»Entweder dein Hemd oder meine Shorts, entscheide du. Jedenfalls darf das Gift nicht hoch in dein Bein steigen.«

Ich blickte in deine ernsten blauen Augen. »Nimm das T-Shirt.«

»Mach dir keine Sorgen«, flüstertest du. »Ich weiß, was zu tun ist. Ich hab ein Gegengift.« Du versuchtest zu lächeln, aber es wirkte nicht echt. Ich schwieg, erwiderte nur deinen Blick, wahrscheinlich stand ich unter Schock. Du rücktest näher zu mir, setztest dich direkt neben mich, damit ich mich anlehnen konnte. »Komm schon, dein Shirt.« Du zogst unten am Stoff.

Ich kreuzte die Arme und zerrte es mir über den Kopf. Du nahmst es mir gleich aus der Hand. Ich schlang die Arme um meinen BH, aber du kamst gar nicht auf die Idee, mich anzuglotzen. Du suchtest einen langen, geraden Stock und drücktest ihn unten an meine Wade.

»Halt den Stock da fest«, sagtest du.

Ich drückte ihn gegen meine Haut und du hast mein Shirt auseinandergerissen. Schnell wickeltest du es mir ums Bein und zogst die Enden fest zusammen, um den Stock zu befestigen.

»Ich spür gar nichts«, sagte ich. »Bist du sicher, dass sie mich erwischt hat?«

»Sie hat dich erwischt.« Du legtest die Stirn in Falten. »Aber vielleicht hat sie ohne Gift zugebissen. Hoffen wir, dass es so ist. Aber wenn jemand so auf mich draufgetreten wäre …« Du sprachst den Satz nicht zu Ende, sondern presstest wieder ein Lächeln heraus. Dann strecktest du die Arme aus und nahmst meinen Kopf zwischen die Hände. Du strichst mir, plötzlich sehr ernst geworden, mit dem Daumen über die Wange. »Von jetzt ab musst du mir alles sagen, was du spürst … Kopfschmerzen, Übelkeit, Taubheitsgefühle, und auch wenn du dich nur irgendwie merkwürdig fühlst … einfach alles. Das ist wichtig.«

Schweißperlen standen dir auf der Stirn. Ich streckte die Hand aus und wischte sie weg.

»Okay«, sagte ich. »Aber im Moment geht’s mir gut.«

»Schön.« Du packtest meine Hand. »Aber du darfst dich auf keinen Fall aufregen und nur so wenig bewegen, wie’s geht. Ob jetzt Gift drin ist oder nicht, du musst entspannt bleiben.«

Ich nickte. Dein ernsthafter Ton gefiel mir nicht. Ich warf einen Blick auf den Verband an meinem Bein. Ich bildete mir ein zu spüren, wie sich vom Fußgelenk ein taubes Gefühl ausbreitete. Ich schloss die Augen und versuchte die Panik zu unterdrücken, die in mir aufstieg.

»Halt dein Bein so gerade und ruhig, wie du kannst«, sagtest du.

Behutsam schobst du einen Arm unter meine Knie und den andern zwischen meine Achseln. Du stelltest dich vorsichtig auf und hobst mich hoch. Du trugst mich ein wenig weggestreckt von deinem Körper und versuchtest, mich so gerade und stabil wie nur möglich zu halten. Ich sah die Muskeln in deinem Nacken vor Anstrengung zucken.

»Ich bring dich zum Haus«, sagtest du.

Du liefst zügig und wähltest sorgfältig den besten Weg zwischen den Felsen und Spinifexbüscheln hindurch. Als du auf einen Haufen Zweige tratst, zucktest du zusammen.

»Ich lasse nicht zu, dass dir was passiert«, flüstertest du.

Auch an dem Kamel liefst du schnell vorbei, so schnell, dass dein Atem immer heftiger ging. Ich spürte, wie deine Muskeln zitterten. Ich schloss die Augen gegen die Sonne. Die Lichtstrahlen waren so hell und so stechend. Ich drehte mein Gesicht zu deiner Brust hin und drückte meine Stirn auf deine Haut.

»Was ist los?«, murmeltest du. Ich fühlte, wie die Worte in deiner Brust rumorten. Ich flüsterte zurück.

»Ich krieg Kopfweh.«

Du hast den Atem ausgestoßen, bevor du weiterliefst. »Ich mach’s wieder gut«, sagtest du. »Ich versprech dir, dass ich’s hinkriege. Hab keine Angst.«

Ich sagte nichts mehr. Ein dumpfer Schmerz kroch von meinem Fußgelenk hoch in mein Bein. Darauf konzentrierte ich mich.

 

 

Du gingst rückwärts durch die Tür und trugst mich in die Küche, wo du mich behutsam auf den Tisch legtest. Dann verschwandst du einen Moment lang und kramtest hektisch im Flurschrank herum. Das Licht von draußen fiel grell durch die Tür, darum drehte ich mich weg zur Küchenzeile. Mit ein paar Handtüchern kamst du zurück. Eines rolltest du zusammen und legtest es mir unter den Kopf.

»Wie geht’s dir?«

»Seltsam irgendwie.«

»Auf was für eine Art?«

»Einfach seltsam. Ich weiß nicht. Als würde ich eine schlimme Erkältung kriegen oder so.«

Du schlucktest. »Und sonst? Tut dir das Gelenk weh? Ist es taub?«

Ich nickte. »Ein bisschen.«

Du nahmst mein Handgelenk und fühltest meinen Puls, dann legtest du den Handrücken auf meine Stirn. Vorsichtig drücktest du an meinem Gelenk herum. Du nahmst ein anderes Handtuch und legtest es mir stirnrunzelnd über die Brust.

»Vielleicht sollte ich dir ein T-Shirt holen, meinst du nicht?«

»Was?«

Du zeigtest auf meine Brust und den BH und wurdest ein bisschen rot. »Du sollst dich nicht unbehaglich fühlen.« Du zogst eine Augenbraue hoch und setztest ein Grinsen auf. »Und ich muss mich schließlich konzentrieren.«

Du gingst weg, um das T-Shirt zu holen. Durch die offene Tür hörte ich den Schrei eines Raubvogels, der hoch über uns kreiste, aber das war auch schon alles. Ich betastete mein Bein. Wie ernst war dieser Schlangenbiss? Mir war nicht klar, ob du Witze machtest, weil du nicht weiter besorgt warst, oder ob du deine eigene Angst dahinter verbergen wolltest.

Du warst gleich wieder zurück, reichtest mir das Shirt und halfst mir beim Anziehen, damit ich mein Bein dabei nicht zu viel bewegte. Dann hast du mich wieder allein gelassen und bist mit einer Metallkiste zurückgekommen. Du hast den Deckel aufgerissen, eine Mullbinde herausgeholt und begonnen sie um den Stoff an meinem Bein zu schlingen. Du wickeltest mein ganzes Bein ein, vom Fuß bis hoch zur Hüfte. Meine Haut kitzelte bei jeder Berührung. Du legtest den Verband sehr stramm an.

»Ich begreif einfach nicht, wie ich so blöd sein konnte«, brummtest du.

»Wie meinst du das?«

»Ich hab zugelassen, dass du gebissen worden bist, oder?« Du stelltest die Metallkiste auf den Boden und wühltest darin herum. Pflaster und Mullbinden und Gummihandschuhe fielen heraus, während du nach etwas suchtest. »Ich hätte mir diese Schlange schon vor Tagen schnappen sollen«, fuhrst du fort. »Und außerdem hätte ich versuchen müssen, dich zu desensibilisieren. Aber, na ja, ich werd selber nie von Schlangen gebissen, darum hab ich wohl gehofft … ich dachte, das hätte alles noch Zeit …«

Deine Worte verklangen, als du gefunden hattest, was du suchtest. Du nahmst die Hand aus der Kiste und öffnetest zitternd die Finger. In deiner Hand lag ein Schlüssel. Als du aufstandst, merkte ich, wie blass dein Gesicht war. Das erinnerte mich an die Nacht mit dem Albtraum; da hattest du auch so ausgesehen. Plötzlich sehnte ich mich danach, dich anzufassen. Ich streckte die Finger nach dir aus.

»Ich hab einen Satz Antiserum gestohlen, aus einem Forschungslabor«, sagtest du. »Dir passiert nichts.«

Du gingst zu der abgeschlossenen Schublade neben der Spüle, stecktest den Schlüssel ins Schloss und wühltest darin herum. Dein Rücken hinderte mich daran, zu sehen, was genau in dieser Schublade war. Du holtest ein paar kleine Glasampullen und einen Plastikbeutel mit einer klaren Flüssigkeit heraus und legtest beides auf die Bank, dann nahmst du ein Elastikband und etwas, das wie eine Nadel aussah. Du machtest die Schublade nicht wieder zu, als du dich zu mir drehtest. Du packtest meinen Arm und klopftest mir auf die Venen. Ich warf noch einen Blick auf die Ampullen. Es waren die, die ich schon mal gesehen hatte, an dem Tag, als du sie vor dir auf dem Küchentisch ausgebreitet hattest.

»Weißt du denn, was du tust?«, flüsterte ich.

»Na klar.« Du riebst dir die Stirn. »Dir passiert nichts. Diese Schlange ist sowieso nicht so gefährlich …«

»Wie gefährlich denn?«

»Ich krieg das schon hin.« Du streiftest mir das Elastikband über den Arm und zogst es ein Stück über der Stelle fest, wo du mir auf die Venen geklopft hattest.

»Guck weg«, verlangtest du.

Ich blickte zu der offenen Schublade. Mit einem Knacken brachst du etwas auf. Ich spürte den ungeschickten Einstich, mit dem die Nadel in meine Vene drang, dann ein Rucken, als du den Plastikbeutel dranhängtest … und ein Gefühl von Entspannung beim Abstreifen des Bands. Dann schoss plötzlich ein Schwall Flüssigkeit direkt in meine Adern.

»Was ist das?«, fragte ich und blickte immer noch zu der Schublade.

»Kochsalzlösung, auch aus dem Forschungslabor. Ich habe das Todesotter-Gegengift hineingemischt. Wenn du das direkt ins Blut bekommst, geht’s dir garantiert bald wieder besser.«

Ich drehte den Kopf wieder zu dir und begriff, was du gesagt hattest. »Todesotter?«

Du streicheltest meine Wange. »Die heißt doch bloß so.«

Ich betrachtete den Beutel, dessen Inhalt langsam in meinen Körper floss, und das Röhrchen, das in meinem Arm steckte. »Woher weißt du, wie das geht?«

Du wichst meinem Blick aus. »Ich hab an mir selbst geübt.« Du tipptest gegen den Beutel, um die Fließgeschwindigkeit zu prüfen.

»Und jetzt?«

»Jetzt warten wir einfach.«

»Wie lang?«

»Zwanzig Minuten oder so, weiß nicht. Bis alles reingelaufen ist.«

»Und dann?«

»Dann sehen wir weiter.«

Scharrend zogst du einen Stuhl unter dem Tisch vor und setztest dich neben mich. Du strichst mit dem Finger leicht über die Nadel in meinem Arm.

»Wird’s mir danach besser gehen?«, fragte ich und nickte zu dem Plastikbeutel hin.

»Mehr oder weniger.« Wieder bemerkte ich den Schweiß auf deiner Stirn. An deiner Schläfe pulsierten die Adern.

»Du machst dir Sorgen«, flüsterte ich. »Stimmt doch, oder?«

Du schütteltest den Kopf. »Ach nein.« Deine Stimme klang belegt und du hattest ein Lächeln aufgesetzt. »Das wird schon wieder. Ich hab noch eine Ampulle, falls du sie brauchst. Aber dir geht’s bestimmt bald besser. Entspann dich, wart ab.«

Aber deine Augen wirkten unruhig, als sie mich anblickten, die Augenwinkel zuckten. Du atmetest bewusst langsam aus und drücktest die Fingerspitzen auf die zuckende Stelle.

»Was wird mit mir passieren?«, flüsterte ich. »Du verschweigst mir doch was.« Ich spürte, wie mein Atem schneller ging und mein Hals eng wurde.

»Nein«, sagtest du rasch. »Werd bloß nicht panisch, das ist das Letzte, was wir brauchen. Wenn du in Panik gerätst, fließt dein Blut schneller und dann wirkt auch das Gift schneller.« Du drücktest die Hände an meine Schultern und massiertest die Muskeln in meinem Nacken. »Entspann dich«, flüstertest du.

Aber ich schaffte es nicht, ruhig zu werden, nicht so richtig jedenfalls. Ich musste die ganze Zeit daran denken, wie es wäre, hier draußen zu sterben, auf einem Küchentisch, inmitten von Milliarden von Sandkörnern. Mein Atem ging jetzt noch schneller und du legtest mir die Hand aufs Gesicht, damit ich mich entspannte. Dann streicheltest du meine Haare.

»Alles okay, mach dir keine Sorgen«, wiederholtest du immer wieder. »Ich pass auf dich auf.«

Ich schloss die Augen. Hinter meinen Lidern war es dunkel. Vielleicht würde ich bald nie mehr etwas anderes sehen können. Vielleicht würde das Taubheitsgefühl in meinem Bein bald überall in meinen Körper kriechen, auch in mein Gehirn, und dann war Schluss. Mein Herz würde aufhören zu schlagen und stattdessen gäbe es für mich nur noch ewige Taubheit. Ich wäre bald unter dem Sand, überall Körner, unter mir, über mir, um mich herum. Ich krallte mich am Tisch fest und bohrte meine Fingernägel in das weiche Holz.

»Keine Panik«, murmeltest du.

Ich hatte schon über den Tod nachgedacht, ziemlich oft sogar. Aber der Tod, den ich mir vorgestellt hatte, war gewaltsam und schmerzhaft gewesen, er war etwas, das du mir zufügtest, nichts Taubes, Unpersönliches.

»Du stirbst nicht«, flüstertest du. »Du musst einfach nur Geduld haben. Ich bin hier und ich weiß, wie ich dir helfen kann. Beruhig dich.« Du streicheltest mein Gesicht. »Gem, ich lass nicht zu, dass dir was passiert, auf keinen Fall.«

 

 

Du streiftest mir die verschwitzten Haarsträhnen aus der Stirn.

»Du bist heiß«, murmeltest du. »Zu heiß.«

Etwa die Hälfte der Salzlösung war inzwischen in meinen Körper gelaufen, aber ich spürte immer noch einen dumpfen Schmerz unten in meinem Bein. Lag das an dem Schlangenbiss oder war der Verband einfach zu fest? Du fühltest wieder meinen Puls.

»Hast du das Gefühl, du müsstest brechen?«, fragtest du.

»Eher nicht.«

»Tut dir der Bauch weh?«

»Nein.«

Du legtest dir nachdenklich die Hand auf den Mund. Dann betrachtetest du mein bandagiertes Bein. »Tut das noch weh?«

»Ja.«

Ich bildete mir ein, dieses dumpfe Pochen jetzt auch am Knie zu spüren, als würde es langsam das Bein hochwandern. Ich streckte die Hand nach unten aus und zeigte dir, bis wohin der Schmerz reichte.

»Er ist hier«, sagte ich. »Der Schmerz sitzt hier.«

Du machtest für einen Moment die Augen zu. Wieder war da dieses Zucken in den Augenwinkeln. Auch du drücktest jetzt gegen diesen Teil von meinem Bein, dann bewegtest du deine Fingern bis hinunter zu meinem Fuß.

»Das Gift breitet sich schnell aus«, hast du geflüstert, ich glaube, mehr zu dir selbst. »Das ganze Bein schwillt an.« Du warfst einen Blick auf den Beutel mit der Salzlösung und hieltst ihn schräg, um zu sehen, wie viel noch drin war. »Ich tu die andere Ampulle auch noch rein.« Ich sah dir zu, wie du eine Nadel nahmst, um das Serum aufzuziehen. Dann spritztest du es in den Beutel und vermischtest es in einer kreisenden Bewegung mit der Salzlösung. »Das gibt dir einen Kick«, sagtest du. Du versuchtest zu grinsen, aber es kam nur eine Grimasse dabei heraus.

»Das ist die letzte, oder?«, fragte ich.

Du nicktest mit verzerrtem Gesicht. »Das sollte reichen.«

Dann begannst du mir wieder die Stirn abzuwischen, aber ich nahm deine Hand. Wahrscheinlich wollte ich in diesem Moment einfach nicht allein sein. Und ich wollte auch nicht, dass du allein warst. Deine Augen wurden groß, als meine Finger dich berührten. Sie betrachteten mein Gesicht, meine Wangen und meinen Mund, streiften über meinen Hals. Ich war das Beste, was du in deinem ganzen Leben gesehen hattest. Das berauschte mich – dass du allein wegen mir so schautest in diesem Moment.

»Ist dir schwindlig?«, fragtest du.

»Ein bisschen. Fühlt sich an, als ob ich schwebe.«

Ich umklammerte deine Hand, sehnte mich danach, dass sich etwas von deiner Kraft auf mich übertrug. Du hast meinen tiefen Blick erwidert. Fragen standen dir in die Augen geschrieben, und hinter den Fragen Gedanken.

»Das Serum müsste längst wirken«, sagtest du. »Ich weiß nicht, warum es nicht anschlägt.«

»Vielleicht dauert’s einfach länger.«

»Vielleicht.«

Ich spürte die Anspannung in deinen Fingern. Du warfst einen Blick auf den Flüssigkeitsbeutel. Dann standst du mit einem Ruck auf und stelltest dich neben die offene Tür. Als du meine Hand losgelassen hast, wurde sie kalt. Ich blinzelte. Die Ränder der Küchenschränke wirkten verschwommen. Alles war ein bisschen verschwommen. Ich schwebte in einer Art Dunst. Du liefst darin auf und ab.

Du nahmst die leeren Ampullen in die Hand und studiertest mit zusammengekniffenen Augen ihre Etiketten.

»Was ist?«

Du hast einen Seufzer ausgestoßen und eine der Ampullen in der Hand zerdrückt. »Ich frag mich, was mit diesen Dingern hier los ist. Vielleicht habe ich sie nicht richtig aufbewahrt. Ich habe Angst, dass es zu warm war.«

»Was heißt das?«

Du bist wieder zu mir gekommen und hast dich zurück auf den Stuhl sinken lassen. Du legtest deine feuchte Hand auf meine Schulter und suchtest meinen Blick. »Das heißt, wir haben die Wahl.«

»Was für eine Wahl?«

»Entweder wir bleiben hier und sitzen es aus – ich hab noch anderes Zeug, das dir helfen könnte, natürliche Mittel – oder wir …«

»Was?«

Du fuhrst dir mit der Handkante über die Stirn. »Oder wir gehen zurück.«

»Zurück wohin? Wie meinst du das?«

Du nahmst einen gequälten Atemzug. Dann begannst du langsam zu sprechen und blicktest dabei starr geradeaus auf die Küchenschränke, als wolltest du nicht über deine Worte nachdenken. »Es gibt da eine Bergbausiedlung nicht allzu weit weg von hier. Ich hab dir mal davon erzählt. Die haben eine Krankenstation. Da können sie dich stabilisieren. Ich kann dich dahin bringen, bevor du …«

»Warum solltest du das tun?«, unterbrach ich dich. »Ich dachte, du willst mich nicht weglassen.«

»Will ich auch nicht.« Deine Stimme klang brüchig.

Wir sahen uns an. Mein Gesicht spiegelte sich in deinen Augen.

»Vier Monate, hast du gesagt?«

Du musstest erst deine Gefühle herunterschlucken, bevor du antworten konntest. »Entscheide du. Ich mach jetzt, was du willst.«

»Du hast gesagt, die nächste Stadt wäre Hunderte von Meilen weit weg?«

»Ist sie auch … die nächste Stadt.«

»Also was …?«

»Der Ort, an den ich dich bringen kann, ist eine Siedlung um ein Bergwerk herum; da gibt’s nur Männer und ein tiefes Loch in der Erde. Aber die haben eine Krankenstation und auch eine Flugpiste. Die können dir helfen.«

»Wie weit ist das?«

»Weit.« Du lächeltest mich an, ein trauriges Lächeln. »Aber ich kenne eine Abkürzung.«

Mit gequältem Gesichtsausdruck drehtest du dich von mir weg.

»Würdest du mich wirklich zurückbringen?«, flüsterte ich. Ich stöhnte ein bisschen, weil ich ein scharfes Stechen im Bauch spürte.

Du hast genickt und meine Wange gestreichelt. »Ich mach das Kamel bereit.«

 

 

Ich legte die Handflächen auf die glatte, kühle Tischplatte, während ich auf deine Rückkehr wartete. Ich blickte hinüber zu dem leeren Flüssigkeitsbeutel, den du inzwischen abgehängt hattest. Vorhin war ich noch über den Sand gelaufen und hatte dich gesucht. Jetzt starrte ich an die Küchendecke und Gift strömte durch meinen Körper. Meine Augen wollten zufallen. Beinahe hätte ich das zugelassen. Es wäre so leicht, zurückzusinken in den Dunst, der mich immer mehr einzuhüllen drohte. Ich konzentrierte mich auf den Schmerz in meinem Bauch und horchte, wie du draußen nach dem Kamel riefst. Ich hatte keine Ahnung, wie du mich von hier wegbringen wolltest, und wusste auch immer noch nicht, ob du das wirklich tun würdest. Der Raum begann sich leicht zu drehen und Magensäure stieg mir in den Hals. Ich drehte mich zur Seite und erbrach mich. Ich drückte mir die Hand auf die Brust. Ich spürte mein Herz. Buum, ba-buum, ba-buum. Es würde mir noch die Brust sprengen, die Rippen brechen. Ich versuchte langsamer zu atmen. Um das besser hinzukriegen, hätte ich gern gewusst, wo genau mein Herz lag. Links oder rechts? Wir hatten das mal in der Schule gelernt. Ich drückte mir auf der Brust herum, versuchte es irgendwie zu spüren, aber ich hatte das Gefühl, dass mein gesamter Brustkorb aus nichts als Herz bestand. Mein ganzer Körper schlug. Und zwar immer schneller. Als würde ich gleich explodieren.

Ich sah hinüber zu den Schränken, wollte mich auf irgendwas anderes konzentrieren … bloß nicht auf den Tod. Meine Augen blieben an der offenen Schublade hängen. Papierseiten guckten heraus, zerknickt von deinem hektischen Herumgewühle. Ich blinzelte, um das Bild schärfer zu kriegen. Da war auch dieses Foto, das du mir gezeigt hattest. Von dem Mädchen mit ihrem Baby. Es ragte zwischen den Seiten vor.

»Gem?«

Deine Stimme riss mich zurück. Mit vollgepackten Armen kamst du durch die Tür. Du hast alles, was du hieltst, auf den Fußboden fallen lassen; der Lärm hallte in mir wider. Du kamst zu mir, hast sofort erfasst, wohin ich schaute, und das Foto zwischen den Papieren herausgezogen. Ich erhaschte einen letzten Blick darauf, bevor du es in die hintere Tasche deiner Shorts stecktest, sah die langen Haare deiner Mutter und wie klein du gewesen warst.

Du zögertest, bevor du die Schublade wieder zumachtest, und nahmst noch etwas anderes heraus.

»Das hab ich gemacht«, sagtest du schroff. »Für dich.«

Du schobst mir etwas zwischen die Finger. Es war eine grobe Schnitzerei, hergestellt aus einem farbigen, kalten Material … ein Ring, aus einem Edelstein geschnitten, eine echte Gemme. Er war schön. Er funkelte in den verschiedensten Schattierungen von Smaragdgrün und Blutrot auf meiner Haut. Winzige Flecken Gold im Stein fingen das Licht ein. Ich konnte nicht aufhören, den Ring zu betrachten.

»Warum?«, fragte ich.

Darauf sagtest du nichts. Stattdessen berührtest du sacht den Ring und sahst mich scharf an, den Blick voll unausgesprochener Fragen. Dann hast du meine Hand umgedreht und meinen Puls gefühlt, wobei du deine Finger länger als nötig auf meinem Unterarm hast liegen lassen. Deine Haut war schweißnass und mir wurde gleich noch viel heißer als vorher.

»Hör zu«, sagtest du energisch; zumindest deine Stimme hattest du wieder im Griff. »Ich habe einen Plan.«

Ich versuchte mich auf dich zu konzentrieren, aber dein Gesicht war irgendwie wacklig an den Rändern. Du hobst einen Gegenstand vom Boden hoch. Ich blinzelte, als ich sah, was es war – eine lange Säge aus Metall. Ihre Zähne wirkten rostig und scharf.

»Was hast du vor?«, sagte ich. Ich tastete nach meinem verbundenen Bein. Du merktest es.

»Keine Angst, deinem Bein passiert nichts.« Du nicktest Richtung Tisch. Deine Mundwinkel bewegten sich in einem schiefen Grinsen nach oben. »Den Beinen von dem da allerdings schon.«

Du griffst in die Metallkiste, zogst noch mehr Binden heraus und wickeltest sie auf. Eine davon legtest du mir auf den Bauch. Dann machtest du einen Schritt zurück und sahst mich prüfend an.

»Und jetzt?«, fragte ich.

»Ich werde dich am Tisch festbinden«, sagtest du. »Und dann lade ich alles auf das Kamel. Wir laufen dorthin, wo du das Auto gelassen hast, und ich sehe zu, dass ich’s wieder in Gang kriege.«

Es gab so viele Gründe, dir zu widersprechen, darum konzentrierte ich mich auf das Auto. »Das findest du nie.«

»Doch, tu ich.«

Ich erinnerte mich an meinen letzten Blick auf das Auto und daran, wie tief es im Sand steckte.

»Du kriegst es nicht vom Fleck«, sagte ich. »Das ist total festgefahren.«

Du zucktest mit den Achseln. »Hab ich mir schon gedacht.«

»Ich will nicht da draußen sterben«, flüsterte ich.

Aber ich glaube nicht, dass du mich gehört hast. Du bewegtest dich eilig durch den Raum, holtest eine Kiste raus und packtest verschiedene Glasfläschchen, Wasserkanister und Essen ein. Dann hobst du mich mit einer einzigen schnellen Bewegung hoch und legtest mich auf den Boden.

»Nur solange ich die Beine absäge«, hast du gesagt und entschuldigend gelächelt.

Ein Luftzug stieg aus einem Spalt im Fußboden und wirbelte Staub auf, der mich in der Nase kitzelte. Du packtest die Säge und machtest dich ans erste Bein. Ich spürte, wie der Boden vibrierte, und die Säge verschwamm zu einem kupferfarbenen Fleck. Ein Bein war ab. Du fingst mit dem nächsten an. Du sägtest zügig, aber ich wünschte mir, du wärst noch schneller.

Bald lag der Tisch ohne Beine neben mir auf dem Boden. Mit den Bandagen, die du vorher bereitgelegt hattest, bandst du meinen Körper daran fest.

»Das ist zu heiß, zu fest«, jammerte ich.

Du wischtest mir mit einem feuchten Handtuch übers Gesicht, dann legtest du es auf meinen Körper. Du holtest mir ein Glas Wasser und zwangst mich, es zu trinken.

»Wird sowieso noch heißer«, sagtest du.

 

 

Ich schrie laut, als du mich auf meiner zurechtgezimmerten Krankentrage nach draußen hievtest; mein Magen schmerzte bei jedem deiner ruckenden Schritte. Ich schloss die Augen gegen die Sonne und zog mir das Handtuch übers Gesicht. Unter dem Stoff fühlte sich mein Atem schwer und warm an, meine Wangen waren heiß wie glühende Kohlen.

Ich verkrampfte mich, als du den Tisch in den Sand gleiten ließest. Die Kamelstute hockte dicht neben mir auf dem Boden. Ich hörte sie kauen und spürte die Hitze, die auch von ihr ausging. Ich streckte meinen Arm und berührte das Fell an ihrem Bauch mit den Fingerspitzen. Du warst auf der anderen Seite. Ich hörte dich dort hantieren, du befestigtest irgendwas; wahrscheinlich die Kiste, die du gerade gepackt hattest. Dann warfst du ein Seil über ihren Höcker, herüber zu mir. Du wickeltest es um den Tisch und bandst mich und meine Trage mit dem Kamel zusammen. Dann zogst du fest an dem Seil und die Trage bewegte sich auf den Kamelbauch zu, so dass ich nun direkt neben ihr lag. So nah, dass ich den muffigen Staubgeruch ihres Fells riechen und das Grummeln in ihrem Magen hören konnte. Als ich meinen Arm in ihre Seite drückte, sprang ein winziges Insekt auf meine Haut.

Dann befahlst du der Kamelstute aufzustehen. Ich hörte, wie sie tief aus dem Bauch heraus zu stöhnen begann, es grollte überall um mich herum. Von irgendwo weit weg hörte ich, wie du ihr gut zuredetest und sie antriebst. Als sie auf die Hinterbeine kam, ruckte mein Körper nach vorne. Ich stieß einen Schrei aus und krallte mich in ihr Fell. Der Schmerz wurde noch schlimmer, als sie ihre Vorderbeine durchdrückte. Aber irgendwie kam die Trage am Ende in die Horizontale und ich lag flach auf dem Rücken und gut festgebunden neben dem Kamelhöcker wie eine schwere Packtasche.

»Halt durch, Gemma«, sagtest du und legtest mir die Hand auf die Schulter. »Diese Aktion wird leider ein bisschen wehtun.«

Das Kamel machte ein paar zögernde Schritte. Ich wappnete mich und umklammerte die Tischkante. Mein Körper schwankte vor und zurück, was mir stechende Schmerzen verursachte. Und dann waren wir unterwegs. Nachdem sie sich erst einmal in Bewegung gesetzt hatte, schien die Kamelstute das Gewicht auf ihrem Rücken zu vergessen und lief leichtfüßig drauflos. Ich spähte unter dem Handtuch zu dir. In der einen Hand hieltst du einen Führstrick, der am Kamel festgemacht war, in der andern einen langen Stock. Du liefst schnell nebenher, fast im Dauerlauftempo, um mit dem Kamel und seinen großen Schritten mitzuhalten. Schweiß lief dir über die nackte Brust und wusch die letzten Farbreste weg.

»Mach schon, Mädchen, lauf«, riefst du. »Schneller …«

Deine Worte waren fast wie ein Lied; das dumpfe Stampfen der Kamelschritte im Sand schlug den Rhythmus dazu. Die Geräusche verschwammen in mir, wurden leiser, immer leiser …

Ich versuchte die Krämpfe in meinem Magen zu ignorieren und mich auf meinen Atem zu konzentrieren. Das Licht brannte mir in den Augen, machte mich fast blind. Ich zog das Handtuch wieder ein Stück höher. Du hattest mir zwei Wasserflaschen rechts und links neben den Kopf gelegt und ich schmiegte meine Wange an eine, um mich abzukühlen. Aber bald waren die Flaschen genauso warm wie ich. Das Wasser gluckerte laut an meinen Ohren. Mein ganzer Körper schwankte und schmerzte bei jedem Schritt. Auch mein Kopf dröhnte.

Irgendwann hast du das Kamel so langsam gehen lassen, dass du mir etwas in den Mund schieben konntest.

»Kau das«, sagtest du. »Das hilft gegen die Schmerzen.«

Das Zeug war kaugummiweich, aber es schmeckte bitter wie Blätter. Ein erdiger Geruch stieg mir in die Nase. Meine Lippen wurden taub. Ich lauschte auf das Gluckern des Wassers, das Stampfen des Kamels und deinen keuchenden Atem. Irgendwo war auch eine Fliege, die auf der andern Seite vom Handtuch herumsurrte. Die Hitze erdrückte mich; mein Atem ging immer flacher. Ich glaube, ich muss irgendwann eingeschlafen sein.

Ich war wieder zu Hause und lief unsere Straße entlang. Es war ein warmer Frühlingstag. Auf dem Rasen vor dem Nachbarhaus spritzten Kinder in einem Planschbecken herum. Ich lief ums Haus, sprang über den Zaun und ging zum Fenster von meinem Zimmer. Wenn ich auf die richtige Art am Fensterriegel rüttelte, würde es aufgehen. Aber das tat es nicht. Diesmal nicht. Ich drückte immer weiter am Fenster herum, versuchte es mit Gewalt. Ich donnerte meine Faust dagegen. Im Fensterglas entstand ein dünner Riss. Ich nahm die Hand an den Mund, saugte an ihr und suchte nach Splittern. Dann schaute ich durch das Fenster ins Zimmer hinein.

Da war ein Kind in meinem Bett, ein Mädchen. Sie musste etwa zehn Jahre alt sein, hatte kupferbraune Haare und grüne Augen. Sogar mein rosa Hase lag neben ihr. Mit den Fingern zog sie die Bettdecke eng um sich und ihre Augen waren weit geöffnet. Sie starrte mich an. Ich sah, wie sie einen Blick zur Zimmertür warf, wohl um die Entfernung abzuschätzen. Wenn sie rannte, konnte sie es schaffen. Es waren nur fünf Schritte bis zur Tür und noch mal zehn bis zur Küche. Sie streckte die Hand nach dem Haustelefon aus, aber ich wusste schon, was gleich passieren würde. Sie streifte das Wasserglas, das neben ihrem Bett stand, und warf es herunter. Als ihr Mund sich zu einem Schrei öffnete, legte ich einen Finger auf die Lippen und schüttelte den Kopf.

»Nein«, formte ich mit deutlichen Bewegungen. »Alles okay. Ich bin’s bloß.«

Das Mädchen hielt mit offenem Mund inne und starrte mich an wie einen Alien. Ich lächelte ihr zu. Dann nahm ich etwas aus meiner Tasche – ein Vogelnest – und legte es für sie auf den Fenstersims.

In diesem Moment wusste ich es. Ich war du und brachte das Vogelnest. Aber ich war auch ich selbst, schaute von innen heraus. Ich war zugleich wir beide.

Wassertropfen standen schwer und drückend auf meiner Stirn, das Handtuch klebte an meiner Haut. Ich zwang mich, die Augen zu öffnen, schob den Arm unter dem Handtuch vor und spürte, wie Wasser auf meine Hand tropfte. Anscheinend träumte ich immer noch. Ich schnappte mir das Handtuch und zog es mir vom Gesicht. Wasser fiel mir auf die Wangen und auf den Mund, kühles, frisches Wasser. Die Tropfen zischten fast, als sie meine Haut berührten. Ich streckte die Zunge heraus und leckte sie auf. Der Himmel über mir war grau und es war nicht mehr so heiß. Ich konnte wieder atmen.

Mein Körper schwankte noch mehr als vorher. Das Kamel war schneller geworden. Ich drehte den Kopf und schrie, als mir ein kurzer Schmerz in den Nacken fuhr. Mit langen Beinen ranntest du neben dem Kamel her und warfst mir einen schnellen Blick zu. Du merktest, dass ich dich anschaute. Ich wollte dich fragen, wie lange wir schon unterwegs waren, aber mein Hals war zugeschwollen und meine Stimme funktionierte nicht.

»Nicht mehr weit«, sagtest du, außer Atem.

Ich sah die Wassertropfen an, die jetzt immer dichter fielen. Grinsend strecktest du im Rennen die Arme aus und wedeltest herum.

»Regen«, sagtest du. »Der Himmel weint wegen dir.«

Du schnalztest mit der Zunge und schlugst mit dem Stock gegen die Hinterbeine der Kamelstute, die nun schneller zu laufen begann. Dadurch rutschte ich auf meiner Trage noch stärker hin und her, was mich aufjaulen ließ. Es war der erste echte Schmerz, den ich spürte, seit du mir diese weichen Blätter zum Kauen gegeben hattest. Du hast es gemerkt und das Kamel wieder etwas langsamer laufen lassen. Ich neigte den Kopf, um zu sehen, wohin wir unterwegs waren. Wir waren nicht weit weg von einem Hügel mit Felsen und Bäumen. Der Regen wurde heftiger. Das Handtuch saugte sich an meinem Körper fest. Das Wasser floss in Strömen an dir herunter und färbte deine Haare dunkel. Du warfst sie zurück, wobei noch mehr Tropfen auf mich spritzten.

»Wir müssen anhalten, bis das hier vorbei ist«, keuchtest du.

Der Regen prasselte so heftig auf den Sand, dass es sich wie ein Klatschen anhörte oder wie leichte Trommelschläge. Ich versuchte mich auf dieses Geräusch zu konzentrieren und nicht auf die Schmerzen in meinem Bein, die wieder schlimmer wurden. Auch die Magenkrämpfe kehrten zurück. Aber wir schafften es bis zu den Bäumen. Schnell brachtest du das Kamel dazu, sich niederzulassen, und ludst die Ausrüstung ab. Du bautest eine Art Unterstand aus Planen, Seilen und Ästen. Dann hast du mich vorsichtig hingelegt und mich dort auf eine Decke gebettet. Du nahmst das nasse Handtuch weg, legtest stattdessen etwas Warmes und Trockenes über mich und gingst neben mir in die Knie.

»Du hast Fieber«, sagtest du.

Du zerrtest an den Planen, die du zwischen die Bäume gespannt hattest, um den Regen abzuhalten, der uns jetzt von der Seite erwischte. Du legtest noch eine Decke auf mich; ich spürte ihr Gewicht. Meine Lider waren trocken und schwer. Kurz bildete ich mir ein, Donner zu hören, ein tiefes Grollen vom Himmel her. Du bewegtest meinen Kopf so, dass er in deinem Schoß lag.

»Mach die Augen auf«, sagtest du. »Bleib bei mir.«

Ich versuchte es. Es kam mir vor, als müsste ich jeden einzelnen Muskel im Gesicht aktivieren, um die Lider auch nur ein bisschen zu öffnen. Aber ich tat es. Ich sah dich, du standst auf dem Kopf, deine Lippen waren über meinen Augen und deine Augen über meinen Lippen.

»Rede mit mir«, sagtest du.

Mein Hals war wie zugeschwollen; das Gewebe darin schien aufgedunsen zu sein; meine Kehle war ein undurchdringlicher Klumpen Fleisch. Ich packte deine Hand.

»Dann schau mich an«, sagtest du. »Und hör mir zu. Hör mir einfach nur zu.« Du warfst einen Blick hinter die Planen, checktest das Wetter, schautest zum Himmel. »Das ist kein richtiges Gewitter, nur die Ausläufer von einem, das näher an der Küste runtergeht. Wird hoffentlich nicht lange dauern, bis das Wetter weiterzieht.«

Ich runzelte die Stirn, denn ich hatte immer geglaubt, dass es in der Wüste nie regnet. Du hast mir vom Gesicht abgelesen, was ich dachte.

»Normalerweise tut’s das auch nicht«, nuscheltest du. »Nur wenn es sein muss.«

Deine Worte verwischten dein Gesicht. Deine Augen schwammen in einem runden, braunen Hauttümpel. Ich holte Luft, so gut es ging, und ein Regentropfen fiel mir in den Mund. Du schobst mir die nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht.

»Ich erzähl dir eine Geschichte«, sagtest du. »Ich erzähl dir was über den Regen.« Du schüttetest mir etwas Wasser in den Mund. Fast hätte ich es wieder hochgehustet. Bevor du weitersprachst, nahmst du auch einen Schluck Wasser.

»Regen ist hier heilig«, fingst du an. »Wertvoller als Geld oder Edelsteine. Regen ist Leben.«

Du hieltst die Finger gegen meine Schläfen. Der sanfte Druck machte es einfacher, dich anzuschauen; ich konnte die Augen jetzt leichter offen halten.

»Wenn in diesem Land Regen fällt«, sagtest du, »vermischt er sich mit dem Sand und färbt die Flüsse rot. Flussbetten, die monatelang trocken waren, werden lebendig und führen blutrotes Wasser, sind wie Adern im Sand … sie schaffen Leben. Es ist, als ob das Land wieder lebendig wird und mit seinem lebensspendenden Blut alles überflutet.«

Du strecktest deine Hand an den Planen vorbei nach draußen in den Regen und drücktest sie dann in den Boden. Als du sie mir wieder vor die Augen hieltst, war sie verschmiert mit rotem Lehm. Du strichst mir damit über die Stirn, über die Wangen und quer über die Lippen. Ich spürte das Reiben der Sandkörner auf meiner Haut und roch die eisenhaltige Erde und den frischen Regen. Irgendwie half mir das, wach zu bleiben.

»Wenn hier Regen fällt, krabbeln Tiere aus der Erde, die seit Monaten, manchmal sogar Jahren nicht mehr da gewesen sind. Pflanzen kommen aus dem Sand. Wurzeln fangen an zu blühen.«

Deine Finger bewegten sich über meine Wangen. Ich spürte deine kurzen Fingernägel auf meiner Haut, sie trommelten wie Regentropfen und hielten mich wach. Flüsternd sprachst du weiter. Ich musste mich anstrengen, um deine Worte zu verstehen, bevor sie im prasselnden Regen untergingen.

»Es gibt einen Brauch hier, wenn es regnet«, sagtest du. »Die Frauen tanzen wild spritzend am Ufer der strömenden roten Flüsse. Dabei läuft ihnen Blut an den Beinen runter … das Regenblut und ihr eigenes. Hier draußen blutet nicht nur das Land … auch wir bluten.«

Deine Finger bewegten sich weiter nach unten und streiften meine Lippen. Sie schmeckten salzig. Ein Sandkorn schlüpfte mir in den Mund. Du riebst die rote Erde auf meinen Hals und die Schultern, massiertest sie in meine Haut ein. Ein Regentropfen fiel mir auf die Stirn und ich spürte, dass er beim Herunterrinnen an meiner Wange rote Erde aufnahm. Ich fühlte mich wie einer von den Bäumen, die ich hatte bluten sehen, als ich in den Sanddünen gestrandet war; auch aus meiner Haut strömte rubinrotes Harz.

Wieder hörte ich dieses Grollen, als würde sich irgendwo in der Ferne die Erde öffnen und etwas verschlingen. Sofort drehtest du den Kopf von mir weg, in die Richtung, aus der das Grollen kam. Du blicktest prüfend auf die Planen, vergewissertest dich, dass alles in Ordnung war.

»So ist das also«, murmeltest du. »Regen ist der Weg, durch den die Wüste sich verändert. Überall um uns herum breiten sich Pflanzen aus, Insekten paaren sich … alles lebt wieder.«

Dein Gesicht waberte. Du sprachst weiter, aber ich konnte deine Worte nicht mehr hören. Deine Lippen waren nichts als Raupen, die in deinem Gesicht herumkrochen. Ich glitt weg. Meine Haut war schwer und aufgequollen wie die einer Made, ein dumpfer Schmerz hatte meine Muskeln erfasst. Auch ich brauchte den Regen, damit er mich am Leben hielt.

Schließlich hast du mich wieder auf die Trage manövriert und die Bandagen und das Seil um mich festgezogen. Der Schmerz knirschte in meinem Innern, als würden starke Hände meinen Magen auswringen wie ein Tuch.

»Mach die Augen auf«, sagtest du. »Mach sie auf.«

Deine Haare hingen mir ins Gesicht. Aus ihren Strähnen tropfte Wasser auf meine Nase. Du befahlst der Kamelstute aufzustehen. Sie protestierte grollend. Du klopftest mit dem Stock auf ihre Hinterhand und schon spürte ich, wie sie schwankte und sich erst auf die Hinterbeine, dann auf die Vorderbeine erhob.

»Nun komm schon, Mädchen«, riefst du.

Es regnete immer noch, aber nur ein bisschen; die Tropfen wirkten so leicht wie die eines Rasensprengers. Ich öffnete den Mund und spürte das Wasser auf der Zunge und den Zähnen. Ich glaube, das war das Einzige, was mir noch Halt gab, dieser Regen. Jeder Tropfen wirkte wie Medizin, heilte mich … hielt mich bei Bewusstsein. Der Regen fiel, das Kamel rannte.

Nach einer Weile – ich habe keine Ahnung, wie lang es dauerte – kamen wir zum Auto. Unter einer kleinen Baumgruppe in der Nähe hast du das Kamel angewiesen, sich abzulegen, und mich losgemacht. Dann führtest du das Kamel von uns weg. Ich hörte das Kreischen und Rumpeln des Motors, als du versuchtest, den Wagen in Bewegung zu setzen; ich hörte die klagenden Rufe des Kamels. Verzweifelt bemühte ich mich, die Augen offen zu halten. Ich betrachtete den Himmel – jetzt war er wieder blaugrau – und ich betrachtete die Bäume. Die blutigen Adern waren immer noch auf der Rinde, genau wie vorher. Insekten holten sich dort ihre Nahrung, tranken von dem roten Harz. Auch auf mir landeten Fliegen, sie brummten und krabbelten überall auf meinem Körper herum. Ich roch die Feuchtigkeit in der vom Regen durchtränkten Erde. Das Auto heulte und knurrte, während es sich gegen den Sand stemmte. Du riefst dem Kamel etwas zu. Irgendwo zerbrach ein Stock.

Du kamst mit Decken und Wasser zu mir zurück. Brachtest mich dazu, dass ich trank. Die ganze Zeit über hast du mit mir geredet, aber deine Worte waren nicht mehr als eine Geräuschkulisse; wie Wind, der den Sand herumwirbelt, oder wie Rauschen im Radio. Dann packtest du meinen Arm und stachst hinein. Ich spürte, wie mir etwas in die Venen rauschte. Danach wurde ich ein bisschen wacher.

»Wir müssen uns beeilen«, sagtest du.

Du hobst mich hoch und trugst mich zum Wagen. Deine Haut war voller Öl und Dreck und Schweiß. Du rochst nach Benzin. Das Auto brummte erwartungsvoll. Du hieltst inne, bevor du mich hineinlegtest.

»Möchtest du dich verabschieden?«, fragtest du.

Du hast mit der Zunge geschnalzt und die Kamelstute kam zu uns herüber. Sie beugte sich herunter und schnupperte an meiner Wange, ihr riesiges Gesicht dicht an meinem. Sie trug kein Halfter mehr. Ich streckte die Hand aus und berührte ihre samtige Nase, aber das Gefühl sachten Streichelns kam erst in meinen Fingern an, als ich sie schon wieder weggezogen hatte.

»Das war’s«, murmeltest du.

»Wie wirst du sie wiederfinden?«, versuchte ich zu fragen. »Wie findet sie dich?«

Du gabst keine Antwort. Wahrscheinlich hattest du mich nicht verstanden. Du starrtest einfach nur weiter geradeaus auf das Kamel, mit leicht glasigen Augen.

»Tschüss, Mädchen«, sagtest du leise.

Du schnalztest noch mal mit der Zunge und die Kamelstute antwortete dir mit einem Grollen. Sie machte ein paar Schritte zurück, weg vom Auto. Du verstautest mich auf dem Rücksitz und lehntest mich mit dem Rücken gegen die hintere Tür, so dass mein Bein gerade lag. Du machtest die Tür zu. Ich sah, wie du der Kamelstute im Vorbeigehen ein letztes Mal auf den Rücken klopftest.

Du jagtest den Motor hoch, um das Auto in Bewegung zu setzen, tratst immer wieder fest aufs Gaspedal. Die Reifen drehten sich aus dem Sand. Durchs Fenster beobachtete ich die Kamelstute. Als das Auto anfuhr, trabte sie los. Du erhöhtest das Tempo, woraufhin sie in einen leichten Galopp wechselte und weiter neben uns herrannte. Ich legte mein Gesicht gegen das Fenster und redete in Gedanken mit ihr. Ich wollte nicht, dass sie zurückblieb und wieder allein war. Wie sollte sie ihre Herde finden? Wie sollte sie dich finden?

Irgendwann preschtest du davon. Sie stolperte im Sand und versuchte Schritt zu halten, doch dann wurde sie langsamer und blieb immer weiter zurück. Sie legte den Kopf nach hinten und jammerte, als wir verschwanden. Ich wollte genauso jammern. Wenn ich genug Kraft dazu gehabt hätte, dann hätte ich’s getan. Ich beobachtete sie, bis sie nur noch ein winziger Fleck in der Ferne war. Dort stand sie und sah uns immer noch hinterher.

»Tschüss«, flüsterte ich.

 

 

Der Wagen holperte und rutschte im Sand. Steine spritzten hoch und schlugen gegen die Fenster. Angespannt klammerte ich mich am Sitz fest. Jeder Schlenker, jedes Schwanken jagte einen stechenden Schmerz durch meine Muskeln.

»Halt durch«, sagtest du.

Aber das war schwer. Nach einer Weile fielen mir die Augen wieder zu. Ich merkte, wie ich im Sitz zusammensank. Das Gift breitete sich in meinem ganzen Körper aus, richtete mich leise zu Grunde. Es machte meine Glieder steif und hart. Es ließ mich träumen, dass meine Füße durch die Autotür wuchsen und im Sand versanken. Meine Haut verwandelte sich in trockene Rinde und meine Arme wurden zu Ästen. Meine Finger waren weiche, wispernde Blätter.

Mir war vage bewusst, dass hier irgendwas zitterte. Mein Körper bewegte sich seitwärts, aber ich wusste nicht, wie. Die Bewegung hörte nicht auf. Irgendwas redete mit mir. Der Wind oder der Sand oder irgendwas sonst rief meinen Namen.

»Gemma … Gem«, sagte es. »Wir sind fast da.«

Aber mein Körper antwortete nicht. Ich versuchte die Augen aufzukriegen. Nichts funktionierte. Meine Glieder waren starr. Meine Finger zuckten und schwankten im Wind. Dann spürte ich deine Hand auf meiner Wange; sie war trocken und kühl.

»Wach auf, Gem«, sagtest du. »Bitte, wach auf.«

Ich versuchte, wieder Kontrolle über mein Gesicht zu kriegen, und spannte die Muskeln auf meiner Stirn an. Und diesmal schaffte ich es. Ich schob die Augen auf. Nur einen Spaltbreit. Aber mehr brauchte ich nicht. Ich sah dich. Du hattest dich vom Vordersitz nach hinten umgedreht, eine Hand lag auf dem Lenkrad, die andere auf mir. Hinter dir, auf der andern Seite der Windschutzscheibe, ragte ein gewaltiger Haufen Erde in die Höhe.

»Die Bergbausiedlung«, sagtest du.

Wieder schobst du mir eine Masse weicher Blätter in den Mund. Sie waren noch bitterer als die zuvor.

»Kau«, sagtest du. »Bleib wach.«

Du drehtest dich wieder nach vorne und auf einmal hörte das Auto auf zu ruckeln. Wir hatten eine Sandpiste erreicht. Sie war hart und wurde regelmäßig benutzt. Mein Kopf knallte gegen das Fenster und Staub stieg auf, als du das Gaspedal durchtratst. Ich war den rauen Untergrund inzwischen so sehr gewohnt, dass es mir jetzt vorkam, als würde der Wagen fliegen. Beim Näherkommen sah ich, dass riesige Lastwagen oben auf dem Berg herumfuhren, neben hoch aufragenden Türmen und Rutschen und wuchtigen Raupenfahrzeugen. Am Fuß des Berges gab es noch mehr Gebäude, am Himmel stand weißer Staub. Sonst lag auf allem roter Sand und darin konnte ich noch mehr Farben sehen … Braun und Weiß, Orange und Schwarz in vielen Abstufungen. Steinhaufen türmten sich. Bäume gab es keine.

Ich kaute auf den Blättern herum, schmeckte ihre bitteren Wirkstoffe. Verzweifelt versuchte ich die Augen offen zu halten und blinzelte unentwegt. Wochenlang hatte ich von diesem Moment geträumt, hatte den Anblick von Leben herbeigesehnt. Doch jetzt wirkte er nicht real. Häuser, Strommasten, Laster und Schutt verschmolzen miteinander, wurden zu verschwommenen roten Schlieren, die hinter den Fenstern herumwirbelten. Alles sah heiß und verbrannt aus.

Mit durchdrehenden Reifen schlittertest du auf die Häuser zu. Das Tempo, mit dem du um die Kurve fuhrst, ließ mich keuchen. Der Schmerz schoss mir in die Schultern, als hätte ich Stacheldraht unter der Haut. Das Auto donnerte eine Straße hinunter, an der rechts und links kleine, rechteckige Gebäude standen. Häuser? Das Atmen fiel mir immer schwerer. Hier war es noch heißer; die Luft wirkte undurchdringlich und war schwer vom Staub des Bergwerks. Meine Augenlider begannen wieder nach unten zu sinken.

Du bogst in eine Auffahrt. Dort stand eine Art rechteckige Baracke. Ich stöhnte, als mich ein neuer Schmerzstoß durchzuckte. Ich schloss die Augen und presste mein Gesicht gegen das kühle Fensterglas. Jeder neue Atemzug fiel mir schwerer. Du sprangst aus dem Auto, ohne den Motor abzustellen. Laut schreiend liefst du auf die Baracke zu, doch ich verstand nicht, was du riefst. Auch mein Gehör wurde immer schwächer. Alles um mich herum wirkte langsamer und stiller. Mein Körper schaltete ab, stellte den Betrieb ein. Alles war verschwommen, wie in einem Traum. Nichts war mehr real.

Ich hörte das Schreien einer andern Stimme. Dann ging die Tür auf, die mich stützte, und ich kippte nach hinten. Deine Arme fingen mich auf. Auf meine Nase und meinen Mund wurde etwas gedrückt, das irgendwie medizinisch roch. Auf einmal konnte ich wieder ein bisschen besser atmen. Du beugtest dich über mich und hobst mich aus dem Wagen. Aber ich spürte dich nicht richtig. Ich merkte nur, dass dein Arm meine Fingerspitzen streifte.

Du brachtest mich in ein Zimmer. Legtest mich auf einen Tisch. Ein Mann stand über mir. Ich sah ihn, als er meine Augenlider hochzog. Er sagte etwas zu mir. Dann gab er mir eine Spritze. Wie von weit weg spürte ich den kleinen, stechenden Schmerz. Dann legte sich eine Maske über mein Gesicht. Und ich konnte wieder Luft holen.

Dann fuhren wir sehr schnell. Durchs Fenster sah ich den Himmel, er war blau mit ein paar orangeroten Streifen, die den Sonnenuntergang ankündigten. Schleudernd hieltest du an. Die Tür ging auf. Wieder hobst du mich hoch. Du ranntest, mein Körper baumelte in deinen Armen. Aber ich hatte keine Schmerzen. Von sehr weit weg hörte ich deine Schritte auf dem Asphalt aufschlagen. Da war noch ein anderes Geräusch. Ein rhythmisches Grollen. Das Donnern einer Maschine. Jemand in Weiß wartete auf uns.

»Name? Alter?« Ich hörte die Stimme einer Frau, auch sie weit entfernt, als käme sie aus einer andern Welt.

Du hast mich ins Flugzeug getragen, mich auf etwas Weiches gelegt. Dann wolltest du weggehen. Ich streckte die Arme aus und griff nach deiner Hand, umklammerte deine Finger. Ich ließ sie nicht mehr los. Ich wollte nicht allein bei all diesen fremden Leuten bleiben. Ich sah zu dir hoch, fand deinen Blick. Du hast gezögert und kurz nach draußen geschaut, auf den Asphalt und die offene Ebene, auf das rote Land … und dann sahst du wieder mich an. Du nicktest kurz und setztest dich hin. Dann fingst du an, mit mir zu reden. Ich weiß nicht, was du gesagt hast. Aber in deinen Augen standen Tränen.

Meine Ohren gingen zu und die Maschine bewegte sich. Die weiß gekleidete Person kehrte zurück. Wieder legte jemand eine Maske auf mein Gesicht. Luft. Noch mal wurde mir irgendwas in den Arm gespritzt. Ich sah einfach nur dich an. Du warst das Einzige, was meine Augen offen halten konnte. Aber mein Brustkorb sank immer tiefer, glitt durch die weiche Matratze, durch den Flugzeugboden hindurch … eine Lawine begrub mich. Der Himmel um uns wurde orange und das Land unter uns rot. Wir flogen direkt in die Sonne.

 

 

Dann tauchte das Flugzeug nach unten und setzte holpernd auf. Ich wurde herausgeschoben, über den Asphalt gerollt. Es war dunkel, aber ein Stück weiter weg blinkten Lichter. Jemand nahm mir die Maske vom Gesicht. Du ranntest neben mir her, so wie du im Sand neben dem Kamel hergerannt warst. Diesmal hieltst du meine Hand; dein Griff war fest. Deine Augen ließen meine nie los. Wir kamen in ein Gebäude. Durch eine automatische Tür.

Dann machten wir halt. Ein Mann im Anzug stellte dir Fragen, drängte dich von mir weg. Du schriest und fuchteltest mit den Armen. Dann sahst du mich an … du sahst mich richtig an. Dein Blick war verzweifelt, du wolltest etwas … und du fandst es. Vielleicht. Deine Augen wurden feucht, als dein Blick über mich wanderte und auf meinem Gesicht, meinen Augen, meinen Haaren liegenblieb. Ich wollte etwas sagen, schaffte es aber nicht. Du drehtest dich zu dem Mann im Anzug um, brülltest ihn an. Dann warst du wieder bei mir. Beugtest dich über meine Liege. Berührtest mein Gesicht.

»Leb wohl, Gem«, flüstertest du. »Alles wird gut für dich.«

Dann hast du den Ring an meinem Finger berührt und dich im nächsten Moment von mir wegbewegt.

Nein. Ich schüttelte den Kopf. Nein.

Ich schnappte nach dir. Packte dich am Ellbogen. Meine Finger gruben sich in deine Haut. Mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, zog ich an dir. Ich zerrte dich zu mir. Du hast es geschehen lassen. Es ging ganz leicht. Und dann warst du auf einmal ganz bei mir. Ich strich mit den Fingern an deinem Arm entlang, streichelte deine nackte Brust, wollte deine Wärme spüren. Ich umklammerte deinen Nacken.

Mit letzter Kraft zog ich dein Gesicht zu mir her. Mein Kopf hob sich ein klein wenig vom Kissen, um zu dir zu kommen. Deine Haut war nur Zentimeter weit von mir weg. Dein Mund so nah. Meine Lippen berührten deine Wange. Ich schmeckte den Sand, das Salz und den Schweiß auf deiner Haut. Ich spürte deinen rauen Bart und deinen warmen Atem, sog den säuerlichen Geruch nach Eukalyptus ein. Deine Lippen auf meiner Haut waren weich.

Und dann wurdest du plötzlich von mir weggerissen. Jemand hielt dich fest. Und ich sank zurück. Ich sah dir in die Augen, als ich weggebracht wurde. Ich schmeckte immer noch das Salz auf meinen Lippen.

Du hast nicht geweint. Du hast dich nicht mal bewegt. Du hast nur dagestanden wie ein Felsen und mich angesehen, während das Krankenhauspersonal dich einkreiste. Jetzt warst du der Gejagte. Ich wollte die Hand heben, wollte dir danken. Aber ich konnte nur zusehen, wie ich rückwärts durch einen Vorhang von dir weggeschoben wurde. Die durchsichtigen Plastikstreifen flatterten über meine Arme. Ich stemmte mich hoch, wollte dich nicht aus den Augen lassen. Du legtest dir die Hand auf den Mund, schobst die Finger auseinander und hast etwas zu mir herübergeblasen. Es sah aus wie ein Kuss. Aber einen Augenblick lang sah ich den Sand in der Luft schweben, bevor er herunterfiel.

Dann schloss sich die Tür ganz und andere, kältere Finger berührten mein Gesicht. Wieder wurde eine Maske auf meinen Mund gelegt. Der Plastikriemen kniff mich in die Wangen. Das Atmen fiel mir jetzt wieder leichter. Aber das half nichts. Um mich herum wurde trotzdem alles schwarz.

Ich sank. Alles war kalt und dunkel und sehr weit weg. Verschwommen nahm ich das Surren von Maschinen wahr, ein entferntes Murmeln von Stimmen …

»Wer ist dieses Mädchen überhaupt?«

»Schnell, wir verlieren sie …«

»Bringt sie auf die Intensiv.«

Und dann nichts mehr.

 

 

Ein stechender Geruch, irgendwas Chemisches. Feste Laken berührten meine Haut, lagen schwer auf meiner Brust. Kabel klebten an meinen Armen. Irgendwas piepste. Als ich herauszufinden versuchte, was es war, piepste es noch schneller. Mir war kalt. Mein Körper fühlte sich nicht mehr so taub an. Er tat weh. Er war irgendwie leer. Vier schattige Wände umgaben mich. Keine Fenster. Wenn ich eine Wand anschaute, hatte ich das Gefühl, die andern rückten immer näher.

Es war ein furchtbar kleiner Raum. Und du warst nicht da.

Nur ich.

Irgendwann spürte ich kalte Finger auf meiner Haut. Sie wickelten etwas um mich herum.

»Wo ist Ty?«, fragte ich.

»Wer?« Eine Frauenstimme, schon älter.

»Ty?«

Die Finger hielten still. Ein Seufzer.

»Du brauchst dir wegen ihm keine Sorgen mehr zu machen«, sagte die Stimme leise. »Er ist weg.«

»Wo ist er?«

Die Finger glitten zu meinem Handgelenk und drückten es, mit schrecklich kalten Fingerspitzen. »Deine Eltern sind unterwegs.«

Ich schlief.

Ich spürte Blut zwischen den Beinen … Meine Periode, endlich. Ein paar Wochen zu spät. Angeblich kann Angst manchmal dazu führen, dass sie ausbleibt. Ich lag einfach nur da und sah zu, wie die Schwester die Bettwäsche wechselte, zu benebelt, um es peinlich zu finden.

Ich schlief wieder ein, sehnte mich nach einem Traum.

 

 

Mums Stimme hörte ich zuerst. Hoch und schrill hallte sie durch den Korridor.

»Wir sind so schnell wie irgend möglich losgeflogen«, sagte sie. »Wo ist sie?«

Das Klackern ihrer Absätze kam näher … wurde lauter.

Im Hintergrund war die ruhige Stimme von Dad, der mit jemandem sprach.

»Vergiftungsbedingtes Koma«, sagte die dritte Stimme. »Sie wird sich eine Weile lang seltsam fühlen.«

Dann waren sie auf einmal alle drei bei mir im Zimmer; Mum und Dad und ein Arzt im weißen Kittel. An der Tür stand ein Polizist. Mum drückte mich und nahm mir die Luft mit ihrer weichen Kaschmirjacke und ihrem teuren Parfum. Sie schluchzte an meiner Schulter. Dad stand hinter ihr und sagte irgendwas. Er lächelte, sein ganzes Gesicht lag in Falten vor lauter Lächeln. Das verwirrte mich kurz, denn Dad hatte mich früher nie so angelächelt. Zumindest kann ich mich nicht daran erinnern. Dann redeten alle durcheinander, stellten mir Fragen und musterten mich … Ich blickte von Mum zu Dad und zu dem Arzt. Es war mir alles zu laut. Ich sah, wie ihre Münder auf- und wieder zugingen, aber ich begriff nicht, was sie sagten. Ich schüttelte den Kopf.

Dann hörten plötzlich alle auf zu reden, fast gleichzeitig. Sie starrten mich erwartungsvoll an.

Mum trat einen Schritt zurück und betrachtete mein Gesicht. Ich machte den Mund auf. Ich wollte etwas sagen. Ich wollte mit ihnen reden. Ich wollte es wirklich. Ein Teil von mir, sogar ein ziemlich großer Teil, war so wahnsinnig froh, sie zu sehen, dass ich am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre. Aber ich konnte nicht weinen, konnte nicht mal sprechen. Es kam einfach nichts raus. Ich kriegte es nicht mal hin, die Arme zu heben, um sie zu umarmen. Nicht in diesem Moment. Nicht sofort.

Mum übernahm das, sie vergoss Ströme von Tränen, die meinen Hals feucht und klebrig machten. »Oh, Gemma, es muss so schrecklich für dich gewesen sein«, schluchzte sie. »Aber jetzt sind wir ja hier und ich versprech dir, es wird alles wieder gut. Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Du bist in Sicherheit.«

Ihre Sätze klangen irgendwie sonderbar, als müsste sie sich selbst überzeugen von dem, was sie sagte. Ich versuchte sie anzulächeln. Ich strengte mich wirklich an. Jeder Muskel in meinem Gesicht tat weh. Und dann war da noch der Schmerz, der in meiner Stirn dröhnte. Die Lichter in diesem Raum waren einfach zu grell.

Ich musste die Augen zumachen.

Später kam Mum allein zurück. Ihre Augen waren rot und sahen müde aus. Sie hatte jetzt ein pfirsichfarbenes Oberteil an, das frisch gebügelt war und gut roch.

»Wir hätten nicht alle auf einmal kommen sollen«, sagte sie. »Das muss schwer für dich gewesen sein … nachdem du so lange überhaupt niemanden um dich hattest außer …«

Sie brachte deinen Namen nicht über die Lippen, ihr Gesicht verzog sich schmerzlich bei dem bloßen Gedanken an dich. Ich nickte, zeigte ihr, dass ich sie verstand, und sie redete weiter.

»Die Ärzte haben mir erklärt, dass es Leuten manchmal sehr schwerfällt, wieder zurückzufinden in ihr richtiges Leben. Ich weiß, ich kann nicht von dir erwarten …« Ich sah ihr an, dass sie mit ihren Gefühlen kämpfte, aber ich begriff nicht, worum es ging. Ich runzelte die Stirn. »Ich weiß ja nicht mal, was er mit dir gemacht hat«, flüsterte sie. »Du wirkst irgendwie anders.« Sie wandte den Blick ab und biss sich auf die Lippen. Sie musste ein paarmal tief durchatmen, bis sie sich wieder gefasst hatte. »Wir haben solche Angst gehabt, Gemma«, flüsterte sie. »… wir haben gedacht, dass wir dich nie … dass du nie …«

Wieder liefen ihr Tränen übers Gesicht und ruinierten ihr Make-up. Früher hätte sie das entsetzlich gefunden. Ich sah zu, wie sich schwarze Spuren auf ihren Wangen bildeten. Sie beugte sich vor und nahm meine Hand. Ich ließ es zu. Ihre Finger waren kalt und dünn, die Nägel lang. Sie befühlte den Ring, den du mir geschenkt hattest. Erstarrt schaute ich zu, wie sie ihn an meinem Finger drehte und die Farben funkeln sah.

»Hattest du den früher auch schon?«, fragte sie.

Ich nickte. »Hab ich in der Fußgängerzone gekauft«, log ich. »Modeschmuck.«

»Ich kann mich nicht dran erinnern.«

Stille hing zwischen uns. Mum biss sich auf die Lippe. Schließlich lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück, legte die Hände in den Schoß und begann mit ihren Fingern zu spielen. Ich steckte meine Hand unter die Decke. Mit der andern zog ich mir den Ring vom Finger. Mum schaute mich lange an und runzelte besorgt die Stirn.

»Die Krankenschwester behauptet, du hättest nach ihm gefragt«, meinte sie.

»Ich wollte wissen …«

»Ich weiß schon, das ist ja verständlich.« Sie beugte sich vor und streichelte mein Gesicht. »Aber du musst dir wegen ihm keine Gedanken mehr machen, Liebling. Es ist vorbei, du kannst ihn jetzt vergessen.«

»Wie meinst du das?«

»Sie haben ihn, Gemma«, flüsterte sie. »Er hat sich im Krankenhaus gestellt. Die Polizei wird bald eine Aussage von dir wollen.«

»Aber wenn ich nicht will …?«

»Du musst. Es ist für alle das Beste.« Sie zupfte an meiner Decke herum. »Wenn du ausgesagt hast, können die Behörden Anklage erheben. Und dann sind wir einen Schritt weiter auf dem Weg, diese Bestie einzusperren. Und das willst du doch, oder?« In ihrer Stimme lag ein Zögern.

Ich schüttelte den Kopf. »Er ist keine Bestie«, sagte ich leise.

Mums Hände auf der Decke erstarrten und sie blickte mich scharf an. »Dieser Mann ist durch und durch böse«, zischte sie. »Wieso hätte er dich sonst entführt?«

»Ich weiß nicht«, flüsterte ich. »Aber er ist nicht … jedenfalls nicht so.« Ich fand nicht die richtigen Worte.

Mum wurde blass, während sie mich mit zusammengekniffenen Lippen musterte. »Was hat er nur mit dir gemacht?«, fragte sie. »Was hat er getan, dass du so über ihn denkst?«

 

 

Am nächsten Tag kamen zwei Polizeibeamte: ein dünner Mann und eine ziemlich junge Frau. Beide hielten ihre Polizeimützen in der Hand. Es waren Baseballcaps und dazu trugen sie kurzärmlige Hemden, darum wirkten sie nicht so steif wie englische Polizisten. Meine Eltern standen weiter hinten im Raum. Auch ein Arzt war da. Alle betrachteten mich, versuchten mich einzuschätzen. Ich kam mir vor wie in einem Theaterstück, in dem die andern darauf warten, dass ich meinen Text sage. Der dünne Polizist zog ein Notizbuch heraus und beugte sich so dicht zu mir, dass ich den Pickel auf seinem Kinn erkennen konnte.

»Uns ist klar, dass das hier schwer für Sie ist, Miss Toombs«, begann er. Er hatte eine näselnde, hohe Stimme und ich konnte ihn von Anfang an nicht leiden. »Leute, die länger in Gefangenschaft waren, durchlaufen oft eine Phase des Schweigens und der Verdrängung. Ihre Eltern sagen, Sie haben bisher nicht viel geredet über das, was Sie erlitten haben. Ich möchte Sie nicht bedrängen, aber …«

Ich blieb still. Er unterbrach sich und warf Mum einen Blick zu. Mit einem Nicken forderte sie ihn auf weiterzureden.

»Es ist nur so, Miss Toombs, Gemma …«, fuhr er fort. »Wir haben da einen Mann in Untersuchungshaft sitzen. Aus gutem Grund gehen wir davon aus, dass er Ihr Entführer ist. Wir brauchen aber eine Aussage, um diese Annahme zu bestätigen.«

»Wer ist es?«, sagte ich und begann den Kopf zu schütteln.

Der dünne Mann blickte in seine Notizen. »Der Beschuldigte heißt Tyler MacFarlane. Er ist 1,84 Meter groß, hat blonde Haare, blaue Augen und eine kleine Narbe seitlich …«

Mir drehte es den Magen um. Und zwar buchstäblich. Ich schnappte mir die Bettpfanne und erbrach mich.

 

 

Die Polizei machte weiter Druck. Jeden Tag kamen Beamte und stellten mir Fragen, die sie jedes Mal ein bisschen anders formulierten.

»Erzählen Sie uns von dem Mann, dem Sie auf dem Flughafen begegnet sind.«

»Hat er Sie gegen Ihren Willen mitgenommen?«

»Hat er Gewalt angewendet?«

»Drogen?«

Eine Weile lang hielt ich durch, aber am Ende musste ich doch anfangen zu sprechen. Mum war immer bei mir, auch sie drängte mich. Irgendwann zeigten sie mir dann auch Fotos. Auf manchen warst du. Auf manchen irgendwelche andern Männer.

»Ist es der hier?«, fragten sie immer wieder, während sie die Fotos für mich durchblätterten. Sie ließen nicht locker.

Du warst so leicht zu erkennen – der einzige Mann mit Feuer in den Augen. Der einzige Mann, den ich wirklich anschauen konnte. Es kam mir so vor, als würdest du nur für mich in die Kamera blicken; als wäre dir klar, dass ich diese Fotos später ansehen und dich suchen würde. Du sahst stolz aus auf diesen Bildern. So stolz, wie ein Mensch sein kann, wenn er vor der versifften Wand einer Polizeistation steht. Unter deinem Auge war eine frische Wunde. Ich hätte dieses Foto gern behalten. Aber natürlich steckte der Kommissar es wieder zurück in den braunen Briefumschlag zu den andern Aufnahmen.

Das alles zog sich lange hin. Ein paar Tage mindestens. Aber am Ende machte ich die Zeugenaussage, die sie haben wollten. Ich konnte nicht anders.

Die Zeit verschwamm durch ständige Befragungen und Behandlungen. Ich war öffentliches Eigentum geworden. Anscheinend konnte mich jeder fragen, was immer er wollte. Nichts war tabu. Die Polizistin wollte sogar wissen, ob wir Sex gehabt hatten.

»Hat er Sie dazu gezwungen, ihn anzufassen?«, fragte sie.

Ich schüttelte den Kopf. »Nie.«

»Sind Sie sicher?«

Ich redete mit Psychologen und Therapeuten, mit Ärzten für dies und Ärzten für das. Jeden Tag nahm mir eine Krankenschwester Blut ab. Ein Arzt überprüfte meinen Herzschlag auf Unregelmäßigkeiten. Auch der Schock wurde behandelt. Keiner ließ mich in Ruhe. Schon gar nicht die Psychologen.

Eines Nachmittags kam eine Frau in einem blauen Hosenanzug, die Haare zu einem Bob geschnitten, und setzte sich neben mein Bett. Der Tag war schon fast vorbei; ich hatte auf das Rattern des Essenswagens gelauscht.

»Ich bin Dr. Donovan«, sagte sie. »Ärztin für Psychiatrie hier am Krankenhaus.«

»Ich hab genug von dem ganzen Psychokram.«

»Kann ich verstehen.« Trotzdem ging sie nicht. Sie beugte sich nur ein Stück vor zu dem Klemmbrett am Ende von meinem Bett und blätterte darin. »Weißt du, was das Stockholm-Syndrom ist?«, fragte sie.

Ich antwortete nicht. Sie warf mir einen Blick zu, bevor sie selbst etwas auf dem Klemmbrett notierte.

»Wenn das Opfer eine positive emotionale Bindung zu dem Täter aufbaut«, erklärte sie, während sie sich weiter Notizen machte. »Manchmal ist das einfach eine Überlebensstrategie. Die Bindung sorgt zum Beispiel dafür, dass man sich sicherer fühlt in Gegenwart von dem, der einen gefangen hält. Sie kann auch aus Mitleid mit dem Entführer entstehen … Vielleicht ist ihm irgendwann im Leben einmal Unrecht geschehen und du willst das wiedergutmachen … du beginnst Verständnis für ihn zu entwickeln. Es gibt aber auch andere Gründe. Isolation zum Beispiel: Wenn man ganz allein mit dem Entführer ist, muss man irgendwie mit ihm klarkommen, sonst erleidet man tödliche Langeweile … Vielleicht gibt dir der Täter aber auch das Gefühl, jemand Besonderes zu sein, geliebt zu werden …«

»Ich hab keine Ahnung, worauf Sie hinauswollen«, unterbrach ich sie. »Ich fühle jedenfalls nicht so.«

»Das habe ich auch nicht behauptet. Ich habe mich nur gefragt, ob du davon weißt.« Sie sah mich ganz genau an, mit einer hochgezogenen Augenbraue. Ich wartete darauf, dass sie weiterredete. Ein bisschen neugierig war ich schon. »Egal, was er getan hat«, fuhr sie leise fort, »egal, was Tyler MacFarlane getan oder gesagt hat – du weißt, dass das, was er gemacht hat, nicht richtig war, oder, Gemma?«

»Sie klingen wie meine Mutter«, sagte ich.

»Ist das denn so schlimm?«

Als ich darauf nicht antwortete, seufzte sie tief und zog ein dünnes Buch aus ihrer Aktentasche.

»Du wirst bald entlassen«, sagte sie. »Aber die Ärzte werden nicht aufhören, dich zu löchern, bis du verstehst, bis dir klar ist, was Tyler MacFarlane getan hat …«

»Ich weiß doch, dass es falsch war, was Ty gemacht hat«, unterbrach ich sie leise. Und ich wusste es wirklich, oder? Trotzdem wollte ein Teil von mir ihr nicht ganz glauben. Ein Teil von mir hatte verstanden, warum du es getan hattest. Und es ist schwer, jemanden zu hassen, wenn man ihn versteht. Ich war total verwirrt.

Dr. Donovan schwieg und betrachtete mich, gar nicht mal unfreundlich. »Vielleicht brauchst du jemanden, der dir hilft, mit deinen Gefühlen klarzukommen?«

Ich war still und blickte starr geradeaus an die blassgraue Wand. Sie legte das Buch neben mich auf den Nachttisch. Auf dem Umschlag stand irgendwas mit »Stockholm-Syndrom«. Ich sah mir den Titel nicht genauer an.

»Irgendwann wirst du mit jemandem reden müssen, Gemma«, drängte Dr. Donovan. »Du musst möglichst bald herausfinden, was du wirklich fühlst … was wahr ist.«

Sie ließ ihre Visitenkarte auf den Nachttisch fallen. Ich nahm sie und legte sie in die Schublade, neben deinen Ring. Als sie gegangen war, starrte ich die Decke an. Mir war plötzlich kalt, ich wickelte mich enger in mein Bettzeug. Ich fühlte mich nackt … als hätte ich mich in der Wüste gehäutet, so wie Schlangen das tun. Als hätte ich einen Teil von mir irgendwo liegengelassen.

Ich überlegte, ob du wohl auch befragt wurdest. Zitternd zog ich mir die Bettdecke über den Kopf. Die Dunkelheit darunter gefiel mir.

 

 

Mum und Dad kümmerten sich um die Reporter. Sie traten im Fernsehen auf und redeten mit den Zeitungsjournalisten. Ich war ihnen dankbar dafür. Im Augenblick brachte mich schon allein der Gedanke an eine Kamera vor meinem Gesicht zum Durchdrehen.

Während beide auf einer Pressekonferenz waren, stand ich auf. Ich lief in dem engen Krankenhauszimmer, in dem ich festsaß, so lange hin und her, bis meine Gelenke wieder einigermaßen funktionierten. Das Bein mit dem Schlangenbiss war immer noch steif und schmerzte. Aber die Bewegung schien ihm gutzutun.

Ich versuchte, den Gang entlangzulaufen, wollte testen, wie weit mich das Bein wohl tragen würde. Konnte ich es schaffen, einfach nach draußen zu spazieren, raus aus dem Krankenhaus? Zwei ältere Patienten starrten mich offen an, als ich an ihnen vorbeiging. Sie wussten, wer ich war. Ihre Blicke hätten mich fast dazu gebracht, gleich wieder zurück in mein Zimmer zu rennen. Es war, als wäre ich berühmt. Ich schluckte und zwang mich dazu, einfach weiterzugehen.

Ich lief Richtung Eingangsbereich, zu den Türen mit den Streifenvorhängen, bei denen ich dich zuletzt gesehen hatte. Als ich durchging, berührte ich die harten Plastikkanten. Draußen am Empfang wartete eine schwangere Frau. Auch sie blickte zu mir herüber, aber ich ignorierte sie. Ich lief zu den automatischen Türen, die aus dem Krankenhaus führten. Als ich davorstand, öffneten sie sich mit einem technischen Surren. Draußen war es heiß und sonnig. Ich musste blinzeln vor lauter Helligkeit. Es gab Autos und Laternenmasten und Leute, Vögel zwitscherten in den belaubten Bäumen. Vor mir erstreckte sich der Asphalt des Parkplatzes. Jenseits davon war eine endlose Ebene von rotem Staub.

Ich machte einen kleinen Schritt. Aber fast im gleichen Moment tauchte neben mir eine Krankenschwester auf, die ihre Hände auf meine Arme legte und mich nicht gehen ließ.

»Du bist noch nicht entlassen«, flüsterte sie.

Sie drehte mich um und führte mich zurück in das Krankenhauszimmer. Dieses winzig kleine Zimmer … es kam mir wie eine Zelle vor mit seinen dicken Wänden und dem fehlenden Tageslicht. Sie steckte mich zurück ins Bett und zog die Decke zurecht.

 

 

Später kam Mum. Sie hatte eine Plastiktüte dabei, in der Hunderte von Zeitungsartikeln waren, alle sorgfältig ausgeschnitten.

»Ich weiß nicht, ob dir klar ist, welche Dimension das alles hat«, sagte sie. »Die ganze Welt weiß über dich Bescheid.« Sie legte die Tüte auf mein Bett und kramte einige bedruckte Seiten heraus. »Das sind nur die Beiträge, die ich gesammelt habe, seit wir England verlassen haben. Zu Hause gibt es noch mehr. Ich hab gedacht …« Sie zögerte, suchte nach den richtigen Worten. »Ich dachte, du willst vielleicht wissen, was los war, und sehen, wie wichtig du den Leuten gewesen bist.«

Ich spürte das Gewicht des Papiers auf meinen Beinen, als ich die Tüte zu mir herzog. Ich nahm einen Stapel heraus. Als Erstes fiel mir das Foto auf. Das letzte Schulfoto von mir prangte in riesiger Vergrößerung auf der Titelseite der Zeitung The Australian. Meine Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und die Bluse der Schuluniform lag eng an meinem Hals. Ich konnte dieses Foto nicht ausstehen, ich hatte es noch nie gemocht. Flüchtig blätterte ich noch ein paar andere Artikel durch. Das Foto war fast immer mit abgedruckt.

»Warum habt ihr ihnen dieses Bild gegeben?«, fragte ich.

Mum runzelte die Stirn und zog es zu sich herüber. »Das ist doch schön.«

»Ich sehe so jung aus.«

»Die Polizei brauchte ein möglichst aktuelles Bild, Liebling.«

»Musste es denn ein Schulfoto sein?« Ich dachte in diesem Augenblick an dich, wie du irgendwo in einer Zelle hocktest. Ob du diese Zeitungsartikel wohl auch gelesen hattest? Hattest du das Foto gesehen?

Ich überflog die Artikel.

Die 16-jährige Gemma Toombs, die vom Flughafen Bangkok entführt wurde, ist in ein entlegenes Krankenhaus in Westaustralien eingeliefert worden. Offensichtlich wurde sie von ihrem Entführer dort hingebracht … 

Die besorgten Eltern von Gemma Toombs chartern ein Flugzeug, um möglichst schnell wieder an der Seite ihrer Tochter zu sein … 

Auf dem Foto dazu war Mum mit fleckigem, verweintem Gesicht zu sehen, und neben ihr Dad, der seinen Arm um sie legte. Anna stand in der Menge hinter ihnen, sie starrte scheu in die Kamera.

Es waren wahnsinnig viele Artikel und in den meisten stand das Gleiche. Ich überflog die Schlagzeilen.

Gemma gefunden! 

Gemma Toombs von Wüsten-Streuner freigelassen! 

Ist dies das Gesicht eines Monsters? 

Hier blieb ich kurz hängen. Die Zeitung von gestern. In der Mitte des Artikels war eine Zeichnung von dir abgebildet. Mit gesenktem Kopf und in Handschellen in einem Gerichtssaal sitzend … Deine blauen Augen fehlten in der groben Skizze. Ich überflog den Artikel auf der Suche nach näheren Informationen. Da stand, es habe sich bei dem Termin um eine erste Anhörung gehandelt, die nur wenige Minuten dauerte. Die ganze Zeit über hattest du den Kopf gesenkt gehalten. Und nur zwei Worte gesagt: »Nicht schuldig.«

Ich blickte hoch zu Mum.

»Ich weiß.« Sie schüttelte den Kopf. »Er muss verrückt sein. Damit kommt er nie im Leben durch. Es gibt Zeugen, außerdem die Videobänder vom Flughafen und dann natürlich dich. Wie kann er sich da bloß einbilden, er könnte auf ›nicht schuldig‹ plädieren?« Ärgerlich schüttelte sie den Kopf. »Das ist doch ein ganz klarer Beweis dafür, dass er geistesgestört ist.«

»Was hat er sonst noch gesagt?«

»Bis jetzt nichts. Wir müssen auf den Prozess warten. Die Polizei glaubt, er wird sagen, du wärst freiwillig mit ihm gegangen; du hättest mitkommen wollen.« Sie unterbrach sich abrupt, als hätte sie Angst, vielleicht zu viel gesagt zu haben. Sie konnte nicht einschätzen, wie ich reagieren würde. Ich erkannte an ihren Augen, dass sie immer noch nicht wusste, wie groß dein Einfluss auf mich war.

Ich lächelte, bedankte mich für die Artikel und versuchte sie zu beruhigen. »Stimmt, das ist verrückt.«

Mum begann nervös herumzukramen und die Zeitungsausschnitte wegzuräumen, obwohl ich noch gar nicht fertig war. »Möchtest du gern zurück nach London?«, fragte sie. »Bis zum Prozess? Dann könnten wir uns richtig vorbereiten. Vielleicht willst du ein bisschen Zeit, um mit deinen Gedanken ins Reine zu kommen, oder für deine Freunde?«

Ich nickte abwesend. »Ich will nur, dass es vorbei ist«, sagte ich. »Dass einfach alles vorbei ist.«

 

 

Wir müssten in Perth umsteigen auf dem Rückweg nach London. Dort würden wir in unserm Haus warten, bis der Prozess begann. Bis dahin würde die Polizei Beweismaterial gegen dich sammeln und ich würde mich auf meine Aussage vorbereiten. Wenn ich das Gefühl hätte, damit klarzukommen, würde ich wieder zur Schule gehen, und ich würde weiter mit irgendwelchen Psychologen reden müssen. Als Mum mir das erklärte, klang es einfach und klar.

»In ein paar Monaten wird das Leben dann allmählich wieder leichter«, sagte sie. »Du wirst schon sehen. Alles wird wieder gut.«

Ich hatte nicht viel in Erfahrung bringen können über dich. Ich wusste, dass du irgendwo in Perth in einem Sicherheitstrakt festgehalten wurdest. Du hattest eine Einzelzelle. Du konntest nicht auf Kaution freikommen und du sprachst mit niemandem. Mehr konnte mir die Polizei nicht sagen.

Auf dem Flug nach Perth saß ich auf einem Fensterplatz. Es war ein kleines Flugzeug, extra für uns gechartert, und es ratterte und bebte, als die Räder vom Boden abhoben. Ich fand es seltsam, dass wir die Einzigen an Bord waren. Anscheinend hatte die britische Regierung den Flug bezahlt. Ich rief eine Stewardess und fragte nach einem Glas Wasser. Sie brachte es sofort.

Ich presste die Hand gegen die Fensterscheibe aus Plastik, während wir langsam immer höher stiegen. Dad nahm meine andere Hand und drückte sie fest. Ich fühlte die Kälte seines goldenen Eherings an meinen Fingern. Er redete mit mir über mein Leben in London, über meine Freunde, die sich immer wieder gemeldet hatten und mich bald sehen wollten … über Anna und Ben.

»Vielleicht kannst du sie einladen«, sagte er. »Du könntest ja so was wie … eine Party machen …«

Seine Stimme klang fragend, also nickte ich; aber ich war nicht bei der Sache. Ich wollte, dass er aufhörte mit seinen Fragen, auch wenn sie gut gemeint waren. Ich schloss die Augen, als mir plötzlich etwas klar wurde: Keiner hatte die geringste Ahnung; keiner wusste, was wirklich in mir vorging. Ich schien in einer Art Parallelwelt zu leben, wo ich Gedanken und Gefühle hatte, die keiner sonst verstand. Vielleicht mit Ausnahme von dir. Aber nicht mal das wusste ich.

Ich legte den Kopf an die Fensterscheibe, die gegen meine Schläfe rumpelte, und betrachtete die vorbeiziehende Landschaft unter mir. Von hier oben bestand die Wüste aus so vielen Farben … so vielen Abstufungen von Braun und Rot und Orange. Da waren die Betten ausgetrockneter Wasserläufe und die weißen Salzpfannen. Ein dunkler Fluss, der sich wand wie eine Schlange. Schwarz verbrannte Gegend. Wirbel und Kreise und Linien und Strukturen. Die winzigen Punkte einzelner Bäume. Die dunklen Flecken von Felsen. All das breitete sich zu einer endlosen Weite von Mustern aus.

Es dauerte zwei Stunden, bis all die vielen Kilometer, all die Milliarden von Sandkörnern, all das Leben überquert war. Von hier oben, hoch oben, sah das Land wie ein Kunstwerk aus, wie eins von deinen Kunstwerken. Wenn ich die Augen ein bisschen zusammenkniff, konnte ich mir fast vorstellen, das Land da unten wärst du … lang ausgestreckt und gewaltig groß.

Und da begriff ich es. Ich wusste plötzlich, was du die ganze Zeit über getan hattest, in diesem Schuppen in der Wüste. Du hattest das Land gemalt, wie es von oben aussah, so wie ein Vogel es sehen würde oder ein Geist oder ich … deine Wirbel, deine Punkte und Kreise zeichneten das Muster des Landes nach.

 

 

Die Reporter warteten auf uns. Sie hatten herausgefunden, dass wir vom Inlands- zum Auslands-Terminal mussten und dass wir bis zu unserm Anschlussflug nach Hause drei Stunden Aufenthalt hatten. Sie umzingelten uns, rückten mir immer dichter auf den Leib und feuerten ihre Blitzlichter auf mich ab.

»Gemma, Gemma«, riefen sie. »Können wir dich kurz sprechen?« Als würden sie mich kennen; als wäre ich ein Schulmädchen aus der Nachbarschaft.

Dad wollte mich abschirmen und versuchte sie wegzudrücken, aber sie ließen sich nicht vertreiben. Sogar die ganzen anderen Menschen am Flughafen, die Passagiere und die Taxifahrer und das Personal in den Coffeeshops – sogar sie wussten, wer ich war. Ich sah, wie manche von ihnen Fotos von mir machten. Es war absurd. Schließlich zog Mum ihre Jacke aus und legte sie mir über den Kopf. Dad wurde richtig wütend, jedenfalls für seine Verhältnisse. Er sagte sogar zu irgendwem, dass er sich verpissen soll. Das überraschte mich; für einen Moment hielt ich inne und sah ihn genau an. Ihm lag wirklich was an mir, er wollte, dass ich in Sicherheit war. Er hielt mich eng an sich gedrückt, als wir an einem Kamerateam vorbeikamen.

Eins jedenfalls war klar, ich war kein normales Schulmädchen mehr. Ich war zu einer Berühmtheit geworden. Mit meinem Gesicht konnte man Zeitungen verkaufen. Millionenfach. Mein Gesicht brachte Leute dazu, die Fernsehnachrichten anzuschalten. Aber in diesem Moment, mit der Jacke über meinem Kopf und diesen vielen Männern, die mich alle anschrien, fühlte ich mich eher wie eine Verbrecherin. Diese Leute waren Blutegel, sie wollten aus mir heraussaugen, was zwischen dir und mir in der Wüste passiert war, sie wollten jede noch so kleine Einzelheit erfahren … alles wollten sie wissen. Du hast mich berühmt gemacht, Ty. Du hast dafür gesorgt, dass sich die ganze Welt in mich verliebt. Und ich habe es gehasst.

Wir schafften es, zum anderen Terminal zu kommen. Auch dort warteten Reporter und Schaulustige und Polizisten und Lichter und Lärm und Lärm und Lärm. Mein Atem ging immer schneller. Ich dachte nur noch an das riesige Flugzeug, an die Startbahn, an alles, was mich zurück nach England verfrachten wollte, zurück in die Kälte, in die große graue Stadt … an alles, was mich von dir wegbringen wollte.

Ich konnte das einfach nicht. Ich riss mich von Mum und Dad los. Ich rannte weg. Mum versuchte mich an meiner Strickjacke zu packen, aber am Ende hielt sie nur die leeren Ärmel fest. Ich rannte einfach an den Presseleuten vorbei. Ich rannte auch an den Läden und an den andern Passagieren vorbei bis zu den Toiletten. Dort fand ich eine leere Kabine. Ich trat gegen die Tür, um ganz sicher zu sein, dass sie wirklich zu war, und verriegelte das Schloss. Dann setzte ich mich auf die Toilette und ließ meinen Kopf auf die Klopapierrolle sinken. Ich presste sogar meinen Mund dagegen, um mich davon abzuhalten, laut loszuweinen oder zu brüllen und zu toben und alles um mich herum kurz und klein zu schlagen. Ich atmete den Geruch nach Kalk und künstlichem Blumenaroma ein und blieb einfach dort sitzen. Ich konnte diesen Leuten nicht ins Gesicht sehen, keinem von ihnen. Alle wollten Antworten von mir, die zu geben ich nicht im Stande war.

Mum fand mich. Sie stand auf der anderen Seite der Toilettentür, die Spitzen ihrer roten Schule einander zugewandt.

»Gemma?«, sagte sie. Ihre Stimme schwankte und klang schwach. »Komm schon, Liebes, mach einfach die Tür auf. Hier kommt sonst keiner rein. Ich hab Dad gesagt, er soll dafür sorgen. Da ist keiner außer uns beiden.«

Sie stand ewig lang da, bevor ich das Schloss aufsperrte. Sie kam in die Kabine und nahm mich ungeschickt in den Arm, während ich auf dem Klodeckel saß und sie halb neben mir kniete, mitten im Dreck, zwischen Klopapierfetzen und Pissespritzern. Sie zog mich auf ihren Schoß und zum ersten Mal, seit sie hierhergekommen war, erwiderte ich ihre Umarmung. Als sie sich an die Kloschüssel lehnte und mich mit ihrer Jacke einhüllte, kam mir ein Gedanke. Diese Mum, die mich gerade so innig festhielt, wirkte überhaupt nicht wie die Mum, von der du gesprochen hattest. Zum ersten Mal fragte ich mich, ob die ganzen Geschichten, die du mir in der Wüste erzählt hattest, überhaupt wahr waren; all diese Gespräche, die du angeblich insgeheim mit angehört hattest – darüber, dass meine Eltern wegziehen wollten oder dass sie enttäuscht von mir waren. Hattest du mich die ganze Zeit über angelogen?

Mum streichelte sanft über meine Haare. Ich schmiegte mich an ihre Schulter und begann zu flüstern.

»Ich kann nicht zurück. Noch nicht. Ich kann hier nicht fort.«

Und sie drückte meinen Kopf eng an ihre Brust und schlang die Arme noch fester um mich.

»Das musst du nicht«, sagte sie und wiegte mich. »Du musst überhaupt nichts tun, was du nicht willst, jetzt nicht mehr.«

Da weinte ich.

 

 

Während der Taxifahrt in die Stadt sagte keiner von uns ein Wort. Ich kuschelte mich die ganze Zeit über in Mums Arme. In meinem Kopf schwirrte es, als ich mir in Erinnerung rief, was du mir über mein Leben erzählt hattest. Du hattest gesagt, ich wäre meinen Eltern nicht wichtig, es ginge ihnen nur um sich selbst und ums Geld. Du hattest behauptet, sie wollten umziehen. Und du hattest so überzeugend geklungen.

Ich musste mich zwingen, meine Gedanken auszublenden. Ich hatte keine Ahnung, was passieren würde, falls ich wieder ins Grübeln kam. Wahrscheinlich würde ich mich mit voller Absicht aus dem Taxi fallen und überfahren lassen. Dad dachte über unser Gepäck nach und überlegte, wo wir jetzt hinkonnten. Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf den vorbeischießenden Beton … die Gehwege, die Gebäude und wieder die Gehwege, nur ab und zu gab es einen Baum. Ich vergrub mich in den leicht süßen Geruch von Mums Bluse.

Der Fahrer blieb vor einem dunkelgrauen Apartmentblock stehen.

»Wohnungen mit Service«, grunzte er. »Sind neu. Keiner weiß, dass die schon aufgemacht haben.« Er wartete auf sein Trinkgeld.

Wir gingen hinein an die Rezeption. Mein leerer Gesichtsausdruck verbarg, was in mir vorging. Mum nahm den Apartmentschlüssel und führte mich durchs Foyer. Dad blieb zurück, um unsere Situation zu erklären. Meine Beine zitterten auf dem Weg die Treppen hoch; Mum musste mir helfen.

Kaum waren wir oben, drehte ich durch. Ich knallte die Tür zu, schnappte mir das Erstbeste, was mir in die Finger kam – eine Lampe –, und donnerte sie gegen die frisch gestrichene beige Wand. Der Lampenfuß aus Porzellan zersprang beim Aufprall, Scherben flogen überall herum. Dann griff ich nach etwas anderem – einer Blumenvase – und schleuderte auch sie gegen die Wand. Mum krümmte sich zusammen, um nicht getroffen zu werden. Mit großen Augen, in denen der Schock stand, begann sie sich auf mich zuzubewegen, aber ich schnappte mir den nächstbesten Gegenstand und hielt ihn ihr entgegen, bevor sie bei mir angekommen war. Es war ein kleiner Ventilator, der am Strom hing und dessen Metallblätter schwirrten. Das Kabel lief straff gespannt über meine Arme. Im Zweifelsfall würde ich auch den werfen.

»Was ist los?« Ihre Augen blickten direkt in meine.

Ich schüttelte den Kopf. Tränen liefen mir übers Gesicht. »Antworte mir«, flüsterte ich. »Habt ihr vorgehabt, nächstes Jahr wegzuziehen, ohne mich? Hast du jemals mit Dad über so was geredet?«

»Was?« Mums Augenbrauen schossen in die Höhe. »Nein, was für ein Blödsinn! Wer hat dir das erzählt?«

Sie machte einen Schritt auf mich zu, aber ich hielt den Ventilator zwischen uns und war bereit, ihn in ihr Gesicht zu schleudern. Der Stecker rüttelte an der Steckdose. Mum sah in meinen Augen, dass es wohl besser war, jetzt nicht näher auf mich zuzukommen. Ich zitterte am ganzen Körper und war dabei, komplett auszurasten.

»Ich hasse das, ich hasse alles«, brüllte ich mit brechender Stimme. »Ich hasse sogar ihn, sogar ihn.« Ein tiefer Schluchzer stieg in meiner Brust hoch.

Und es stimmte. In diesem Moment hasste ich dich wirklich. Ich hasste dich für alles: dafür, dass ich mich wegen dir überall komplett hilflos fühlte und die Kontrolle verlor. Ich hasste dich für die ganzen Gefühle in mir, für meine Verwirrung … und dafür, dass ich plötzlich alles anzweifelte. Ich hasste dich dafür, dass du mein Leben erst komplett auf den Kopf gestellt und dann in tausend Scherben zerbrochen hattest. Ich hasste dich dafür, dass ich jetzt mit einem surrenden Ventilator in der Hand dastand und meine Mutter anbrüllte.

Aber ich hasste dich auch wegen etwas anderem. In diesem Augenblick und in jeder Sekunde, seit du mich verlassen hattest, konnte ich nur noch an dich denken. Ich wollte, dass du hier in diesem Apartment wärst. Ich wollte deine Arme um mich spüren, dein Gesicht nah an meinem. Ich wollte dich riechen. Und ich wusste genau, dass ich das nicht haben konnte – nicht haben sollte. Das hasste ich am meisten. Das Ungewisse an dir. Du hattest mich entführt, mein Leben in Gefahr gebracht … aber ich liebte dich auch. Oder glaubte zumindest, dich zu lieben. Das ergab alles überhaupt keinen Sinn.

Ein Knurren stieg aus meiner Kehle vor lauter Frust über mich selbst. Vorsichtig machte Mum einen Schritt auf mich zu.

»Es ist okay, wenn du verwirrt bist«, flüsterte sie. »Die Leute, die … an denen uns was liegt … das sind eben nicht immer die, an denen uns etwas liegen sollte …« Sie runzelte unsicher die Stirn und fragte sich wohl, ob sie richtiglag.

Da drang ein Geräusch durch meine Zähne, das von tief unten in meiner Brust kam.

»Erzähl mir nichts«, fauchte ich. »Kein Wort mehr!«

Mit einem Ruck riss ich den Ventilator aus der Steckdose und reckte ihn hoch, um sie abzuwehren. Als ich ihn wild herumfuchtelnd in ihre Richtung hielt, sprang sie weg und stolperte dabei über den Couchtisch.

»Aber Gemma!«, flüsterte sie. »Ich liebe dich doch.«

Und da schmetterte ich den Ventilator in die gleiche Richtung wie die Lampe. Seine Blätter schwirrten noch immer leise, als er gegen die Wand knallte.

 

 

Wir sind in Perth geblieben. Obwohl ich die halbe Einrichtung zertrümmert habe, durften wir weiter dort wohnen. Die Leute von dem Apartmenthaus haben sich von Dads Geld überzeugen lassen. Es dauert noch über einen Monat bis zum Prozess, obwohl das Gericht bereit ist, deinen Fall vorzuziehen.

Meine Gefühle springen hin und her. An manchen Tagen tut es gut zu wissen, dass du hier bist, in der gleichen Stadt, ganz in meiner Nähe. An anderen Tagen macht mir der gleiche Gedanke Angst. So oder so, ich denke jeden Abend an dich und stelle mir vor, wie du in deiner Zelle sitzt. Mein Magen rebelliert immer noch, wenn Mum das Fenster aufmacht und der Eukalyptusgeruch von draußen ins Zimmer zieht.

Das Apartment fühlt sich ein bisschen wie ein Gefängnis an – das viele Grau und die Sauberkeit; und nicht rauszukönnen, ohne dass irgendwer Fotos von mir macht. Durch die Fenster starre ich hinaus in die Stadt … sehe den Beton und die Häuser, die Autos und Anzüge. An manchen Tagen stelle ich mir das Land vor, das unter alldem liegt, rot und ruhig; das Land, das du liebst. Ich male mir aus, wie es eines Tages wieder lebendig wird. Dann driften meine Gedanken weg in die Wüste; in diese weite, offene Gegend voller Farben und Muster.

Der Typ von der Polizei, der für den Fall zuständig ist, war schon zweimal hier. Nach der Sache mit dem Ventilator hat Mum außerdem Dr. Donovan angerufen. Sie kommt fast jeden Tag und es ist okay, mit ihr zu sprechen. Sie drängt mich nicht weiter, lässt mich einfach reden, wenn ich will … wenn ich kann.

 

 

Es war Dr. Donovans Idee, dass ich das hier schreibe. Natürlich hat sie nicht gesagt, ich soll an dich schreiben. Sie hat mir nur den Laptop gegeben und gesagt, ich soll alles aufschreiben.

»Wenn du über das, was du erlebt hast, nicht reden kannst, dann schreib es auf«, hat sie gesagt. »Werd deine Gedanken los, egal wie, vielleicht in einem Tagebuch … einfach so, wie’s dir am leichtesten fällt. Es ist wichtig, dass du versuchst, die Dimension des Ganzen zu erfassen, zu verstehen, was dir da passiert ist.«

Und ich versuche es wirklich, das kannst du mir glauben. Ich würde das alles furchtbar gern verstehen. Aber das kann ich nur, indem ich dieses Tagebuch hier schreibe – diesen Brief an dich. Schließlich warst nur du allein mit mir da draußen … du bist der Einzige, der weiß, was passiert ist. Und da ist was passiert, das stimmt doch, oder? Etwas Mächtiges, Seltsames. Etwas, das ich nie mehr vergessen werde, nicht vergessen kann, egal wie sehr ich mich anstrenge.

Dr. Donovan glaubt, ich hätte das Stockholm-Syndrom. Alle glauben das. Ich weiß, dass es Mum Angst macht, wenn ich irgendwas Gutes über dich äußere; wenn ich sage, dass du nicht so böse bist, wie die Leute meinen, oder dass die Zeitungen keine Ahnung haben, wie du wirklich bist. Und immer wenn ich irgendwas in der Art zu Dr. Donovan sage, macht sie sich furchtbar viele Notizen und nickt vor sich hin.

Deshalb habe ich damit aufgehört. Stattdessen erzähle ich ihnen, was sie hören wollen. Ich sage ihnen, dass du wirklich eine Bestie und total verrückt bist. Ich rede ihnen ein, mein einziges Gefühl für dich wäre Hass. Ich füge mich und tue alles, was die Polizei will. Ich habe auch eine schriftliche Aussage gemacht, in der genau das drinsteht, was sie von mir hören wollen.

Ich wünschte, ich hätte das Gedächtnis verloren, damit ich mich nicht daran erinnern müsste, wie du aussiehst. Ich wünschte, ich könnte mich darüber freuen, dass du für zehn oder fünfzehn Jahre in den Knast musst. Ich wünschte, ich könnte alles glauben, was die Zeitungen schreiben. Oder was mir meine Eltern erzählen. Oder Dr. Donovan. Dabei ist es nicht mal so, dass ich ihre Sicht der Dinge nicht nachvollziehen kann. Auch ich habe mir gewünscht, du wärst tot.

Und reden wir doch Klartext: Du hast mich ja wirklich entführt. Aber du hast mir auch das Leben gerettet. Und irgendwo dazwischen hast du mir einen Ort gezeigt, der derart anders und so schön ist, dass ich ihn nie mehr aus dem Kopf kriegen werde. Und dich werde ich auch nie mehr aus dem Kopf kriegen. Du steckst fest in meinem Hirn, als würdest du dahin gehören.

 

 

Eben habe ich eine kleine Pause gemacht und bin ein bisschen in dem Garten rumgelaufen, der zu der Apartmentanlage gehört. Es ist eigentlich gar kein richtiger Garten, nur ein gepflastertes Areal mit ein paar Topfpflanzen und Sträuchern. Ich habe mich auf die Platten gesetzt und die Hochhäuser um mich herum betrachtet. Ich konnte deine Gegenwart fast körperlich spüren; du warst irgendwo hier in dieser Stadt, nicht weit weg. Fast konnte ich dein leises Husten hören. Auch du hast gerade an mich gedacht. Ich habe die Augen zugemacht und mir vorzustellen versucht, wie es sein wird. Werde ich Angst haben, wenn ich dich sehe, oder werde ich was anderes fühlen?

Du wirst gefesselt sein, deine starken Arme bewegungslos. Du wirst nicht im Stande sein, mir etwas anzutun. Du wirst mich auch nicht berühren können. Wird dein Blick flehend sein oder wird er sich voll Wut in meine Augen bohren? Wie haben sie dich im Gefängnis behandelt? Hast du wieder Albträume? Eines jedenfalls ist klar: Wenn wir uns das nächste Mal gegenüberstehen und ich dich anschaue, wird der ganze Rechtsapparat zwischen uns stehen.

Ich habe mir eingebildet, dass ich etwas verstehen würde, wenn ich an diesem Punkt in meinem Brief angekommen bin. Dass ich begreifen würde, wie das alles passieren konnte, wieso du in mein Leben getreten bist … warum du mich gewählt hast. Manchmal glaube ich, dass du immer noch genauso kaputt bist wie an diesem Tag im Park, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Und manchmal denke ich an deinen Plan, dort draußen in der Hitze, in der endlosen Weite und Schönheit zu leben, und überlege, ob es hätte klappen können. Meistens weiß ich allerdings nicht, was ich denken soll.

Aber das alles hier aufzuschreiben, macht etwas mit mir. Wenn ich im Bett sitze und schreibe, kann ich beinahe hören, wie der Wind über den Sand fegt oder wie die Holzbalken um mich herum ächzen. Ich kann fast das staubige Kamelfell riechen und die bittere Salzmelde schmecken. Und wenn ich träume, spüre ich deine warmen Hände auf meinen Schultern. In deinem Flüstern liegen Geschichten, es klingt wie das Rascheln des Spinifex. Und weißt du, ich trage immer noch diesen Ring … nachts, wenn es keiner sieht. Auch jetzt habe ich ihn bei mir in der Tasche. Ich werde ihn verstecken, bevor heute Nachmittag die Polizeibeamten kommen.

Sie wollen besprechen, was ich sage, wenn ich in den Zeugenstand gerufen werde. Und vermutlich sollte ich jetzt lieber darüber nachdenken. Es ist nur … ich weiß immer noch nicht genau, wie es sein wird. Dieser Tag vor Gericht kann auf zwei Arten enden … anfangen wird er allerdings gleich.

 

 

Es wird ein Montagmorgen sein, kurz vor neun. Die Presse wird warten. Ich werde mit gesenktem Kopf zwischen Mum und Dad laufen. Wir müssen uns an Reportern und Passanten und Gaffern vorbeidrängeln. Manche von ihnen werden mich anfassen und mir ein Mikrofon unter die Nase halten. Mum umklammert meine Hand so fest, dass sich ihre Fingernägel in meine Haut bohren. Dad wird einen Anzug tragen. Mum hat für mich auch irgendwas Dunkles, Seriöses ausgesucht.

Wir werden das Gerichtsgebäude betreten und es wird auf einen Schlag leiser sein. Eine große, elegante Eingangshalle wird uns einhüllen, überall sind Anzugträger. Wir werden Mr Samuels, den Staatsanwalt, suchen. Er fragt mich, ob ich Gelegenheit gehabt habe, meine schriftliche Aussage noch mal durchzulesen. Dann wird er meine Eltern in den Gerichtssaal führen, den Hauptgerichtssaal, und einen kurzen Moment lang höre ich Stimmen und Schritte, bis die Tür wieder ins Schloss fällt. Dann werde ich warten müssen, auf einem kalten, lederbezogenen Stuhl, ganz allein mit meinen Gedanken.

Nach einer Weile, und diese Zeit wird sich länger anfühlen, als sie ist, öffnet sich wieder die Tür. Jetzt komme ich an die Reihe. Es ist Zeit für meine Zeugenaussage. Die Luft wird mir vorkommen wie ein straff gespanntes Trampolin, das auf meinen Sprung wartet. Alle werden mich anschauen. Auch wenn sie es selbst unhöflich finden, sie werden es trotzdem tun. Der Gerichtszeichner fängt an, mein Gesicht zu skizzieren. Aber ich werde nur eine einzige Person ansehen.

Du wirst auf der Anklagebank sitzen, deine starken Hände gefesselt. Auch du suchst meinen Blick, und deine Augen sind wie der Ozean. Du brauchst mich jetzt. Und ich werde meine Entscheidung treffen. Dann werde ich mich von dir abwenden.

Und es wird genau so anfangen, wie es vorgesehen ist. Ich werde nach meinem Namen gefragt, nach meinem Alter, meiner Adresse. Dann fängt es an, interessant zu werden. Sie werden mich fragen, woher ich dich kenne.

Im ersten Fall werde ich ihnen genau das sagen, was sie hören wollen. Ich werde ihnen erzählen, wie du mich verfolgt hast, wie du … mich gestalkt hast … schon als ich noch klein war. Ich erzähle ihnen, dass du nach England gekommen bist, um deine Mutter zu suchen, aber nur Alkohol und Drogen gefunden hast … und schließlich mich. Ich werde ihnen von deiner Unfähigkeit berichten, dich anzupassen, von deinen verqueren Gedanken über die Wüste und von deiner festen Überzeugung, ich wäre dein einziger Ausweg.

Dann wird mich der Anwalt über die Szene am Flughafen befragen und ich werde ihm sagen, dass du mich unter Drogen gesetzt und entführt hast. Dass du mich in den Kofferraum deines Autos gesteckt und mich gegen meinen Willen festgehalten hast. Ich erzähle ihnen von den langen, einsamen Nächten in der kleinen Holzbaracke und wie du mich im Bad eingesperrt hast … und dass ich immer damit gerechnet habe, du bringst mich um. Ich werde ihnen von deinen Wutausbrüchen und deinen Stimmungsschwankungen erzählen, von deinen Lügen, und ich werde ihnen auch erzählen, dass du mich manchmal so fest gepackt hast, dass mir die Tränen in die Augen stiegen und meine Haut rot wurde.

Ich werde dich nicht anschauen, während ich meine Aussage mache. Ich sage einfach das, was sie erwarten.

»Er ist ein Monster«, werde ich sagen. »Ja, er hat mich entführt.«

Und der Richter wird seinen kleinen Hammer niedersausen lassen und dich zu fünfzehn Jahren oder so verurteilen, und alles – alles – wird endlich vorbei sein.

 

 

Aber es kann auch anders laufen.

Ich könnte dem Gericht eine Geschichte erzählen über den Tag im Park, als wir uns zum ersten Mal trafen, lange her, als ich zehn war und du fast neunzehn. Als ich dich unter den Rhododendronbüschen entdeckt habe, in Laub gehüllt und mit rosigen Blüten über deinem Kopf, die sich gerade zu öffnen begannen. Ich könnte ihnen erzählen, wie wir Freunde wurden, wie du mit mir geredet und auf mich aufgepasst hast. Ich könnte ihnen erzählen, wie du mich vor Josh Holmes gerettet hast.

Mr Samuels wird dann natürlich versuchen, mich zu unterbrechen. Sein Gesicht wird rot und vor Überraschung werden seine Augen vortreten. Vielleicht wird er dem Richter sagen, meine Aussage sei unzuverlässig, weil ich immer noch unter dem Stockholm-Syndrom leide. Aber ich werde ruhig und gefasst sein und genau darlegen können, dass das nicht der Fall ist. Ich habe mich vorbereitet. Ich weiß genau, was ich sagen muss, damit sie mir glauben.

Also wird mich der Richter weiterreden lassen, zumindest für eine Weile. Dann werde ich alle überraschen. Ich werde dem Gericht erzählen, wie wir uns ineinander verliebt haben. Nicht erst in der Wüste, natürlich nicht, sondern auf unsern Wegen durch die Straßen und Parks von London vor zwei Jahren, als ich vierzehn war und deiner Mutter so ähnlich sah.

Ein Flüstern und Rascheln wird durch den Gerichtssaal gehen. Mum wird vielleicht aufschreien. Ich weiß, dass es schwer sein wird, sie nach dem, was jetzt kommt, noch anzuschauen, darum lasse ich es lieber und blicke stattdessen dich an. Ich werde behaupten, dass ich abhauen wollte.

Du wirst mir kurz zunicken und dein Blick wird wieder lebendig. Und dann werde ich ihnen von deinem Plan erzählen.

Du hast gesagt, du wüsstest einen perfekten Ort, an den wir gehen könnten. Einen Ort, an dem es keine Menschen gibt und keine Häuser, einen Ort sehr weit weg. Einen Ort, der von blutroter Erde bedeckt ist, in der das Leben schläft. Einen Ort, der sich danach sehnt, wieder lebendig zu werden. Einen Ort zum Verschwinden, einen Ort, um sich zu verlieren … und einen Ort, um gefunden zu werden.

Ich bring dich dorthin, hättest du gesagt.

Und ich könnte behaupten, ich hätte zugestimmt.

 

 

Meine Hände zittern, während ich diese Sätze tippe. Tränen laufen mir übers Gesicht und der Bildschirm verschwimmt vor meinen Augen. Mein Brustkorb tut mir weh vor lauter unterdrückten Schluchzern. Weil es etwas gibt, das an mir zerrt, etwas, an das zu denken unendlich schwer ist.

Ich kann dich nicht auf diese Art retten, Ty.

Was du getan hast, war nicht so wunderbar und toll, wie du glaubst. Du hast mich aus allem rausgerissen – weg von meinen Eltern, meinen Freunden, meinem Leben. Du hast mich in den Sand und in die Hitze gebracht, in den Dreck und in die Einsamkeit. Und du hast von mir erwartet, dass ich dich liebe. Und das ist das Schwerste. Weil ich das getan habe, zumindest habe ich irgendwas da draußen geliebt.

Aber ich habe dich auch gehasst. Das kann ich nicht vergessen.

Draußen ist es total finster, die Zweige der Bäume klopfen gegen die Fensterscheibe … wie Finger. Ich ziehe die Bettdecke hoch, auch wenn mir nicht kalt ist, und starre hinaus ins Schwarz hinter dem Glas. Weißt du, wenn wir uns vielleicht ganz normal begegnet wären … vielleicht wäre dann alles ganz anders geworden. Vielleicht hätte ich dich lieben können. Du bist so anders gewesen, so ungezähmt. Wenn am frühen Morgen das Licht deine nackte Haut schimmern ließ, warst du das Schönste, was ich je gesehen habe. Dich in eine Gefängniszelle zu stecken ist, als würde man einen Vogel mit einem Panzer überfahren.

Aber was kann ich sonst tun, außer dir all das zu sagen? Außer meine Geschichte aufzuschreiben, unsere Geschichte, um dir zu zeigen, was du getan hast … um dir begreiflich zu machen, dass es nicht in Ordnung war, dass es falsch war.

Wenn ich vor Gericht trete, werde ich die Wahrheit sagen. Meine Wahrheit. Ich werde natürlich aussagen, dass du mich entführt hast. Denn das hast du getan. Und ich werde erzählen, wie du mich unter Drogen gesetzt hast und deine Stimmung immer wieder gekippt ist. Ich werde nicht davor zurückschrecken, vor Gericht zu sagen, wie böse du sein kannst.

Aber ich werde auch von deiner anderen Seite erzählen. Von der Seite, die ich erlebte, wenn du sanft mit dem Kamel geredet oder zärtlich die Blätter der Salzmelde berührt hast; und wie du dem Land immer nur genommen hast, was du zum Leben brauchtest. Ich werde davon erzählen, wie du mich gerettet hast. Und dass du dich entschieden hast, lieber ins Gefängnis zu gehen, als mich sterben zu lassen. Denn das hast du getan. Von dem Moment an, als mich die Schlange gebissen hat, wusstest du, dass alles vorbei war. Als ich dich angebettelt habe, dass du bei mir im Flugzeug bleibst, war dir klar, dass du dich dann stellen müsstest. Und ich bin dir dankbar, Ty, versteh das nicht falsch. Aber auch ich habe mein Leben für dich aufgegeben, damals am Flughafen in Bangkok. Und ich hatte keine Wahl.

Der Richter wird dich verurteilen. Das kann ich nicht verhindern. Aber vielleicht wird meine Aussage beeinflussen, wohin sie dich bringen … irgendwo in die Nähe von deinem Land, diesmal in einen Raum mit Fenster. Vielleicht. Und vielleicht hilft dir auch dieser Brief. Ich will, dass du weißt, du hast eine Wahl: Du kannst der Mensch sein, der stundenlang neben dem Kamel hergerannt ist, um mein Leben zu retten. Ich kann dich nicht auf die Art retten, wie du es dir von mir wünschst. Aber ich kann dir von meinen Gefühlen erzählen. Das ist nicht viel. Aber vielleicht hilft es dir.

Du hast mir von Pflanzen erzählt, die während der Dürrezeit schlafen, die fast wie tot tief in der Erde liegen. Von Pflanzen, die auf den Regen warten. Du hast gesagt, dass sie es jahrelang tun, wenn es sein muss; dass sie fast sterben, bevor sie wieder wachsen können. Aber sobald die ersten Wassertropfen fallen, beginnen sich diese Pflanzen zu strecken und ihre Wurzeln auszubreiten. Sie arbeiten sich durch die Erde und den Sand bis zur Oberfläche. Sie bekommen wieder eine Chance.

Eines Tages werden sie dich entlassen aus dieser kargen, öden Gefängniszelle. Du wirst zurückkehren zu deinen Felsen, ohne mich, und du wirst den Regen wieder spüren. Und diesmal wirst du gerade wachsen, zur Sonne hin. Ich weiß, dass es so sein wird.

Meine Lider sind jetzt schwer wie Stein. Aber wenn ich einschlafe, werde ich wieder diesen Traum haben. Bisher habe ich dir nicht davon erzählen wollen, aber jetzt schon.

Ich bin in den Felsen der Separates und beginne, mit bloßen Händen zu graben. Wenn ich ein Loch gebuddelt habe, das groß genug ist, um einen Baum einzupflanzen, lege ich meine Finger hinein. Ich streife den Ring ab, den du mir geschenkt hast. Das Licht fängt sich darin und sein Widerschein lässt meine Haut in allen Regenbogenfarben leuchten, aber ich ziehe die Hand weg und lasse ihn dort. Ich lasse Erde auf ihn rieseln, begrabe ihn. An dem Ort, an den er gehört.

An die raue Rinde eines Baumstamms gelehnt ruhe ich mich aus. Die Sonne geht unter, ihre prachtvollen Farben durchziehen den Himmel und wärmen mein Gesicht.

Dann werde ich aufwachen.

Jetzt ist es 4.07 Uhr. Bald geht die Sonne auf. Der Geruch von Eukalyptus hängt schwer in diesem Zimmer, dringt durch das offene Fenster und wandert in meine Lungen. Gleich, wenn ich so weit bin, werde ich den Computer ausschalten, und das war es dann. Dieser Brief wird fertig sein. Ein Teil von mir will nicht aufhören, dir zu schreiben, aber ich muss es tun. Für uns beide.

Leb wohl, Ty.

Gemma