SAN JOSÉ, KALIFORNIEN | SEPTEMBER 2007
Der erste Anruf kam Dienstagabend. Ich rief Cindy von der Garage aus zu, dass sie drangehen sollte. Beim vierten Klingeln ließ ich den Packen Zeitungen fallen, den ich gerade in die Altpapiertonne stopfen wollte, und lief zum Nebenapparat in der Küche.
»Hallo?«
»Mitch.«
Mein Magen verkrampfte sich.
»Dad?«
»Ja.«
»Was gibts?«, fragte ich.
»Nichts.«
Gerade mal sieben Worte gewechselt, und schon war der Karren an die Wand gefahren. Ich rechnete einmal im Jahr damit, von Dad zu hören – um Weihnachten herum. Ich erwiderte dann die Gefälligkeit in Form eines Anrufs im März, an seinem Geburtstag. Die übrigen feierlichen Anlässe und wichtigen Daten ließen wir in untätigem Schweigen dahindümpeln. Außerhalb unseres üblichen Kalenders von ihm zu hören, brachte mich aus der Fassung. Und ich war nicht sicher, ob ich unbedingt herausfinden wollte, was hinter diesem Anruf steckte.
»Also«, unterbrach ich das unbehagliche Schweigen, das über uns hereingebrochen war. »Was gibts denn?«
»Nichts Besonderes. Sitze hier nur rum und sehe fern.«
»Hier ist auch nicht viel los. Du hast mich gerade beim Aufräumen in der Garage erwischt.«
»Wenn du zu tun hast, dann ...«
»Nein, so war das nicht gemeint. Ich dachte nur, Cindy und die Kinder wären im Haus, aber ich sehe ich gerade ...« – ich zog die Küchengardinen auf und sah meine Frau am Grill auf der Terrasse stehen – »... dass sie draußen sind.«
»Was machen sie denn?«
»Sieht aus, als ob Cindy was zum Abendessen grillt. Avery und Adia schaukeln.«
»Du bist beschäftigt.«
»Nein, Dad, ich ...«
»Ich rufe ein anderes Mal wieder an.«
Weg war er.
Wir erhielten zwei weitere Anrufe, am Donnerstag und dann wieder am Freitag, beide ungefähr um die gleiche Zeit. Beide Male erwischte mich Dad mitten in einer banalen Tätigkeit – am Freitag war ich gerade mit der verstopften Toilette in der Diele beschäftigt – und nutzte dann die Tatsache, dass ich ja nicht Däumchen drehte, um von ihm zu hören, als Ausrede, kurz angebunden zu sein.
Am Freitagabend, als meine Frau und ich uns jeweils an die eigene Seite des Betts klammerten und einander zugunsten unserer Bücher ignorierten, legte Cindy das ihre beiseite und sagte: »Du musst rausfinden, was los ist.«
»Womit?«
»Mit der Staatsverschuldung. Was glaubst du denn? Mit deinem Dad.«
Ich legte ein Lesezeichen ins Buch und klappte es zu, dann packte ich meine Nase mit Daumen und Zeigefinger.
»Und wie soll ich das deiner Meinung nach anfangen?«
»Ruf du ihn an.«
»Kann ich nicht nachvollziehen.«
»Der Mann will offensichtlich etwas, und genauso offensichtlich sagt er nicht, was es ist. Frag ihn also.«
»Mitch«, sagte sie und drehte sich zu mir um, sodass ich ihr ansehen konnte, wie genervt sie war. »Egal, wie du ihn zum Reden bringst, aber du musst herausfinden, was an ihm nagt. Den Mann bedrückt doch was. Du musst ihm seine Last abnehmen, wenn du kannst.«
»Dad, was willst du?«
Es war Sonnabend, und der direkte Weg, den ich jetzt mit meinem Vater einschlagen wollte, schien keine gute Idee mehr zu sein, sobald mir die Worte rausgerutscht waren.
»Was soll das heißen, was ich will?«
»Ich meine, du hast diese Woche dreimal angerufen und hattest nichts zu sagen. Ist irgendwas los? Brauchst du was?«
In den unbehaglichen paar Sekunden des Schweigens, die folgten, stellte ich mir vor, wie er am anderen Ende der Leitung schäumte, rund zweitausend Kilometer weit weg. Dad machte aus seinem Herzen keine Mördergrube. Seine Worte kamen mit scharfen Kanten und Aggression.
»Ich brauche nichts von dir. Ich will nichts von dir.«
»Okay«, erwiderte ich, um wieder einen versöhnlichen Ton anzuschlagen. »Gibt es einen Grund für diese Anrufe?«
»Ich brauche einen Grund?«
»Verdammt noch mal, Dad, so war es doch dreißig Jahre lang. Warum das jetzt ändern?«
»Weißt du was, Mitch? Fick dich doch.«
Er legte auf.
Ich hielt den toten Hörer am Ohr, schloss die Augen und wartete, dass der Stich aufhörte zu schmerzen. Dann legte ich den Hörer sanft auf die Gabel. Im Wohnzimmer blätterte Cindy in einer Zeitschrift, während die Zwillinge auf dem Boden spielten.
»Noch irgendwelche genialen Ideen?«, fragte ich.
Cindy grinste.
Ich stürmte hinaus.
»Du wirst zu ihm hinfahren müssen.«
Dies war am späten Sonntagnachmittag. Es war das Erste, was Cindy zu mir sagte seit der vergangenen Nacht, die ein neuer Krach versaut hatte, nebst der Feststellung meiner Frau, dass ich für sie eine Enttäuschung geworden war. Da befinde sie sich in guter Gesellschaft, ließ ich sie wissen; denn inzwischen war ich verdammt enttäuscht von mir selbst. Sieben Monate lang hatte ich im Job dieselbe schwache Leistung gezeigt und ihr die Schuld an unserer gegenwärtigen Ehekrise gegeben. Als ich ihren kleinen Flirt entdeckte, hätte ich vielleicht Grund dafür gehabt, aber für mich gab es wenig Anlass, auf dem hohen moralischen Ross zu sitzen. Meine Unfähigkeit, meinen Groll zu vergessen, wetteiferte lediglich mit meiner Blindheit für die Unaufmerksamkeit ihr und den Zwillingen gegenüber. Seit Monaten kämpfte sie jetzt um unsere Ehe, und ich wusste, dass ich ihr dabei nicht auf halbem Weg entgegengekommen war.
Ich war auf hundertachtzig wegen des jüngsten Krachs, wegen meiner immer häufiger werdenden Misserfolge und wegen dieses Rätsels, das Dad uns aufgegeben hatte. In meiner Wut wollte ich alle Türen zuschlagen. Cindy dagegen bestand darauf, ein Fenster zu öffnen und zu sehen, ob ihre Vorstellungen von unserer Ehe und von Dad funktionieren würden.
»Du machst Witze, oder?«, sagte ich. »Ich kann ihm am Telefon nichts aus der Nase ziehen. Was glaubst du wohl, was er sagt, wenn ich ihm meinen Besuch ankündige?«
»Dann tauchst du eben unangekündigt bei ihm auf.«
»Einfach so?«
»Klar.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist Wahnsinn. Er will mich nicht um sich haben. Das hat er mir überdeutlich zu verstehen gegeben.« Ich hatte meinen Vater in knapp dreißig Jahren zweimal gesehen, beide Male teilweise auf Cindys Betreiben. Wie kam sie darauf, dass ich es auch nur weiter als bis zur Tür schaffen würde?
»Mitch«, sagte sie, ihr Ton verlangte, dass ich sie ansah. »Du musst. Ich will dich hier weghaben. Ich muss über einige Dinge nachdenken und du auch.«
Ich schmierte es ihr aufs Butterbrot: »Ich weiß, warum du mich aus dem Weg haben willst. Das hier liefert dir einfach einen guten Vorwand.«
»Nein, Mitch, ich will dich hier weghaben, weil ich dich zurück will. Den Mann, in den ich mich verliebt habe ...«
»Du sagst das so, als ob ich derjenige gewesen wäre, der auf Abwegen gewandelt ist.«
Cindy seufzte.
»Glaub doch, was du willst, Mitch. Schon seit Monaten bist du nicht mehr hier bei uns – nicht wirklich. Ich weiß nicht mehr, was ich dagegen tun soll. Seit ich dich kenne, hast du fast nichts über diesen Mann zu sagen gehabt, und wenn doch, dann nur, wie er dich ausgeschlossen und abgelehnt hat ...«
»Hat er auch. Tu nicht so, als ob er das nicht getan hätte.«
»Ich weiß. Ich weiß, dass dich irgendwas, das vor langer Zeit passiert ist, immer noch belastet. Aber ich weiß nicht, was das ist, und ich kann dir dabei nicht helfen.«
»Ich brauche keine Hilfe.«
»Doch, Mitch! Wir brauchen Hilfe. Du bist abgelehnt worden, und du hast uns abgelehnt. Bist du so blind, dass du es nicht sehen kannst? Du hältst deine eigene Frau, deine eigenen Kinder auf Abstand. Mir kommt es so vor, als würdest du deinen Vater wiederholen.«
»Das ist unfair.«
»Vielleicht. Aber eines weiß ich: So können wir nicht leben. Du bist ein guter Mann, aber ich habe dich verloren.«
»Ich bin nicht fremdgegangen. Im Gegensatz zu dir«, schoss ich zurück.
Sie schüttelte den Kopf. »Das hab ich befürchtet, Mitch. Ja. Vor unserer Hochzeit habe ich deine Mutter nach dieser Sache zwischen dir und deinem Dad gefragt. Das hat mir Angst gemacht, denn du wolltest nie darüber reden. Weißt du, was sie gesagt hat?«
Ich starrte sie an.
»Sie sagte, sie wüsste es nicht, dass sie dich auch nie dazu gebracht hätte, darüber zu reden. Du hättest innerlich damit abgeschlossen. Ein für allemal. Und von ihm hättest du die Nase voll. Sie hat mir auch gesagt, dass du ein guter Mann bist und ich dich heiraten sollte, dass du solide und treu bist.«
»Ich bin treu.«
»Das stimmt. Aber du bist nicht mehr hier, nicht so, dass es zählt. Weißt du was? Geh deinen Dad besuchen. Bring die Sache in Ordnung. Lies ihm die Leviten. Tu irgendwas. Dann komm zurück und bring die Sache mit uns in Ordnung. Wir warten hier auf dich.«
Ich konnte nicht anders. Ich lachte – zuerst ein leises Glucksen, das sich zu einem schallenden Gelächter aus voller Kehle steigerte. Als mir endlich klar wurde, dass Cindy recht hatte und ich in ein Flugzeug steigen musste, um meinen Vater zu besuchen, und zwar nicht allein deshalb, um herauszufinden, was zum Teufel sein Problem war, sondern auch, um meine Ehe zu retten, war ich ganz außer Puste. Sie ging aus dem Zimmer, und ich fand nicht einmal die Worte, ihr zu sagen, dass ich über mich selbst lachte.
Als ich mich wieder eingekriegt hatte, gelobte ich mir etwas. Ich wusste zwar nicht, ob ich meine Beziehung zu Cindy in Ordnung bringen konnte, indem ich von ihr fortging, aber ich war mir verdammt sicher, dass ich alles dransetzen würde, mit dem Alten quitt zu werden. Er war vielen etwas schuldig, aber ich war als Einziger noch übrig, um die Schuld einzutreiben. Ich redete mir ein, dass er mir gleichgültig sei, aber nicht das, was er mir schuldete, was immer das sein mochte.
Ich versuchte sogar, das zu glauben.