KAPITEL ACHTZEHN
»Falls Sirrush irgendetwas mit Uktena gemeinsam hat, dann muss er irgendwo ein Nest haben.«
Anya blätterte im Archiv der Bibliothek in einem Straßenverzeichnis von Detroit. Die dicken Mauern schlossen die Morgensonne aus. Anya vermisste den Sonnenschein - sie hatte den Eindruck, dass sie allmählich ihr Zeitgefühl verlor.
Sie blätterte mit einer Hand, während die andere einen Stift hielt, der die Seiten eines Notizbuchs bekritzelte: Mimi hatte die Gelegenheit ergriffen und ein Sonett über die Vorzüge der Wollust komponiert.
Katie blickte über Anyas Schulter. »Bäh. Das ist abscheulich. Ich hätte nie gedacht, dass so etwas mit einem Pfannenheber machbar ist.«
Anya verzog das Gesicht. »Vertrau mir, ich bin nicht so kreativ. Du kennst doch meine Küche.«
Katie schaute ihr direkt ins Gesicht. »Mimi. Du bist wirklich ein garstiger Arsch von einem Dämon.«
Anya bekam Mimis Stimme nicht unter Kontrolle, als sie über ihre Lippen kam. »Ich bin für alles offen, Liebchen. Lust auf ein Spielchen?« Anya schlug die Hand vor den Mund. »Tut mir leid«, sagte sie.
Katie zog die Nase kraus. »Ich kann es kaum noch erwarten, dass du die Schlampe loswirst.«
Felicity steckte vorsichtig den Kopf durch eine Schranktür. »Kann ich ungefährdet reinkommen?« Mimi hatte gedroht, Felicity mit einer Scheibe Tofu zu verspeisen, woraufhin der Geist der Bibliothekarin sich rar gemacht hatte.
»Solange man kein Pfannenwender ist, besteht keine Gefahr.«
Felicity trat über Sparky hinweg, der auf dem Boden schlummerte. »Ich habe dir eine Liste der Tiefgaragen aus der Zeit vor 1950 besorgt.« Ein Fetzen Papier schwebte auf Anyas rechte Hand zu. Ihre Linke schnappte ihn, ehe die Rechte ihn mit weiteren Obszönitäten über Küchengeräte beschriften konnte.
»Danke, Felicity.«
»Ich habe nachgedacht ...« Der Geist hielt sich außer Reichweite von Anyas rechtem Arm. »Was ist mit der Detroit Salt Mine?«
Anyas Hand kam zur Ruhe. »Sprich weiter, Felicity.«
»Na ja ... sie ist inzwischen stillgelegt worden. Sie ist schon seit den 80ern stillgelegt. Aber das Salzbergwerk breitet sich, wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, unter einem großen Teil des südwestlichen Stadtgebiets aus.«
Anya sprang zu dem Computerterminal, um nach weiteren Informationen über das Salzbergwerk zu suchen. Bedauerlicherweise war Mimi nicht sonderlich kooperationsbereit, weshalb sie drei pornografische Seiten aufgerufen hatte, ehe eine automatische Botschaft ihr drohte, sie aus dem System zu werfen. Schließlich überließ sie Katie den Platz, ehe noch eine leibhaftige Bibliothekarin auftauchen und sie des Gebäudes verweisen konnte.
»Mir wird vor Wonne ganz schummrig, wenn ich mir vorstelle, was ich im alten Babylon mit dem Internet alles hätte anstellen können«, seufzte Mimi durch Anyas Mund.
Katie schloss Dutzende von Pop-up-Fenstern, die ihr eine Vielzahl verschiedener Onlinedienste für Anhänger des Webcam-Voyeurismus anboten, und suchte nach der Detroit Salt Company. Schließlich öffnete sie ein Fenster, in dem ein körniges Schwarzweißbild einer Höhle zu sehen war, größer als ein Flugzeughangar.
Anya stockte der Atem. »Das ist die Höhle aus meinem Traum. Ich bin mir ganz sicher.« Es war gar kein Eis gewesen ... die Höhle war aus Salz gehauen worden. »Felicity, du bist großartig!«
»Man tut, was man kann«, sagte der Geist bescheiden.
»Hier steht, die Mine zieht sich unter der Stadt über mehr als zwei Quadratkilometer hin ... das ist ein ziemlich großes Gebiet«, stellte Katie fest.
»Ich hole die Karten aus dem Archiv.« Felicity verschwand außer Sichtweite.
Anyas Handy klingelte, und ihre rechte Hand griff nach dem Gerät. Sie versetzte ihr einen Hieb mit der Linken, zerrte das Telefon hervor und hielt es ans Ohr.
»Kalinczyk.«
»Marsh hier. Verfrühte frohe Weihnacht, Lieutenant. Sie hatten recht ... Drake Ferrer ist bei dem Wohngebäude aufgetaucht. Das DFD hat ihn vergangene Nacht erwischt, als er gerade die Zahl Eins in den Boden gebrannt hat. Er hat sich ohne Gegenwehr ergeben. Er hat gerade die Aufnahmeprozedur im Bezirksgefängnis hinter sich.«
Anya saß im Besucherbereich des Wayne County Jail und wartete auf ihrer Seite der Plexiglaswand darauf, dass Drake zu ihr gebracht wurde. Der Raum war in einem schauerlichen Gelb gehalten und von surrenden Leuchtstoffröhren ausgeleuchtet. Selbst so weit von den Zellenblocks entfernt roch es nach Schweiß und abgestandenem Urin. Anya wünschte, sie hätte eine Flasche Desinfektionsmittel mitgenommen; sie fragte sich, ob sie sich wohl Kopfläuse einfangen würde, sobald sie das Besuchertelefon ans Ohr presste.
Sie konnte von Glück reden, dass sie überhaupt reingelassen worden war. Mimi hatte es für amüsant gehalten, auf der Besucherliste mit »Captain Kangaroo« zu unterschreiben. Anya hatte gerade noch rechtzeitig eingreifen können, um den Namen mit der linken Hand durchzustreichen und ihren richtigen Namen in die nächste Zeile zu setzen. Der Beamte am Einlass hatte sie misstrauisch gemustert, da ihre Unterschrift nicht mit der auf ihrem Führerschein übereinstimmte, aber Anya hatte ihn überzeugen können, dass sie lediglich an einem schlimmen Karpaltunnelsyndrom litt.
Gefängnisse zählten nicht zu Anyas bevorzugten Aufenthaltsorten. Wie Krankenhäuser wurden auch sie regelmäßig heimgesucht, allerdings von einer weniger umgänglichen Geisterklientel. Im Augenblick bemühte sie sich nach Kräften, nicht auf den Geist in dem orangefarbenen Overall zu achten, der auf dem Plastikstuhl neben ihr saß. Der Geisterinsasse hatte die Beine angezogen, die Füße auf der Sitzfläche und die Arme um die Knie geschlungen. Um den Hals trug er eine Strangulationsspur. Er war definitiv erhängt worden. Die Frage war nur, ob das seine eigene Idee gewesen war oder nicht. Sparky hockte auf Anyas Schoß und knurrte den Geist an, forderte ihn förmlich heraus, sich in die Reichweite seines Gebisses zu wagen.
Der Geist fixierte Anya mit einem vollkommen starren Blick, in dem so viel Gier und Bösartigkeit lagen, dass ihr ganz anders wurde. Mimi hörte nicht auf, sie immer wieder in seine Richtung zu ziehen. Anya überlegte, ob sie ihn verschlingen sollte, zögerte aber - wenn Ferrer recht hatte, dann wollte sie das Monster gewiss nicht länger füttern.
Aber sollte dieses Stück ektoplasmischen Drecks sie anrühren, dann war alles möglich.
Der Deputy, der für die Besuchsabwicklung zuständig war, brachte Drake endlich zur anderen Seite der Plexiglasscheibe. Anya sog pfeifend Luft ein. Er sah furchtbar aus in seinem schlecht sitzenden orangefarbenen Overall. Seine Hände waren vor dem Körper mit Handschellen gefesselt, das gesunde Auge zierte ein Veilchen und sein linker Arm war mit kleineren Schnittwunden übersät. Intuitiv hatte sie das Gefühl, dass er nicht hierher gehörte, nicht in die derbe Brutalität dieses nach Schweiß stinkenden Ortes.
Anya ergriff den Hörer. »Was ist mit dir passiert?«
Drake zuckte mit den Schultern. »Die anderen Insassen mögen mich nicht besonders.« Sein Blick glitt von ihr zu dem Geist des Gefangenen, und er hob die Hand und drohte ihm.
Anya versuchte, ihn abzulenken, und sprach hastig auf ihn ein. »Soweit ich gehört habe, wurdest du bei dem Wohngebäudekomplex erwischt. Stimmt das?«
»Das behauptet jedenfalls die Polizei.« Sein Lächeln war so hintergründig wie abgeklärt, und seine Hand sank zurück auf den Tisch.
Anya kniff die Augen zusammen. Sie wusste, es gab nichts, was ihn hier festhalten konnte; sie hatte ihn im Feuer gesehen; sie wusste, er konnte sich mit bloßen Händen durch den Beton brennen. Für ihn boten diese Handschellen nicht mehr Widerstand als Butter.
»Warum bist du hier, Drake?« Sie beugte sich vor und legte die Finger an die Plexiglasscheibe. »Wo ist dein Anwalt? Der hätte dich doch rausholen können, ehe du eine Zelle von innen zu sehen bekommen hättest.«
»Wolltest du mich nicht genau hier haben?«
Ihr Blick huschte zu der hässlichen Prellung in seinem Gesicht. »Ja ... nein. Nicht so.« Sie betrachtete ihn, wie er sie durch die Scheibe musterte. »Du wolltest mich nicht von Mimi befreien, weil das deine Pläne beeinträchtigt hätte. Wirst du es jetzt tun?« Der Gedanke, sie könnte die Dämonin endlich loswerden, weckte neue Hoffnung in ihr.
Er schüttelte den Kopf. »Noch nicht, leider.«
Mimi kicherte. »Ich glaube, er befürchtet, dass ich eine bessere Liebhaberin bin als du. Und er hat recht.«
Anya achtete nicht auf die Stimme der Dämonin in ihrem Hinterkopf und konzentrierte sich stattdessen auf Drake. »Du bist nicht hier, weil ich dich hier haben will.« Sie lehnte sich auf dem knirschenden Plastikstuhl zurück. Es war noch nicht vorbei. »Du bist hier, weil du es so willst.«
Er lächelte rätselhaft. »Architekten sind Planer. Warte ab, was passiert.«
Der Geist beugte sich vor und kam Anya dabei so nahe, dass sie die Kälte spüren konnte, die er verströmte. Er sprach nicht, er konnte ihr nichts tun, aber das Gefühl der Bedrohung lag dennoch in der Luft. Anya starrte durch ihn hindurch. Sparky knurrte aus tiefster Kehle, aber Anya hatte die Finger fest in der lockeren Haut an seinem Nacken vergraben. Dennoch fühlte sie, wie Sparky die Muskeln zum Sprung spannte.
Drake tippte gegen das Glas, und beide, der Geist und Anya, drehten sich zu ihm um.
»Hey, Kumpel«, sagte Drake. »Ich habe dir etwas zu sagen.«
Der Geist ging näher an die Plexiglasscheibe heran.
»Komm näher. Ich möchte dir etwas geben.«
»Nein, nicht«, sagte Anya.
Der Geist tat einen Schritt, dann noch einen in Richtung Tisch. Anya ließ Sparky los in der Hoffnung, der Salamander würde ihn zu Boden reißen, ihn aus Drakes Reichweite holen, aber es war zu spät.
Kaum hatte der Geist des Gefangenen die Plexiglasscheibe passiert, erwischte ihn Drake. Der Geist verschwand in einer dünnen Rauchfahne, die sich sogleich auflöste. Sparky landete auf dem Boden und schüttelte orientierungslos den Kopf.
Drake beugte sich nah an die Scheibe heran. »Keine Sorge. Ich habe alles unter Kontrolle.«
»Er ist nicht ohne Grund im Gefängnis.« Anya trommelte mit den Fingern auf Ciros Tresen. Die Kreidesymbole waren alle abgewischt worden. Jules und Max waren damit beschäftigt, neue Spiegelfliesen über der Bar anzubringen. Für die Kundschaft war die Bar geschlossen, und das war Ciro in der Nacht des Teufels durchaus recht. Viel zu viele Gäste waren über die Jahre außer Kontrolle geraten. Nun hatte er wenigstens eine Ausrede, die Tür gar nicht erst zu öffnen. Nur dann und wann pochte ein Haufen trunkener Feiernder im Vorübergehen an die Sperrholzplanken und rüttelte die Bewohner des Devil's Bathtub auf.
Im Hintergrund brummte der Fernseher. Die Lions verloren zu Hause auf dem Ford Field gegen die Steelers, und es war, als würde dieses bisschen Normalität ein wenig von der schwer belasteten Atmosphäre, die seit dem Exorzismus in der Bar hing, vertreiben. Sparky kauerte auf dem Tresen, den Kopf so verdreht, dass er die Bilder auf dem Bildschirm über der Bar betrachten konnte. Immer wieder ruckte er hoch und leckte den Bildschirm ab, was einen Moment statischer Entladung bewirkte. Max und Jules brüllten dann regelmäßig, er solle sich hinsetzen, woraufhin das Bild sogleich zurückkehrte.
»Tja, nun. Er ist ein Verbrecher. Und er wurde geschnappt.« Katie blickte von dem Kuchen auf, den sie zusammen mit Ciro in einer Sitznische vertilgte. Zur Feier der Tatsache, dass Brian sich von seinem Krankenlager erhoben hatte, hatte sie einen Kuchen in der Form eines Footballhelms der Detroit Lions gebacken. Außerdem hatten die DAGR zusammengelegt, um Brian einen echten Detroit Lions-Helm zu kaufen - eine Sicherheitsmaßnahme für seine nächste Begegnung mit dem Paranormalen. Angesichts der jämmerlichen Bilanz der Lions schien das ein passendes Geschenk für jemanden zu sein, der glücklos genug war, sich beim Sturz von einer Toilette eine Hirnverletzung zuzuziehen.
»Nein. Seine Kaution wurde festgelegt, und er hat sich nicht die geringste Mühe gegeben, sie aufzubringen. Laut Marsh hat er sich den Beamten am Tatort mehr oder weniger auf einem Silbertablett serviert.« Anya schubste ihren Kuchen mit der Gabel auf dem Pappteller herum. Das Essen schmeckte ihr nicht mehr. Drakes Verhalten hatte sie mattgesetzt. Ihre Unterhaltung mit ihm verriet ihr, dass er seine Pläne weiterverfolgte, aber wie? Er hatte keine Komplizen, und die Nacht des Teufels brach gerade an. Er saß däumchendrehend in seiner Zelle und kassierte vermutlich auch noch Prügel. Das ergab keinen Sinn. »Da drin gibt es haufenweise Geister, die er verschlingen kann, aber das kann nicht der einzige Grund sein. Er könnte genauso viele Geister auftreiben, wenn er einfach über einen Friedhof spaziert oder ein Pflegeheim besucht.«
Neben ihr war Brian eifrig damit beschäftigt, sein drittes Stück Kuchen hinunterzuschlingen. Zwischendurch hielt er kurz inne, um auf seinem Handy herumzutippen. »Laut der Online-Gefangenendatenbank des Sheriffbüros ist Ferrer schon fast einen ganzen Tag dort. Ich wette, er genießt die gemeinsame Zeit mit all den anderen Gefangenen.« Er zuckte mit den Schultern. »Das Essen ist wahrscheinlich auch nicht schlechter als im Krankenhaus.«
Max drehte sich um. »Das ist ja cool. Du kannst rausfinden, wer gerade im Knast sitzt, indem du eine Website aufrufst?«
»Ja. Das sind alles öffentlich zugängliche Informationen. Ist bestimmt ein Höllenspaß für Leute, die sich fragen, wo sich ihr Ehegatte um drei Uhr morgens herumtreibt.«
»Mit all den anderen Gefangenen ...«, wiederholte Anya was Brian vorher gesagt hatte, tief in Gedanken. Der Funke einer Idee flammte in ihr auf. »Brian, kannst du in der Datenbank nachsehen, ob Martin Carr im Gefängnis ist?«
Brians Daumen flog über die Miniaturtastatur seines Telefons. »Nein.«
»Wie sieht es mit Joseph Lindsey aus?«
»Nein. Ich habe hier einen John und einen James, aber keinen Joseph.«
»Anthony Sellers?«
Brians Daumen glitten über die Tastatur. »Jep. Geboren am 29. November 1987. Sitzt drei Tage wegen häuslicher Gewalt ab. Hat keine Kaution gestellt. Er sitzt im Correction Center I in der Innenstadt.« Brian sah sich zu Anya um. »Kennst du den Kerl?«
Anya presste nachdenklich die Lippen zusammen. »Das sind die Burschen, die Drake Ferrer vor einigen Jahren überfallen haben. Felicity und ich konnten einige der Brandstiftungen mit diesen Typen und ihren Familien in Verbindung bringen. Wenn dieser Kerl vor Drake festgenommen und inhaftiert wurde, dann ist das kein Zufall.« Das Grauen jagte ihr eine Gänsehaut über den Leib. »Kann ich dein Telefon benutzen?«
»Klar.«
Anya tippte Marshs Nummer, sorgsam darauf bedacht, nur die linke Hand zu benutzen, aus Furcht, Mimi könnte aufs Geratewohl irgendeine sündhaft teure Sonderrufnummer wählen. Als es klingelte, glitt sie von ihrem Barhocker und schnappte sich ihre Jacke. »Captain Marsh, Kalinczyk hier.«
»Sollten Sie es sich nicht irgendwo am Strand gemütlich machen?«
»Ich brauche Ihre Hilfe. Sie müssen dafür sorgen, dass Ferrer aus dem CC1 ins CC2 oder CC3 verlegt wird. Einer der Männer, die ihn 1998 überfallen haben, ist im selben Gefängnis wie er.«
»So?«
»Ich glaube, Ferrer wird versuchen, es ihm heimzuzahlen. Ich konnte bei einigen von Ferrers Brandstiftungen eine Verbindung zu seinen Angreifern herstellen: Der Schönheitssalon gehörte der Mutter eines der Täter, und ein anderer hatte Güter in dem Lagerhaus eingelagert. Ich weiß, das sind nur Indizien, aber ...«
Sie konnte förmlich hören, wie sich die Rädchen in Marshs Kopf drehten. »Ich werde eine Separationsanordnung beantragen, aber sie werden ihn wahrscheinlich nicht in eine andere Einrichtung verlegen. Wir müssen uns vielleicht damit zufriedengeben, dass sie in getrennten Zellenblöcken untergebracht werden.«
Anya biss sich auf die Lippe. »Marsh, wenn dieser Kerl so verrückt ist, wie ich befürchte, dann wird das vielleicht nicht reichen.«
Sie hörte, wie Marshs Pager am anderen Ende der Leitung piepte. Gleich darauf gesellte sich ein ganzer Chor anderer Pager im Hintergrund dazu. Es hörte sich an wie eine Voliere voller elektronischer Vögel.
»Ich muss auflegen«, sagte er und unterbrach die Verbindung.
Anya hastete zur Tür, vorbei an den kläglichen Überresten der geborstenen Badewanne in der Mitte des Raums. Vielleicht konnte sie, wenn sie persönlich zum Gefängnis fuhr, den diensthabenden Sergeant überzeugen, Drake zu verlegen, vielleicht konnte sie ihn mit Pizza bestechen ...
»Anya«, sagte Jules. »Komm und sieh dir das an.« Er drehte den Ton am Fernseher laut.
Das Spiel der Lions hatte dem Bild eines Reporters Platz gemacht, der ein Mikrofon umklammerte. »Hier spricht Paul Phillips. Ich berichte aus der Detroiter Innenstadt. Das Wayne County Jail Corrections Center 1 steht in Flammen. Polizisten und Deputy Sheriffs sind vor Ort, während das Detroit Fire Department bereits versucht, das Feuer einzudämmen ...«
Die Kamera schwenkte hinter dem Reporter zu dem grauen Gefängnisbau, der zwischen dem Ford Field und Greektown eingequetscht war. Das Gebäude war beinahe vollständig in Flammen gehüllt. Das Glas aus den schmalen Fenstern war herausgebrochen, doch zwischen den Gitterstäben war nicht genug Platz, dass die Gefangenen hätten fliehen können. Hände und Füße ragten durch die Fensteröffnungen nach draußen und griffen nach frischer Luft. Am Boden war das Gebäude von Feuerwehrfahrzeugen umgeben, die bewaffnete Bereitschaftspolizei hatte eine Linie gebildet, und die Polizisten zielten auf die Fenster.
Anya schlug die Hand vor den Mund. »O mein Gott. Da drin sind bestimmt tausend Leute. Drake wird sie alle Sirrush opfern.«
Vor Ort war es noch weitaus schlimmer als im Fernseher über Ciros Tresen.
Das Spiel der Lions war abgebrochen, das Stadion evakuiert worden, und der abfließende Verkehr von der Spielstätte behinderte die Feuerwehrwagen und Ambulanzfahrzeuge am Brandort. Pressehubschrauber kreisten über der Szenerie und berichteten im Radio, dass dem Chaos in der Innenstadt kleinere Brände weiter außerhalb folgten. Die State Police und die Nationalgarde waren der Berichterstattung zufolge bereits unterwegs, aber Anya hätte darauf gewettet, dass sie vor morgen früh nicht auftauchen würden.
Der Verkehr in Richtung Stadtmitte war umgeleitet worden, wodurch Anya mit ihrem Dart gleich mehrfach in eine Sackgasse geriet. Schließlich aber schaffte sie es, sich an einer Barrikade in Greektown vorbeizumogeln, indem sie, eingehüllt in ihren Feuerwehrmantel, einem Officer zuwinkte, der sichtlich mit anderen Problemen beschäftigt war. Bald darauf stellte sie den Wagen in einer Gasse neben einem Restaurant ab. Ein Mann mit Schnauzbart und einer weißen Schürze bewachte das Bistro mit einem Gewehr in den Händen.
»Parken verboten«, verkündete der Dunkelhäutige mit der Schürze und schwenkte drohend sein Gewehr.
»Ich bin Brandermittlerin«, sagte sie, reckte die Hände hoch und hob den Helm kurz an. Mit dem Kinn deutete sie auf die Waffe. »Würden Sie wohl auf meinen Wagen aufpassen?«
Der Mann mit dem Schnauzbart grinste. »Lady, wenn Sie die Munition bezahlen, passe ich nur zu gern auf Ihren Wagen auf. Sorgen Sie nur dafür, dass diese Diebe und Vergewaltiger nicht rauskommen und mir mein Restaurant zerlegen.«
»Ich tue, was ich kann.« Sie gab ihm einen Fünfziger und hastete durch die Gasse zu dem orangefarbenen Feuerschein am Himmel. Heiße Asche versengte ihre Kehle, und das Atmen fiel ihr schwer. Es schien, als hätten sich sowohl Mimi als auch der Rauch tief in ihrer Brust eingenistet, sodass ihr nur die Lungenkapazität eines Kindes blieb. Hustend rannte sie weiter, bis sie freien Blick auf das brennende Gefängnis hatte.
Die Szenerie war ein einziges, vollkommenes Durcheinander.
Unfassbare Hitze strömte von dem Beton aus, heiß wie das Feuer eines Hochofens. Die Leiterwagen hatten Schwierigkeiten, die Leitern zu den Fenstern auszufahren und die Scheiben herauszubrechen. Die Metallleisten in den bruchsicheren Rahmen machten Schneidwerkzeuge erforderlich, deren Beschaffung kostbare Zeit erforderte, in der weder Gefangene noch Wärter befreit werden konnten. Hände streckten sich den Helfern entgegen und machten es beinahe unmöglich, an den Fenstern zu arbeiten, ohne dabei den einen oder anderen Arm abzutrennen. Feuerwehrleute brüllten die Menschen an den Fenstern an, sie sollten »zurückbleiben«, aber in dem panischen Gedränge stießen ihre Worte auf taube Ohren.
Anya starrte an den Mauern empor. Das Gefängnis war schon zuvor ein Spukort gewesen, und nach dieser Sache würde es bestimmt noch viel schlimmer heimgesucht werden. Sie spürte die neuen Geister, die im Inneren weißlich aufloderten wie gerade entzündete Streichhölzer, als die Luft zu giftig wurde, um sie zu atmen, und selbst die Wände unter der Hitze Blasen warfen.
Anya rannte zusammen mit anderen Feuerwehrleuten los und versuchte, einen weiteren Hydranten zu öffnen. Die Hälfte der Hydranten in diesem Block war kaputt, und sie brachten viel zu wenig Wasser hervor, nachdem sie zu lange ohne Überprüfung sich selbst überlassen worden waren. Sie schleifte das Ende eines schweren Schlauchs zu einem Abgangsventil, während ein anderer Feuerwehrmann versuchte, es zu öffnen. Gleich darauf füllte sich der Schlauch mit Wasser, das durch ihn hindurch zum Ursprung der Hitze raste.
Blinzelnd starrte Anya zum Eingang. Etwas brodelte in den Flammen und rollte auf die Tür zu. Die Einsatzkräfte, die fürchteten, sie hätten es mit einem durch eine Gasleitung verursachten Feuerball zu tun, zogen sich hastig zurück.
Aber das war kein Feuerball. Es war ein Mann, ein brennender Mann, dessen Silhouette so rot war wie die Sonne bei einer Sonnenfinsternis. Er glühte geradezu heiter inmitten des Chaos'. Ascheflocken tanzten wie Herbstlaub um ihn herum. Und seine Schritte waren gekennzeichnet von einem unverwechselbaren Hinken.
»Drake«, hauchte sie.
Der Feuerwehrmann am Ende des Schlauches, den Anya hielt, richtete den Wasserstrahl aus bloßem Instinkt auf den brennenden Mann. Das Wasser zischte und verdampfte, noch ehe es seine Haut berührte, wogte nebelartig über ihm auf und umgab ihn mit einer Wolke aus purem Wasserdampf. Die Gestalt aber schritt gemächlich die Stufen des Gefängnisses hinunter, und wo sie hintrat, verschmolzen ihre Füße mit dem Beton und hinterließen feurige Fußspuren auf dem Weg.
Im Heulen der Sirenen hörte Anya Gebrüll:
»Was zum Teufel ist das?«
»Unter Beschuss nehmen.«
»Nein!«, gellte Anya und stürzte voran, aber sie war zu langsam. Sie hörte das scharfe Krachen abgefeuerter Waffen, sah, wie der brennende Mann stolperte ... und dennoch ging er weiter wie ein brennender Götze.
In der Höhe ächzte das Bauwerk. Sowohl Polizisten als auch Feuerwehrleute konzentrierten sich nun vorwiegend auf das Metalldach. Die darunterliegende Dachkonstruktion war den Flammen zum Opfer gefallen, und nun wölbte sich das Dach mit einem metallischen Ächzen nach innen. Ein Leiterwagen, der nahe am Gebäude stand, musste wegfahren, noch während sich ein Feuerwehrmann an der herumschwenkenden, ausgefahrenen Leiter festklammerte.
Aber Anyas Aufmerksamkeit galt weiter dem brennenden Mann. Er ging über die Straße. Die Hitze, die er ausstrahlte, war so enorm, dass die Windschutzscheiben der Fahrzeuge, die er passierte, barsten, und der Lack auf den Motorhauben der Streifenwagen Blasen warf. Zu Fuß folgte sie ihm die Straße hinunter und brüllte: »Drake!«
Er drehte sich um. Möglicherweise erkannte er sie, aber solange er diese unmenschliche Gestalt hatte, wusste sie nicht, was in ihm vorgehen mochte.
»Bleib weg.« Seine Stimme war rau wie Rost. Er streckte die Hand aus und brannte ein Loch in die Seite eines vollbesetzten Schulbusses.
Anya ging hinter einem Müllcontainer in Deckung, als der Tank Feuer fing und der Schulbus in die Luft flog. Die Druckwelle warf den Container um und schleuderte sie unter ein Polizeifahrzeug. Die Explosion ließ auch den Streifenwagen auf seinen Rädern erbeben, und sie roch verbranntes Gummi. Durch eine Mauer aus brennenden Trümmern sah sie mit tränenden Augen und voller Entsetzen zu, wie die leuchtenden Schemen weißer Geister in den Flammen hinter den Fenstern des Busses aufheulten.
Von Schmerzen gepeinigt, krabbelte sie auf den Ellbogen unter dem Wagen hervor, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, den Opfern zu helfen, und der Notwendigkeit, Drake zu erwischen. Sie war die einzige Person, die irgendeine Chance hatte, Drake aufzuhalten, ehe er Chaos über die ganze Stadt bringen konnte. Sie wusste es, aber sie fühlte sich wie ein Versager, als sie sich auf die Füße stemmte, die Straße hinunterrannte und den Schutt nach einer Gestalt absuchte, die heller leuchtete als alles andere.
»Drake!«, brüllte sie in das Chaos hinein.
Aber er war schon fort.