SPLIT RAIL | 1. JULI 1979
Ich blieb im Wandschrank, noch lange nachdem die bösen Worte verebbt waren. Einerseits hatte ich Angst herauszukommen, Angst vor dem, was ich vielleicht vorfinden würde, andererseits hoffte ich aber, dass wir, falls ich es lange genug aushielt, am nächsten Morgen aufwachen würden und der ganze böse Spuk vorbei wäre.
Marie klopfte an die Tür.
»Mitch.«
»Lass mich in Ruhe.«
»Mitch, komm doch raus. Es ist vorbei.«
Ich blieb still sitzen.
Ich hielt zehn Sekunden den Atem an. Fünfzehn. Zwanzig. Fünfundzwanzig.
Ich atmete aus und holte dann tief Luft.
»Los, Mitch!«
Ich zog die Schiebetür beiseite und trat hinaus, dann kroch ich zur Zimmertür.
»Ich glaube dir nicht.«
»Nein, Mitch, es ist vorbei. Komm raus. Ich möchte mich verabschieden.«
Ich öffnete die Tür. Marie trat einen Schritt an die Wand zurück, um mir Platz zu geben. Ein Koffer stand zu ihren Füßen.
»Wo gehst du hin?«, fragte ich.
»Erst mal nach Billings zu meiner Schwester. Ich glaube nicht, dass ich dich wiedersehe, bevor ihr nach Utah zurückfahrt.«
»Okay.«
»Mitch, bist du in Ordnung?«
»Ja.«
»Tut mir leid, das alles.«
»Okay.«
»Komm doch ins Wohnzimmer. Ich bin sicher, dass dein Dad dich auch um Verzeihung bitten möchte.«
Sie hielt mir die Hand hin, und ich ergriff sie.
Dad saß mit geistesabwesendem Blick in seinem Fernsehsessel.
»Sportsfreund«, sagte er.
Ich setzte mich ihm gegenüber und sagte nichts. Rund um unser Schweigen entfesselte Marie einen Sturm von Betriebsamkeit. Sie griff sich Briefe und Rechnungen und Krimskrams und stopfte alles in ihre Handtasche.
»Du kommst also am Freitag, Jim?«, fragte sie, als sie wieder einmal das Wohnzimmer durchquerte.
»Das habe ich doch gesagt.«
»Wohin?«, fragte ich.
»Nach Billings«, antwortete Marie. »Wir gehen zu einem schlauen Mann in einer Sache.«
»In welcher?«
»In einer, die schon seit langer Zeit abzusehen war.«
»In Sachen Scheidung«, sagte Dad. Es war, als ob er ein Haar ausspuckte. Marie schoss ihm einen strengen Blick zu.
»Ist das, weil ich den Dreck nicht weggemacht habe?«, fragte ich.
»Nein, Mitch«, sagte Marie und ließ sich auf dem Sofa nieder. »Bitte, so etwas darfst du nie denken! Es ist einfach passiert. Keiner ist schuld.«
Dad mokierte sich.
»Keiner ist schuld«, wiederholte sie.
Ich glaube nicht, dass sie mich überzeugen wollte.
Wir saßen noch eine Weile so da, drei Inseln einsamer Gedanken, bis LaVerne eintraf. Sie half Marie, Gepäckstücke in den wartenden Pick-up zu laden, und als LaVerne Dads Blick auffing, lächelte sie. Dad nickte fast unmerklich.
»Ich komm morgen vorbei und sehe hier nach dem Rechten, Jim«, sagte LaVerne.
Dad winkte ab.
»Nicht nötig, LaVerne. Mitch und ich haben alles im Griff. Du wirst schon früh genug wieder arbeiten. Genieß mal die freie Zeit.«
Marie kam ein letztes Mal vorbei und zog ein paar Bücher aus den Regalen.
»Ich komme wieder, wenn ihr wieder bei der Arbeit seid, und hole meine restlichen Sachen«, teilte sie Dad mit.
»Ja.« Er sah sie nicht an.
»Tschüss, Mitch«, sagte sie und hielt ihre Arme auf. Ich trat auf Marie zu und ließ mich umarmen. Ich sog ihren Duft ein und versuchte, nicht zu weinen. Ich konnte es nicht fassen.
Nachdem Marie aus dem Haus war, trat ich ans Fenster und drückte mein Gesicht gegen die Scheibe. Ich hörte den Pick-up starten, und dann sah ich ihn auf der Zufahrtsstraße wegfahren und eine Staubwolke hinter sich her ziehen. Ich hob die Hand und winkte. Ich weiß nicht, ob sie es sah.
Ich hörte Dad in der Küche noch ein Bier aus dem Kühlschrank holen.
»Jetzt sind wir Männer unter uns«, rief er aus.
»Ja.«
»Jetzt haben wir Spaß.«
Ich antwortete nicht. Ich hoffte es.
Ich hätte nicht darauf wetten mögen.
Dad hatte nichts einzuwenden, als ich zu meinem Motorrad ging, also blieb ich den größten Teil des Nachmittags auf abgelegeneren Pfaden, fern vom Haus. Ab und zu brauste ich durch den Haupthof und die Zufahrtsstraße entlang, die längste ununterbrochene Strecke auf der Ranch. Ich fuhr so weit, bis mich das Stahltor zum Anhalten zwang, und dort blieb ich eine Weile. Ich schaltete den Motor ab und starrte auf die Straße nach Split Rail. Vielleicht würde Marie wenden und zurückkommen, und wir würden es einfach noch mal versuchen. Das wäre schön, dachte ich. Könnten wir das nicht einfach machen?
Dann wieder beunruhigte mich meine eigenartige Sehnsucht nach Marie. Ich wusste nur zu gut, dass sie für das Scheitern ebenso verantwortlich war wie Dad, und mir war auch klar, dass es sich nicht bessern würde, wenn sie zurückkäme. Ich zuckte zusammen, als mir Dads Drohung wieder in den Sinn kam, seine Knarre zu holen und unser aller Leben zu beenden. Entsetzen befiel mich. Wenn Marie zurückkäme, dachte ich, müssten wir eventuell erleben, wie Dad seine Drohung wahr machte.
Ich flüsterte ein Gebet für uns alle und hoffte, dass Marie wegblieb.
Dad hatte Jerry vergrault. Er hatte auch Marie vergrault. Er und ich waren allein übrig.
Als die Sonne den Nachmittag über auf mich herunterknallte, hatte ich Mühe, die Rückkehr aufzuschieben. Ich bekam Durst. Am Nacken hatte ich einen schlimmen Sonnenbrand, und ich hatte unzählige herumschwirrende Insekten verschluckt.
Ich ging zurück ins Haus. Als ich den Helm absetzte, klebte mir der Schweiß in den Ohren. Ich rieb meinen Nacken, massierte den Dreck und den Schweiß in schmierige Kügelchen, die ich wiederholt zwischen Daumen und Zeigefinger presste und rollte, während ich die Treppe hochging und ins Haus huschte.
Schatten, belebt von der Spätnachmittagssonne, tanzten an den Wänden. Ich ging durch das Wohnzimmer zu Dads Zimmer, öffnete die Tür und sah hinein. Er war nicht da.
Wieder unten in der Diele schwenkte ich nach links ab durch das Esszimmer und eilte weiter ins Fernsehzimmer. Ein Zeichentrickfilm flimmerte über die Mattscheibe, unterlegt von einem statischen Rauschen. Dad lag auf dem Sofa und schnarchte ein Bariton-Blaskonzert. Ich kniete mich vor das Sofa und hob eine halb leere Dose Bier auf. Ich trug sie in die Küche und goss den Rest in die Spüle, dann zählte ich die leeren. Zusammen mit der in meiner Hand machte das acht. Es war gerade mal kurz vor halb sechs. Ich zog mich in mein Zimmer zurück.
Dads Klopfen an meiner Tür weckte mich auf.
»Bist du da drin?«
Ich setzte mich im Bett auf, und der Schleier fiel von meinen Augen.
»Ja.«
Dad kam herein. Er sah schlimm aus.
»Hast du Hunger?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Ein bisschen, glaube ich.«
»Komm, hilf mir mal bei der Arbeit, dann gehen wir in die Stadt.«
»Ich muss duschen.«
Dad rülpste.
»Erst die Arbeit. Dann die Dusche. Nun komm schon.«
Ich roch Dads Fahne, aber ihm war nicht anzumerken, dass ihn ein Sechserpack oder mehr beeinträchtigte. Ich folgte ihm aus dem Haus, und er ging ganz aufrecht und schnurgerade bis zum Pick-up.
»Darf ich fahren?«, fragte ich.
»Nö.«
Ich kletterte hinein und schaffte es gerade noch, die Tür zu schließen, bevor wir losfuhren.
»Wohin gehts denn?«
»Wir müssen die Herde finden.« Dad legte einen Kurs für das andere Ende des Geländes fest, wo ich den frühen Teil des Tages verbracht hatte, als Marie noch Teil unseres Lebens war. Wir kamen oben auf dem Berg an, und die Bodensenke lag tief unter uns. Das Vieh war wie Tupfer in der Landschaft verstreut.
»Da sind sie«, sagte ich.
»Ja.«
»Was wollen wir denn machen?«
»Wirst du schon sehen.«
Dad fuhr im Halbkreis zur anderen Seite der Herde und nahm ein abseits stehendes Kalb ins Visier.
Er schaltete den Motor aus und stieß seine Tür auf.
»Spring raus, Mitch.«
Ich tat wie geheißen. Während Dad im Führerhaus herumwühlte, beobachtete ich das Hereford-Rind. Es trottete auf uns zu.
»Es kommt.«
»Ich weiß«, sagte Dad. »Komm mal rüber.«
Als ich auf der anderen Seite des Pick-ups war, gab Dad mir eine Nuckelflasche mit einem übergroßen Gummisauger. In der Flasche schwappte etwas, das nach Seifenlauge aussah.
»Schüttel das mal auf und gib es dem Kalb. Mach schnell.«
Ich schüttelte die Flasche wie eine Rumbakugel. »So?«
»Fester«, sagte Dad. »Gut schütteln.«
Das Kalb war bei uns. Es legte seinen Ambosskopf an meinen Bauch und schubste mich.
»Hey!«, protestierte ich. Dad lachte. »Es weiß, dass Essenszeit ist. Gib es ihm lieber.«
Ich hielt ihm den Sauger hin, und schwupp! war er ganz in seinem Maul verschwunden. Auf sein kraftvolles Saugen, das mir fast die Flasche aus den Händen riss, war ich nicht vorbereitet. Ich zog zu heftig daran, sodass ich dem Kalb den Nuckel entriss. Hartnäckig beanspruchte es zurück, was ihm zustand.
»Gut festhalten, Mitch«, sagte Dad. »Es ist schnell.«
In rund einer Minute hatte das Kalb die Flasche geleert. Es saugte noch einige Sekunden weiter, bis es sicher war, dass nichts übrig war, dann trottete es davon.
»Wie fandest du das, Sportsfreund?«
»Das war ganz schön cool.«
»Freut mich, dass du das so siehst«, sagte Dad. Er legte einen Arm auf meine Schulter. »Das ist deine Aufgabe diese Woche. Morgens und abends fütterst du das Kalb.«
Auf der Rückfahrt zum Haus fragte ich Dad: »Wo ist denn seine Mama?«
»Ach, die ist da draußen.«
»Warum müssen wir ihre Arbeit machen?«
»Weil sie es nicht macht.«
Wir säbelten an unseren panierten Beefsteaks im »Tin Cup«. Ich hatte zwar keinen großen Hunger gehabt, als wir reingekommen waren, aber als man uns die riesigen Platten vorsetzte – beladen mit knusprigen Steaks, Kartoffelpüree, Soße und Maiskolben –, bekam ich doch Appetit.
Ich warf Dad einen Blick zu. Er sah gut aus, zum ersten Mal an diesem Tag. Er trug sein Lieblingshemd, ein klein kariertes blaues Westernhemd mit Perlmutt-Druckknöpfen, eine frische Jeans und seine Ausgehstiefel. Seine von Elvis inspirierte Frisur war für die Ewigkeit gesprayt; nur mit der Brechstange wäre die noch zu knacken gewesen. Sein Gesicht, tagsüber noch abgespannt und farblos, strahlte. Erstaunlich, was eine Dusche bewirken konnte. Dafür boten wir beide ein gutes Beispiel. Ich hatte mich von oben bis unten abgeseift. Die Quillen-Männer hatten sich für einen Abend in der Stadt fein gemacht.
Dann machte meine lose Klappe unseren Fortschritt wieder zunichte:
»Dad, warum ist sie weggegangen?«
Er zog die Stirn kraus. »Ich versuche, mein Essen zu genießen.«
»Ich weiß. Aber ...«
»Was?«
»Ich glaube, sie fehlt mir.«
Dad sah auf seinen Teller und aß weiter. »Na ja«, sagte er. »Du bist eben noch ein Kind. Du weißt es nicht besser.«
»Fehlt sie dir denn nicht?«
»Nein.«
»Ich dachte, weil du so viel trinkst, dass ...«
»Pass mal auf«, sagte Dad und zeigte mit dem Finger auf mich. »Ich möchte von dir nichts darüber hören.«
»Quillen!«
Dads Kopf fuhr hoch, und er ließ den Blick umherschweifen.
»Jim, hier!«
Dad wandte sich nach links und lächelte jemanden hinter mir an. Ich drehte mich um. Ein Mann in Polizeiuniform winkte.
»Komm rüber«, sagte Dad, und der Polizist erhob sich von seinem Tisch und kam herüber.
»Ich wusste nicht, dass du wieder da bist«, sagte der Polizist. Er baute sich vor unserem Tisch auf. Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen. Stattdessen starrte ich seine mächtigen Unterarme und die Waffe unter dem linken Arm an.
»Erst seit gestern Abend«, sagte Dad. Der Polizist senkte den Kopf und sah mir in die Augen.
»Wer ist das?«
»Das ist Mitch, mein jüngerer Sohn.«
»Freut mich, dich kennenzulernen, Mitch«, sagte der Polizist und ergriff meine ihm schüchtern hingehaltene Hand. »Ich bin Charley Rayburn.«
»Er ist der Polizeichef«, sagte Dad.
»Jawoll«, sagte Charley. »Und der Hundefänger. Und der Bürger meister. Und anscheinend ein lausiger Weizenfarmer.«
Ich brachte im Gegenzug ein piepsiges »Hallo« heraus.
»Wo ist denn Jerry?«, wandte sich Charley wieder an Dad.
»Bei den Marines. Die Arbeit war ihm zu schwer.«
»Dann wird er sich aber noch wundern, was?« Beide lachten.
»Und Marie?«
»Die ist auch weg«, sagte ich. Charley klopfte Dad auf die Schulter. »Du verlierst Leute links und rechts. Behalte diesen jungen Mann mal lieber im Auge.«
»Darauf kannst du Gift nehmen.« Dad verbiss sich weitere Kommentare.
»Na denn, bis bald!«, sagte Charley und setzte sich die Mütze auf die Stoppelhaare. »Ich muss meine Streife fahren.«
Dad sah zu, wie Charley sich einen Weg durch das Lokal und zur Tür hinaus bahnte. Dann wandte er sich mir zu.
»Iss auf, Mitch, und behalte den Mund immer schön voll. Ich will nicht, dass noch mehr Worte rauskommen.«