Ach ja?«, entgegnete Westmore gereizt. »Und was ist aus der Frau vom Schlüsseldienst geworden? Sie waren der Letzte, der sie gesehen hat. Sie hatten sogar Sex mit ihr, und was passiert dann? Sie verschwindet.«

»Sie reden Scheiße, Kumpel!« Mack sprang vor und packte Westmore am Kragen. »Ich glaube, Sie haben Sie umgebracht!«

Nyvysks Größe und Masse ermöglichten es ihm mühelos, die beiden Männer voneinander zu trennen. »Niemand beschuldigt hier irgendwen. Lassen Sie uns einen kühlen Kopf bewahren.«

»Und wo steckt eigentlich dieser perverse Crackdealer Willis?«, fügte Mack hinzu.

»Ich glaube, jemand hat sie vergewaltigt und dann eiskalt in den Tod gestoßen«, wiederholte Westmore.

»Sie wurde schon einmal vergewaltigt«, rief Karen ihnen in Erinnerung. »Und nicht von jemandem. Von denselben Kreaturen, die Cathleen und mich vergewaltigt haben.«

»Das ist durchaus ein Ansatzpunkt«, räumte Nyvysk ein. »Morde durch körperlose Entitäten sind selten, aber es gibt einige dokumentierte Fälle.«

Westmore jedoch ging plötzlich etwas anderes durch den Kopf. Von JEMANDEM oder von ETWAS? Oder vielleicht von Hildreth höchstpersönlich ...

II

Willis hatte Nyvysks Rundruf nicht gehört, weil er ohnmächtig in einem der Salons lag. Wieder hatte seine letzte Zielvision ihm wohl die Zukunft anstelle der Vergangenheit gezeigt.

Ein Raum aus Fleisch. Ein Tempel aus Fleisch.

Eine Mauer. Nein, eine Tür – eine Tür, die sich ebenfalls aus wallendem, warmem Fleisch zusammensetzte.

Die Tür stand ein Stück weit offen.

Plötzlich bewirkte Willis’ Vision, dass sich sein Gehirn anfühlte, als würde es brodeln. Der Druck stieg an, bis sein Schädel zu platzen drohte.

Er spähte durch den Spalt und erblickte hinter der Tür etwas Abscheuliches. Dann erfuhr die Vision eine blitzartige Veränderung, und er sah sich selbst, wie er langsam erwürgt wurde, während Hildreth und mehrere unbeschreibliche Kreaturen dabei zusahen.

Da brach er bewusstlos zusammen.

Als er wieder aufwachte, glaubte er, vielleicht einen leichten Schlaganfall erlitten zu haben. Schmerzen pulsierten durch seinen Kopf. Ich habe genug von diesem Ort, beschloss er, kaum dass er sich aufgerappelt hatte. Ich sollte einfach von hier verschwinden ...

Taumelnd tat er ein paar Schritte.

Ja. Ich verschwinde.

Was nützte ihm Vivicas Geld, wenn er tot war? Er fasste den Entschluss, nach den anderen zu suchen, um ihnen mitzuteilen, dass er es hier nicht mehr aushielt. Würden sie ihn für einen Feigling halten? Das bezweifle ich. Tief in ihrem Inneren wollen sie doch alle weg von hier!

In der Hoffnung, Westmore zu finden, betrat er das Büro, das allerdings verwaist dalag. Am Rand des Raums flimmerte etwas.

Willis hatte keine andere Wahl, als hinzugehen, sobald ihm klar wurde, worum es sich handelte ...

Westmore hatte eine der DVDs auf seinem Laptop abgespielt, allerdings mit stumm geschaltetem Ton. Es war ein Porno, eine weitere Versuchung für Willis.

Seine Schwäche zwang ihn dazu, sich den Film anzusehen.

Das hört bei mir nie auf ... Obwohl ihn ein tiefes Schamgefühl überkam, konnte er seinen Blick nicht losreißen, betrachtete eine Szene nach der anderen, eine wunderschöne nackte Frau nach der anderen.

Als der Abspann lief, griff er wahllos eine weitere DVD vom Schreibtisch und legte sie ins Laufwerk ein.

Willis runzelte die Stirn.

Nichts. Im schnellen Vorlauf zog mehrere Minuten lang ein schwarzer Bildschirm vorüber. Als schließlich etwas zu erkennen war, schaltete er auf normale Wiedergabegeschwindigkeit um und rechnete mit einem weiteren Porno, doch stattdessen ...

Pfui, dachte er. Auf diesen Sadomaso-Kram stehe ich überhaupt nicht.

Eine nackte Frau lag mit ausgestreckten Armen und Beinen auf einem Tisch. Willis konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber es schien sich nicht um eine der üblichen Pornodarstellerinnen von Hildreth zu handeln. Keine Implantate, keine verblüffende Sonnenbräune. Die Frau wirkte blutjung.

Jemand führte ein Genitalpiercing der extremen Art durch. Zentimeterweise wurden ihre Schamlippen mit Chromringen verschlossen. Bei jedem weiteren Ring zuckte die Frau zusammen. Als die Tortur überstanden war, sah ihr Geschlecht aus, als habe man es mit einer silbernen Naht versiegelt.

Das ist kein Porno. Was ist das für Scheiße?

Auf dem Bildschirm stützte sich die Frau einen Moment lang auf und bot ihr Gesicht der Kamera preis. Erschüttert, um die Augen gerötet.

Es war die junge Frau, für die sich Westmore so brennend interessierte, das Mädchen vom Gemälde. Wie hieß sie noch gleich?

Ach ja. Debbie Rodenbaugh.

Hatte Westmore diese DVD schon gesehen? Vielleicht nicht. Vielleicht sollte ich ihm besser davon erzählen. Seine letzte Handlung in der Villa, bevor er sie für immer verließ.

»Das ist ein Keuschheitsgürtel«, ertönte hinter ihm eine Stimme. »Er symbolisiert ihre Jungfräulichkeit. Belarius liebt huldigende Symbole.«

Willis wirbelte herum.

Seine Augen weiteten sich.

Es war Vanni, die Frau vom Schlüsseldienst.

Sie sah schlimmer aus als bei seiner ersten Begegnung mit ihrem Wiedergänger. Dünner, grauer, ausgemergelter, wie eine Leiche in einem Konzentrationslager.

»Letztes Mal hatte ich keine Angst vor dir und diesmal auch nicht. Du bist eine Vision. Du bist ein totes Bild.«

Ihre einst üppigen Brüste hingen schlaff herab und die Nippel hatten sich dermaßen verdunkelt, dass sie fast schwarz wirkten.

»Ein Wiedergänger? Eine körperlose Erscheinung?«

»Ja.«

Mit knochigen Hüften und Beinen gleich grauen Stöcken trat sie vor. »Bist du sicher?«

»Ganz sicher«, erwiderte Willis.

»Aber du nimmst Erscheinungen von Wiedergängern doch nur wahr, wenn du Gegenstände berührst, oder?«

»Ja.«

Ein finsteres Lächeln. »Du hast deine Handschuhe noch an.«

Erneut weiteten sich Willis’ Augen. Er blickte auf seine Hände hinab.

Sie hatte recht.

Finger wie Haken schnellten vor und packten ihn an der Kehle. Willis versuchte zu schreien, aber es gelang ihm nicht – der Druck würgte ihm die Stimme ab. Mit einer jähen Bewegung toter grauer Glieder wurde er zu Boden gezerrt. Fingerspitzen drückten fester zu, als wollten sie ihm den Adamsapfel wie einen Korken aus dem Hals drehen.

»Das Haus setzt einen Teil seiner gespeicherten Energie frei«, erklärte die Kreatur, die einst Vanni gewesen war. »Es ist fast so weit. Hildreth wird den Spalt wieder öffnen.«

Willis fuchtelte hilflos mit den Armen und röchelte. Die schlaffen Brüste mit den dunklen Warzen schaukelten vor seiner schwindenden Sicht. Speichel tropfte aus seinem Mund.

»In der Hölle wird es für dich so viel zu berühren geben ...«

Mit einem Ruck wurde der Gürtel aus den Schlaufen seiner Hose gezogen und fachkundig um seinen Hals gelegt. Zentimeter für Zentimeter zog er sich zu, bis sein Gesicht rot anlief und er krampfhaft zuckend auf dem Boden starb.

III

»Wäre es nicht jetzt an der Zeit, die Polizei zu rufen?«, fragte Cathleen. Sie saß völlig außer Fassung auf dem Clubsessel, auf dem sich zuvor Adriannes Körper befunden hatte, bevor sie vom Dach gesprungen – oder geworfen worden – war.

»Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht«, brabbelte Westmore regelrecht. »Rechtlich gesehen wäre es das Richtige, aber ich glaube, inzwischen wissen wir alle, dass bald noch etwas anderes passieren wird.«

»Es wäre ein Fehler, die Polizei ausgerechnet jetzt zu rufen«, stellte Nyvysk fest. Mondlicht ließ sein Gesicht blass erscheinen. »Und ich denke, wir sollten auch Vivica nichts davon sagen. Ich weiß, das klingt unlogisch. Aber Westmore hat recht. Adrianne können wir ohnehin nicht zurückholen. Und hier wird etwas passieren. Und wir müssen herausfinden, was genau. Wenn wir jetzt die Polizei rufen, wird sie das Haus abriegeln.«

Mack schaute über den Rand hinunter. »Wir können ihre Leiche nicht einfach dort unten liegen lassen.«

»Nein, das können wir nicht. Wir holen sie rein. Wir legen sie in einen der begehbaren Kühlschränke in der Küche. Was Besseres fällt mir jedenfalls gerade nicht ein.«

Denen ist Hildreths Geheimnis wichtiger als Recht und Gesetz. Westmore musste sich eingestehen: Das ... geht mir selbst auch nicht anders.

»Ich kannte Adrianne gut«, fuhr Nyvysk fort. »Sie war eine recht überzeugte Christin, aber eine anständige Beerdigung und das ganze Drumherum sind ihr nicht wichtig. Sie glaubt genau wie ich, dass ihr Geist ewig leben wird. Ich bin überzeugt davon, dass sie sich im Himmel befindet. Sie würde wollen, dass wir die Vorgänge in der Villa weiter untersuchen.«

»Aha, und was, wenn Sie sich irren?«, herrschte Karen ihn an. »Woher wissen Sie, was sie wollen würde? Sie ist tot.«

»Sie ist nur körperlich tot. Wenn ich dort unten läge, würde ich wollen, dass der Rest der Gruppe mit unserer Mission fortfährt«, sprach Nyvysk weiter.

»Ich weiß wirklich nicht, warum ich Ihnen zustimme, aber ich tu’s«, meldete sich Westmore zu Wort. »Allerdings sollten wir die Leiche trotzdem ins Haus holen. Mack und ich können das übernehmen.« Er schaute zu Nyvysk, Karen und Cathleen. »Warum suchen Sie drei nicht inzwischen nach Willis?«

»Gute Idee«, fand Nyvysk.

»Aber was, wenn Willis derjenige war, der Adrianne umgebracht hat?«, gab Mack mit angespannter Stimme zu bedenken.

»Ich bin überzeugt, dass er es nicht war«, entgegnete Nyvysk. »Zuerst suchen wir ihn, dann verbringe ich den Rest der Nacht damit, die Gaussmessungen grafisch auszuwerten. In bestimmten Segmenten sind die Werte den ganzen Tag lang gestiegen.«

Cathleen wirkte besorgt. »Warum hast du uns das nicht schon früher erzählt?«

»Ich wollte niemanden beunruhigen ...«

Karen schien gereizt zu sein ... oder verängstigt. »Sie meinen diese Ionendinger? Warum sollte das jemanden beunruhigen?«

»Es könnte bedeuten, dass sich die Wiedergängerladung im Haus verändert und stärker wird«, antwortete ihr Cathleen.

Nyvysk nickte. »Um die nächste Phase von Hildreths Plänen einzuläuten. Was immer der Kerl genau vorhaben mag.«

»Fein.« Westmore versuchte, seine Gedanken im Zaum zu halten. »Sie tun, was immer Sie zu tun haben. Mack und ich kümmern uns um Adriannes Leiche. Bringen wir es am besten direkt hinter uns. An die Arbeit!«

Als Westmore und Mack das Dach verließen, sagte Nyvysk zu Karen: »Ich muss mich mit Cathleen unterhalten – unter vier Augen, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Na toll!«, fauchte Karen. »Irgendjemand im Haus könnte ein Mörder sein und Sie beide fangen jetzt mit so einer komischen Geheimniskrämerei an!«

»Beruhigen Sie sich«, sagte Cathleen. »Wir kommen gleich runter.«

Beleidigt zog Karen von dannen.

»Beunruhigt dich etwas?«, fragte Nyvysk, nachdem Karen gegangen war.

»Ich ...«

»Was?«

»Du und Karen, ihr macht euch auf die Suche nach Willis, okay? Ich möchte etwas anderes tun.«

Der Mond zeichnete einen scharfkantigen Umriss von Nyvysks großer Gestalt. »Ich verstehe. Viel Glück!«

Cathleen seufzte und schaute ihm nach.

Sie fragte sich, ob sie ihn jemals wiedersehen würde.

IV

Westmore war völlig außer Fassung, nachdem sie hinausgegangen waren und Adriannes nackten Leichnam in eine Decke gehüllt hatten. Wenigstens hatten sich die Insekten noch nicht darüber hergemacht. Mack schaltete den Alarm wieder scharf, als sie ins Haus zurückkamen, dann half er Westmore, die Leiche im Kühlraum zu verstauen.

»Sie trauen mir überhaupt nicht, was?«, fragte Mack.

Westmore schloss die Tür des Kühlraums. »Nein.«

»Sie denken, ich hätte sie umgebracht?«

»Nein ... äh, das denke ich nicht. Ich traue im Augenblick generell niemandem«, entgegnete Westmore und zündete sich eine Zigarette an.

»Na schön. Hier, schauen Sie ...«

Westmore erstarrte, als Mack eine kleine Pistole aus der Tasche holte, deutlich kleiner als das Exemplar, das er oben in der Schublade im Büro entdeckt hatte. Wie lange trug er die Waffe schon?

Er reichte sie Westmore mit dem Griff voraus. »Jetzt können Sie alle vor mir großem, bösem Kerl beschützen.«

»Das war nicht persönlich gemeint.« Westmore nahm die Pistole entgegen. Zumindest empfand er es als interessante Geste. »Ich gehe davon aus, dass Sie mir ebenso wenig trauen wie ich Ihnen – oder sonst jemandem.«

»Jemand, den Sie vielleicht im Auge behalten sollten, ist Karen«, schlug Mack vor.

»Wieso das?«

»Glauben Sie mir einfach.«

»Ich glaube keine Minute lang, dass Karen Adrianne vom Dach geworfen hat, Mack.«

»Warum nicht? Sie ist völlig durchgeknallt und Willis ist auch total im Arsch. Verstehen Sie nicht, was mit all diesen Typen los ist? Sie sind halb wahnsinnig. Man weiß nicht, wozu sie in der Lage sind.«

Westmore schüttelte nur den Kopf. »Wollen Sie wissen, wen ich am stärksten in Verdacht habe?«

»Sie meinen, nicht mich?«

Westmore glaubte nicht, dass es schaden konnte, Mack zu erzählen, was er gesehen hatte. Außerdem war er neugierig, wie der andere darauf reagieren würde. »Vivica hat mir erzählt, sie sei noch nie in der Villa gewesen.«

»Ja?«

»Ja. Aber ich habe vorhin in einem T&T-Porno gesehen, wie sie auf der Treppe im Foyer gevögelt wurde.« Westmore sah Mack direkt in die Augen. »Von Ihnen.«

»Na und? Sie ist halt nymphoman, genau wie es jedes andere Flittchen hier war«, erwiderte Mack. »In diesem Haus haben es wahrscheinlich mehr Leute miteinander getrieben als in jedem anderen Haus der Geschichte. Hildreth ließ sie tun, was immer sie wollte.«

»Und was sie wollte, waren Sie. Mack der Hengst.«

»Hey, ich werde mich nicht dafür entschuldigen, dass die Frauen auf mich abfahren. Klingt, als wären Sie neidisch.«

Oh Mann. »Warum hat sie dann mir gegenüber behauptet, dass sie noch nie in der Villa gewesen ist?«

»Ich hab keine Ahnung.«

Westmore war nicht sicher, was er sich von der Aktion versprochen hatte. Macks Reaktion wirkte jedenfalls unverfänglich. »Und da wir gerade von Vivica reden ...« Er zog sein Handy aus der Tasche, um zu überprüfen, ob sie inzwischen zurückgerufen hatte. Immer noch nichts von ihr ... Allerdings war eine andere Nachricht auf der Mailbox eingegangen.

Westmore fragte sie ab ...

»Ich bin’s wieder«, sagte Tom. »Ich habe diese Zahlen überprüft, die du mir gegeben hast ...«

Westmore kramte den Zettel mit dem Ausdruck des Scans hervor:

EINGABEAUFFORDERUNG: NAHRUNG

APOGÄUM DÜNN

REAKTION: 06000430

BESTIMMUNGSPUNKT: 00000403

»›Apogäum dünn‹ steht für dünnlagiges Apogäum – das ist ein Apogäum einer Umlaufbahn. Der Bestimmungspunkt ist ein Datum und eine Uhrzeit, so wird das von Astronomen protokolliert, alles in einer durchgehenden Zeile. Die ersten vier Nullen kennzeichnen die Zeit – Mitternacht – und null vier, null drei steht für 3. April.«

3. April. Mitternacht, schoss es Westmore sofort durch den Kopf. Die Nacht des Blutbads ...

»Das ist der Bestimmungspunkt – oder der Startpunkt«, fuhr Tom in der Nachricht fort. »Sieht so aus, als hätte Hildreth an einem mathematischen Problem gearbeitet, und das war die Ausgangsstellung. Die Reaktion ist die Antwort, ebenfalls ein Datum und eine Uhrzeit. Null-sechs-null-null ist die Zeit – sechs Uhr morgens. Null-vier-drei-null ist das Datum: 30. April. Schau auf den Kalender, Kumpel. Das ist morgen früh. Und was genau morgen früh passiert, ist Folgendes: Es gibt einen Stern namens M39, der zum ersten Mal seit Beginn der astronomischen Aufzeichnungen sein Apogäum erreichen wird. Für die Experten ist das eine große Sache. Dieser Stern war der Erde nicht mehr so nah, seit wir Affen waren.«

Morgen früh. Der Gedanke kreiste wie ein Damoklesschwert über Westmores Kopf. Dann passiert, was immer Hildreth geplant hat ...

»Noch etwas«, ging Toms Nachricht weiter. »Du hast doch behauptet, dass sich dieser Hildreth mit okkultem Kram befasst, richtig? Tja, für so jemanden ist der 30. April ein wichtiges Datum. Es ist ein okkulter Festtag namens Beltane – der Tag vor dem 1. Mai. Vor Tausenden Jahren führten Heiden am Beltane Rituale durch, ein Zeichen ihrer Verehrung für die Götter der Unterwelt – Dämonen und dergleichen. Sie glaubten, diese Dämonen würden sie an dem Tag segnen, weil am Beltane der Durchlass zwischen der Hölle und der Erde am dünnsten ist oder so ähnlich.«

In der Leitung entstand eine längere Pause und Seiten wurden umgeblättert. Offensichtlich blätterte Tom in seinen Notizen. »So, das war’s, mein Freund. Ich schicke dir meine Rechnung. Schönen Tag noch – oder vielleicht sollte ich sagen ...« Tom kicherte. »Schönen Beltane.«

Damit endete die Nachricht.

Westmores geistiges Getriebe rotierte auf Hochtouren. Er hatte nun endlich einen Großteil des Rätsels, das ihm Vivica mit ihrem Auftrag gestellt hatte, gelöst. »Das ist in sechs Stunden«, murmelte er.

»Was?«, fragte Mack.

»Am 3. April hat Hildreth jeden in diesem Haus als Teil eines Rituals abgeschlachtet. Der letzte Teil dieses Rituals beginnt in sechs Stunden ...«

V

Cathleen glitzerte wieder. Sie lag nackt auf demselben Clubsessel, den Adrianne benutzt hatte, als sie die letzte Astralwanderung ihres Lebens antrat. Cathleens Entschlossenheit überwog ihre Furcht – zumindest hoffte sie das. Wer immer Adrianne getötet hatte, konnte mühelos dasselbe mit ihr tun, obendrein exakt vom selben Ort aus.

Aber es wurde wirklich Zeit – Zeit, Antworten zu erhalten.

Das Mondlicht auf der nackten Haut brachte den pontischen Staub zusammen mit ihrem Schweiß zum Schäumen. In Gedanken verlangsamte sie ihren Puls, ihre Atmung und senkte ihren Blutdruck ab – so wie sie durch mentale Kraft Gegenstände zu bewegen vermochte, konnte sie auch den eigenen Metabolismus beeinflussen; eine Eigenschaft, die unter begabten Mentalisten keineswegs als ungewöhnlich galt. Die Ruhe der Nacht begann sie zu liebkosen, über ihre Haut zu streicheln, ihre Brustwarzen zu verhärten. Der Steinstaub fühlte sich strahlend und heiß an, und bald galt dasselbe für den Rest von Cathleen.

Sie zwang sich, tiefer und tiefer hinabzusinken ...

Ja, es war an der Zeit, dem Wahnsinn in diesem Haus ein Ende zu bereiten, doch sie wusste, dass ihnen das nicht ohne Antworten gelingen würde.

Und sie fragte sich, wer sie finden würde, sobald sie in den Theta-Schlaf fiel ...

Adrianne? Oder Hildreth?

VI

Westmore und Mack trennten sich für die Suche nach Willis. Glaube ich wirklich, dass er Adrianne umgebracht hat?, fragte er sich. Vermutlich hatte er es nicht getan – wahrscheinlich war sie selbst gesprungen. Sie war von Natur aus labil – und dann wurde es hier in der Villa einfach zu viel für sie. Die ganze Gruppe bestand aus labilen Leuten.

Und trotzdem ...

Er malte sich in Bezug auf Willis den schlimmstmöglichen Fall aus. Falls ihn jemand getötet hatte ... Wo befand sich der beste Platz, um die Leiche verschwinden zu lassen?

Die verborgenen Gänge?

In zwei Stunden würde er ohnehin durch diese Gänge laufen müssen, um Clements hereinzulassen. Westmore steuerte den Vorhang an, trat hindurch und war mit einem Mal sehr froh darüber, dass er Macks Pistole in der Tasche hatte. Er durchstreifte das gesamte Netzwerk der schmalen Korridore, verwundert darüber, dass er sich nicht zu Tode fürchtete. Die tulpenförmigen Wandleuchten erhellten den Weg, aber nur schwach. Was, wenn er um eine Ecke bog und dort jemand stand, der ihn anstarrte?

Halt die Klappe!, schimpfte er mit sich selbst.

Als er die kleine Bibliothek erreichte, war er unterwegs auf nichts Verdächtiges gestoßen – zumindest auf nichts, was man in einem Geheimgang verdächtig nennen konnte. In der offensichtlich kaum benutzten Bibliothek breitete sich der Staub ungehindert aus. Die einzigen Fußabdrücke in der Schicht auf dem Boden stammten eindeutig von ihm selbst.

Ich kehre wohl besser zurück zu den anderen, dachte er. Das ist reine Zeitverschwendung.

Westmore wandte sich zum Gehen, hielt dann aber inne.

Etwas auf dem Boden.

Er starrte hinab.

Plötzlich erkannte er deutlich einen weiteren Satz Fußabdrücke. Waren sie vorher schon da gewesen?

Es handelte sich um Spuren nackter kleinerer Füße ...

Offensichtlich die einer Frau, erkannte Westmore.

Sein Blick folgte den Abdrücken den kurzen Gang hinab zur versteckten Ausgangstür.

Als Westmore in die frei zugänglichen Räume der Villa zurückkehrte, kreisten ihm Fragen durch den Kopf. Wer weiß von dem verborgenen Ausgang?

Wahrscheinlich niemand aus der Gruppe, aber was war mit Mack und Karen? Sie kamen durchaus infrage.

Stammten die Abdrücke von Karen?

Es war unmöglich festzustellen, aber einen Moment später nahm er etwas anderes wahr ...

Ein Schrei mit dem schrillen Klang einer Schiedsrichterpfeife hallte die Treppen herab.

Und er stammte eindeutig von Karen.

Westmore rannte die Stufen hinauf – zwei Treppenfluchten, das spürte er –, dann empfing ihn im dunklen Flur ein weiterer Schrei.

Das Büro, erkannte er und lief dorthin.

Die anderen – Cathleen fehlte – hatten sich hinter dem Schreibtisch versammelt. Nyvysk redete auf Karen ein. Sie wirkte gebrochen, der Rest der Gruppe sah blass aus und starrte auf den Boden.

»Was ist los?«, wollte Westmore wissen.

»Karen hat Willis gefunden«, antwortete jemand.

Die Leiche des Taktionisten war unter den Schreibtisch gepfercht worden.

»Großer Gott. Was ist mit ihm passiert?«

»Anscheinend erwürgt«, sagte Nyvysk. »Sehen Sie die Strangulationsmale an seinem Hals?«

Der düstere Anblick, der sich Westmore bot, wirkte wie aus einer anderen Welt. Willis’ Gesicht war blau angelaufen und rosa marmoriert, die Augen quollen fast aus den Höhlen.

»Bei Adrianne wissen wir es nicht mit Sicherheit, aber ich würde sagen, niemand kann bestreiten, dass wir es hier mit einem Mord zu tun haben. Schrecklich!«

»Mord«, ergänzte Nyvysk, »oder ein versehentliches Opfer.«

»Soll das heißen, die ›Ladung‹ des Hauses wird stärker? Verstehe ich das richtig?«, fragte Westmore.

»Das verstehen Sie völlig richtig.«

»Scheiß auf den ganzen Dreck«, fluchte Mack. »Wer hat Willis zuletzt lebend gesehen?«

Niemand antwortete ihm.

Nach einer unangenehmen Phase des Schweigens ergriff Nyvysk das Wort. »Stand der Tresor gestern nicht offen?«

Alle schauten zur Wand. Ich glaube schon, dachte Westmore. Ich habe ihn offen gelassen, als ich den Zettel fand ...

Nun war er wieder geschlossen.

Westmore rüttelte am Riegelgriff.

Er bewegte sich nicht.

Er stellte am Kombinationsknopf das neunstellige Akrostichon ein, drehte den Riegel und öffnete den Tresor.

Im Inneren lag ein einziger, ziemlich unscheinbarer Gegenstand: der Gürtel von Patrick Willis.

VII

Nyvysk standen die Nackenhaare hart wie Stacheldraht zu Berge, als er die Gaussmeter in das Südatrium schleppte und sie dort an die Steckdosen anschloss, um sie aufzuladen. Er richtete sie in verschiedenen Winkeln nach außen und verband sie mit der Prozessoreinheit, die er mit dem Fernseher verkabelt hatte. Kann nicht schaden, auch hier unten einige Messungen durchzuführen.

Aber er konnte sich nicht richtig konzentrieren.

In seinem Hals kribbelte es.

Es war das Gefühl, das sie alle in den letzten Stunden kennengelernt hatten: Die Ladung des Hauses stieg unaufhaltsam an. Daran bestand kein Zweifel. Adriannes Tod hatte dazu ebenso beigetragen wie der von Willis. Dann gab es da noch die Frau vom Schlüsseldienst, die sicherlich auch nicht mehr unter den Lebenden weilte, obwohl ihre Leiche bislang noch nicht aufgetaucht war.

Es sammelt sich Wiedergängerenergie ... Er betrachtete die Gaussmeter und erkannte die Metapher. Die Villa lädt ihre EIGENEN Batterien für eine gewaltige Entladung auf, die Hildreth seit langer Zeit plant – vielleicht schon seit JAHREN. Was immer das eigentliche Ereignis sein mag, die Lunte dafür hat er am 3. April angezündet. Und diese Lunte erreicht das Pulverfass in ...

Er blickte auf die Uhr: 01:15 Uhr ...

In weniger als fünf Stunden.

Er hatte die Gaussmeter aus dem Scharlachroten Zimmer geholt, um die mobilen Akkus aufzuladen. Wo soll ich es als Nächstes damit versuchen?, überlegte er. Das Scharlachrote Zimmer müsste eigentlich die besten Wiedergängerbilder liefern ... bislang herrschte diesbezüglich allerdings Fehlanzeige. Nach den ganzen Morden wäre zu erwarten gewesen, dass es vor Restenergie nur so strotzte. Aber die Messungen, die er bisher durchgeführt hatte, waren kaum stärker als in anderen, gewöhnlicheren Bereichen der Villa gewesen. Höchstwahrscheinlich werden sie sich noch beschleunigen, dachte er, als die Akkus fertig angeschlossen waren. Sobald sich die Villa dem Ziel nähert, auf das sie zusteuert.

Sie steuerte auf etwas zu – so viel stand für ihn fest. Nun richteten sich auch die Härchen an seinen Armen auf. Selbst seine Zahnfüllungen schienen leicht zu vibrieren.

»Nyvysk«, hörte er eine Stimme.

Ein aufgeregtes Flüstern.

Er hatte es so flüchtig vernommen, dass er glaubte, es wäre in seinem Kopf entstanden. Dann:

»Mein Liebster ...«

Nun füllte die Stimme den Raum aus und er wusste, zu wem sie gehörte.

Saeed ...

Sie schien aus der Kommunikationsanlage zu kommen, aber als er sich dem Lautsprecher näherte, kam sie plötzlich aus einer anderen Richtung.

»Wir können so zusammen sein, wie es uns im Leben nie vergönnt war.«

Erneut drehte Nyvysk sich um.

Ihm blieb keine Zeit, um viel zu erkennen, dafür hörte er noch etwas.

»Komm zu mir in diesen wundervollen Tod ...«

VIII

Es ist gleich so weit, dachte Westmore.

Zehn Minuten vor zwei.

Er ging zurück durch die geheimen Gänge und als er in die kleine Bibliothek gelangte, stellte er fest, dass die Abdrücke immer noch vorhanden waren. Spuren von nackten Frauenfüßen, die hinaus, aber nicht wieder hereinführten. Das bilde ich mir nicht ein, ging ihm durch den Kopf.

Aber die Abdrücke konnten doch auch alt sein, oder? Eine der Pornodarstellerinnen konnte sie bereits vor den Morden hinterlassen haben. Daran hab ich noch gar nicht gedacht ...

Allerdings war er davon auch nicht wirklich überzeugt.

Als er die verborgene Tür öffnete, setzte sein Herz für einen Schlag aus. Eine Gestalt stand vor ihm.

»Ich hoffe, Sie haben sich meinetwegen nicht in die Hose geschissen.« Es war Clements, der ein verschmitztes Lächeln im Gesicht und einen kleinen Rucksack auf dem Rücken trug. Der ehemalige Polizist sah auf die Uhr. »Sie kommen genau pünktlich.«

Verdammter Penner. Westmore entspannte sich wieder. »Was ist in dem Rucksack?«

»Taschenlampen, Werkzeug, Schießeisen.«

Keine Thermoskanne mit Kaffee? »Wo ist Connie?«

»Draußen beim Auto.« Clements überprüfte das Magazin einer außerordentlich großen Pistole, bevor er die Waffe wieder unter seinem Hemd verschwinden ließ. »Sie hat eines meiner anderen Handys – ich rufe sie an, sobald wir Debbie gefunden haben, dann kommt sie mit dem Wagen her und bringt das Mädchen und Sie zu meinem Haus.«

Westmore kratzte sich am Kopf. »Wo werden Sie sein?«

»Hier. Um nach Hildreth zu suchen – falls wir ihn nicht zuerst finden. So oder so, er beißt heute Nacht ins Gras.«

Westmore widersprach dem Mann nicht. Clements folgte ihm durch die dunklen Eingeweide der Villa. »Wo sind denn alle? Ich möchte nicht gesehen werden, außer, es lässt sich überhaupt nicht vermeiden.«

»Alle außer Cathleen sind unten«, antwortete Westmore. Dann schluckte er. »Aber Adrianne Saundlund und Patrick Willis sind tot.«

»Wie ist das denn passiert?«

»Das wissen wir nicht genau. Allerdings wurde Willis eindeutig ermordet, bei Adrianne ist das auch nicht ausgeschlossen.«

Clements schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich Hildreth. Glauben Sie immer noch, dass hier nichts Ungewöhnliches vor sich geht?«

»Oh, ich weiß, dass hier etwas vor sich geht.« Dann erklärte Westmore dem ehemaligen Polizisten das Apogäum, das um sechs Uhr morgens auftreten würde.

»Was für eine verdammte Freakshow satanistischer Irrer«, kommentierte Clements kichernd.

»Was wollen Sie machen, wenn Sie Cathleen über den Weg laufen?«

»Ich schaffe sie nach draußen ins Auto.«

»Und wenn sie nicht gehen will?«

»Dann schaffe ich sie mit vorgehaltener Waffe ins Auto und sperre sie in den Kofferraum. Mir steht nicht der Sinn nach Spielchen.«

»Ja, scheint so.« Sie waren dem Geflecht der Treppen zurück zum dritten Stock gefolgt. Vor ihnen befand sich der Vorhang. »Wir sind da. Wie sieht Ihr Plan aus?«

»Sie ziehen Ihr Ding durch und verhalten sich normal«, erwiderte Clements. »Ich fange oben an und arbeite mich Zimmer für Zimmer nach unten durch.«

»Das habe ich bereits gemacht ...«

»Prima, dann mache ich es noch mal. Debbie ist hier im Haus, das weiß ich. Stellen Sie Ihr Handy auf Vibration. Wenn ich sie finde oder irgendein Mist passiert, rufe ich Sie an. Sie tun umgekehrt dasselbe. Hier ...« Er zog sein Hemd hoch und griff nach einer seiner Pistolen. »Nehmen Sie die.«

Westmore zeigte ihm die Waffe, die Mack ihm gegeben hatte. »Ich habe schon eine.«

»Kluger Mann. Ich suche jetzt Debbie. Bis später.« Damit schob Clements den Vorhang beiseite.

»Seien Sie vorsichtig«, riet Westmore dem Mann.

»Ich brauche nicht vorsichtig zu sein. Das muss Hildreth tun.« Damit verschwand er.

Westmore fühlte sich kribbelig, als er nach unten ging. Unwillkürlich ging ihm dabei durch den Kopf, was die anderen schon so viele Male erwähnt hatten: die Ladung des Hauses und die Wahrscheinlichkeit, dass diese zunahm. Was genau bedeutete das? Und wie würde sich diese Ladung nach sechs Uhr morgens auf das Haus auswirken?

Allerdings endeten seine Überlegungen unvermittelt, als er das Südatrium betrat. Karen und Mack waren da. Westmore fiel die Zigarette aus dem Mund, als er zu Boden blickte.

»Er ist tot«, sagte Karen mit brüchiger Stimme.

Mack kniete neben Nyvysk, der mit ausgestreckten Armen und Beinen in der Ecke lag.

»Was ist passiert?«

»Keine Ahnung. Wir sind gerade reingekommen und da lag er«, antwortete Mack.

»Es sind keine Wunden zu sehen«, fügte Karen hinzu. »Und auch kein Blut.«

»Sein Herz schlägt nicht, so viel kann ich sagen.«

Westmore kniete sich ebenfalls hin und tastete nach einem Puls. Nichts. Der Körper fühlte sich noch warm an. »Es muss vor weniger als einer Stunde passiert sein.« Als er sich im Raum umsah, fielen ihm die auf sie gerichteten Gaussmeter auf. »Sind diese Dinger eingeschaltet?«

»Ich weiß nicht mal, was diese Dinger sind«, gab Mack zurück.

»Sie messen Ionenfluktuationen in der Luft«, erklärte Westmore abwesend.

»Die Bilder, die wir unlängst auf dem Monitor gesehen haben?«, fragte Karen.

»Die stammten von einem dieser Geräte, genau. Sieht so aus, als wollte er die Akkus aufladen und gleichzeitig Messungen vornehmen.« Westmore ging zum Prozessor auf dem Besprechungstisch.

»Das verstehe ich nicht«, sagte Mack.

»Einer der Scanner zeigt genau auf diese Ecke ...«

Westmore betätigte einige Schalter am Prozessor. Er brauchte eine Weile, um mit der Bedienung klarzukommen, doch schließlich gelang es ihm, die Aufzeichnung zurückzuspulen und abzuspielen.

Alle Blicke richteten sich auf den großen Fernseher vor der Couch. Die Aufnahme zeigte die Ecke des Raums – an dieser Stelle noch leer – bei normalem Licht. Plötzlich geriet Nyvysk mit geweiteten Augen und verkniffener Miene ins Bild. Gleich darauf bewegte er sich rücklings in die Ecke, als weiche er vor etwas zurück.

»Sieht aus, als hätte er Angst«, meinte Karen mit einer Hand am Gesicht.

»Angst wovor?«, fragte Mack.

»Vielleicht sehen wir das hier.« Westmore drückte einen anderen Schalter, wodurch die parallel laufende Ionenaufzeichnung eingeblendet wurde. Der Bildschirm wurde schwarz, außer ...

Der Bereich, in dem Nyvysk stand, präsentierte sich als Ansammlung leuchtender, dotterblumengelber Punkte. Sie bildeten grob eine menschliche Gestalt.

»Diese funkelnden Punkte sind Nyvysk?«, fragte Karen.

»Ja. Genauer gesagt, sie sind eine Aufzeichnung der Ionen in der Luft, die ihre elektrische Ladung dadurch verändern, dass sich sein Körper dort aufhält.«

»Und was ist das?«, fragte Mack etwas erschrocken.

Eine weitere Anordnung leuchtender Punkte geriet ins Bild, ebenfalls menschenförmig.

Die Gestalt näherte sich Nyvysk langsam, dann schien sie ihn zu umarmen.

Und der Schemen, der Nyvysk darstellte, brach zusammen.

Westmore drückte erneut auf die Taste für die Normalaufnahme. Sie sahen Nyvysk tot in der Ecke liegen, doch sie sahen außerdem ...

»Was um alles in der Welt ist das?«, stieß Mack hervor.

Eine brodelnde Gestalt. Sie war schwarz wie ein Schatten, besaß jedoch anscheinend eine kaum geformte Substanz.

Karen zitterte. »Das sieht wie eine der Kreaturen aus, die mich vergewaltigt haben. Cathleen hat sie körperlose Entitäten genannt. Aber die auf dem Bildschirm ist dunkler. Sie sieht fester aus, hat mehr Substanz.«

»Dann hatte Nyvysk recht mit seiner Vermutung, was im Haus geschieht«, stellte Westmore fest. »Die Ladung. Sie wird stetig stärker, und ich vermute, dass sie um sechs Uhr morgens ihren Höhepunkt erreichen wird.«

»Das Apogäum«, sagte Mack.

»Genau.«

Sie sahen gleichzeitig zur Wand. Mittlerweile war es drei Uhr morgens.

»Dieses Ding, das Nyvysk umgebracht hat«, meldete sich Mack zu Wort. »War das Hildreth?«

»Glaube ich nicht. Hildreth war größer, oder? Ich denke, was immer Nyvysk getötet hat, stammte aus seiner Vergangenheit – und ist jetzt hier

Mack wirkte unbehaglicher als je zuvor. »Damit will ich nichts zu tun haben. Karen und ich – wir arbeiten jetzt für Vivica. Dieser spirituelle Krempel gehört nicht zu unserem Aufgabengebiet. Wenn die Kreaturen in diesem Haus – Geister oder was auch immer – so einfach Menschen töten können ...«

»Könnte es uns auch passieren«, beendete Karen den Satz mit hörbarer Besorgnis.

»Vielleicht, aber das glaube ich nicht«, entgegnete Westmore. Er betrachtete die reich bestückte Bar auf der gegenüberliegenden Seite des Raums. Scheiße, jetzt könnte ich echt einen Drink vertragen. »Die Villa scheint es auf Menschen abgesehen zu haben, die auf ihrer Wellenlänge sind – auf übersinnlich begabte Menschen.«

»Adrianne und Willis«, sagte Mack.

»Aber Nyvysk war nicht übersinnlich begabt«, warf Karen ein.

»Nein, aber er war ein Priester, der früher Exorzismen durchgeführt hat«, erwiderte Westmore. »Vielleicht liege ich auch vollkommen falsch und wir sind alle im Arsch. Aber so oder so, ich bleibe auf jeden Fall bis sechs Uhr hier. Wenn ihr beide gehen wollt, nur zu. Ich würde euch keinen Vorwurf machen.«

»Bleiben wir und halten wir zusammen«, schlug Mack vor.

Karen schien davon wenig begeistert, war aber bereit, sich zu fügen. »Suchen wir zumindest Cathleen.«

Aber als die Türen klickend aufsprangen und sie sich umdrehten, stellten sie fest, dass Cathleen sie bereits gefunden hatte.

Schweigend betrat sie den Raum. Ihr Kleid klebte durch heftigen Schweiß an den Konturen ihres Körpers. Ihr Mund stand offen, ihre Augen waren geweitet, als sie den Blick über die Anwesenden wandern ließ.

»Cathleen«, setzte Westmore an. »Was ...«

»Ich bin nicht Cathleen ...«

»Sie ist wieder in einer solchen Trance«, sagte Mack.

»Sie ist besessen«, flüsterte Karen.

Nicht besessen, erinnerte sich Westmore. »Sie ist ein Medium. Jemand anders spricht durch sie.«

»Hildreth«, sagte jemand.

Cathleen näherte sich. »Nein. Er kann mich jetzt nicht anrühren.« Als sie sich bewegte, wirkte sie instabil, erschöpft und doch entschlossen, etwas zu tun. »Um sechs Uhr wird Hildreth den Spalt wieder öffnen.«

»Den was?«, fragte Mack.

»Die Türen des Chirice Flaesc werden sich öffnen. Aber sie werden sich nicht in der Hölle öffnen. Sie werden sich hier öffnen.«

»Was geschieht dann?«, wollte Westmore mit zittriger Stimme wissen.

»Dann wird das, was am 3. April hineingegangen ist, wieder herauskommen. 666 Stunden, nachdem sie in der Nacht des Gemetzels eingetreten ist.«

»Sie meinen Deborah Rodenbaugh, nicht wahr?«

Gelassen nickte Cathleen. »Die Jungfrau, ja. Die ultimative Hommage, die Entweihung der perfekten Unschuld. All das ist von jeher symbolisch. Belarius wird mit ihr fertig sein und wenn ihr ihn nicht aufhaltet, wird ihm Erfolg beschieden sein.«

Westmore trat näher an sie heran. »Erfolg wobei?«

»Wenn sich der Spalt öffnet, wird hier alles so, wie es dort ist. Alles wird zu Fleisch. Hildreth war Belarius’ Jünger. Er hat alles arrangiert, hat es seit Jahren geplant. Aber jetzt zieht der Anker meines Geistes an mir. Ich kann nicht länger bleiben ...«

»Gehen Sie noch nicht!«, brüllte Westmore. »Wir müssen mehr erfahren!«

Flackerten die Lichter im Raum?

»Das Haus wird stärker«, sagte Adrianne durch Cathleens Mund. »Was bedeutet, dass auch die Wesen in diesem Haus stärker werden.«

Alle starrten sie an.

»Hildreth wird stärker ...«

Ein leises Knistern ertönte. Dann richtete sich Cathleens langes hellblondes Haar auf, als wäre es von gewaltiger statischer Elektrizität erfasst worden.

Sie sackte auf den Boden zusammen.

»Mein Gott«, stieß Karen hervor.

Als Westmore und Mack herbeieilten, um Cathleen hochzuheben, kreischte sie und fuchtelte wild mit den Armen. »Geht weg, geht weg!« Westmore und Mack wurden zurückgeschleudert. Die Stühle um den Besprechungstisch kippten um, die Gauss-Sensoren schlitterten drei Meter weit über den Boden und mehrere Gemälde purzelten von der Wand.

»Cathleen!«, brüllte Westmore sie an. »Wir sind’s! Beruhigen Sie sich! Es ist alles in Ordnung!«

Als Cathleen die Augen aufschlug, implodierte der Fernseher.

»Großer Gott!«, entfuhr es Mack. »Was soll das alles?«

»Sie ist aus ihrer Trance zurückgekehrt und war verwirrt.« Westmore half Cathleen auf die Couch. »Ich vermute, sie hat die Kontrolle über ihre telekinetischen Fähigkeiten verloren.«

»Wie im Büro, als Hildreth durch sie gesprochen hat«, meinte Karen.

»Ja.«

Flatternd öffnete Cathleen erneut die Augenlider. Sie hob eine Hand an die Stirn, als sie den Blick durch den Raum wandern ließ. »Oh Gott. Ich habe doch niemanden verletzt, oder?«

»Nein, es geht uns allen gut. Und Ihnen?«

Mit weit aufgerissenen Augen lehnte sich Cathleen zurück. »Adrianne hat mich gefunden ...«

»Ja. Erinnern Sie sich daran, was sie gesagt hat?«

Eine Pause, nach der Cathleen erwiderte: »Ja.« Dann spähte sie furchtsam auf die Uhr. »Noch zweieinhalb Stunden.«

»Hat Adrianne etwas zu Ihnen gesagt, bevor sie anfing, mit uns zu kommunizieren?«

»Ich ... glaube schon.« Cathleen runzelte die Stirn. »Verdammt noch mal, ich kann mich nicht mehr daran erinnern.«

Westmore nahm Platz und zündete sich eine Zigarette an. Mack und Karen schenkten sich starke Drinks ein.

»Was machen wir jetzt?«, wollte Karen wissen.

»Wir warten«, antwortete Cathleen. »Darauf, dass sich der Spalt öffnet.«

»Es wird im Scharlachroten Zimmer passieren. Also gehen wir dorthin«, entschied Westmore. »Sofort.«

IX

Clements war im Zuge seiner Suche ins Büro geschlichen. Er schüttelte den Kopf, als er Willis’ Leichnam hinter dem Schreibtisch entdeckte. Armer dummer Tropf ... Die Übelkeit überkam ihn jedoch erst, als er zufällig auf einen eingeschalteten Monitor blickte und etwas sah ...

Heilige Mutter Gottes, diese kranken, kranken Scheißhaufen!

Es war Debbie, die sich benommen auf einen Tisch stützte, nachdem ihre Vagina mit winzigen Chromringen verschlossen worden war.

Mein Gott, ich kann’s kaum erwarten, Hildreth umzubringen, ICH KANN’S VERDAMMT NOCH MAL KAUM ERWARTEN!

Im Büro zu bleiben, erschien ihm ebenso sinnlos wie die Suche nach weiteren Auftritten von Debbie auf den DVDs. Er hatte gesehen, was er sehen musste. Wenigstens ist es kein Snuff-Film. Diese beschissenen kranken Arschlöcher ...

Dann wirbelte Clements herum und zog eine seiner Pistolen.

Hatte er gerade ein Kichern gehört?

Clements lächelte. »Falls Sie das sind, Hildreth – kommen Sie doch her und holen Sie mich.« Ohne die geringste Furcht verließ er das Büro und begann mit der Durchsuchung des restlichen Hauses.

X

Connie verspürte Entzugserscheinungen, allerdings im Augenblick keine allzu schlimmen. Mittlerweile hielt sie es seit einer Woche ohne Crack aus – so lang wie noch nie, seit sie die Pfeife zum ersten Mal an die Lippen gesetzt hatte. Allerdings war sie zappelig, nervös und es fühlte sich an, als krabbelten Käfer über ihre Haut. Trotzdem stimmte Clements’ Vermutung: Ein Großteil der körperlichen Abhängigkeit verflüchtigte sich allmählich, sodass sie nur noch ihre Psyche in den Griff bekommen musste. Sie wusste, es würde ihr gelingen, solange er sie nicht im Stich ließ.

Connie hatte noch nie einen Mann wie ihn kennengelernt. Er will nichts, ist nicht wie die Freier, nicht wie jedes andere Arschloch da draußen, das nur einen Haufen Scheiße daherredet ...

Ihr war bewusst, dass sie ihr Glück nicht als Selbstverständlichkeit betrachten durfte. Dies war ihre letzte Chance.

Die nächtlichen Geräusche irritierten sie – Grillen und Frühlingspfeifer. Sie schienen zu laut zu sein. Trotz der schwülen Hitze fühlte sich das Mondlicht in ihrem Gesicht kalt an.

Ihr Blick wanderte zur Villa und ihre Eingeweide krampften sich zusammen.

Bitte sei da drin vorsichtig, dachte sie.

Immer wieder fingerte sie ungeduldig nach dem Mobiltelefon in ihrer Tasche. Wahrscheinlich würden Clements und die anderen erst in einigen Stunden herauskommen. Connie schlenderte ein Stück die Straße entlang, dann ging sie um den Wald herum, ohne näher darüber nachzudenken. Ehe sie sich versah, hatte sie ein Drittel des Weges zurückgelegt, der an der Außengrenze des Grundstücks entlangführte, und ertappte sich dabei, einen Pfad zu betreten, der zwischen die Bäume führte.

Wo ... Scheiße ...

Unbewusst war sie zum Friedhof zurückgekehrt. Was stimmt bloß nicht mit dir, Connie? Durch die Woche ohne Crack bist du anscheinend völlig durchgeknallt ...

Beim Friedhof handelte es sich nun wirklich um den letzten Ort, an dem sie sein wollte. Sie erinnerte sich noch lebhaft, worauf sie dort in der vergangenen Nacht gestoßen waren. Der Leichnam des toten Obdachlosen im Sarg war schon schlimm genug gewesen, aber der Fund in dem anderen Loch ... diese verrotteten ... DINGER. Connie interessierte nicht, was andere dachten. Für sie hatten sie eindeutig nicht menschlich ausgesehen.

Was also wollte sie hier?

Statt den Friedhof zu verlassen, ging sie um das Tor herum zu der Grube mit den Kreaturen. Konnte ein toter Mensch wirklich so aussehen? Wie große Plastiktüten voller Butter, dachte sie unbehaglich. Connie hatte keine Ahnung, welche morbide Neugier sie dazu trieb, aber sie tat es trotzdem.

Sie knipste ihre Taschenlampe an und leuchtete auf den Boden.

Und erstarrte.

Die Grube war nicht nur wieder freigelegt, sondern außerdem auch noch leer.

Sie bezweifelte, dass jemand ihren Aufschrei hörte, als sie sich umdrehte und feststellte, dass eine nackte Frau unmittelbar vor ihr stand. Sie sah aus, als wäre sie gerade aus dem Grab herausgekrochen: Graue Haut spannte sich eng über vortretende Adern, Rippen zeichneten sich ab, der Bauch war eingefallen. Ihr Schambein ragte vor wie bei jemandem, der an Magersucht litt, und die Augen wirkten so dunkel und in die Höhlen gesunken, dass es sich ebenso gut um tiefe Gruben handeln konnte.

»Du hättest in das Auto steigen und wegfahren sollen«, sagte die Unbekannte, deren Stimme durch die Verwesung wie ein verflüssigtes Krächzen klang. Der Wald verschluckte Connies nächsten Schrei, dann stieß die Leiche, die vor ihr stand – im Leben eine Schlüsseldienstmitarbeiterin namens Vanni, im Tod jedoch eine Marionette der Hölle –, Connie in die leere Grube hinein.

Der wandelnde Leichnam blickte auf sie herunter, eine knochige Silhouette vor dem Mondlicht ... dann tauchte eine weitere Gestalt neben ihr auf; groß, aufrecht und erhaben.

Connie brüllte erneut, als sie erkannte, dass es sich um Reginald Hildreth handelte, und sie brüllte noch lauter, als vier männliche Adiposianer in die Grube stiegen, schadenfroh ungeachtet ihrer gesichtslosen Züge, die schmalzfarbigen Ständer hart wie Stahl.

XI

Gegen 04:30 Uhr hatte Clements einen Großteil der oberen Etagen der Villa durchsucht. Er war weder jemandem begegnet noch auf eine Spur von Debbie oder Hildreth gestoßen. Das Haus wirkte trostlos, unwürdig für das Ereignis, das Westmore erwartete, worum auch immer es sich handeln mochte. Irgendwann schlich sich Clements in einen der Salons, weil er das Geräusch von Stimmen hörte. Durch den Türspalt erspähte er, wie Westmore und die anderen die Treppe am Ende des Flurs hinaufgingen; vermutlich auf dem Weg in dieses Scharlachrote Zimmer, in dem Hildreth am 3. April die meisten seiner Opfer abgeschlachtet hatte.

Clements stand regungslos, beobachtete, wie sie verschwanden, und setzte seine Suche fort. Er wollte immer noch nicht gesehen werden, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ.

Das Scharlachrote Zimmer hatte er bereits ganz am Anfang überprüft. Ein rotes Zimmer – das war alles. Nichts Interessantes, nichts Verdächtiges. Nur die Besessenheit eines reichen Wahnsinnigen, dachte Clements. Was zum Geier erwartet dieser Psychopath eigentlich? Doch es spielte keine Rolle. Tief in seinem Inneren wusste Clements, dass sich Hildreth irgendwo in diesem Haus aufhielt ...

Als er alle Räume im dritten Stock überprüft hatte, schlich er sich zurück ins Büro und griff nach dem Handy. Ich höre besser mal nach, wie es Connie geht ... Er wählte, wartete – und wartete noch länger.

Verdammt. Warum geht sie nicht ran?

Natürlich konnte er zum Auto gehen, um nach ihr zu sehen, aber das wollte er nicht riskieren. Unter Umständen komme ich dann nicht wieder rein. Vielleicht störten ja auch die Mauern der Villa den Empfang und sie hatte längst abgenommen?

Daran muss es wohl liegen, dachte er, womit er einen Fehler beging.

Clements unterlief noch ein weiterer Fehler, bevor er das Büro wieder verließ – eigentlich nicht wirklich ein Fehler. Vielmehr übersah er ein entscheidendes Detail.

Er übersah, dass Willis’ Leichnam nicht mehr hinter dem Schreibtisch lag.

XII

Westmore zog die Vorhänge auseinander und sah ohne besonderen Grund durch die hohen, an Schießscharten erinnernden Fenster hinaus. Die Nacht präsentierte sich als dunkler Schleier, immerhin vom Mondlicht getüncht, das ihm heller vorkam, als es sein sollte. Verdammt, bin ich müde, dachte er. Als er sich wieder umdrehte, sah er, dass Karen und Mack bereits auf zwei der roten Samtsofas eingeschlafen waren. Cathleen saß an dem rot furnierten Tisch im hinteren Teil des Raums. Sie konnte kaum noch die Augen offen halten.

»Wie spät ist es?«

»Viertel nach fünf«, antwortete Westmore, nachdem er auf die Uhr gesehen hatte. Die kirchenartig anmutende Umgebung des Scharlachroten Zimmers fühlte sich irgendwie tot an.

»Woran liegt es«, begann Westmore, »dass ausgerechnet der Raum, der sich am unheimlichsten anfühlen sollte – und der am satanischsten aussieht –, überhaupt nicht so rüberkommt?«

»Warten Sie bis sechs Uhr«, erwiderte Cathleen. »Ladungen können sich schlagartig ändern.«

»Glauben Sie diesen Kram mit dem Apogäum?«

»Ich weiß es nicht.« Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Aber ich denke, wir sollten daran glauben. Wir haben schon zu viel erlebt, um es nicht zu tun.«

Das kannst du aber laut sagen, dachte Westmore. »Was sollen wir tun, falls ...« Doch der Rest des Satzes blieb unausgesprochen. Cathleen war eingeschlafen.

Westmore selbst wollte trotz seiner Erschöpfung nicht schlafen. Fürchtete er sich zu sehr davor, in was für einem Szenario er unter Umständen erwachen würde? Ich möchte bloß nicht verpassen, was um Punkt sechs Uhr geschieht, redete er sich ein.

Die anderen schliefen ringsum tief und fest. Westmore fand, dass Kaffee eine gute Idee wäre, deshalb verließ er das Scharlachrote Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich. Im Büro stand eine Kaffeemaschine, also quälte er seine müden Beine in den dritten Stock hinunter. Erst da musste er an Clements denken. Hätte der ehemalige Polizist etwas gefunden, wäre längst ein Anruf gekommen. Ich frage mich, wo er sich gerade herumtreibt.

Im Büro ging er um den Schreibtisch herum, um die Kaffeemaschine einzuschalten, und erstarrte.

Willis’ Leiche war verschwunden.

Verständnislos starrte Westmore auf den Boden. Wer um alles in der Welt würde ... Er war felsenfest davon überzeugt, dass Willis tot war. Kein Mitglied der Gruppe konnte den Leichnam wegtransportiert haben, weil er ständig mit ihnen zusammen gewesen war. Clements vielleicht?

Warum sollte er?

Warum sollte überhaupt jemand es getan haben?

Aus einer plötzlichen Eingebung heraus eilte er die Treppen hinunter ins Südatrium ...

Nyvysks Leiche war ebenfalls verschwunden.

Westmore raste in die Küche und riss die Tür des Kühlraums auf.

Keine Spur von Adriannes Leiche.

Das ist jetzt wirklich vollkommen verrückt ...

Als Nächstes rannte er zurück zum Foyer und die Stufen zum ersten Stock hinauf. Er umrundete den Treppenabsatz, um weiter in die zweite Etage zu laufen.

Plötzlich erloschen sämtliche Lichter im Haus auf einen Schlag.

In völliger Finsternis blieb er stehen. Die Villa schien rings um ihn zu ticken und er spürte ein statisches Knistern an den Armen. Dann ...

Wumm!

Jemand schlug ihm von hinten auf den Schädel. Westmore brach vor den Stufen zusammen.

Ohnmacht zerrte seine Lider nach unten. Bevor er endgültig das Bewusstsein verlor, sah er am Kopf der Treppe ein mattes Licht – ein Licht, das irgendwie düster wirkte. Darin zeichnete sich der Umriss von Reginald Hildreth ab.

Und Hildreth lächelte.

XIII

Clements wählte erneut Connies Nummer, wartete und wartete. Niemand ging ran. VERDAMMT NOCH MAL! Wo steckt sie bloß?

Als die Lichter ausgingen, überkam ihn Verwirrung statt Angst. Handelte es sich um einen schlichten Stromausfall oder hatte jemand absichtlich die Sicherungen abgeschaltet? Plötzlich fühlte sich Clements unbeholfen und verloren.

Den Grundriss des Hauses kannte er überhaupt nicht. Im Strahl seiner Taschenlampe folgte er einem weiteren seltsamen Korridor mit grimmigen Statuen und seltsamen Gesichtern auf düsteren Porträts, die ihm unheilvoll nachschauten. Er wusste, dass er losziehen sollte, um Connie zu suchen, aber ...

Es war kurz vor sechs Uhr.

Clements folgte einem weiteren lang gezogenen Flur. Eine Doppeltür. Als er eintrat ...

Die Dunkelheit im Raum schien so absolut zu sein, dass sie die Helligkeit der Taschenlampe halbierte. Wo bin ich?, dachte Clements verdutzt. Was ist das hier?

Nackte wachsweiße Leichen baumelten verkehrt herum von der Decke. Alle waren enthauptet worden.

Clements fühlte sich kaum in der Lage, klar zu denken, als er einen Schritt nach vorne tat. Ein stumpfer Instinkt trieb ihn dazu an, seine Waffe zu ziehen, eine Halbautomatik. Als er stolperte, löste sich beinahe ein Schuss. Er sah nach unten, um herauszufinden, worüber er gestolpert war ...

Er stöhnte und ihm wurde speiübel.

Es war Connies Kopf, der ihn um ein Haar zu Fall gebracht hätte. Als er den Blick mühsam auf die erste herabhängende Leiche richtete, bestand kein Zweifel mehr. Es handelte sich um Connies dünnen und sehr blassen Körper, der ihm an einem Haken entgegenpendelte.

Ein Schwenk mit der Taschenlampe offenbarte weitere Köpfe auf dem Boden: Nyvysk, Willis, Adrianne Saundlund. Ihre nackten Leichname hingen in der Nähe. Totaler Wahnsinn, erkannte Clements. Hildreth lebt noch. Er muss das getan haben.

Zumindest eine kleine Erleichterung blieb ihm vergönnt: Bei keiner der Toten handelte es sich um Debbie.

Die hintere Wand schien scharlachrot zu schimmern. Auf dem Boden standen Eimer herum und es war nicht zu übersehen, was hier vorgefallen war. Er hat alles Blut aus ihnen geleert ... in diese Eimer. Und dann hat er das Blut an die Wand geschüttet.

Plötzlich ertönte ein Klicken gefolgt von einem ohrenbetäubenden Knall.

Clements fiel zu Boden. Schmerzen tosten durch seinen Kopf. Die Kugel hatte ihn an der Schläfe gestreift.

Aber er hatte keine Angst.

Vielmehr verspürte er freudige Erregung.

»Also gut, Hildreth!«, brüllte er. »Gehen wir’s an!«

Damit eröffnete er das Feuer.

XIV

Westmores Bewusstsein tauchte durch einen pulsierenden schwarzen Nebel wieder an die Oberfläche. Ein kontinuierlicher Schmerz pochte in seinem Schädel – mit einem Geräusch.

Eine Glocke.

Nein, ein Läuten.

Er stemmte sich auf den Stufen hoch, als ihm dämmerte, woher es stammte.

Die Uhr! Die Pendeluhr im Foyer. Sie schlug sechs Uhr.

Mühsam rappelte er sich auf, kämpfte gegen eine seltsame Schwerkraft an, dann rannte er die Treppen hinauf, überquerte konzentriert einen Absatz nach dem anderen. Seine Schuhe fühlten sich wie Ziegelsteine an, als er den Flur hinabstapfte und die Tür zum Scharlachroten Zimmer aufriss.

Eine Sekunde lang zögerte er, dann stürzte er hinein.

Lediglich durch die Fenster einfallendes Mondlicht erhellte die unmittelbare Umgebung. Völlig verwaist, völlig normal.

Niemand hielt sich hier auf.

Karen, Mack und Cathleen waren verschwunden. Noch vor einer Stunde hatten sie hier geschlafen.

Und rein gar nichts war im Scharlachroten Zimmer vorgefallen.

Ruckartig drehte er sich um.

Von der Uhr war nichts mehr zu hören. Es war schon nach sechs Uhr. Eine Reihe entfernter Geräusche schien vom anderen Ende des Hauses heranzudringen.

Schüsse. Irgendwo unten.

Und wo steckten die anderen?

Ich glaube nicht, dass ich einem Feuergefecht gewachsen bin, dachte er, als weitere Schüsse ertönten. Es musste Clements sein. Westmore hatte eine Pistole – die Waffe, die Mack ihm gegeben hatte. Er verstand zwar nicht viel von Handfeuerwaffen, aber immerhin gelang es ihm, das Magazin herauszuholen, um die Munition zu überprüfen.

Dieses Arschloch!

Das Magazin war leer.

Allmählich begann er zu begreifen. Westmore rannte nach unten, während weitere Schüsse durch die Villa peitschten. Unterwegs machte er im Büro halt, weil ihm die Pistole einfiel, die er am ersten Tag im Schreibtisch entdeckt hatte. Als er die Schublade aufzog ...

VERDAMMT NOCH MAL!

Die andere Pistole war verschwunden.

Was soll ich jetzt machen? Den Gegner zu Tode spucken?

Aber Clements besaß mehrere Waffen, und es stand fest, dass er derjenige war, der irgendwo da unten schoss. Dann nahm Westmore aus dem Augenwinkel ein Flackern wahr. Er drehte sich um und stellte fest, dass die DVD dank Repeat-Taste immer noch lief.

Auf dem Schirm sah er Debbie Rodenbaugh. Zuvor hatte er nur gesehen, wie eine junge Frau ein Genitalpiercing der extremsten Art verpasst bekam. Nun schwenkte die Kamera auf das Gesicht der schönen Unbekannten und er beobachtete, wie sie sich am Ende der grausamen Tortur mühsam in eine aufrechte Position stemmte.

Deborah ...

Das Gesicht der Person, die ihr das Piercing verpasst hatte, wurde nie gezeigt, aber es handelte sich eindeutig um einen Mann. Das konnte Westmore mühelos an den Armen und an der Größe der Hände erkennen.

Grundgütiger. Was haben sie nur mit ihr angestellt? Und warum?

Kranke Spielchen in einem Haus, das sich an kranken Spielchen ergötzte ...

Von unten ertönten immer noch Schüsse. Westmore wollte sich gerade auf den Weg machen, um nach dem Rechten zu sehen, dann hätte er vor Schreck beinahe laut aufgeschrien, als plötzlich sein Mobiltelefon vibrierte.

Sofort hob er ab, weil er mit Clements rechnete.

Allerdings war es nicht Clements, der sprach.

»Haben Sie es schon durchschaut?«, fragte eine tiefe weibliche Stimme.

»Wer ist da? Vivica?«

»Es geschieht gerade. Der Spalt öffnet sich. Können Sie es sehen? Im Scharlachroten Zimmer?«

»Von dort komme ich gerade!«, brüllte er. »Und dort geschieht ein Scheißdreck! All das Gerede davon, dass Hildreth einen Spalt öffnet – das ist BLÖDSINN! Und wer sind SIE überhaupt?«

»Man hat Sie zum Narren gehalten. Man hat Sie glauben lassen, das Scharlachrote Zimmer befinde sich im fünften Stock. Aber so ist es nicht. Es ist unten. Der Salon im fünften Stock war früher grün. Der Raum wurde bloß mit roten Teppichen ausgelegt und rot tapeziert.«

»Was?«

»Das Scharlachrote Zimmer ist unten und die Türen zum Chirice Flaesc öffnen sich gerade. Sie sollten dabei sein ...«

»WO? Wo unten?«, schrie Westmore.

»Das Südatrium ist das wahre Scharlachrote Zimmer.«

Westmore stockte der Atem in der Brust.

»Hildreth hat es in einen Dolmen verwandet – mit Sex, Blut und Bösem«, fuhr die Anruferin fort. »Das ist das Einzige, was Sie nicht durchschaut haben. Dafür haben Sie durch den Zettel aus dem Tresor die genau Zeit herausgefunden. Sie haben sich die Kombination zusammengereimt. Das ist das Einzige, was die nicht wussten.«

»Wer sind ›die‹?« Dann tauchte eine weitere Frage in seinem Kopf auf. »Und woher haben Sie meine Handynummer?«

»Gehen Sie runter«, drängte ihn die Stimme. »Wenn der Tempel in unsere Welt eindringt ... etwas Spektakuläreres gibt es nicht.«

Westmore brüllte so laut, dass seine Kehle schmerzte. »Wer SIND Sie?«

»Faye Mullins.«

Die Überlebende ... Die junge Frau aus der Psychiatrie ...

»Sagen Sie mir alles, was Sie wissen!«, bat Westmore. »Ich muss es SOFORT erfahren!«

Die Leitung war tot.

XV

Clements konnte sich zur Zielerfassung nur an den Mündungsblitzen orientieren. Jemand feuerte einen Kugelhagel auf ihn ab. Aber es war zu dunkel – und er war zu sehr damit beschäftigt, sich zu verteidigen –, um zu bemerken, dass sich Teile des Raums veränderten.

Als er das nächste Magazin seines halbautomatischen Kalibers 44 in einer Abfolge lauter, widerhallender Salven leerte, hörte sein unsichtbarer Angreifer zu feuern auf. Clements nutzte die kurze Unterbrechung, um die abgesägte Remington-Pumpgun aus seinem Rucksack zu holen. Er zielte, so gut er konnte, behielt die Umgebung im Auge und wartete.

»Nicht schießen«, ertönte eine Stimme. »Hören Sie zu.«

»Ich höre zu, Hildreth.«

»Ich bin nicht Hildreth. Er ist da drin.«

Wo drin?, dachte Clements.

»Sie können nicht verhindern, was hier passiert. Gehen Sie einfach. Verlassen Sie das Haus, verschwinden Sie. Sie sind nicht würdig hineinzugehen. Ich hingegen schon.«

»Wo hineinzugehen? Hören Sie auf, mich zu verarschen, oder ich komme und hole Sie.«

»Wenn Sie schwören, nicht zu schießen, verrate ich Ihnen mehr.«

Clements grinste grimmig und drückte die Wange an den Waffenschaft. »Also schön.«

Schritte polterten. Clements wollte seine Position nicht verraten, indem er die Taschenlampe einschaltete. Das Mondlicht langte ihm fürs Erste.

Es war Mack, der vortrat.

Du schmieriges, verlogenes Arschloch ...

»Diese Sache ist etliche Nummern zu groß für Sie. Ich dagegen gehöre schon dazu, seit Hildreth damit begonnen hat, seinen Plan auszutüfteln. Es fing am 3. April an und es endet jetzt. Sehen Sie denn nicht, was hier gerade passiert?«

Einen Moment lang geriet Clements in Versuchung, sich umzusehen, um herauszufinden, wovon Mack redete, dann jedoch warnte er sich: Fall bloß nicht drauf rein! Behalt ihn unbedingt weiter im Auge!

»Reden Sie weiter, Kumpel.«

»Was hier passiert, ist nicht für Sie gedacht«, erklärte Mack. Seine Pistole hatte er in den Bund seiner Hose gestopft. »Ich bin derjenige, der durch den Spalt gehen sollte. Sie würden gar nicht wissen, was Sie tun. Verschwinden Sie einfach. Sie würden es niemals schaffen, lebend zu entkommen.«

»Wovon zum Geier reden Sie, Sie bescheuertes Arschloch?«

»Gehen Sie einfach.«

Mack trat in einen breiteren Strahl des Mondlichts, und da sah Clements ...

Macks Arme waren bis zu den Ellenbogen mit Blut bedeckt.

Er ist der Drecksack, der Connie umgebracht hat ...

Clements hielt sich grundsätzlich für jemanden, der zu seinem Wort stand, aber in diesem Augenblick war seine Wut größer als seine ethischen Prinzipien.

»Ich habe zwar versprochen, dass ich nicht schießen würde«, rief er. »Aber wissen Sie was? Scheiß drauf!« Damit feuerte er ein 12er-Kaliber ab. Die abgesägte Schrotflinte zuckte in seinen Händen.

Macks linker Arm wurde zerfetzt. Der Mann wirbelte herum, wodurch eine Blutfontäne in weitem Bogen durch die Luft spritzte, dann jagte Clements die nächste Ladung in Macks Schädel.

Der Sicherheitschef sackte zusammen.

Leck mich am Arsch, du Stück Scheiße. Aber was hatte er da gefaselt? Hildreth war dort drin? Wo war dort? Und was, verflucht noch mal, hat er damit gemeint, dass sich der RAUM verändert?

Clements griff nach der Taschenlampe, was allerdings mittlerweile nicht mehr notwendig schien. Ein feuriger Schein säumte die Umgebung. Eine Säule aus Licht loderte am Ende des Raums.

Doch das war noch nicht alles ...

Heilige Maria, Mutter Gottes.

Der Raum hatte sich irgendwie in Fleisch verwandelt. Geflechte von etwas, das Haut zu sein schien, breiteten sich von der hinteren Wand aus, die noch vor Minuten völlig normal wirkte. Nun jedoch pulsierte sie, als wäre sie lebendig, und in ihrer Mitte leuchtete eine Naht.

Clements starrte einige weitere Augenblicke hin, bevor er auch nur einen winzigen Bruchteil dessen begriff, was sich da gerade vor ihm abspielte.

Das sind Türen, erkannte er. Die leuchtende Naht war ein Spalt zwischen zwei hohen, rechteckigen Pforten, die aus derselben hautartigen Substanz bestanden, die sich langsam im Rest des Raums ausbreitete. Glänzender Schweiß trat aus Poren, dicke blaue Venen pulsierten lebhaft. Während Clements angestrengt hinsah, wurde ihm allmählich klar, in was sich der hintere Bereich des Zimmers da verwandelte.

Das ist ein gottverdammter Tempel ...

Mittlerweile schälten sich Säulen aus dem Fleisch heraus. Und jener heiße, leuchtende Spalt verbreiterte sich.

Die Türen gehen auf.

Eine große Gestalt tauchte inmitten des hochofengleichen Leuchtens auf.

Hildreth, ahnte Clements.

Eine widerhallende Stimme erscholl. Clements war nicht sicher, ob sie durch seine Ohren oder in seinem Kopf dröhnte.

»Was Sie suchen, ist hier. Kommen Sie herein ... und holen Sie es sich.«

Clements stand wie vor den Kopf gestoßen da. An der Tür lag auf einem Boden aus pulsierender Haut eine nackte Frau: Deborah Rodenbaugh.

»Nur sehr wenigen in der Geschichte ist diese Ehre jemals zuteilgeworden. Ergreifen Sie die Gelegenheit und betreten Sie unser Reich. Holen Sie Debbie hinaus, zurück in die Welt, aus der sie kam – die Welt, die sie erwartet.«

Der Gedanke, mit der Schrotflinte das Feuer zu eröffnen, kam Clements nicht. Stattdessen legte er die Waffe auf den Boden und setzte sich in Bewegung.

Bei jedem Schritt, den er nach vorne tat, schien Hildreth zurückzuweichen, obwohl sich seine Füße nicht bewegten, bis er schließlich in dem höllengleichen Licht aufging.

Tiefer im Tempelinneren nahm etwas Gestalt an. Ein Gesicht, eine so abscheuliche Fratze, dass sie sich in keiner menschlichen Sprache beschreiben ließ.

Dann betrat Clements den Tempel des Fleisches, den Sitz des Sexus Cyning, des Herrn der Lust – des Belarius.

XVI

Als Westmore das Südatrium betrat, blieb ihm gerade noch genug Zeit, um zu sehen, wie sich die Türen des Chirice Flaesc vollständig schlossen. Enthauptete Leichen hingen von den Deckenbalken wie makabres Dekor. In einigen Bereichen war die grüne Velourstapete abgeblättert und gab wieder den Blick auf die ursprünglichen, mit Blut bemalten Wände frei.

Dies war das echte Scharlachrote Zimmer und Westmore wusste, dass sich der Spalt während seiner Abwesenheit geöffnet und wieder geschlossen hatte.

Mack lag mit ausgestreckten Gliedmaßen reglos in der Ecke neben der Küchentür. Ihm fehlte ein Arm und seine Kleider waren von einer riesigen Blutlache durchtränkt, die sich um seinen Körper bildete. Westmore konnte die abgetrennten Köpfe von Nyvysk, Willis, Adrianne und Connie ausmachen, die zweifellos als letzte Opfer das Öffnen des Spalts ausgelöst hatten. Ihr Blut war an die Wände gespritzt worden, um die Ladung des Hauses zu verstärken.

Auf dem Boden lag eine nackte, bewusstlose Frau.

Debbie Rodenbaugh ...

Sie schien unversehrt zu sein. Westmore konnte sehen, wie sich ihre Brust hob und senkte. Sie lebt noch, erkannte er.

Clements war es dagegen nicht so gut bekommen, Debbie über die Schwelle zwischen den beiden Welten zu tragen. Die schließenden Türen hatten seinen Körper in der Höhe des Brustbeins in zwei Hälften geteilt. Mausetot.

Aber er hat es immerhin geschafft, sie dort rauszuholen.

Westmore verstaute die Schrotflinte in Clements’ Rucksack, schlang ihn sich über den Rücken und wuchtete Debbie Rodenbaughs Körper vom Boden hoch.

Obwohl sich der Spalt wieder geschlossen hatte und die Inkarnation des Chirice Flaesc gekommen und gegangen war, verfügte die Villa nach wie vor über einen Teil ihrer Ladung. Westmore spürte, dass sich die Härchen an seinen Armen und in seinem Nacken immer noch aufrichteten. Er verließ das Haus auf direktem Weg und begab sich zum vorderen Innenhof, auf dem die Autos parkten. Gott sei Dank habe ich noch Karens Schlüssel, dachte er.

Als er gerade vorsichtig die Steinstufen vor dem Eingang hinunterstieg, hielt er jäh inne.

Wo IST Karen?

Er glaubte nicht, sie unter den Leichen im Scharlachroten Zimmer gesehen zu haben.

Ich kann sie nicht einfach hier zurücklassen ...

Dann bemerkte er noch etwas anderes.

Scheiße!

Sämtliche Autos im Hof, darunter auch Karens schwarzes Cadillac-Cabrio, waren ...

Ruiniert ...

Jemand hatte die Reifen zerstochen, die Motorhauben standen offen und ließen erkennen, dass sämtliche Zündkabel fehlten.

Ich werde zu Fuß von hier verschwinden müssen.

Keine besonders erfreulichen Aussichten. Sollte er etwa eine 60 Kilo schwere junge Frau meilenweit die Hauptstraße entlangtragen?

Als Westmore noch einmal genauer hinsah, dachte er: Nein, nein, nein ...

Behutsam bettete er Debbie auf den geschlossenen Kofferraum des Wagens, denn im Inneren lag auf dem Rücksitz Karen.

Bitte sei nicht tot ...

Er öffnete die Tür, legte eine Hand auf ihre Schulter und hob sie an. Ihr Kopf rollte zurück.

Nein! Bitte!

Dann durchströmte ihn grenzenlose Erleichterung, als sie wieder zu Bewusstsein kam. Als Erkenntnis einsetzte, umarmte ihn Karen.

»Mein Gott. Es war alles wahr. Das Haus ... hat sich verändert.«

»Ja«, bestätigte Westmore.

Karen unterdrückte ein Schluchzen. »Ich hatte solche Angst, dass ich ins Freie gerannt bin, um abzuhauen, aber die Autos waren alle lahmgelegt.«

»Ich glaube, das war Mack. Er ist tot und die anderen sind es auch. Ich vermute, Mack hat sie für so etwas wie einen letzten Opferungsritus benutzt. Aber ich habe Debbie Rodenbaugh gefunden. Wir müssen sie von hier wegschaffen.«

Westmore half Karen aus dem Auto. Sie betrachtete erstaunt Debbies reglosen Körper. Westmore holte aus einem der anderen Wagen eine leichte Jacke und wickelte sie um den Körper der jungen Frau.

»Wir werden laufen müssen«, stellte Karen fest. »Und sie ist völlig weggetreten. Warte, ich helfe dir.«

»Du hast recht, es ist alles wahr gewesen«, sagte Westmore, als sie sich beide je einen von Debbies Armen um die Schulter schlangen und sie vom Haus wegschleiften. »Und der Spalt, von dem Nyvysk gesprochen hat – er hat sich geöffnet. Und Debbie zurück in unsere Welt geschickt.«

»Du meinst, sie ... ist da drin gewesen ... seit dem 3. April?«

»Ja.«

Langsam näherten sie sich der Grundstücksgrenze. Westmore wusste, dass sich der Spalt inzwischen wieder geschlossen hatte, aber die Villa war ihm nach wie vor nicht geheuer. Der Vergleich mit einer noch nicht ganz geleerten Batterie, die nach wie vor über eine gewisse Restenergie verfügte, schien ihm treffend zu sein.

»Ich habe da drinnen Dinge gesehen«, verriet Karen. »Weitere Wiedergänger. Und ich glaube, ich habe sogar Hildreths Geist zu Gesicht bekommen.«

»Ich auch. Auf der Treppe. Dann hat mich jemand von hinten niedergeschlagen. Mack, davon bin ich mittlerweile überzeugt.« Als sie sich der Dunkelheit des Waldes näherten, fiel ihm etwas ein ...

»Moment mal! Clements’ Auto!«, stieß er geradezu jubelnd hervor.

»Wer?«

»Egal. Da drüben ist eine Zufahrtsstraße ...«

»Bist du sicher?«, fragte Karen.

»Ganz sicher. Und dort parkt ein Auto. Wenn die Schlüssel stecken sollten, können wir damit wegfahren.«

»Dann los!«

Sie beschleunigten ihre Schritte und schleiften Debbie den Weg entlang. Als sie die schmale Öffnung zwischen den Bäumen erreichten, tauchte im Mondlicht Clements’ verbeultes Oldsmobile auf. Ein 1998er Baujahr, das schon so einiges mitgemacht hatte. Westmore reichte Karen aus dem Rucksack eine Taschenlampe. Bitte, lieber Gott, bitte ... »Sieh nach, ob ...«

Karen leuchtete mit der Lampe in das Fahrzeug. Sie kreischte beinahe vor Freude. »Der Schlüssel steckt tatsächlich!«

Ich schätze, früher habe ich nie wirklich an Gott geglaubt. Aber jetzt tue ich es, dachte Westmore. Debbie war immer noch bewusstlos. Sie legten sie auf den Rücksitz, dann kletterte Westmore hastig hinter das Lenkrad. Karen setzte sich hinten neben Debbie und zog die Tür zu.

»Was ...«, setzte Karen an. »Was ist mit ihr passiert? Zwischen ihren Beinen?«

»Die haben irgendeine kranke Sadomaso-Scheiße mit ihr angestellt – Hildreth und seine Leute«, erwiderte Westmore. »Sie haben Chromringe in ihre ...«

»Da sind keine Ringe ...«

Westmore drehte sich um. Karen hatte die Taschenlampe eingeschaltet und leuchtete damit auf Debbies Schambereich. Die Chromringe, die Westmore gesehen hatte und mit denen auf der DVD ihre Schamlippen versiegelt worden waren, fehlten jetzt. Man hatte sie entfernt. Von jedem war ein ausgefranstes Loch zurückgeblieben. Westmore schluckte Übelkeit hinunter. »Rausgerissen«, stieß er erstickt hervor. »Es muss passiert sein, als ...«

»Als sie auf der anderen Seite des Spalts war ...«

Denk nicht darüber nach, befahl er sich.

»Sieh nur, sie atmet noch. Ihr Puls ist kräftig und sie blutet nicht. Schaffen wir sie einfach von hier weg«, schlug Karen vor.

»Ja.« Westmore berührte den Zündschlüssel. »Weißt du, bei unserem Glück springt der Wagen wahrscheinlich gar nicht an.«

Karen erwiderte nichts.

Westmore drehte den Schlüssel und der Motor startete beim ersten Versuch. Es war das wohl erfreulichste Geräusch, das er seit Langem hörte. »Na, dann wollen wir mal nach Hause fahren!«

»Ja. Aber ... irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass das alles zu einfach ist.«

Westmore legte den Gang ein. »Mag daran liegen, dass es stimmt.« Dann ließen die Hinterreifen des Oldsmobile Erde und Schotter aufspritzen und der Wagen setzte sich schlingernd in Bewegung.

Nach Hause, dachte Westmore, während er das Auto durch die schmale Passage zwischen den Bäumen navigierte. Louisianamoos baumelte von den niedrigen Ästen herab. Grüne Echsen huschten die Stämme hinauf, als das große Auto mit brüllendem Motor an ihnen vorbeirollte. Aber nach der nächsten Kurve ...

»Verdammt noch mal!«

»Oh Scheiße!«

Westmore trat heftig auf die Bremse.

Ein Baum lag quer auf der Straße.

»Du hattest recht«, sagte Westmore. »Es war zu einfach.«

»Fahr einfach drüber.«

Westmore betrachtete sich den nur etwa 30 Zentimeter breiten Stamm, der allerdings über ein weitläufig verzweigtes Astwerk verfügte. »Ich könnte es versuchen, aber vielleicht schaffen wir es nicht. Dann stecken wir hier fest. Der Wagen könnte aufsetzen oder die Ölwanne verlieren.«

»Scheiße«, stieß Karen erneut hervor. »Ich sage, wir versuchen es trotzdem und gehen das Risiko ein.«

Westmore sah auch keine bessere Alternative. Aber als er gerade mit einem Schulterblick zurücksetzen wollte, um Schwung zu holen, schrie Karen unvermittelt auf.

Unmittelbar hinter dem Baum war im Strahl der Scheinwerfer etwas auf die Straße getreten. Westmores Blick heftete sich daran.

Es handelte sich nicht um einen Menschen, allerdings um etwas, das er schon einmal gesehen hatte.

»Das ist eine dieser Kreaturen«, murmelte er leise.

Ein Adiposianer.

Groß, schlank und doch irgendwie kugelförmig durch das in der Hölle geformte Fett, aus dem ihr abscheulicher Körper geformt war, ragte die Gestalt empor. Sie besaß kein Gesicht und schien Westmore und Karen trotzdem direkt anzustarren. Die umrandete Naht, die den Mund bildete, stand offen und ließ einen großen dicken Zungenlappen erkennen. Zwischen den Beinen baumelten mächtige, grauenhafte Genitalien.

»Einer der in der Erde vergrabenen Adiposianer!«, kreischte Karen. »Er wurde wiedererweckt, als sich der Spalt auftat, und er wird am Leben bleiben, bis die Ladung des Hauses vollständig aufgebraucht ist!«

Eine der Kreaturen, die Clements und ich vergangene Nacht ausgebuddelt haben, erkannte Westmore.

»Tu doch was!«, schrie Karen.

Westmore legte den Rückwärtsgang ein, trat das Gaspedal durch und schaute zurück, was ihn dazu veranlasste, seinen Fuß voll auf die Bremse zu stellen.

»Scheiße!«

Beide blickten durch das Heckfenster. Im Schein des Rücklichts sahen sie, dass ein weiterer Baum gefällt worden war.

»Wir stecken hier fest!«, brüllte Karen. »Und ...«

Ein weiterer Adiposianer näherte sich langsam von hinten.

Dann können wir nur noch eins versuchen, dachte Westmore und griff sich entschlossen die Schrotflinte aus dem Fonds. Er sprang aus dem Auto, lief einige Schritte und blieb stehen. Die gesichtslose Kreatur bewegte sich weiter auf ihn zu. Westmore bemerkte, dass es sich um ein weibliches Exemplar der Spezies handeln musste. Brüste wie Knollen aus Fett mit rotzfarbigen Nippeln, die aufgrund irgendeiner abartigen Erregung aufgerichtet waren. Die Zunge leckte über geifernde Lippen und die gespreizte Hand des Ungetüms streichelte hingebungsvoll die fettige Spalte ihrer Schamlippen.

Dieses Ding hat etwas mit mir vor, befürchtete Westmore. Er hatte keinen blassen Schimmer, wie man mit einer Schusswaffe umging, also setzte er die Schrotflinte einfach an der Schulter an, zielte und betätigte den Abzug.

»Beeil dich und schieß einfach!«, erklang gehetzt Karens Stimme.

Als er abdrückte, passierte nichts. Vielleicht war Gott doch nicht auf seiner Seite. Ein Instinkt drängte ihn, den Griff um die Schrotflinte zu verlagern. Er zog den Schlitten zurück und schob ihn wieder vor, wie er es mal in einem Western gesehen hatte, dann zielte er erneut und ...

BUMM!

»Meine Fresse!«

Das Kaliber-12-Magnumgeschoss der Waffe fetzte den bleichen Kopf der Adiposianerin vollständig weg und spritzte heißes Fett in einem Schwall über die Straße. Als das Biest regungslos dalag, schien es zu schrumpfen. Die Masse, die seine Haut füllte, floss ab. Der Rückstoß rammte den Kolben der Schrotflinte gegen Westmores Schulter. Er schrie vor Schmerz auf und wurde gegen den Kofferraum des Oldsmobile geschleudert.

»Der andere!«, warnte ihn Karen.

Mittlerweile hatte der erste Adiposianer den Großteil der Distanz zwischen ihnen überwunden. Westmore war nicht länger ängstlich, sondern ungemein selbstsicher, als er um den Wagen herumging, durchlud und ...

BUMM!

... eine weitere Patrone in das strukturlose Fleisch des Gesichts der Kreatur jagte. Unter einem Aufspritzen von Flüssigkeit brach der Adiposianer zusammen. Der widerlichste Gestank, den Westmore je in die Nase bekommen hatte, erfüllte die schwüle Luft.

Er stieg zurück ins Auto. »Das hat beinahe Spaß gemacht«, gab er zu.

»Was jetzt? Der Weg ist immer noch in beiden Richtungen blockiert.«

Karen hatte recht. Die umgestürzten Bäume bildeten unüberwindliche Barrikaden, weil sie dem Wagen nicht genügend Bewegungsspielraum ließen, um Schwung zu holen.

»Ich schätze, wir müssen zu Fuß weiter. Aber ...«

»Da draußen sind mehr als zwei von diesen Ungeheuern«, gab Karen zu bedenken.

Im behelfsmäßigen Grab hatten drei oder vier gelegen. »Ich weiß. Ich ...« Dann schoss Westmore ein grausiges Gefühl in die Magengrube. Er drehte sich um und sah Karen an.

»Nur Clements und ich haben diese Kreaturen ausgegraben. Wir haben niemandem davon erzählt.«

»Was?«

Sein Blick durchbohrte sie im Licht der Armaturen förmlich. »Woher weißt du, dass es mehr als zwei von den Ungeheuern gibt?«

»Scheiße«, flüsterte Karen.

Westmore griff nach der Schrotflinte neben ihm, doch Karen war schneller und richtete eine Pistole auf seinen Kopf.

»Versuch’s erst gar nicht«, warnte sie ihn. »Ich schwöre bei Gott, ich bring dich um. Es darf keine Störungen geben. Wenn’s sein muss, bringe ich Debbie höchstpersönlich zu Vivica.«

Karen griff über den Sitz hinweg und nahm die Schrotflinte an sich.

»Du Miststück«, spie Westmore ihr entgegen.

»Tut mir leid. Du verstehst das nicht. Ich habe nicht mal geglaubt, dass irgendetwas davon echt ist«, erklärte sie. »Bis zu dem Tag nach dem ersten Ritual. Ich habe nur mitgemacht, weil ich musste.«

»Warum? Warum musstest du?«

»Hildreth und Vivica haben mir mehr Geld geboten, als ich in meinem gesamten bisherigen Leben verdient habe. Und ich musste doch meine Tochter beschützen. Verdammt, anfangs ging ich davon aus, bloß die Spinnereien und Hirngespinste eines durchgeknallten alten Kerls und seiner Frau zu unterstützen. Aber ich merkte relativ schnell, dass sie es todernst meinten. Sie haben jeden getötet oder in den Ruin getrieben, der Hildreths Pläne in die Quere kam. Die haben Debbies Eltern umbringen lassen und den Obdachlosen getötet, den sie als Hildreths Leiche ausgaben. Sie haben Leute dafür bezahlt, Gerichtsunterlagen zu fälschen, die Polizei und die Zeitungen geschmiert. Und Clements’ Karriere zerstört. Auch eine Menge anderer Leute wurden gnadenlos fertiggemacht. Sie brauchten es mir nicht ins Gesicht zu sagen, Westmore – es war klar wie Kloßbrühe. Mein Leben stand ebenfalls auf dem Spiel. Hätte ich mich nicht ans Programm gehalten, wäre ich selbst unter der Erde gelandet. Ich musste meine Tochter beschützen.«

»Deine Tochter? Die in Princeton? Was hat sie damit zu tun?«

»Sie ist nicht in Princeton ... ich habe gelogen«, gestand Karen. »Sie ist in Oxford unter einem falschen Namen eingeschrieben.«

»Debbie Rodenbaugh«, reimte sich Westmore zusammen.

»Genau. Und ich bin mir sicher, falls ich auch nur daran denke, die Hildreths zu verraten oder nicht mehr nach ihrer Pfeife tanze, wäre meine Tochter innerhalb von zwei Minuten tot.«

»Also waren Mack und du in Wirklichkeit Vivicas Handlanger im Haus.«

»Das stimmt. Wir beide haben auch die vier Adiposianer in der Nacht des 4. April verscharrt. Sie kamen durch, als sich der Spalt öffnete, und blieben nach dem ersten Ritus mehrere Stunden lang am Leben, bis die Ladung des Hauses völlig erschöpft war.«

»Dann haben Mack und du sicher auch die Frau vom Schlüsseldienst auf dem Gewissen, was? Und Willis, Adrianne, Nyvysk und ...«

»Mack vielleicht. Ich habe niemanden umgebracht«, beteuerte Karen.

»Du hast bloß weggeschaut.«

Sie schwieg.

»Und was ist mit Cathleen?«, fiel ihm ein. Ihre Leiche hatte er im Scharlachroten Zimmer schließlich nicht gesehen. »Sie müsste doch eigentlich auch tot sein.«

»Sie ist bei uns«, sagte Karen.

»Was soll das heißen?«

»Spielt keine Rolle, Westmore. Sie kann Vivica in gewisser Weise nützlich sein. Vergiss es einfach. Fahr mich mit dem Mädchen einfach zu ihr. Dann kannst du gehen. Von Hildreths Frau hast du nichts zu befürchten – sie scheint dich irgendwie zu mögen ...«

»Wie schön.«

»Und solltest du Ärger machen wollen oder jemandem davon erzählen, was heute Nacht hier passiert ist, lässt sie dich einfach töten. Also vergiss es besser. Das einzige Puzzlestück, das ihr noch fehlte, waren das genaue Datum und die genaue Uhrzeit.« Karen kicherte freudlos. »Aber dieses Rätsel hast du ja für sie gelöst. Mack informierte Vivica, sobald du den Zettel aus dem Tresor entschlüsselt hattest. Auf eine merkwürdige Weise warst du der wichtigste Helfer überhaupt, um Hildreths Plan in die Tat umzusetzen.«

Diese Feststellung gefiel Westmore überhaupt nicht. »Und was passiert jetzt noch? So ganz durchschaue ich die Sache noch nicht.«

»Sie«, antwortete Karen und deutete auf Debbies nach wie vor bewusstlose Gestalt. »Hildreth hat sie herangezüchtet, wenn du so willst. Er hatte seinen Pakt bereits geschlossen. Seine Anweisungen waren unmissverständlich. Debbie Rodenbaugh verkörpert genau das, was er braucht. Eine naive, unschuldige Jungfrau. Der erste Ritus am 3. April hat den Spalt zu Belarius’ Tempel geöffnet und Debbie zu ihm geschickt. Seither ist sie dort gewesen. Und heute Nacht sind seit dem ersten Ritual exakt 666 Stunden vergangen. Der Spalt hat sich erneut aufgetan und ...«

»Und Debbie kehrte zurück«, dämmerte es Westmore allmählich. Endlich verstand er den Zweck der mittlerweile fehlenden Chromringe. Belarius hatte sie herausgerissen ... »Und jetzt ist sie schwanger.«

»Richtig. Also fahr mich mit ihr zu Vivica und setz dich dann ab. Du kannst ohnehin nichts dagegen tun.« Karen drückte die Pistole gegen seinen Hinterkopf. »Sonst müsste ich dich abknallen, und das will ich nicht, weil ich dich auch immer gemocht habe.«

Westmore erkannte, dass es sich bei ihrer Waffe um die Pistole aus der Schreibtischschublade im Büro handelte. Hätte sie vorne neben ihm gesessen, wäre er vielleicht das Risiko eingegangen, sie ihr wegzureißen, aber auf dem Rücksitz ...

Ich wäre im Bruchteil einer Sekunde tot.

»Fahr los. Gib Gas und fahr über den vorderen Baumstamm drüber.« Sie lächelte strahlend. »Du schaffst das. Du bringst uns Glück.«

Westmore sah zunächst keine andere Möglichkeit, aber kurz darauf kam ihm das Schicksal zur Hilfe.

Die Seitenscheibe der Hecktür zersplitterte nach innen. Karen schrie unter einem Regen aus Glasscherben auf, mehrere ohrenbetäubende Schüsse wurden in die Luft abgefeuert. Pulverqualm füllte das Innere des Wagens aus. Als sich Westmore in dem Chaos umsah, stellte er fest, dass die beiden anderen Adiposianer tatsächlich noch lebten.

Sie hatten das Fenster eingeschlagen und griffen nach Karen.

Ihre Pistole fiel mit einem dumpfen Knall zu Boden. »Hilf mir!«, kreischte sie schrill. »Westmore, hilf mir!«

»Nicht heute Nacht«, gab er zurück und trat das Gaspedal voll durch.

Als sich der Wagen in Bewegung setzte, wurde Karen nach draußen gezogen. Westmore ersparte sich den Blick in den Rückspiegel – er wollte nicht sehen, was mit ihr passierte. Das große Fahrzeug raste die Straße entlang und holperte mit einem gewaltigen Ruck über den umgestürzten Baum. Westmores Schädel schlug wuchtig gegen das Autodach, aber dann hatte er es geschafft: Das letzte Hindernis war überwunden.

Westmore fuhr davon, während Deborah Rodenbaugh nach wie vor bewusstlos, aber lebend auf dem Rücksitz lag.