Kapitel 1

Neun Monate vorher ...

I

Faye wusste nicht genau, ob sie noch träumte. In ihrem Kopf schienen sich ausgesprochen lebhafte Albträume abzuspielen, allerdings konnte sie sich nicht daran erinnern, eingeschlafen zu sein. Jedenfalls mochte sie es, wenn die Tür abgeschlossen war, und es gefiel ihr, wie der Mond manchmal nachts durch das Fenster hereinschien.

Faye, nimm noch ein paar ...

Wenn ich noch mehr nehme, bin ich völlig erledigt!

Wir ... wir wollen ja, dass du völlig erledigt bist. Wir wollen, dass du sämtliche Hemmungen verlierst. Und du weißt ja, dass es dir gefällt. Du magst alle. Lass es mich mal so ausdrücken: Wenn du nicht völlig erledigt bist, können wir nichts mit dir anfangen.

Fett und nackt hockte sie auf einer roten Samtcouch aus der Zeit von Edward IV., von der sie wusste, dass sie mehr kostete, als sie selbst in zwei Jahren verdiente. Fett, nackt und in ihrer künstlichen Ekstase zudem trauriger, als wenn sie nüchtern und alleine war. Hildreth hatte recht: Nur damit erfüllte sie ihren Zweck. Hausmeisterin? Ein Witz; mittlerweile wusste sie das. Ich bin ihr Semperit-Mädchen. Sie war dazu da, ausgelacht, missbraucht und gedemütigt zu werden. Wenn sie einen der Filme im Haus drehten, nannten sie Faye »das Kuschelschwein«.

Muskelbepackte Männer standen nackt und erregt neben ihr. Bei einigen hatte Viagra nachgeholfen, andere geilte die Anwesenheit des Bösen auf. Faye blies ihnen abwechselnd einen, ohne auch nur darüber nachzudenken. Es war zu einem Automatismus geworden. Zwei grobe Finger zwirbelten eine schiefe Brustwarze, als wollten sie eine Schraube aus einer Wand drehen.

Dieses Schwein macht es aber VERDAMMT gut ...

Wahrscheinlich übt sie schon, seit sie vier ist.

Und statt zu weinen, zu schreien oder sie zu beißen, stieg Faye ein Lachen in der Kehle hoch. Es war scheußlich, was aus ihr geworden war.

Ich bin scheußlich, dachte sie.

Ein Mann zog sich aus ihr raus.

Zeig mir deine Zunge.

Faye gehorchte und der Mann versenkte eine grellgrüne Pille mit Playboy-Bunny in ihrem Mund.

Ein anderer drückte ihr eine Flasche in die Hand.

Schluck. Darin bist du ja gut.

Sie stürzte den schweren Wein hinunter, ohne auf das ausgebleichte Etikett zu achten: MONTRACHET 1888.

Die kräftigere Stimme blökte durch das von Kerzen erhellte Zimmer. Janey, warum kommst du nicht hier rüber und verwöhnst Faye mit deinen ganz speziellen Talenten?

Eine unglaublich schöne Frau saß nackt mitten auf dem handgeknüpften Kaschmirteppich. Zerstreut schaute sie auf, während sie umständlich mit einer Spritze hantierte, mit der sie sich gerade einen Schuss ins Bein setzen wollte. Oh Reginald, bitte. Du weißt, dass ich nur mit heißen Mädchen rumfummle. Sie ist zu hässlich ...

Also ich mach’s, bot prompt eine weitere Nackte an und stürzte grinsend heran. Ich weiß nicht, warum, aber ich hatte schon immer eine Schwäche für hässliche Bräute!

Du weißt nicht, warum?, meldete sich jemand anders zu Wort und lachte. Meinst du nicht, es könnte etwas damit zu tun haben, dass du bescheuert bist?

Halt die Klappe, Dreiei!

Die Frau kroch zwischen Fayes klobige, reisweiße Schenkel und begann sofort damit, sie gierig mit der Zunge zu bearbeiten. Faye erzitterte unter dem Ansturm von lustvollen Empfindungen. Ein metallisches Klicken war zu hören, als der Zungenschmuck der Frau über die Ringe von Fayes unfreiwilligem Intimpiercing wanderte. Weitere warme, pulsierende Massen füllten ihren Mund aus, stießen rücksichtslos in sie hinein. Faye fügte sich widerspruchslos, weil sie wusste, dass ihr keine andere Wahl blieb. Mittlerweile überwältigten sie so viele Eindrücke: moschusartige Gerüche, brodelnde Empfindungen, Drogenrausch, Schwänze und andere Genitalien vor ihrem Gesicht und die abenteuerlichsten Dinge, die ihr in den Mund gesteckt wurden.

Bitte, meine Herren! Sparen Sie es sich für später auf. Nicht so gierig.

Gehorsam traten alle Männer zurück. Das Kerzenlicht flackerte auf ihren verschwitzten massigen Oberkörpern und ihren emporragenden Erektionen.

Die andere Frau fuhr noch einige Male sanft mit ihrem Zungenschmuck über die Ringe in Fayes Schamlippen, dann wandte sie sich direkt der freiliegenden Klitoris zu.

Faye wurde von einer berauschenden Woge der Ekstase ergriffen, während sie auf ihren Höhepunkt zusteuerte.

Seht nur, gleich kommt sie!

Gebt ihr das Zeug, wenn es so weit ist.

Fayes Schenkel bebten, als Wellen der Lust durch ihren Körper brandeten. Sie keuchte und ihr Herz raste. Die Crack-Pfeife wurde ihr an die Lippen gesetzt.

Nein, ich kann nicht mehr, stieß sie flehend und überfordert von Geilheit hervor.

Ein Feuerzeug leuchtete auf und schien auf ihr verstörtes Gesicht. Dann wurde ein Hahn gespannt und eine Pistole an ihren Kopf gehalten.

Rauch es ...

Faye inhalierte die metallischen Dämpfe, als der Orgasmus über ihr zusammenschlug. Dann rollte sie von der Couch, landete mit einem klatschenden Laut auf dem Boden und blieb benommen liegen.

So. Jetzt kann der fette Haufen Scheiße nicht behaupten, wir hätten nie etwas für sie getan.

Gelächter, während Faye wie ein fallen gelassener Sack herumlag.

Dann ertönte wieder die kräftige Stimme: Das war wie immer total unterhaltsam. Vertagen wir uns jetzt ins Scharlachrote Zimmer.

Nackte Körper entfernten sich und tappten barfuß über den Teppich. Die Konturen erotischer Schatten verschwanden durch das Flackern der Kerzenflammen.

Faye lag sabbernd da und wünschte sich, sie könnte sterben. Sie wusste, was vor sich ging; wusste, was jetzt bevorstand.

Hau ab! Sie sind alle im anderen Zimmer!

Zumindest raunte ihr das ihr Instinkt zu. Allerdings war ihr klar, dass Instinkte wie Selbsterhaltung für sie keine Bedeutung mehr hatten. Wie lange würde sie draußen in der normalen Welt wohl durchhalten? Mittlerweile hatten sie Faye von so gut wie allem abhängig gemacht, damit ihre menschliche Piñata gefügiger wurde. So machte es den Männern mehr Spaß, sie auszulachen, auf sie zu pissen und sie zu demütigen – und alles, weil sie schlicht und ergreifend böse waren. Faye würde ein paar Tage durchstehen, bis ihr das Geld für Drogen ausging, dann würde sie einen letzten Blick auf ihr verkorkstes Leben werfen und sich den Schädel wegpusten.

Was also hatte sie zu verlieren?

Es dauerte eine halbe Stunde, in der sie tief durchatmete und sich darauf konzentrierte, das Tempo ihres Herzschlags herunterzufahren, bis es ihr endlich gelang, sich aufzurappeln. Das Kerzenlicht leckte flackernd über ihren schwabbeligen Körper. In ihrem Kopf drehte sich immer noch alles, dennoch holte sie sich irgendwie die Kontrolle über ihre Bewegungen und Gedankengänge zurück. Sie hatte es so weit geschafft, jetzt wollte sie es auch sehen.

Sie wollte sehen, ob es stimmte, und dann sterben.

In welchem Zimmer bin ich? Es ist einer der oberen Salons, vermutete sie. Faye konnte sich nicht erinnern. Sie schob die hohen Schwingtüren auf, schwankte kurz und trat dann hinaus in den Flur. Als sie das Geländer erreichte und hinabblickte, sah sie Hunderte flackernde Punkte, die von angezündeten Kerzen stammten.

Als sie sich zur Treppe schleppte, drangen Gemurmel, Seufzen und Todesröcheln an ihre Ohren. Vereinzelt ertönten gellende Schreie tief aus den Eingeweiden der Villa. Sie schaute in eins der Zimmer und erkannte eine nackte Frau, die mit einem Fleischhaken im Gaumen an einem Deckenbalken baumelte. Die Arme zuckte ein wenig und gab gurgelnde Laute von sich. Jemand hatte das gesamte Fleisch von ihren Waden und Füßen gepellt und Druckverbände oberhalb der Knie angebracht, um zu verhindern, dass sie sofort verblutete. Faye schloss die Tür und ging weiter. Im nächsten Raum lagen drei tote Frauen, allerdings keine von den Filmmädchen, soweit sie es beurteilen konnte. Sie waren bleich wie Paraffin und ausgemergelt, als wären sie verhungert. Unter Bäuchen, die wie eingezogen wirkten, ragten die Beckenknochen hervor. Allen war die Kehle aufgeschlitzt worden.

Faye wusste, wohin sie ging. Unterwegs erwarteten sie weitere Abscheulichkeiten. Einmal tappte ihr nackter Fuß in einen Haufen noch warmer menschlicher Gedärme. Einige Schritte weiter drückte etwas Hartes und Nasses gegen ihre Fußsohle: ein herrenloser Hoden. Auf der obersten Stufe lag eine der jungen Darstellerinnen – eine der wenigen, die nett zu Faye gewesen waren; tot, mit glasigen Augen, die Hüftgelenke gebrochen, um ihre Schenkel weiter zu spreizen, als die Natur es zuließ, damit der Erstbeste, der morgen die Treppe heraufkam, sehen würde, was ihr in die Scheide gestopft worden war: ein menschlicher Arm.

Doch Faye war längst über den Punkt hinaus, Entsetzen zu empfinden. Das gehörte alles zu Hildreths Wahnsinn. Es waren seine Opfergaben, seine Art, auf sich aufmerksam zu machen und seine Würdigkeit zu beweisen. Das, was er heraufbeschwor, würde ihn als überaus würdig erachten, das wusste Faye. Ebenso wusste sie: Wenn sie das Haus weiter durchsuchte, statt zu fliehen, erwarteten sie noch weitaus schlimmere Entdeckungen.

Als sie die Tür fand, nach der sie suchte, schien es sich weniger um einen Durchgang zu handeln, sondern vielmehr um eine von etwas Lippenähnlichem umsäumte, längliche Öffnung. Die Drogen sorgten dafür, dass sie sich ständig alle möglichen Dinge einbildete, aber bildete sie sich auch dies hier wirklich nur ein?

Als sie das berührte, was der Türrahmen hätte sein sollen, fühlte es sich weich, warm und nass an. Eindeutig kein Holz.

Vor ihr herrschte absolute Stille. Weitere Kerzen ließen flackernd erahnen, welches Grauen sich hier abgespielt haben mochte. Faye ließ den Blick durch Hildreths geliebtes Scharlachrotes Zimmer wandern und dachte: Sie haben es wirklich getan.

Einige der Leichen waren unversehrt, andere lagen als Einzelteile verstreut herum. In der Mitte des Raums türmte sich ein Haufen abgeschlachteter nackter Menschen. Gliedmaßen, Köpfe, Hände und Füße säumten die blutige Ansammlung der Körper. Faye konnte mühelos erkennen, welche Werkzeuge zum Einsatz gekommen waren – Axtwunden in Gesichtern, Axtwunden in Bäuchen. Ihr kam der Gedanke, dass die Leichen absichtlich aufeinandergestapelt worden waren, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen: eine aufgetürmte Opfergabe, eine Einladung. An der Tür im hinteren Bereich lagen mehrere umgekippte Eimer, in denen es rötlich glänzte. Und daneben befand sich die Axt, als habe sie jemand achtlos hingeworfen.

Hau ab, drängte sie sich.

Doch das konnte sie nicht.

Als Faye schließlich den Raum betrat, ertönte ein Schmatzlaut, der von etwas Warmem unter ihren Fußsohlen ausging. Zuerst dachte sie, es müsste der Teppich sein, der sich mit dem vielen Blut vollgesaugt hatte, aber ein Blick nach unten strafte sie Lügen.

Sie lief gar nicht auf dem Fußboden, sondern auf rohem Fleisch, das einem riesigen Porterhousesteak ähnelte. Adern so dick wie Gartenschläuche verzweigten sich ringsum und pulsierten. Sie streckte eine Hand aus, um sich an der Wand abzustützen, doch was ihre Finger berührten, war keine Wand mehr ... sondern Haut.

Heiße, schwitzende, gerötete Haut mit intakten Nerven, die sich in erregter Empfindung wanden. Faye ging an der Wand entlang und fuhr mit der Hand darüber. Unter ihren Fingern schien die Begrenzung anzuschwellen, als versuchte sie, die Berührung zu erwidern. Außerdem spürte sie feine Erhebungen: offene Augen, Gesichter, Münder mit leckenden Zungen. Die Augen blinzelten sie lüstern an. Eine Zunge schoss verzweifelt hervor, dann seufzten die Lippen und flüsterten: »Bitte, bitte! Lass uns dich schmecken!«

Fayes üppiger Hängebusen bebte und ihre Speckfalten schwabbelten, als sie mit wackligen Füßen auf die Mitte des Raums zustolperte. Sie musste noch etwas überprüfen ...

Die andere Tür.

Dort war es tatsächlich, genau wo es sein sollte. Gesäumt von triefendem Fleisch.

Der Spalt, dachte sie.

Ja, sie hatten es wirklich getan.

Aber wo steckte Hildreth?

Dann steckte sie ihren Kopf hinein und sah, wie er zurückgrinste.

Die Polizei fand sie Stunden später. Sie saß am Ende der kilometerlangen gewundenen Auffahrt zur Villa. Sabbernd. Nackt. Wahnsinnig.

Nun hockte Faye genauso da, nur an einem anderen Ort. Nein, kein Albtraum – schlimmer: eine Erinnerung.

Der Mond hüllte den Boden und einen Teil des Betts in sein sanftes eisähnliches Licht.

Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung wahr; als sie zu dem kleinen Fenster aufschaute, spähte ein Gesicht herein. Das taten sie oft, aber sie lächelten nie.

Die Tür öffnete sich mit einem schweren Klicken.

»Komm, Faye. Es ist Zeit für deine Medikamente.«

II

Patrick Willis reiste nie mit dem Flugzeug. Das hatte er vor zehn Jahren aufgegeben, als seine mentalen Kräfte ihren Höhepunkt erreichten. Meistens wurden sie durch Berührung ausgelöst. In der Enge einer Flugzeugkabine, umgeben von all den anderen Passagieren ... das wurde ihm manchmal zu viel.

Und oft war es der pure Wahnsinn.

In unmittelbarer Nähe so vieler Auren brauchte er andere Menschen nicht einmal zu berühren. Ihr Grauen fand andere Möglichkeiten, ihn zu erreichen.

Deshalb reiste er nur noch mit Greyhound-Bussen. Die waren sowieso billiger.

Die halbe Ostküste zog vor dem großen Fenster wie ein bunter Film vorbei. Diese ganze Schönheit da draußen, dachte er. Dann ließ er den Blick über die etwa zehn anderen Fahrgäste streifen, die sich den Bus mit ihm teilten. Ja, draußen ist davon jede Menge zu finden, hier drinnen eher nicht.

Mehrere Penner, einige fette Sozialhilfeempfänger und ein weißes 20-jähriges Mädchen mit fettigen Haaren, das mit steinerner Miene neben einem grinsenden Schwarzen Mitte 40 saß. Ein schlafender Junkie hier, ein redseliger Geistesgestörter dort. Allesamt vom Pech verfolgt. Hauptsächlich Menschen, die das Leben in die Gossen der Gesellschaft verbannt hatte.

Und wohin gehöre ich?, fragte er sich.

Willis sah wieder aus dem Fenster. Selbst auf eine Entfernung von unter drei Metern konnten Menschen eine Wahrnehmung bei ihm auslösen, wenn er sie eindringlich genug musterte. Was sich jenseits des Fensters abspielte, gefiel ihm deutlich besser.

Er wollte die Landschaft auf der anderen Seite der Scheibe auf sich wirken lassen, aber letztlich endete es – wie üblich – damit, dass er noch mehr von seinem eigenen kaputten Leben wahrnahm. Er war nie besonders materialistisch veranlagt gewesen, ganz im Gegenteil. Nach Abschluss seines Medizinstudiums hatte er wenig Lust verspürt, sich als Arzt niederzulassen – obwohl ihm seine zusätzlichen Talente sicher innerhalb kürzester Zeit ein siebenstelliges Jahreseinkommen verschafft hätten. Stattdessen hatte er beim staatlichen Gesundheitszentrum gearbeitet, wo er überwiegend Vergewaltigungsopfer und misshandelte Frauen betreute. Er war schon immer selbstlos gewesen. Für ein wesentlich geringeres Gehalt zu arbeiten, um Menschen zu helfen, die sich selbst nicht helfen konnten, schien ihm eine ehrenvolle Aufgabe zu sein. So kann ich der Welt etwas zurückgeben. Es ging ihm nicht um Idealismus, sondern kam von Herzen.

Willis blieb etwa fünf Jahre dort und seine »Gabe« wurde – wie bei so vielen anderen mit parapsychologischen Fähigkeiten – zu einem Fluch. Bis zum Abschluss des Medizinstudiums hatte er sie kaum wahrgenommen – diese Art von übersinnlicher Begabung erreichte in der Regel erst um das 30. Lebensjahr herum ihren Höhepunkt. Bemerkt hatte er sie allerdings schon früher, wenn er im College oder während des Medizinstudiums mit Frauen zusammen war. Berührungen. Direkter Hautkontakt. Sex verdreifachte die Intensität dessen, was er als »Rückstrom« bezeichnete; und da Sex die intimste Art von direktem Hautkontakt darstellte, kam Willis’ Liebesleben nie über die erste Nacht mit einer Frau hinaus. Es gab immer irgendetwas – ein schreckliches oder dunkles Geheimnis –, das aus ihrem Kopf in seinen strömte. Willis fühlte sich wirklich wie ein Verfluchter.

Trotzdem habe ich es geschafft, oder?, überlegte er, während der Bus über den Highway rumpelte.

Mit 30 fand er sich damit ab, dass er vermutlich nie in der Lage sein würde, eine intime Beziehung mit einem anderen Menschen einzugehen. Zur sexuellen Befriedigung setzte er auf die gute alte Handarbeit. Sich damit abzufinden, war nicht ganz einfach, denn nach gängigen Maßstäben war er ein überaus attraktiver Kerl. In der Klinik hatte er sich den Spitznamen »Dr. Schnuckel« eingefangen. Aber egal – er besaß ein gesundes Maß an Entschlossenheit, hatte seine Ideale und wusste, dass er einer Menge Menschen wirklich geholfen hatte, bevor man ihm seine Zulassung wegnahm.

Denk jetzt einfach nicht darüber nach, seufzte er innerlich. Auch über die vertrackte Geschichte, auf die er sich gerade einließ, grübelte man besser nicht zu sehr. Von Vivica Hildreth hatte er zwar nie zuvor gehört, dafür jedoch umso mehr vom »Unterhaltungsbetrieb« ihres Ehemanns, T&T Enterprises. In dem Brief, der zusammen mit dem Paket eingetroffen war, stand: Bei dem Schmuckstück in dieser Schachtel handelt es sich um ein Armband, das einer Frau namens Jane Scharr gehörte. Ihr Künstlername als Pornostar lautete Janey Jism. Ein fast schon unheimlicher Zufall, denn die Filme von Miss Scharr hatten Willis schon einige überaus befriedigende Abende verschafft. Das Schreiben ging weiter: Bitte ziehen Sie in Erwägung, Ihre Fähigkeiten bei diesem Armband einzusetzen. Falls Sie sich dazu entschließen sollten, die Gesamtheit der fraglichen Nacht zusammen mit anderen Experten auf ihrem Gebiet eingehender zu untersuchen, zahle ich Ihnen das Zehnfache des beigelegten Vorschusses. Setzen Sie sich mit meinem Büro in Verbindung, falls Sie Interesse haben. Meine Mitarbeiter werden dann Anreise und Unterbringung organisieren. Den Vorschuss können Sie unabhängig von Ihrer Entscheidung in jedem Fall behalten.

Mit freundlichen Grüßen

Vivica Hildreth

»Mann«, murmelte er, als er darüber nachdachte. Willis’ sogenanntes Büro konnte man nicht gerade als Gelddruckmaschine bezeichnen. Vielmehr konnte er von Glück reden, wenn er es mal auf 20.000 im Jahr brachte. Allein Vivica Hildreths Vorschuss belief sich auf stolze 10.000 Dollar.

Was konnte er schon tun? Er brauchte das Geld.

Willis schüttelte das kleine Expresspaket und hörte, wie die Glieder des zierlichen Armbands leise gegeneinanderklirrten. Er überlegte, ob er es erneut aus dem Samtbeutel holen sollte – nur um es noch einmal anzusehen –, verwarf die Idee jedoch und spähte lediglich hinein. Es handelte sich um einen hübschen Silberschmuck mit winzigen Amethysten. Ein Experte für Kristalle würde sicherlich beteuern, dass Amethyst und Silber den Träger vor Bösem schützten. Hat bei ihr eindeutig nicht geklappt, dachte Willis. Jane Scharr hatte das Armband vor gar nichts geschützt.

Als er es an dem Tag, als das Päckchen in seiner armseligen Wohnung in Los Angeles eintraf, zum ersten Mal in die Hand nahm, wäre er beinahe zu Boden gesackt. Bildfragmente muskulöser Männer, deren nackte Körper vor Schweiß glänzten, waren vor seinem inneren Auge aufgetaucht. Seelenruhig schlitzten sie die Kehlen mehrerer Frauen auf und fingen anschließend ihr Blut in Eimern auf. Kerzen flackerten, während eine Orgie ablief. Dann schlug ein großer, schlanker und irgendwie bedeutend aussehender Mann mit einer Axt auf die Teilnehmer der sexuellen Ausschweifungen ein. Mit einem Hieb nach dem anderen vergrub er das Blatt in Rücken, Köpfen und Genitalien. Und dort, in der Ecke eines Raums, der Blut zu schwitzen schien, kauerte Jane Scharr alias Janey Jism. Mit drogenbenebeltem Blick lugte sie zwischen den Schenkeln hervor, in denen sie ihr Gesicht vergraben hatte. Im selben Moment knallte ihr die Axt gegen die Stirn und spaltete den Schädel. Dann wurden ihr mit stummen Schlägen Hände und Füße abgehackt und ihr noch zuckender Körper hochgehoben und auf einen Stapel weiterer zerhackter Leiber geschleudert. Die Frau, die sie eben noch oral verwöhnt hatte, griff sich ihre abgetrennte Hand und benutzte sie, um damit zu masturbieren ...

Das hatte Willis gereicht.

Und nun war er unterwegs, um mehr davon zu sehen, weil er das Geld unbedingt brauchte.

Was bin ich doch für eine Nutte, dachte er an seinem Fensterplatz.

Kalifornien hatte er längst hinter sich gelassen, die anderen Bundesstaaten zogen draußen verschwommen vorbei. Er hoffte, der Bus würde noch vor Sonnenuntergang am Ziel eintreffen.

Der Lautsprecher knackte, und die fröhliche Stimme des Fahrers verkündete: »Werte Fahrgäste, Sie können anfangen, zusammenzupacken. Ninth Street North, St. Petersburg, Florida, liegt gleich am Ende der Mautstraße. Wir treffen in etwa 15 Minuten am Busbahnhof ein.«

Gott sei Dank, dachte Willis.

»’tschuldigung, Sir«, sprach ihn überraschend eine dicke, verwahrlost wirkende Frau an. »Wir sin’ fast in St. Petersburg, und ich bin komplett blank. Hätten Se wohl ’n Dollar Busgeld für mich? Muss meine Tochter besuchen.« Und dann packte sie seine Hand.

Willis zuckte zurück und hätte beinahe laut aufgeschrien. Durch diese flüchtige Berührung, diese Taktion, schoss ein stummer Strahl tiefster Schwärze in seinen Geist – das gebrochene Herz einer Mutter, als sie von der Polizei erfährt, dass ihrem Sohn auf dem Heimweg von der High School aus einem fahrenden Auto eine Kugel in den Kopf gejagt wurde. Und es blieb nicht bei dem bloßen Gefühl, es wurde von flüchtigen Bildern begleitet: ein explodierender Schädel, durch die Luft spritzende Gehirnmasse ...

»Rühren Sie mich nicht an, rühren Sie mich nicht an!«, brüllte er und wich so weit wie möglich von ihr zurück.

»Du meine Güte, ich hab Sie ja bloß gefragt ...«

Willis stieß die Visionen von sich weg; er hatte gelernt, sich rasch zu fangen. »Schon gut, schon gut, tut mir leid«, sprudelte er hervor und setzte ein gespieltes Lächeln auf. »Sie haben mich nur erschreckt. Hier.« Damit drückte er ihr einen 20-Dollar-Schein in die Hand.

Ihr breites Gesicht wirkte verwirrt und erstaunt zugleich. »Danke vielmals, Sir. Gott segne Sie.«

Willis seufzte und schloss die Augen. »Möge er Sie auch segnen.«

III

»Wir sind reich«, stellte Straker ohne sonderliche Begeisterung fest.

»Reich? Willste mich verscheißern?«, gab Walton in seinem leicht gedehnten North-Carolina-Akzent zurück. »Klar, war ’ne hübsche Stange Geld ...«

»100.000 für drei Wochen Arbeit, geteilt durch zwei? Ja, das würde ich auch als hübsche Stange Geld bezeichnen.«

»Kann immer noch nicht glauben, dass die durchgeknallte Schlampe uns so viel gezahlt hat. Aber wir werden’s versteuern müssen, weil sie’s sicher gemeldet hat.«

»Ja. Scheiße.«

Für zwei Männer, die soeben innerhalb weniger Wochen 100.000 Dollar verdient hatten, ließen Walton und Straker kaum Enthusiasmus erkennen. Die beiden saßen auf den Eingangsstufen des großen Hauses, erschöpft, niedergeschlagen und ... noch etwas.

»War die Sache fast nicht wert«, meinte Straker schließlich. »Müsste ich’s noch mal tun, würd ich mir vielleicht sagen, scheiß auf die 50.000, ich geh lieber in die Kneipe.«

»Ich weiß.«

Der frühe Morgen passte nicht zur Situation; sie hätten den Job um Mitternacht beenden sollen – das hätte die richtige Wirkung gehabt. Sie hätten ihr Werkzeug unter dem Schein des Vollmonds zurück zum Wagen schleppen und anschließend in die schwüle Nacht davonbrausen sollen.

Auch ihr Erscheinungsbild hätte kaum unpassender sein können: zwei Männer mit Kinnbärten und finster entschlossenen Mienen, Walton mit seinem schwarzen Cowboyhut, Straker mit der Baseballmütze, die das auf den Kopf gestellte Logo der Buccaneers präsentierte. Straker rauchte, Walton gönnte sich eine Prise Kautabak. So saßen sie auf der Eingangsstufe vor diesem prunkvollen Haus. Was genau wirkte also so unpassend? Schließlich handelte es sich lediglich um zwei Männer, die gerade einen Auftrag erfolgreich beendet hatten, der eine mit Baseball-Cap, der andere mit Stetson.

Es lag daran, dass sie immer noch ihre knallgelben Schutzanzüge trugen und lediglich die Kapuzen zurückgezogen hatten. Neben ihren Polypropylenstiefeln lagen Gasmasken und Sauerstofftanks.

»Ich finde, der Gestank war am Schlimmsten«, dachte Straker laut nach, während er rauchte. »Vor allem am ersten Tag.«

Walton spuckte Tabaksaft aus. »Ne, mir hat eher zu schaffen gemacht, wie sich der Ort anfühlte. Vielleicht war’s auch bloß ’ne psychologische Sache, weil wir ja wissen, was sich da drin abgespielt hat.«

»Ich meine ... wer hätte sich so was je vorgestellt? Die ganzen Menschen ...«

»Die Teppichentsorger haben gemeint, es waren um die 20. Sie wussten nicht genau, wie’s passiert ist, aber ... Scheiße, überall im Zimmer waren diese Axteinschläge.«

»Und dann noch der ganze Pornoscheiß«, fügte Straker hinzu. Eigentlich wollte er nur noch weg, doch er fühlte sich zu müde, um sich dazu aufzuraffen.

»Schätze, das macht man so, wenn man reich ist. Man kauft sich ’ne Pornofirma und verlagert sie in sein Haus. Dann stopft man die Bude voll mit heißen Miezen ...«

»Und dann bringt man sie um«, beendete Straker die Beschreibung des verwirrenden Szenarios. »Und soll ich dir was sagen? Manchmal, wenn ich da drin in ein Zimmer gegangen bin, hatte ich plötzlich das Gefühl ...«

»Als wärst du auf einem Friedhof und würdest von jemandem beobachtet?«

»Ja, das war ständig so, aber das mein ich nicht. Ein paarmal hatte ich plötzlich das Gefühl, geil zu werden.«

Walton kicherte. »Scheiße, du bist doch ständig geil.«

»Ich mein’s ernst, Mann. Ich stand da drin und hab geronnenes Blut und Eingeweide vom Boden eines Zimmers gekratzt, in dem ein Haufen Leute ermordet wurden, und auf einmal bekam ich einen Steifen.«

»Tja, ich schätze, dann hast du einen ziemlichen Dachschaden.«

»Total ekelhaft. Mir war schlecht, auf dem Boden krochen die Maden rum und ich wollte nur den Kopf aus dem Fenster stecken und kotzen ... aber gleichzeitig hatte ich einen verdammten Ständer.«

Walton schüttelte den Kopf und rückte die Krempe seines schwarzen Cowboyhuts zurecht. »Fahren wir zur Kneipe, du brauchst dringend ’nen Drink.«

Die beiden stöhnten, als sie sich aufrappelten, ihre Ausrüstung zusammensammelten und sich zum Lieferwagen schleppten, der mit Nass- und Trockensaugern sowie Chemikalien vollgestopft war. Auf der Seite des Fahrzeugs stand:

WALTONS EXTREMREINIGUNGSDIENST
(TATORTE, BRÄNDE, LEICHENFUNDE)
WIR SIND ABGEHÄRTET!

Ein weiterer großer Lieferwagen rollte auf den Vorhof. Mehrere, mit ähnlichen Schutzanzügen bekleidete Männer stiegen aus.

»Wer sind die Kerle?«, fragte Straker.

»Schädlingsbekämpfer ...« Walton wandte sich an den vordersten der Neuankömmlinge. »Viel Spaß, Jungs.«

»Ist es schlimm?«, fragte der Mann mit Gasmaske in der Hand. »Bezahlt hat die Lady jedenfalls äußerst großzügig.«

»Es ist sogar ausgesprochen übel«, antwortete Walton. »Tobt euch aus.«

Weder Walton noch Straker verloren ein weiteres Wort, als sie in ihr eigenes Fahrzeug kletterten. Walton suchte einen zackigen Countrysong im Radio, legte den Gang ein und fuhr los.

Straker war immerhin froh darüber, dass man ihm die Entsorgung der Leichen erspart hatte. Aber ein Teil seines Verstands ging die Möglichkeiten durch. Was ist da drin wirklich passiert?

Im Rückspiegel beobachtete er, wie die riesige Villa erst zusammenschrumpfte und dann nach der ersten Kurve verschwand. Doch tatsächlich würde sie nie so ganz verschwinden, wie er in den folgenden Jahren feststellen sollte – sie blieb beharrlich in seiner Erinnerung haften.

»Warte mal«, sagte er. »Was ist eigentlich aus dem Kerl geworden?«

Walton spuckte erneut aus. »Aus welchem Kerl?«

»Na, dem reichen Kerl, diesem Hildreth.«

»Scheiße, ich ... ich weiß es nicht.«

IV

Adrianne Saundlund musterte mit trübem Blick die vorbeiziehenden Gesichter. Bitte, setzt euch NICHT hierhin, dachte sie. Adrianne reiste immer mit Fluggesellschaften, die freie Platzwahl anboten, denn in der Regel hatte sie Pech – sie bekam immer einen Stinker oder eine Mutter mit einem quengelnden Baby neben sich gesetzt. So hatte sie zumindest eine Chance. Sie war immer früh genug da, um zu den ersten Passagieren zu gehören, die an Bord gingen. Dann pflanzte sie sich auf den ersten Fensterplatz und bemühte sich, so unfreundlich wie möglich zu wirken, um potenzielle Sitznachbarn dazu zu bewegen, sich woanders hinzusetzen. Adrianne wollte niemanden in ihrer Nähe haben. Sie mochte Menschen nicht besonders.

Fensterplätze bevorzugte sie, weil der Ausblick auf den Himmel sie an ihre ganz eigene Art des Fliegens erinnerte – außerhalb ihres Körpers.

Das Geheul der Turbinen entspannte sie im Zusammenspiel mit den Schlafmitteln, von denen sie längst abhängig geworden war. Adrianne wollte einfach nur ihre Ruhe haben ...

Abwesend blätterte sie durch die aktuelle Ausgabe der Paranormal News. Sie blieb am Bild einer sympathischen Frau mit herbstblattfarbenen Augen, verhaltenem Lächeln und einem wirren Schopf tintenschwarzer Haare hängen, die wie eine Bibliothekarin aussah. Ein abwesender, wissender und zugleich ein wenig argwöhnischer Gesichtsausdruck. Der dazugehörige Artikel trug die Überschrift »Fernkontrolle: Techniken und Philosophien der Transvision« und stammte von einer gewissen Adrianne Saundlund. Adrianne war 40, doch sie dachte: Scheiße, ich muss denen sagen, sie sollen ein neues Foto verwenden. Auf dem sehe ich aus wie 50. Sie schrieb diese alle zwei Monate erscheinende Kolumne sowie vereinzelte Beiträge für andere einschlägige Fachzeitschriften, um sich ein Nebeneinkommen zu sichern und in der Branche im Gespräch zu bleiben. Ihre Fixkosten deckte die Invalidenrente ab, die sie von der Army bezog.

Und jetzt sieh sich einer dieses Flittchen an. Sie ist 40 und sieht wie 30 aus. Ein Anflug von Neid überkam sie, als sie einige Seiten weiterblätterte und auf eine andere Kolumne einer deutlich bekannteren Parapsychologin stieß. Sie hätte sich kleinere Implantate einsetzen lassen sollen, kritisierte sie den makellosen Busen der anderen Frau. Glänzendes Haar in der Farbe eines Sandstrands umspielte ein Gesicht mit eisblauen Augen und eindringlichem Blick, der wirkte, als genieße die Frau ein heimliches Vergnügen. Der Titel der Kolumne lautete: »Paraerotik: Sexuelle Begierde und die Welt des Übernatürlichen«. Adrianne betrachtete das Foto der Frau, einer gewissen Cathleen Godwin, noch einmal kurz, dann senkte sie die Zeitschrift jäh und sah auf. Dasselbe Gesicht lächelte ihr aus dem Gang des Flugzeugs entgegen.

»Hallo Adrianne. Hast du was dagegen, wenn ich ... Ach, bestimmt hast du nichts dagegen«, sagte die sinnliche Frau, ließ sich auf den Sitz neben ihr fallen und legte eine Laptoptasche auf ihre Knie.

»Hi, Cathleen.« Verdammt! »Ich schätze mal, das ist ein Zufall, sofern es so etwas für Leute wie uns gibt.«

Cathleen Godwin wirkte müde, aber keineswegs unerfreut darüber, Adrianne zu sehen. Sie waren weder verfeindet noch richtige Rivalinnen, standen einander lediglich nicht besonders nah. Menschen mit übersinnlichen Kräften vertrauten einander selten. Als sie sich setzte, wehte der dezente Duft von Kräuterseife zu Adrianne herüber.

Ein weiterer Anflug von Unmut regte sich. Sie sieht sogar dann elegant aus, wenn sie sich beschissen anzieht, ärgerte sich Adrianne. Cathleen trug eine Bluse mit Blümchen und Sternen, so ausgebleicht, dass sie zehn Jahre alt sein musste, dazu genauso verblichene Jeans.

»Ich brauche keine übersinnlichen Fähigkeiten, um zu wissen, wohin du unterwegs bist«, meinte die Blondine. »Mal sehen ... Tampa International, dann mit einem Taxi ins Zentrum von St. Petersburg. Du hast ein Angebot von einer Frau namens ...«

»Vivica Hildreth«, bestätigte Adrianne. Sie war aufrichtig überrascht und mit einem Mal noch eifersüchtiger. Adrianne hatte zwar gewusst, dass andere PSI-Ermittler dort sein würden, was sie nicht störte, doch unter ihnen befanden sich auch Männer, was bedeutete, dass Cathleen wie üblich herumflirten und ihre Show abziehen würde. Adrianne wünschte, sie könnte die Frau als Flittchen abstempeln, aber sie wusste, dass Cathleen Godwin wesentlich mehr war. »Oder vielleicht bin ich auch nur unterwegs, um mir etwas Sonnenbräune zu gönnen«, fügte sie im Nachsatz hinzu.

»Wir sind zwei der zehn besten Medien des Landes, Adrianne, und wir sitzen beide am selben Tag in einem Flugzeug mit demselben Ziel, auf dem Weg zu einem Haus, das eindeutig mit Energie geladen ist.«

»Woher weißt du, dass es geladen ist? Bist du dort gewesen?«

»Nein, aber trotzdem – wie viele Leute waren es? 16, 17, alle im selben Zimmer von einem Satanisten abgeschlachtet.«

»Sie hat nicht gesagt, dass er Satanist war. Sie meinte nur, er sei ein Exzentriker gewesen.«

»Oh, sicher, ich würde auch sagen, dass man das als exzentrisch bezeichnen kann – ein Ritualmord, mich erinnerte es an einen Transpositionsritus.«

Adrianne lächelte mit schmalen Lippen. »Ich glaube nicht an Transpositionsriten.«

»Nein, aber du glaubst an Gott.« Cathleen seufzte und lehnte sich in ihrem Sitz zurück. »Ich schätze, das tun wir alle auf die eine oder andere Weise. Leute in unserer Branche.«

Schuld, ging es Adrianne durch den Kopf. Der Gedanke bescherte ihr eine geheime Befriedigung. Scham. Sie weiß, dass ihr Leben eine Orgie christlicher Sünden ist ...

»Und dann verschwindet der Kerl, fast so, als wäre das Ritual erfolgreich verlaufen. Fast so, als hätte er ein Portal geöffnet und wäre hindurchgegangen.«

In Adriannes Einwand schwang eine gewisse Schärfe mit. »Er ist nicht verschwunden«, sagte sie und kramte in der vorderen Tasche ihrer Reisetasche. »Er hat nach der Tat Selbstmord begangen. Die Leiche wurde aus dem Haus abtransportiert und einer Autopsie unterzogen. Er hat sich erhängt.«

Cathleen hielt das Gesicht mit geschlossenen Augen nach vorn gerichtet. »Es gab nur eine Todesanzeige ganz hinten in der Lokalzeitung. Die hast du gefunden?«

Adrianne faltete ihre Fotokopie auseinander. »Ich habe das hier, außerdem habe ich den Polizeibericht und die Vorabfassung der Meldung.«

Cathleen nahm das Blatt entgegen, betrachtete es mit wenig Interesse und gab es ihr zurück. »Sei doch nicht naiv.«

»Woher weißt du es?«, entfuhr es Adrianne, diesmal beinahe so laut, dass andere ihre Stimme hören konnten.

Cathleen seufzte müde, nach wie vor mit geschlossenen Augen. »Adrianne ...«

»Was? Hast du einen Kontakt gehabt?«

»Entspann dich. Du bist immer so aufgedreht ...«

Adrianne schäumte schweigend vor sich hin. Pfeif auf sie. Wahrscheinlich hatte sie gar keinen Kontakt gehabt und will nur, dass ich es glaube. Die Vorstellung brachte sie zur Weißglut, doch was sie noch wütender machte, war, dass diese umwerfende, wunderschöne Frau sämtliche Unzulänglichkeiten von Adrianne gleichzeitig herauskitzelte.

»Warten wir einfach, bis wir dort sind. Vielleicht hast du recht. Vielleicht ist das Ganze fingiert, und wenn es so ist ... was soll’s? Wir erledigen lediglich einen Auftrag. Die Leute bezahlen uns, weil sie an uns glauben. Wenn wir schon im Voraus wüssten, dass es hier nur um eine durchgeknallte Frau mit massenhaft Geld und ein ungeladenes, völlig kaltes und absolut gewöhnliches Haus ginge, was würden wir dann tun?«

Adrianne gab es zu. »Wir würden wegen des Gelds trotzdem hinfliegen.«

»Ja. Natürlich würden wir das. Weil wir Söldnerinnen sind, genau wie jeder andere mit einer bestimmten Begabung. Wenn jemand einen Handwerker engagiert, um das Dach neu zu decken, der aber sieht, dass das alte noch völlig in Ordnung ist, deckt er es trotzdem neu ... weil der Kunde es verlangt und dafür bezahlt.«

Sind wir wirklich so?, fragte sich Adrianne. Sie zog es vor, nicht genauer über die Antwort nachzudenken.

»Ich habe auf einer Website gelesen, dass deine PK völlig erloschen ist«, sagte Adrianne, um von dem unangenehmen Thema abzulenken. »Das stimmt doch nicht, oder?«

Unverhofft klappte Adriannes Plastiktischchen auf ihren Schoß herunter. Sie drückte es zurück und sicherte es mit dem Drehriegel. »Sehr komisch.«

»Ich mache es nur nicht mehr, aber ich erzähle den Leuten, dass ich es nicht mehr kann«, gestand Cathleen. »Bereitet mir zu viel Kopfschmerzen. Vor allem seit dem Unfall. Ich bin sicher, du hast davon gehört.«

Natürlich hatte Adrianne davon gehört – jeder in der Branche hatte das. Eine Fernsehdokumentation über übernatürliche Kräfte. Mehrere kräftige Männer hoben einen Fachwerkrahmen aus Kanthölzern etwa hüfthoch vom Boden. Ein weiterer Mann – der Produzent der Sendung – kroch darunter, dann ließen die anderen den Rand des Rahmens los. Einige Sekunden lang schwebte er in der Luft, bevor er krachend herunterdonnerte. Der Produzent hatte das Experiment mit mehreren gebrochenen Rippen und einer lädierten Nase teuer bezahlt.

»Das klingt jetzt wahrscheinlich schrecklich, aber es tut mir nicht leid«, fuhr Cathleen fort. »Wegen dem Kerl, meine ich. Damals datete ich ihn – naja, eigentlich betrog ich meinen Mann mit ihm – und der Mistkerl drohte mir. Er sagte, wenn ich nicht in seiner albernen Fernsehsendung auftrete, würde er meinem Mann von unserer Affäre erzählen.«

»Manche Menschen verdienen, was ihnen widerfährt«, pflichtete Adrianne ihr bei. »Sie behandeln uns, als wären wir Tiere in einem Streichelzoo.«

»M-hm. Manchmal ist es schwierig, sich nicht über so gut wie jeden zu ärgern.« Plötzlich drehte sich Cathleen zu Adrianne und griff nach ihrem Arm. »Oh, aber da ist noch eine Geschichte, die du nicht kennst – jedenfalls hoffe ich das. Vor ein paar Jahren war ich mit einem Profibowler zusammen. Er hatte es gerade mit Mühe und Not in die PBA-Tour geschafft. Plötzlich fing er an, unglaublich gut zu spielen und gegen jeden Gegner zu gewinnen ...«

»Und das warst in Wirklichkeit du?«, fragte Adrianne.

Grinsend nickte Cathleen. »Ich saß im Publikum. Jedes Mal, wenn er einen Strike brauchte, gab ich der Kugel einen Schubs oder warf die Kegel um, die nicht fielen. Ungefähr sechs Wochen lang war der Kerl der beste Bowler der Welt!«

»Hast du es ihm gesagt?«, wollte Adrianne wissen und beugte sich vor.

»Ach, natürlich nicht. Er dachte, er wäre es selbst. Dank mir hat er Hunderttausende Dollar verdient und einen Weltrekord an Strikes aufgestellt. Dann kamen Werbeangebote mit fetten Honoraren rein. Und weißt du, was er gemacht hat? Der Schweinehund schlief hinter meinem Rücken mit einem billigen Bowling-Groupie

»Ich frage ja nur ungern ... aber was hast du gemacht?«

»Nichts. Ich verließ ihn, und im nächsten Jahr fiel er aus der Tour, weil er sich nicht dafür qualifizieren konnte. Keine perfekten Spiele mehr für den Arsch.«

Adrianne lachte.

»Was ist mit dir? Arbeitest du noch für die Army?«

»Ich ... bin im Ruhestand«, antwortete Adrianne überlegt. »Manchmal werde ich noch angerufen, wenn irgendetwas Brenzliges passiert, aber meistens bin ich dem nicht gewachsen. Transvision klappt noch ohne große Probleme – obwohl es manchmal wehtut.«

»Aber Astralwanderungen machst du gar nicht mehr?«

»Könnte ich zwar, tu’s aber nur, wenn ich unbedingt muss.« Cathleen wusste von den Beschleunigungsdrogen und von den Barbituraten, von denen Adrianne mittlerweile abhängig war. »Es schmerzt danach zu sehr. Ich kannte mal einen Mann, der bekam deswegen einen Hirntumor. Und Schlaganfälle treten immer wieder auf. Berufsrisiko.«

»Mir lag die Army auch lange in den Ohren. Ich kann mir nicht vorstellen, was die von mir wollten.«

»Oh, ich schon. Du wärst überrascht. Die Army und der Nachrichtendienst der Navy. Und da sind noch diese anderen komischen Typen von der IGA. Steht für Interagency Group Activity. Das ist so eine behördenübergreifende Organisation. Die haben sogar mir Angst eingejagt. Ich kenne ein paar Leute, die für sie gearbeitet haben – die habe ich nie wiedergesehen.«

»Da krieg ich eine Gänsehaut.« Cathleen beäugte kritisch ihren Nagellack, dann seufzte sie. »Ich erinnere mich daran, während des Irakkriegs einen Leitartikel in einer der einschlägigen Zeitschriften gelesen zu haben. Der Redakteur schlug darin vor, die Regierung sollte erfahrene Übersinnliche wie dich und Peggy Falco einsetzen, um mittels Astralwanderung nach Hussein zu suchen, und ich dachte mir die ganze Zeit: Ich weiß verdammt genau, dass das schon in der Zeit vor Kriegsausbruch gemacht wurde

Die Details der Äußerungen brachten Adrianne ins Grübeln und in der Gedankenpause hätte sie durch ihre Reaktion ohne Weiteres etwas verraten können. Wahrscheinlich manipulierte Cathleen sie.

»Dann stieß ich eines Abends in einem Chatroom auf eine ›anonyme‹ Quelle, die angab, wir hätten ihn dreimal fast erwischt. Du wärst es gewesen, die ihn von einem Stützpunkt der Army in Maryland aus mittels Transvision in Bagdad aufgespürt hätte.« Cathleen blinzelte sie an. »Stimmt das?«

Verdammt noch mal ... Cathleen manipulierte sie tatsächlich. Und es stimmte wirklich, nur war es mehr als dreimal gewesen. Am dichtesten war sie ihm in einem leer stehenden Wohngebäude am Al-Mu’azzam-Platz in der Nähe der Sa’dn-Straße in der Innenstadt auf die Pelle gerückt. Sie hatte gesehen, wie Hussein hastig dort hineingebracht wurde, sich mit ihrem Astralleib ins Freie begeben und eine Beschreibung des Gebäudes und der Straße beschafft, um die Information an ihren Sachbearbeiter in Fort Meade weiterzugeben. 20 Minuten später brachten mehrere tonnenschwere, satellitengelenkte Bomben das Gebäude zum Einsturz. Allerdings hatte Hussein es fünf Minuten vorher verlassen und war mit einem Jeep davongefahren. »Cathleen, du weißt, dass ich nicht darüber reden darf, was ich vielleicht für die Army gemacht habe oder auch nicht. Es gibt da so Kleinigkeiten wie das landesweite Gesetz über Verschlusssachen und den bundesstaatlichen Verschwiegenheitseid.«

Cathleen grinste. »Ich weiß. Ich hab bloß mit dir gespielt. In Wirklichkeit bin ich neidisch.«

Die Bemerkung verdutzte Adrianne. »Worauf, um Himmels willen?«

»Ich leiste keinen wertvollen Beitrag für unser Land. Du schon. Ich verbiege bloß Löffel und glotze in Kristalle, um die Zukunft vorauszusagen. Übrigens, wie geht es Peggy Falco? Hab schon seit Jahren nichts mehr von ihr gehört.«

Weitere Dunkelheit stahl sich in Adriannes Geist. »Sie hat letztes Jahr an Weihnachten Selbstmord begangen. Die letzten zwei Jahre konnte sie nicht mehr laufen und spürte in der linken Körperhälfte nichts mehr.«

»Oh Gott. Tut mir leid.«

»Sie war gierig, viel zu machtversessen und hat sich dabei übernommen. Aber sie war die Beste der Welt.«

»Jetzt bist du das.«

»Nein. Du solltest mal einige der jungen Leute sehen, die sie neuerdings anschleppen. Da ist ein Junge, der ist erst 14 und kann ...« Doch an der Stelle verstummte Adrianne plötzlich. Ihr wurde klar, dass sie zu viel redete.

»Tut mir leid. Ich hätte nicht so neugierig sein sollen.« Cathleen setzte das erste strahlende Lächeln auf, seit sie Platz genommen hatte. »Aber es ist schön, dich zu sehen. Ich wollte dich nicht volllabern. Ich weiß ja, dass du am liebsten deine Ruhe hast, nicht gern plauderst und so. Es ist bloß schön ... neben jemandem zu sitzen, den ich kenne.«

»Ja, finde ich auch, und es ist auch schön, dich zu sehen«, gab Adrianne zurück.

Cathleen stieß gedehnt den Atem aus und rieb sich die Augen. »Gott ...«

»Anstrengende Nacht?«

»Ja«, erwiderte Cathleen nur.

Eine Flugbegleiterin mit affektiertem Gehabe leierte die allseits ignorierten Sicherheitsanweisungen vor dem Start herunter. Adrianne ließ ihre Worte zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus. Sie zog es vor, sich auf das gleichmäßige Geheul der Turbinen zu konzentrieren. Es interessierte sie nicht, wo sich der Notausgang befand, weil sie keine Angst vor dem Tod hatte. Sie wusste, dass es einen Himmel gab, denn sie hatte schon mehrmals flüchtige Blicke darauf erhascht.

Adrianne fragte sich, ob ihr das Haus in Florida nun auch einen Blick in die Hölle bescheren würde.

V

Clements vermochte nicht genau zu sagen, weshalb er die Villa so beschreiben würde. Es ging lediglich von einer Eingebung aus, von einem Bauchgefühl.

Die Villa sah wie der Inbegriff des Wahnsinns aus.

Die Gebäudefront war bestimmt 50 Meter breit. Das graue Steinwerk der Außenmauern erstreckte sich über fünf Geschosse. Grauer Schiefer bedeckte das steil geneigte Dach. An den Regenrinnen und Brüstungen rankten sich aufwendige Zierelemente aus Gusseisen entlang. Sogar die Abflussrohre und Traufen wiesen Spitzbögen und Lilienornamente auf.

Alles grau.

Wenn Trostlosigkeit eine Farbe besaß, dann diese.

Die Vorderseite präsentierte sich als Ansammlung schießschartenähnlicher Bleiglasfenster mit Sprossen. Die meisten der Scheiben wirkten schwarz. Über der Mittelmauer ragten zwei zylindrische Schornsteine wie Hörner auf.

Clements schauderte.

»Stört dich doch nicht, wenn ich kiffe, oder?«, fragte das Mädchen und hielt eine Crack-Pfeife hoch.

Clements’ Blick schweifte von seinem Fernglas zu ihrem Gesicht. Allein der Gedanke verärgerte ihn so sehr, dass er am liebsten gebrüllt hätte. »Doch, es stört mich sogar sehr.«

»Warum?«

»Weil es gegen das Gesetz verstößt, verdammt noch mal.«

»Nutten aufzugabeln, verstößt auch gegen das Gesetz.«

Er spitzte den Mund. Noch nie im Leben hatte er eine Frau geschlagen, aber in dieser Sekunde verspürte er den impulsiven Drang, sie mit aller Kraft zu ohrfeigen. »Das ist etwas anderes ...«

»Ja, klar«, erwiderte sie lachend und schob die Pfeife zurück in die Tasche ihrer Shorts.

»Die Leute, von denen du das Zeug kaufst, sind dieselben Leute, die es auf Spielplätzen an Neunjährige verhökern. Dieselben Leute, die wollen, dass die Armen in ihren Gettos bleiben, dieselben Leute, die dich versklavt haben. Und weißt du was? Diese Leute beziehen ihren Nachschub von Kartellen in Südamerika, die Hunderte von Millionen an die Typen weitergeben, die das World Trade Center zum Einsturz gebracht und dabei um die 4000 Menschen getötet haben. Denk mal darüber nach. Jedes Mal, wenn du dir für einen Zwanziger Stoff kaufst, gehen ein, zwei Cent davon an Psychopathen, die mit Vorliebe Frauen und Kinder umbringen.«

Die Hälfte der Tirade hörte sie gar nicht. Ihre blutunterlaufenen Augen starrten hinaus in die Nacht.

Clements hob den Zeiss-Feldstecher wieder an und beobachtete die Front des Hauses. Die Sonne ging unter und tünchte die Fassade in Orangetöne, als stünde sie in Flammen. Vermutlich würden bald die Scheinwerfer auf dem Grundstück eingeschaltet werden. Falls nicht, hatte Clements auch ein Infrarotfernglas und ein Restlichtzielfernrohr dabei. Er wollte unbedingt sehen, ob die Männer etwas ins Freie schleppten.

»Wer sind diese Typen?«, fragte das Mädchen.

Clements hatte ihren Namen vergessen, weil sie alle ähnlich hießen. Lola, Lolita, Candy, Kitty. In dieser Nacht würde er nicht einmal eine Nummer schieben; für gewöhnlich schenkte er jungen Frauen wie ihr mehr Aufmerksamkeit. »Schädlingsbekämpfer«, antwortete er und starrte weiter durch das helle Sichtfeld auf das Gebäude.

»Und wartest du auf die?«

»Ja.«

»Warum?«

»Du stellst zu viele Fragen.«

Wie die meisten ihrer Zunft war sie eine halb verhungerte Bordsteinschwalbe, aber sie hatte trotz der eingefallenen Wangen, der tief in den Höhlen sitzenden Augen und der mageren Figur ihr gutes Aussehen noch nicht komplett eingebüßt. Nuttenattraktivität, so nannte Clements es. Er stand einfach darauf, war regelrecht süchtig danach. Nur stammte seine Droge anders als bei dem Mädchen nicht aus einer Pfeife. Clements kam nicht dagegen an. Er war immer anständig zu ihnen, setzte sie stets dort ab, wo sie wollten, und bezahlte für ihre Dienste sogar etwas mehr als den gängigen, ohnehin denkbar niedrigen Preis. Straßenhuren waren seine Leidenschaft.

Sie rieb sich die Oberarme, sehnte sich nach der Pfeife. »Hör mal, du hast mir einen Hunderter für die Stunde gegeben und das ist gutes Geld, aber ...« Sie deutete auf die Uhr am Armaturenbrett. »Du hast noch 15 Minuten. Wenn du für den Hunni also noch Action willst, dann sollten wir besser langsam anfangen.«

Kurz senkte er das Fernglas, um sich eine Zigarette anzuzünden. »Ich hab’s dir doch schon gesagt, hier geht’s nicht um Sex, ich will nur, dass du redest.« Sein Blick wanderte zurück zum Haus. »Über den Ort da drüben.«

»Ich habe dich ständig rumfahren gesehen, aber du hast mich nie aufgegabelt. Dann haben mir die anderen Mädels erzählt, dass du ein toller Freier bist ...«

Beinahe hätte er aufgelacht. »Danke.«

»Jetzt hast du mich und willst nichts von mir.«

»Ich will etwas über das Haus und das Mädchen auf dem Bild wissen.«

»Darüber hab ich dir so ziemlich alles erzählt ...« Ihre Aufmerksamkeit schien abzuschweifen. »Woher hast du überhaupt gewusst, dass ich dort war?«

Clements blies geisterhaft anmutenden Rauch durch das Fenster hinaus. Da kein Lüftchen wehte, verharrte die Dampfwolke unbewegt – wie ein körperloses Gesicht, das ihn anstarrte. »Eines der anderen Mädchen hat mir davon erzählt.«

»Welches?«

Clements seufzte. »Lola, Lolita, Candy, Kitty – irgendetwas in der Art.«

»Na ja, ich hab’s dir ja schon gesagt, ich hab das Mädchen, diese Debbie, nur einmal gesehen.«

»Dieses Mädchen?«, ließ Clements sie klarstellen, indem er ihr erneut das Foto zeigte. »Bist du sicher?«

Schwerfällig richtete sie den Blick darauf. Mittlerweile hatte sie die Hände auf den Knien und wippte damit auf und ab. »Ja.«

»Was hat sie gemacht? Sexuellen Kram?«

»Nein. Es war komisch. So viele Leute liefen da drin nackt oder kaum bekleidet rum, aber dann sah ich sie die Treppe runterkommen und sie trug so ’n Businesskostüm wie eine Lady auf der Wall Street.«

»Hatte sie etwas mit Hildreths Pornofirma zu tun?«

»Keine Ahnung.«

»Hast du gesehen, wie sie Drogen einwirft?«

»Nein. Nicht das eine Mal, als ich sie gesehen hab. Einer der Kerle hat mich und die anderen Mädchen ...«

»Die anderen Prostituierten?«

»Ja. Er hat uns in unser Zimmer gebracht. Er nannte es irgendeinen Salon. Jedenfalls hatte es wie viele von den Räumen einen Namen und war oben im dritten Stock. Dann hielt uns das Mädchen – Debbie – kurz an und wollte wissen, ob wir irgendetwas brauchen. Sie schien nett zu sein. Brachte uns ein paar Wasserflaschen, und das war’s. Das war das erste und einzige Mal, dass ich sie gesehen hab.«

»Wie oft bist du insgesamt in dem Haus gewesen?«

»Sechs oder sieben Nächte.«

»Wie hast du von dem Haus und dem Job erfahren?«

»Von Brandy.«

Eine der drei Prostituierten, wusste Clements. Eine der drei, denen die Kehlen aufgeschlitzt worden waren. Schnaubend lachte er. »Du bist ein Glückskind.«

»Ich weiß. Ich sollte in der Nacht eigentlich auch da sein, aber ich war eingebuchtet. Ein US Marshall im Zivil hat mich auf der 34. einkassiert. Ist das zu glauben? Und ich wäre auch hergekommen, ohne zu zögern. Obwohl ich irgendwie etwas geahnt habe – weißt du, ich hatte ein ungutes Gefühl. Irgendwas sagte mir, wenn ich auf der 34. anschaffen geh, werd ich hochgenommen. Und siehe da, was passiert? Ich verbring die Nacht im Knast und meine drei Freundinnen werden umgebracht.« Nervös schaute sie wieder aus dem Fenster, allerdings nicht zum Haus, sondern hinaus in die Nacht. »Vielleicht gibt’s ja wirklich einen Gott.«

Clements zog an seiner Zigarette. »Ja. Mag sein.« Als er wieder durch das Fernglas blickte, redete er weiter. »Was hast du früher noch mal gesagt, über diese andere Tür, einen speziellen Eingang?«

»Der ist weit drüben auf der Seite zwischen zwei Fenstern und hat auch überhaupt nicht wie eine Tür ausgesehen. Dort haben sie immer die Limousine geparkt. Liegt auch an einer anderen Straße zum Haus, nicht an der Hauptzufahrt hier.«

Hm, dachte er. »Das wusste ich nicht. Du musst mir diesen Zugang zeigen, wenn wir aufbrechen.«

»Ja, gern, wenn wir aufbrechen, und zwar in ...« Erneut schaute sie zur Uhr am Armaturenbrett. »... in fünf Minuten. Aber durch den Nebeneingang haben sie nicht nur die Nutten reingebracht, sondern alle.«

»Ich frage mich, warum.«

»Keine Ahnung. Vielleicht waren sie besorgt, dass jemand das Haus beobachten könnte.«

»Warum sollte das jemand tun?«

Sie hörte auf, mit den Knien zu zappeln, und begann zu lachen. »Mann, überleg mal, was du hier gerade machst!«

»Stimmt auch wieder«, murmelte er hinter dem Fernglas. Er musste kurz überlegen, um seine Gedanken zurück in die Spur zu bringen. Das Mädchen lenkte ihn ab, kratzte an seiner tief sitzenden, verzweifelten Lust, doch er war fest entschlossen, ihr in dieser Nacht nicht nachzugeben. Hier ging es um seine Ermittlungen, um geschäftliche Angelegenheiten. »Alle, sagst du? Ich dachte, die Mädchen aus den Pornostreifen hätten in dem Haus gewohnt

»Haben sie, auch die Kerle. Aber ich meine, wenn sie unterwegs waren. Manchmal sind sie zum Essen in der Stadt ausgegangen und dann durch die Seitentür raus und später wieder rein.«

»Ich vermute, sie wollten nicht, dass es irgendjemand mitbekommt«, meinte Clements.

»Sicher, wie du meinst. He, Mann, die Zeit ist um. Fahr mich zurück. Abgemacht ist abgemacht. Ich zeig dir auf dem Weg durch den Wald die andere Straße, aber ich muss jetzt wieder zu meinen anderen Freiern.«

Clements gab ihr einen weiteren Hunderter. »Ich will, dass du noch eine Stunde bei mir bleibst. Ich will warten, bis die Jungs mit der Desinfektion durch sind.«

»Oh Mann, nicht doch!«, protestierte sie.

Clements verstand sie nicht. »Das sind 200 Mücken, die ich dir für zwei Stunden gebe. So viel verdienst du an einem Wochentag die ganze Nacht nicht auf der Straße. Worüber beschwerst du dich denn? Du brauchst dafür nicht anzuschaffen, du brauchst nicht vor den Bullen zu zittern.«

Inzwischen drückte sie mit den Händen so fest gegen die Knie, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Ich dreh durch, Mann. Raffst du das nicht?« Einen Moment lang sah sie aus, als würde sie in Tränen ausbrechen. »Ich bin ein Crack-Junkie. Ich brauch was.«

Clements lächelte verkniffen. Sie tat ihm aufrichtig leid. Nicht die Süchtigen waren das Übel, sondern die Dealer und Lieferanten. Man sollte die Scheißkerle allesamt an die Wand stellen und abknallen. Ich würde sogar hinterher freiwillig das Blut aufwischen.

»Draußen«, sagte er.

In Windeseile hatte sie das Auto verlassen. Er hörte, wie ihr Feuerzeug klickte.

Im Fernglas nahm er eine Bewegung wahr. Endlich sind sie fertig! Er kniff die Augen zusammen. Inzwischen war die Sonne untergegangen, und wie er vermutet hatte, erwachten die Flutlichter auf dem Grundstück zum Leben. Vier sichtlich erschöpfte Männer in Schutzanzügen kamen aus dem Haus. Verdammt, alle mit leeren Händen. Andererseits: Was hatte er denn erwartet? Leichen? Die hatte alle die Polizei mitgenommen. Ein okkultes Relikt? Nein, die sind bloß hier, um das Haus zu desinfizieren. Die vier Männer setzten sich auf die lange Eingangsstufe aus Stein. Clements war neugierig auf ihren Gesichtsausdruck, als sie sich die Gasmasken herunterzogen. Ausdruckslos. Stumpfe, abwesend wirkende Augen. Sie redeten nicht einmal miteinander.

»Sieht so aus, als wären die Typen jetzt rausgekommen«, meinte die junge Frau, als sie zurück in den Wagen stieg. Voller benommener, überdrehter Glückseligkeit saß sie da.

»Ja. Du solltest mal ihre Gesichter sehen. Die wirken alle ziemlich verstört. Irgendetwas im Haus muss ihnen einen gehörigen Schrecken eingejagt haben.«

»Das brauchst du mir nicht zu erzählen. Es ist der unheimlichste Ort, an dem ich je in meinem Leben gewesen bin. Das merkt man schon, wenn man einfach nur herumläuft.«

»Ja?«

»Wie auf einem Friedhof, wo alle Leichen erst gestern begraben wurden. Ich will da jedenfalls nie wieder rein.«

Ich schon, dachte Clements. Einmal war er sogar bereits im Haus gewesen.

Das Team der Schädlingsbekämpfer saß bloß da. Vielleicht sind sie noch nicht fertig, überlegte er. Natürlich würde es ein großer Auftrag sein, und er ging davon aus, dass Vivica Hildreth kräftig Kohle dafür lockergemacht hatte. Warteten sie noch auf jemanden? Nein, Clements war sicher, dass er nach dem Abzug des Reinigungstrupps lediglich vier Leute gesehen hatte.

»Also haben sich da drin wohl hauptsächlich Orgien abgespielt, richtig?«

»Schätze schon. Klang jedenfalls danach. Viel Gestöhne, viel Geschrei. Irgendwo stieg ’ne große Party – unten.«

»Vielleicht haben sie da ihre Pornofilme gedreht.«

»Kann sein. Bei den vielen Nackten, die da immer rumliefen, kann ich mir das gut vorstellen. Und echt gut aussehende Typen waren dabei. Die meisten Männer waren super durchtrainiert. Die Frauen aber auch! Alle wunderschön, keine Junkies. Diese Mädchen waren sonnengebräunt, hatten Implantate und tolle Körper. Scheiße – was würd ich dafür nicht alles geben. Und sie schienen mir auch völlig normal zu sein. Klar, Partygirls, aber nicht irgendwie abgefahren. Zuerst dachte ich, es wären irgendwelche Edelnutten, aber dann hab ich von Hildreths Pornodrehs gehört. Und bei den letzten paar Malen, die ich hier war ...«

»Was?«

»Scheiße, wir konnten sie herumgehen sehen, ich und die Mädchen, mit denen ich da war. Wir haben die Salontür ein Stückchen aufgemacht und rausgeschaut. Da lief echt irre Scheiße ab – so ein satanisches Zeug.«

Diese Bestätigung ließ Clements aufhorchen. »Warum sagst du das? Hast du gesehen, wie sie ein okkultes Ritual oder eine schwarze Messe abgehalten haben, irgendetwas in der Art? Wie kommst du ausgerechnet auf satanisch?«

»Wegen der Mädchen, Mann. Wie die ausgesehen haben.«

»Du meintest doch eben noch, sie hätten total normal gewirkt. Wunderschön sogar, wie Pin-up-Models.«

»Ja, vorher. Aber später, nach Mitternacht, haben wir durch die Tür rausgeschaut und da brannten keine Lichter mehr. Nur noch Kerzen. Überall im Foyer und unten. Manchmal sind die Mädchen an unserer Tür vorbeigegangen. Schwarzer Lippenstift, schwarze Fingernägel, schwarze Zehennägel. Sah aus wie an Halloween. Oh, und erst diese Piercings.«

»Was für Piercings?«

»Einmal – in der letzten Nacht, in der ich da war – hat eines der Mädchen gesehen, dass wir sie beobachtet haben. Sie blieb stehen, kicherte merkwürdig und posierte für uns. Ihre Nippel, ihr Nabel und ihr Kitzler waren mit Ringen gepierct, und an jedem Ring baumelte ein kleines schwarzes, verdrehtes Kreuz. Dazu trug sie Ohrringe genau in dem gleichen Stil.« Die Prostituierte rieb sich über das Gesicht. »Also, wenn das nicht verflucht satanistisch ist, dann weiß ich’s auch nicht.«

Clements nickte; es war eine erfüllende Erkenntnis. Und er hatte einen geklauten Autopsiebericht über einige der jungen Frauen gelesen. Bei allen war auf Piercinglöcher in den Brustwarzen, im Nabel und in der Klitoris hingewiesen worden.

»Haben die Leute im Haus – diese Männer – auch dich und die ...« Er verstummte. Um ein Haar wäre ihm herausgerutscht ... und die anderen Crack-Huren, aber er fing sich noch rechtzeitig. »... und deine drei Freundinnen gepierct?«

»Scheiße, nein. Ich mein, wir hätten’s wahrscheinlich gemacht, weil Hildreth massig gezahlt und wir dazu noch so viel Crack gekriegt haben, wie wir rauchen konnten. Aber diese Kerle? Die standen bloß auf Kaviar und ähnlichen Kram. Und ich mein jetzt nicht diese Fischkügelchen.«

»Kaviar?« Clements kannte tatsächlich nur die gleichnamige Delikatesse. Er wunderte sich selbst über seine Wissenslücke. Angesichts seiner Erfahrung hätte er gedacht, inzwischen mit allen Abgründen und Obszönitäten vertraut zu sein, die der Straßenslang hergab.

Sie seufzte und ihre knochigen Schultern zogen sich zu einer Geste zusammen, die nur Verlegenheit bedeuten konnte. »Ekliges Zeug. Kaviar, Natursekt – Scheiße und Pisse. Verdammt, in einer Nacht haben sie jede von uns mit einem Löffel dieser grässlich schmeckenden Scheiße gefüttert und uns dazu gebracht, dass wir uns gegenseitig ankotzen.«

Clements fühlte sich von einem plötzlichen Anflug von Finsternis in seinem Herzen regelrecht niedergeschmettert. Wie können Menschen so etwas tun? Wieso um alles in der Welt törnt es jemanden an, wenn er dabei zusieht, wie sich ein Haufen verzweifelter Mädchen gegenseitig anscheißt, anpisst und ankotzt? Wie moralisch abgestumpft musste ein stinkreicher Mann sein, wenn er eine Gruppe leicht ausnutzbarer Drogensüchtiger mit seinem Geld manipulierte, damit sie solche Dinge taten? Clements drängte sich eine Antwort auf.

Vielleicht handelte es sich wirklich um das pure Böse.

Ihr Nachsatz erwies sich als noch schlimmer.

»Ach ja, und Tiere waren auch dabei«, sagte sie.

Wie betäubt blies Clements weiter Rauch durch das Fenster hinaus.

Ihr Tonfall wurde gereizt und verbittert, mischte sich mit Trotz und Selbsthass. »Ich weiß schon, was du jetzt denkst. Du fragst dich: Wie konnte sie so ekelhaften Mist mitmachen? Nur eine völlige Loserin, ein Stück Scheiße aus der untersten weißen Unterschicht würde solchen Kram tun ...«

Er drehte sich um und packte sie an der Schulter. »Das denke ich nicht. Wie kommst du nur drauf? Ich frage mich eher, was für ein Stück Scheiße jemand sein muss, um andere Menschen zu zwingen, solchen Kram zu tun.« Er starrte wieder zum Haus hinüber. »Und weißt du was? Ich wünschte, ich wäre in der Nacht hier gewesen, denn ich wäre reingekommen und hätte sie alle eigenhändig umgebracht. Die Konsequenzen wären mir scheißegal gewesen. Abschaum wie diese Typen auszulöschen, dafür käme ich auch mit der Todesstrafe klar.« Ja. Das meinte er genau so, wie er es sagte.

Das Mädchen wischte sich Tränen aus den Augen. Die kläglichen Reste ihres wahren Ichs – des echten Menschen mit einer Seele und dem Traum von einem besseren Leben – drängten sich durch die Risse, die ihr die Welt zugefügt hatte.

»Erzähl mir von Hildreth. Wie oft hast du ihn gesehen?«

»Fünfmal, vielleicht auch sechsmal«, antwortete sie. »Er kam und ging. Meistens habe ich nur die anderen Kerle gesehen, die Muskelprotze. Hildreth war immer nett zu uns, obwohl wir ziemlich bald herausbekamen, worauf er wirklich abfuhr.«

»Es ging im Haus also etwas anderes vor sich, während ihr oben geblieben seid?«

»Ja. Ich schätze, irgendein durchgeknalltes Ritual.«

»Aber du und die anderen, ihr wart nie bei einem der Rituale dabei?«

»Nein, nie. Sie behielten uns immer oben für ihr kleines Vorspielvergnügen, oder wie man es auch nennen mag. Die Männer standen immer alle um uns rum und schauten zu, während wir den Scheiße- und Pissekram gemacht haben.«

»Und dann habt ihr ...«

Sie wusste, was er fragen wollte. »Nein, das war das Komische. Hildreth und seine Leute haben nie Hand an uns gelegt, wollten nie, dass wir sie zum Abspritzen bringen. Sie standen bloß splitternackt um uns herum und haben zugeguckt. Manchmal haben wir es schon mit Männern getrieben, bloß nicht mit denen von Hildreth. Sie holten andere ins Haus – Crack-Junkies, Penner, Hinterwäldler, alle zugedröhnt mit PCP –, und die haben uns dann gefickt. Oft war es eher Vergewaltigung. Die Typen haben uns geschlagen und misshandelt, während einer von Hildreths Leuten gefilmt hat. Manchmal fand ich’s schon ziemlich abscheulich, aber das Crack war so gut – und wenn wir’s hinter uns hatten, konnten wir davon haben, so viel wir wollten. Du müsstest schon selber süchtig sein, um zu wissen, was ich meine.

Und die ganze Zeit sahen Hildreth und seine Männer dabei zu. Hin und wieder redeten sie wirren Scheiß daher, zum Beispiel, dass wir reifen würden. Wir müssten entwürdigt werden. Was hältst du von dem Stuss, hm? Ich erinnere mich noch, dass mich in einer Nacht einer dieser Armleuchter ansah und zu mir sagte: ›Du bist noch nicht besudelt genug.‹ Und dann ...« Ihr Blick wanderte zurück zum Fenster, als gäbe es dort Sicherheit zu finden. »Dann brachte er eine Ziege rein.«

Ja. Clements wusste, dass er sie alle am liebsten umgebracht hätte, ohne mit der Wimper zu zucken. Einfach mit der Remington reingehen ... und drauflosballern. Er musste das Thema wechseln, denn das hier war zwar hochinteressant, aber hochgradig deprimierend. »Und die Bezahlung war ...«

»Ein Tausender pro Nacht für jede von uns. Dazu so viel Crack, wie wir in die Pfeife bekamen. Wenn wir mit den Kack- und Pissspielchen durch waren, brachte Hildreth immer eine ganze Schüssel von dem Zeug rein. Wie in einem schicken Laden, wo man nach dem Essen Pfefferminzdrops bekommt oder so. Dann gingen alle runter zu ihrer kleinen Teufelsparty, während wir oben im Salon saßen und uns bis zum Sonnenaufgang zukifften. Morgens hat uns dann jemand mit der Limousine zurückchauffiert.«

»Aber du sagst, du hast nie gesehen, dass Debbie ...« Erneut hielt er das Bild hoch. »Du hast nie gesehen, dass sie diesen kranken Kram mitgemacht hat?«

»Nein.«

Clements besaß ein gutes Gespür für Mädchen dieser Art. Crack-Junkies waren begnadete Lügner. Manchmal konnten sie sogar Lügendetektoren überlisten, weil ihre Abhängigkeit von der Droge ihre physiologischen Reaktionen außer Kraft setzte. Aber die da lügt nicht. Sie hat keinen Grund dazu. Es gibt niemanden, den sie schützen muss.

Eine willkommene Brise wehte durch das offene Autofenster herein. Clements schaute hoch, als er aus der Ferne mehrmals ein hohles Pochen hörte.

»Sieht so aus, als würden die Typen endlich Leine ziehen«, sagte das Mädchen. Sie rieb bereits wieder ihre Knie.

Ein letzter Blick durch das Fernglas. Der Transporter der Desinfektionstruppe rollte über den kreisförmigen Platz vor dem Haupteingang. Clements sah zu, wie der Wagen über die Auffahrt zwischen den Bäumen verschwand.

»Was jetzt?«, fragte das Mädchen.

Ich will da rein. Der Gedanke schoss ihm schlagartig in den Kopf. Er hatte seine Dietriche und seine übrige Ausrüstung dabei. Aber ...

Sei nicht dumm.

»Du musst diese Debbie ja wirklich dringend finden wollen. Was ist sie, deine Tochter?«

»Nein. Ihre Eltern haben mich engagiert, um sie im Auge zu behalten. Dann fing ich an rumzuschnüffeln und die Eltern wurden ermordet.«

»Scheiße. Also bist du Privatdetektiv?«

Das Haus zeichnete sich bedrohlich gegen die Scheinwerfer ab. »War ich mal«, antwortete er.

»Und wo ist Debbie? Ist sie auch tot? Hat dieser Spinner Hildreth sie wie all die anderen umgebracht?«

»Nein. Es konnten alle Leichen identifiziert werden. Sie war nicht dabei.«

»Wo steckt sie dann?«

Clements ließ den Motor an. »Ich kann es zwar nicht genau erklären, aber ich spüre es einfach. Ich spür’s bis in den tiefsten Abgrund meines Herzens, dass sie noch in dem Haus ist.«