KAPITEL ZWEI

»Ich habe Jules gesagt, er soll dich nicht anrufen«, sagte Brian. Er blickte durch die Windschutzscheibe des Vans auf die verlassene Straße. Er sah Anya nicht an, sondern starrte nur stur geradeaus. Obwohl sie protestiert und gesagt hatte, sie würde ein Taxi nehmen, hatte er darauf bestanden, sie heimzufahren.

Anya musterte sein Profil. Es war ein hübsches Profil, eines, das ihr einmal vertrauter gewesen war: ein kräftiges Kinn, Adlernase, sinnliche Lippen. Das war, ehe Brian ihr zu nahe gekommen war. Und sie wollte nicht, dass er sich im wahrsten Sinne des Wortes die Finger an ihr verbrannte. Anya blieb auf ihrer Seite des Vans, ihre Hände umklammerten einen Styroporbecher mit heißer Schokolade.

»Oh«, sagte sie.

Brian schüttelte seinen Kopf. »So habe ich das nicht gemeint. Ich meinte ...« Er schnaubte, und die Scheibe beschlug durch seinen feuchten Atem. »Ich hatte einfach den Eindruck, du würdest gern Abstand halten. Von den DAGR. Von uns allen.«

Anya starrte in ihren Becher. »Nun, ich habe im Moment nur ein bisschen Ärger auf der Arbeit.«

»Diese Brandstiftungen?«

»Ja.« Anya sank tiefer in ihren Sitz und rieb sich den Nasenrücken. In ihrem Tagesberuf war sie als Brandermittlerin für die Feuerwehr von Detroit tätig. »Der Chief sitzt uns im Nacken. Er will, dass wir die Fälle endlich lösen. Inzwischen sind wir schon bei Nummer drei.«

»Bist du sicher, dass es jedes Mal derselbe Brandstifter war?«

»Es muss derselbe sein. Das gleiche Vorgehen: keine Rückstände von Brandbeschleunigern. Wer immer es ist, er nimmt sich Zeit, um die Gebäude auszukundschaften. Er weiß, wann sie lange genug unbewacht sind, um sie niederzubrennen.« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis jemand ernsthaft verletzt wird.«

Anya starrte zum Fenster hinaus auf die Stadt, die noch unter der samtenen Decke der Nacht ruhte. Zu dieser frühen Stunde hatten die Busse gerade erst den Betrieb aufgenommen und krochen über die Busspuren wie Raupen, die sich an Blattadern entlangfraßen. In dem Automobilwerk an der Grenze zwischen Detroit und Hamtramck fand soeben der Schichtwechsel statt. Nach und nach kamen Arbeiter an und gingen vom Parkplatz zu dem großen, grauen Gebäude hinter dem Stacheldrahtzaun. Anya fragte sich, wie stark diese Männer und Frauen die Spannung spürten, die sich in den letzten Jahren in der Stadt ausgebreitet hatte: die zunehmende Arbeitslosigkeit, immer mehr Verbrechen. Diese teils offensichtlichen, teils unsichtbaren Ängste nährten eine unterbewusste, spirituelle Unruhe. Die psychiatrischen Kliniken waren voll, ebenso wie die Kirchen. Die DAGR waren beinahe jede Nacht unterwegs, um den Hilferufen der Leute zu folgen, deren Häuser und Geschäfte von Geistern heimgesucht wurden.

Hinter der riesigen katholischen Kirche im Zentrum von Hamtramck bog Brian ab. Die Türme von St. Florian überragten sämtliche Gebäude der umliegenden Blocks. Dieser Teil von Detroit, von polnischen Immigranten 1921 gegründet, war Anyas Hinterhof. Sie war im Schatten der Kirche aufgewachsen und lebte immer noch dort, auch wenn sie die Kirchentür als Erwachsene nie durchschritten hatte. In ihrer Nähe schien der Verfall etwas weniger ausgeprägt zu sein als andernorts.

Vor einem bescheidenen, anderthalbstöckigen weißen Haus stellte Brian den Motor ab. Es unterschied sich nur durch grüne Fensterläden von all den anderen weißverkleideten Häusern in der Straße. Ein Apfelbaum wuchs im Garten und beschattete die gewölbten Dachschindeln. Im Haus waren die Vorhänge zum Schutz vor der Sonne fest zugezogen.

»Ich habe bei unserer Salzgurken-Frau etwas aufgeschnappt, etwas, von dem ich annehme, dass du es hören willst.« Brian griff über ihre Beine hinweg. Anya zuckte zusammen. Er tat, als bemerke er es nicht, öffnete ohne Eile das Handschuhfach und nahm ein Diktiergerät heraus. »Ich habe etwas aufgenommen, während du mit dem Getränkeautomaten gekämpft hast.«

Ihre Wangen röteten sich vor Zorn. »Ich habe dir ausdrücklich gesagt, du sollst mich nicht aufnehmen. Das ist gegen unsere Abmachung, und das weißt du.«

»Ich habe dich nicht aufgenommen. Ich habe dir lediglich über die Kamera zugesehen.«

Anya verschränkte ihre Arme vor der Brust. Die Vorstellung, dass sie beobachtet wurde, behagte ihr nicht. Auch wenn es da für gewöhnliche Augen nichts zu sehen gab, war sie damit nicht einverstanden. Und Brian wusste sehr gut, wie sie dazu stand.

»Hör mal, ich wollte doch nur sicher sein, dass es dir gut geht.« Wieder schnaubte er. »Nach all dem Gepolter - vergiss es.« Er wedelte mit der Hand. »Dieses Diktiergerät war im Schlafzimmer der Salzgurken-Frau. Es hat genau zu dem Zeitpunkt, in dem du den Automaten geöffnet hast, etwas aufgezeichnet.« Er schaltete das Gerät ein.

Ein kaum wahrnehmbares Flüstern unterbrach das Rauschen. »Sirrush kommt.«

Anya blinzelte. Sie war erstaunt, dass er es überhaupt gehört hatte. Aber verdammt, Brian war ein guter Ermittler, und sie konnte sich nicht vor den Fakten verstecken, die er aufdeckte.

Brian schaltete ab. »Sagt dir das irgendetwas?«

Sie blickte in ihren Becher. Ihre Gedanken überschlugen sich, und sie fühlte seinen Blick auf sich ruhen. »Ich weiß nicht.«

Er schwieg, doch betrachtete sie weiter. Schließlich gab er auf und brach das unbehagliche Schweigen. »Hör mal, falls du irgendwas brauchst ...«

Anya lauschte dem Knacken des abkühlenden Motors. Dann blickte sie auf. »Mir geht es gut, Brian.« Sie bemühte sich um ein Lächeln. »Danke.« Sie strich mit ihren Fingern über den Türöffner.

»Anya.«

Sie drehte sich zu ihm um. Das Sitzpolster knarrte unter ihrer Jeans, die noch immer feucht war von der Limo und dem Gurkensud. »Bitte, Brian. Ich habe gerade ... Ich habe die Seele eines Kindes verschlungen. Im Haus unserer Salzgurken-Frau hat ein Kind gespukt.« Sie rieb sich die bernsteinfarbenen Augen. Der Essiggeruch ihrer Haut stieg ihr stechend in die Augen und nahm ihr die Sicht. Ihre Stimme stockte. »Ich möchte nur duschen und ein paar Stunden schlafen. Können wir später darüber reden?«

Brian sah aus, als hätte sie ihm einen Hieb in die Magengrube versetzt. Er rammte den Schlüssel wieder in das Zündschloss. »Okay. Aber - pass auf dich auf.«

Anya fragte sich oft, was aus den Seelen wurde, die sie verschlang. Bekamen sie einen Dauerparkschein für irgendeinen sonnigen Ort der spirituellen Erleuchtung? Oder hörten sie einfach nur auf zu existieren und verschwanden in der Finsternis? Sie hoffte, dass sie weiterzogen oder wenigstens aufhörten zu leiden. Was immer mit ihnen geschah, sie hoffte, dass sie nicht nur Futter waren, eine spirituelle Nahrung für das Vakuum in ihrem Herzen.

In den letzten Monaten war dieses Vakuum immer größer geworden. Sie konnte spüren, wie die Taubheit und das Gefühl der Isolation wuchsen wie ein schwarzes Loch. Unentwegt hungrig verzehrte dieses Loch alles, was in die Reichweite ihrer schauerlichen Anziehungskraft geriet, und mit jedem Atemzug schien es noch stärker zu werden und nach mehr zu greifen. Je mehr Geister Anya in sich aufnahm, desto größer, dichter und schwerer wurde das Loch. Sie befürchtete, dass die Menschen, die sie zu nahe an sich heranließ, auch in diesen Sog geraten könnten.

Anya schloss die Eingangstür und lehnte sich dagegen. Diesen kindlichen Geist zu verschlingen hatte sie verstört. Sie hatte angenommen, dass es sich bei der Macht, die sich im Haus der Salzgurken-Frau eingenistet hatte, um einen ganz gewöhnlichen Geist handelte, der unter der Last der Jahre und der Langeweile bösartig geworden war. Ein boshaftes Teufelchen - ein Geist, den sie auslöschen könnte, ohne dass ihr Gewissen ihr den Schlaf rauben würde. Aber dieser Vorfall würde ihr noch lange zu schaffen machen. Sie spürte, wie die Last ihres eigenen Bedauerns an ihr zerrte, als sie sich die Stiefel auszog und den Mantel auf die ausgebleichte Couch warf.

Unter den Schritten ihrer bestrumpften Füße lud sich der rostfarbene Teppich im Wohnzimmer statisch auf. Sie hatte den Raum mit Fundstücken von Garagenflohmärkten spärlich ausgestattet: eine Kapitänstruhe anstelle eines Kaffeetischs, zwei nicht zusammenpassende asiatische Lampen mit Porzellanfuß, ein Spiegel mit einem antiken Messingrahmen über einem samtbezogenen Sofa. Anya hatte jeden dieser Gegenstände selbst berührt, ehe sie ihn erworben hatte - sie hatte keine Lust, sich mit negativen Prägungen oder den Geistern der früheren Eigentümer herumzuschlagen. Hätte sie es sich leisten können, hätte Anya sich neue Möbel gekauft.

Katie hatte Anya oft dabei geholfen, Gegenstände ohne Überbleibsel der Vergangenheit auszuwählen. Die Hexe hatte das Haus auch gesegnet und gesagt, es hätte eine glückliche Geschichte, was immerhin ein kleiner Trost war. Häuser wie dieses gab es in Detroit heute nur noch selten. Es roch nach Zitronensaft und Salbei und war gesäubert von jeglichem spirituellen oder physischen Schmutz. Ihre

Feuerwehrausrüstung ließ Anya stets im Wagen. Sie wollte nicht, dass der Dreck und der Brandschmutz ihre kleine Oase verunreinigten.

Sie machte sich nicht die Mühe, das Licht einzuschalten. Sämtliche Elektrogeräte im Haus waren nicht angeschlossen, die Steckdosen waren mit Kindersicherungen versehen. Sparky hatte ein krankhaftes Interesse an allem, was elektrisch war, und Anya konnte nicht darauf vertrauen, dass er den Saft in der Leitung nicht kosten und eine Sicherung hochjagen würde. Da er keine Daumen hatte, war es ihm bisher nicht gelungen, die Steckdosensicherungen zu entfernen. Letzte Woche hatte Anya eine Mikrowelle gekauft. Soweit es Sparky betraf, war dies das beste Küchengerät aller Zeiten. Die Mikrowelle stand, wieder in ihrem Karton verpackt, auf dem Küchentisch. Die ehemals weiß lackierte Oberfläche war schwarz verkohlt, die Glasscheibe gesprungen. Die Chancen, dass der Händler das Gerät zurücknahm, standen wohl nicht gut, aber Anya wollte es trotzdem versuchen.

Sie ging ins Badezimmer und schaltete die Deckenleuchte ein. Die schwarz-weißen Retrofliesen glänzten im Licht. Eine Sammlung von Gummienten stand auf einem Regalbrett an der Wand und grinste sie cartoontypisch an. Anya drehte das heiße Wasser an der Badewanne auf und warf eine Handvoll Badesalz hinein. Dann nahm sie ihre Lieblingsente - ein frecher Pirat mit Plastikaugenklappe - vom Regal und ließ sie ins Wasser fallen, wo sie träge unter dem Wasserhahn kreiste.

Anya schälte sich aus den klebrigen, essigbefleckten Klamotten und verstaute sie in der Waschmaschine, die in einer kleinen Kammer stand. Kälte jagte über ihren Leib, als sie das Waschmittel abmaß und die Wassertemperatur einstellte. Als sie in das Haus gezogen war, hatte Anya in weiser Voraussicht einen extragroßen Heißwasserboiler einbauen lassen. Als Brandermittlerin wurde sie oft ziemlich schmutzig, und sie wollte nicht auf den Luxus, genug heißes Wasser zur Verfügung zu haben, verzichten.

Als sie ihr Spiegelbild sah, hielt sie inne. Das haselnussbraune Haar fiel auf ihre weiße Schulter, die von mehreren Schönheitsflecken verziert war. Ihre Finger fuhren über ihre Brust. Unterhalb des Salamanderhalsrings, in dem Sparky hauste, über der linken Brust war ein schwarzes Brandmal. Die Wunde schmerzte nicht, und Anya wusste, dass sie irgendwann verblassen würde wie all die anderen Exorzismusverbrennungen. Aber noch war sie da - eine sichtbare Erinnerung an die Seele, die Anya verschlungen hatte.

Sie stieg in die Wanne, bewegte ihre Zehen und spürte, wie die Wärme allmählich ihre Beine hochstieg. Dann legte sie sich bis zum Hals ins Wasser und tauchte ihr langes Haar ein. Die Piraten-Ente stieß gegen ihre Zehen. Sie griff nach einem Luffaschwamm und fing an, sich kräftig abzuschrubben, so als könnte sie die Erinnerung an das tote Kind von ihrer Haut reiben.

Die Grabesstimme aus dem Diktiergerät ging ihr durch den Kopf, und ihre Gedanken kreisten um die Worte:

»Sirrush kommt.«

Sie runzelte ihre Stirn. Sie hatte diesen Namen nie ausgesprochen gehört, nur in Büchern gelesen. Vor langer Zeit hatte man Feuerdrachen oder Salamander als Sirrush bezeichnet. Doch dieser Name war nur von Hexen in magischen Zeremonien benutzt worden, um das Element Feuer herbeizurufen. Aber in diesem Fall schien es so, als hätte die Botschaft des Geistes ihr persönlich gegolten, und das brachte Anya zum Grübeln. Sie erahnte schon den verräterischen Geschmack der Gefahr.

Nachdem sich das Wasser abgekühlt hatte, kletterte Anya aus der Wanne heraus. Als sie den Stöpsel aus dem Abfluss zog, roch sie weder Salzgurken noch Asche, nur Seife und einen Hauch Jasmin, der von dem Badesalz stammte. Die Piraten-Ente umkreiste den Abfluss.

Anya trocknete sich ab und zog ihren Bademantel an, der mit gelben Zeichentrickenten bedruckt war. Während sie über den Zottelteppich im Flur ging, hinterließ sie nasse Fußabdrücke. Sie blieb kurz stehen, um die Heizung aufzudrehen und freute sich schon auf die Wärme ihres Betts - ein einfacher Futon mit einem riesigen Stapel Decken, der ihr Schlafzimmer dominierte. Anya hatte sich nicht durchringen können, auch das Bett aus zweiter Hand zu kaufen. An Betten hafteten stets die Träume ihrer früheren Eigentümer.

Seufzend kroch Anya unter die Decken. Sie hatte noch ein paar Stunden Zeit zum Schlafen, ehe sie zum Dienst musste. Während sie schlummerte, erwärmte sich der Salamanderreif an ihrem Hals. Sparky löste sich aus seinem Heim und glitt hinab auf den Boden. Er tapste zu einem großen Hundebett mit Flanellbezug, das an der Wand stand. Darin lag sein Lieblingsspielzeug: ein Leuchtwurm. In dem Stoffpüppchen steckte eine Taschenlampe: raffiniert verborgen in einem raupenartigen Körper mit engelhaftem Plastikgesicht. Da sie batteriebetrieben war, konnte Sparky mit der Puppe keinen großen Schaden elektrischer Natur anrichten - anders als bei der Mikrowelle.

Sparky setzte einen Fuß auf den Leuchtwurm. Er leuchtete auf. Sparky zog die Pfote weg, und das Licht erlosch. Er legte seinen Kopf schief, betrachtete den Wurm und setzte wieder den Fuß darauf.

An.

Aus.

An.

Anya kniff ihre Augen zu, um sich vor dem blinkenden Licht zu schützen. So sehr wie Sparky es genoss, Geister und andere Wesen der spirituellen Welt zu jagen, konnte er sich in der physikalischen Welt nur für zwei Dinge begeistern: Energie und Anya. Das Spielzeug hatte ihm schon viele frohe Stunden bereitet. Anya hatte es in das Hundebett gelegt, in der Hoffnung, sie könnte Sparky auf diese Weise dazu ermuntern, doch endlich dort zu nächtigen.

Ein Winseln ertönte neben ihrem Bett.

Anya öffnete ein Auge. Sparkys Kopf lugte über ihrem Deckenberg hervor. Sie ächzte. Heute Nacht war sie einfach zu müde, um den Salamander in den Schlaf zu wiegen.

Sie stand auf, schnappte sich den Leuchtwurm und warf ihn in ihr Bett. Sparky kletterte hinterher und schlüpfte unter die Decken. Er machte es sich auf Anyas Oberschenkeln bequem und hielt den Leuchtwurm in seinen Pfoten. Anya strich träge über seine faltige Haut, und Sparky fing an zu schnurren: ein leises Vibrieren, das irgendwo unter seinen Rippen entstand.

Manchmal fragte sich Anya, wie es wohl wäre, Brians Wärme neben sich zu spüren. Sie hatte dies bereits ernsthaft in Erwägung gezogen. Aber sie wusste nicht, wie sie Brian erklären sollte, dass sie das Bett mit einem sehr zutraulichen Elementargeist teilte. Menschen konnten Sparky zwar nicht sehen, aber seine Anwesenheit war spürbar: Temperaturveränderungen, statische Elektrizität, das Gefühl, beobachtet zu werden. Bei Anyas bisherigen Liebhabern hatte sich Sparky nicht eben freundlich gezeigt. Wenn man mitten im Liebesspiel ist und einen Eins-zwanzig-Salamander am Fußende liegen sieht, mit seinem Schwanz auf die Decke peitschend, ist das - einfach störend. Sparky konnte sich manifestieren wann er wollte, ganz nach Lust und Laune. Im Gegenzug konnte Anya sich felsenfest darauf verlassen, dass er immer auftauchte, wenn Geister in der Nähe waren - oder eben wenn sich die Möglichkeit zu einem intimen Beisammensein mit einem Mann bot.

Der kupferne Salamanderreif hatte ihrer Mutter gehört. Die hatte zwar nie etwas gesagt, doch Anya nahm an, dass Sparky an den Ring gebunden war, seit es ihn gab - wie lange das auch sein mochte. Als ihre Mutter die heranreifende mediale Gabe ihrer Tochter erkannte, hatte sie ihr Sparky zu ihrem Schutz gegeben. Anya hatte ihren Vater zwar nie kennengelernt, aber ihre Mutter hatte anscheinend - zumindest einmal - trotz ihres magischen Anstandshündchens ein Liebesabenteuer erlebt. Aber Anyas Mutter war nicht mehr da, und es gab sonst niemanden, den sie fragen könnte, wie man einem Salamander beibringt, in seinem eigenen Bett zu schlafen.

Andererseits wurde Sex vielleicht auch überbewertet. Sparky hatte seinen warmen Schwanz um ihre Waden geschlungen und schnarchte leise. Wenigstens hatte er gute Manieren: Er furzte nicht, er kratzte sich nicht, und er hatte morgens keinen schlechten Atem. Es war ein bisschen so, als würde sie mit einer Heizdecke schlafen - und das war vermutlich das Beste, was Anya in diesem Moment widerfahren konnte.

Zusammengerollt in der warmen Umarmung des Salamanders, der gleichzeitig sein Spielzeug festhielt, schlief Anya sanft ein.

Sie träumte von Eis.

Anya drehte sich in einem Gewölberaum um die eigene Achse. Eis knirschte unter ihren Füßen und überzog die Wände mit einem feuchten, glitzernden Schimmer. Das einzige Licht kam von Sparky, der hell leuchtete und sich um ihre Füße wand. Die Decke musste hoch über ihr sein, außerhalb ihrer Sichtweite. Kälte entströmte den Wänden. Erdstreifen durchzogen das Eis wie Pinselstriche, als wäre dieser Ort aus jahrhundertealten eiszeitlichen Gletschern geschlagen worden.

So gewaltig wie eine Schlucht erstreckte sich der Raum über ihr in absolute Finsternis. Sparkys Licht konnte sie nicht durchdringen, sie reichte zu weit. Aber in der schwarzen Ferne regte sich etwas. Sparkys Zunge zuckte vor und zurück, kostete von der Dunkelheit. Auch Anya konnte es fühlen: Etwas Großes drehte sich in seinem Schlaf.

Neben ihr stand das Kind aus dem Getränkeautomaten: ein kleines Mädchen in einem gelben Kleid mit einem Schürzchen und weißen Turnschuhen. Bunte Plastikspangen hielten das säuberlich zu kleinen Zöpfen geflochtene Haar. Das Mädchen blickte zu Anya empor. Es hatte hübsche braune Augen und dichte Wimpern.

Sparky legte den Kopf schief und musterte das Mädchen. Dann begann er, an einem ihrer offenen Schnürsenkel zu kauen. Das Mädchen tat nichts, um ihn davon abzuhalten.

Tränen brannten in Anyas Augen, als sie das Kind so sah, wie es im Leben gewesen war. Sie kniete sich vor dem kleinen Mädchen hin. Anya konnte sich nicht ansatzweise vorstellen, was die vielen Jahre diesem Kind angetan hatten, damit es sich in einen so böswilligen Geist verwandelte, wie sie ihn im Keller getroffen hatte. »Es tut mir so leid, Kleines. Ich wusste nicht, dass du da drin warst.«

Ohne ein Blinzeln betrachtete das Mädchen sie mit ernstem Blick und zeigte in das kohlrabenschwarze Nichts. »Sirrush kommt.«

Anya wurde, wie eine Marionette an ihren Fäden, in die Dunkelheit gezogen. Sie ging tiefer in die Eiskathedrale hinein. Die Wände glitzerten nun vor Nässe, und Anya konnte Wärme auf ihrer Haut spüren. Durch die flimmernde Hitze erkannte sie Sparkys Leuchten schemenhaft, wie eine Kerzenflamme hinter Eis.

Etwas war dort. Anya konnte es atmen hören. Sie roch Verbranntes, nahm den Geruch von Kohle und Ozon wahr. Anya sog die Wärme tief in ihre Lungen ein, und es schien, als fülle diese das kalte, bodenlose Loch, das sonst die Geister verschlang.

Zum ersten Mal war die Leere in ihrer Brust ausgefüllt. Warm.

Das Wesen in der Höhle brüllte plötzlich so donnernd, dass Eisstücke von der Decke fielen und der gefrorene Boden zersplitterte. Anya hielt sich die Ohren zu, um das schreckliche Geräusch auszuschließen, das so klang, als käme das Ende der Welt ...

... das Geräusch verwandelte sich in das Klingeln eines Telefons.

Anya drehte sich um, befreite sich von Sparkys Reptilienfuß in ihrem Mund und griff zum Telefon auf dem Nachttisch.

»Hallo.«

»Lieutenant Kalinczyk? Captain Marsh hier.«

Anya sah mit verschlafenem Blick auf die Uhr. Bis zum Aufstehen war immer noch eine Stunde Zeit übrig. Es konnte nichts Gutes verheißen, wenn Marsh sie so früh zu Hause anrief.

»Was gibt es?«

»Wir haben einen neuen Brandort, den Sie sich ansehen müssen. Wir kühlen ihn gerade ab.«

»Wie schlimm ist es?« Sie klemmte das Telefon zwischen Schulter und Ohr und kramte nach einem Stift. Sparky schnappte sich das Telefonkabel und kaute darauf herum. Anya schubste ihn weg, woraufhin er sich schmollend unter die Decke zurückzog. Der Leuchtwurm begann wieder zu blinken, wie ein Neonschild im Rotlichtviertel.

Marsh zögerte. »Einer unserer Jungs wurde verletzt. Ein Balken hat ihn erwischt.«

»Wer?« Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. Womöglich war es jemand, den sie kannte.

»Neuman vom Löschfahrzeug Acht. Er ist schon auf der Station für Brandopfer im Detroit Receiving Hospital.«

Anya stieß hörbar die Luft aus. Niemand, den sie persönlich kannte. Aber nun hatte das Feuer Blut gefordert - Blut der Feuerwehr. Jetzt würde das Department alles Mögliche aufbieten, um den Täter zur Strecke zu bringen. »Haben Sie irgendwelche Brandstifter festgenommen?«

»Wir halten einen Mann vom Sicherheitsdienst fest, damit Sie ihn befragen können.«

Anya notierte sich die Anschrift. Es war die Adresse eines Lagerhauses, das wenige Blocks vom Fluss entfernt lag, südlich der Vernor Avenue in einem reinen Industriegebiet. Zu einer so frühen Stunde musste es weitgehend verlassen sein - ein perfektes Zielobjekt.

Sie legte auf und schlug die Decken zurück.

»Aufstehen, Sparky!«

Sparky gähnte, quälte sich ihren Arm hinauf und hing wie ein Faultier um ihren Hals. Dann verschwand er in der Halskette.

Anya zog eine schwarze Anzughose und einen schwarzen Rollkragenpulli an. Als Brandermittlerin musste sie nur selten Uniform anlegen. Es war einfach sinnlos, Kleidung zu tragen, die nur chemisch gereinigt werden kann, um sie dann mit dem berufstypischen Schmutz zu beflecken. Der Inhalt ihres Kleiderschranks bestand nur noch aus schwarzen, braunen und grauen Hosen, Sweatshirts und Jacken, doch das störte sie nicht. Sie stand nicht gern im Zentrum der Aufmerksamkeit.

Anya steckte sich das Haar am Hinterkopf zu einem Knoten zusammen und kontrollierte ihr Aussehen im Badezimmerspiegel. Sie legte etwas kupferfarbenen Lippenstift auf - das einzige Zugeständnis an einen professionellen Auftritt, für das ihr genug Zeit blieb -, schnappte sich ihren Mantel und stürmte zur Tür hinaus in die kalte, graue Morgendämmerung. Sie fürchtete sich vor dem, was sie am Tatort erwartete.

Der Schaden war größer, als sie gedacht hatte.

Der ganze Block war mit Polizeiabsperrband abgeriegelt. Sie schaffte es kaum, ihren grünen 1972er Dodge Dart durch die dichtgedrängten Löschfahrzeuge, Polizeiwagen und Fahrzeuge der Energieversorger zu manövrieren. Es war, als versuchte sie, an einem Sommerwochenende vor einem Freizeitpark einen Parkplatz für einen Panzer zu finden. Die Straße war nass von noch tropfenden Feuerwehrschläuchen, und in der Luft lag der stechende Geruch von Löschschaum und Kohle.

Im rosaroten Licht der Morgendämmerung fuhr Anya auf das betroffene Gebäude zu. Früher war es ein Lagerhaus gewesen - vermutlich kurz nach der Jahrhundertwende erbaut -, mit geschwärzten Backsteinen und Sprossenfenstern aus je sechzehn kleinen Scheiben. Die Straße hatte sich über die Jahrzehnte immer weiter ausgedehnt und sich dem Gebäude genähert: Die Fassade stand beinahe direkt am Bürgersteig, und der Haupteingang war nur wenige Schritte von der Straße entfernt. Anya fiel auf, dass das Gebäude vierstöckig gewesen war, doch die beiden oberen Stockwerke waren eingestürzt. Dunkle Asche - die Überreste des Dachs - schwebte durch die Luft wie schwarze Federn. Die Fenster im Erdgeschoss waren mit Sperrholzbrettern vernagelt gewesen, die schnell verbrannt waren. Die Schläuche der Feuerwehr lagen noch dort und schlängelten sich ins Gebäude. Die Feuerwehrmänner versuchten ohne Zweifel, die Asche am Boden zu halten und ein erneutes Aufflackern der Flammen zu verhindern. Man konnte nicht wissen, welche Partikel sonst noch durch die Luft flogen: Asbest, Plastikreste oder Gummi.

Anya schaltete den Motor aus und öffnete mit dem Schlüssel den Kofferraum des Dart. Der Wagen hatte keinerlei Luxus zu bieten, sah man von der Servolenkung und dem Radio ab. Nicht einmal ein Automatikgetriebe gab es. Aber für Anya hieß es: je weniger Technik desto besser. Früher hatte sie einen Kleinwagen mit elektrischem Schiebedach, Zentralverriegelung, Automatikgetriebe und sogar einem Heckscheibenwischer besessen. Er hatte gerade drei Monate durchgehalten, in denen Sparky in all den Apparaturen herumgestochert und -gestöbert hatte. Den Dart, ein Fahrzeug mit wenig Kilometern auf dem Tacho und ohne eine einzige Roststelle, hatte sie bei einer Auktion lächerlich günstig von einem Sammler gekauft, der pleite gegangen war - was in Detroit dieser Tage nichts Ungewöhnliches war. In dem Dart, einem wahren Schlachtschiff von einem Wagen, fand Sparky wenig zum Kaputtmachen. Anya musste die Batterie zwar häufiger wechseln, als sie für normal hielt, aber sie erwischte Sparky nur selten unter der Haube - an den Anschlüssen herumkauend wie ein Hund an einem Stück Rohleder. Obendrein ließen sich die Ledersitze problemlos von Ruß und anderen ekligen Rückständen der Brandorte, die sie untersucht hatte, befreien. Der einzige Nachteil war der Kraftstoffverbrauch. Das und die Tatsache, dass es sich bei dem Zweitürer um das Modell »Swinger« handelte. Ein Name, auf den sie jeder beliebige Autofan aufmerksam zu machen pflegte - auch wenn sie gerade vor einem Supermarkt stand und ihre Einkäufe verstaute.

Ihre Werkzeuge waren säuberlich in zwei schweren Segeltuchtaschen im Kofferraum verpackt. Anya zog Mantel und Schuhe aus, legte den Arbeitsoverall an und lehnte sich dann gegen die Stoßstange des Wagens, um auch noch den weißen Chemikalienschutzanzug überzustreifen. Egal, welche Größe sie bestellte, die Anzüge waren für sie immer zu groß. In den Dingern kam sie sich vor wie ein wandelndes Marshmallow. Schließlich zog sie die Feuerwehrstiefel über die Kunststofffüße des Schutzanzugs und warf sich die gelbe Feuerwehrjacke über. Die weißen Buchstaben ihres Namens reichten von einem Arm zum anderen. Zur Sicherheit hängte sie sich eine Atemmaske um den Hals, ehe sie den Feuerwehrhelm aufsetzte, ihre Taschen schnappte und sich auf den Weg zur Einsatzleitstelle machte.

Es war jetzt drei Jahre her, dass Anya in voller Montur auf Löschfahrzeugen mitgefahren war und den Adrenalinstoß gespürt hatte, den das Sirenengeheul hervorrief. Dieser Teil des Jobs hatte seinen Reiz, war aber auch eine besondere Herausforderung. Im Department gab es weniger Frauen als Männer, und sie hatte hart dafür gearbeitet, um sich als fähige und verlässliche Brandbekämpferin zu beweisen. Sie war rasch befördert worden, und ihre Vorgesetzten vertrauten darauf, dass sie ihre Arbeit unauffällig, effizient und ohne große Aufregung erledigte.

Die geforderte Sachlichkeit hatte sich im Umgang mit den Kollegen schon manches Mal als Nachteil erwiesen. Feuerwehrleute bildeten von Natur aus eine enge, geradezu familiäre Gemeinschaft. Wenn sie ehrlich zu sich war, dann war das einer der Gründe, warum Anya sich ihnen angeschlossen hatte: Sie wollte sich irgendwo zugehörig fühlen. Früher hatte auch sie ihren Teil an Vierundzwanzig-Stunden-Schichten in der Feuerwache abgeleistet. Es war, als lebte man in einem Aquarium - das war ihr nicht leichtgefallen. Obwohl sich viele Männer mit ihr verabreden wollten, hatte Anya sie stets abgewiesen. Meist war sie die einzige Frau in der Schicht gewesen und konnte allein in einem Zimmer schlafen, sodass niemand etwas davon merkte, wenn Sparky die Decke aufwühlte.

Sparky hatte die Feuerwachen geliebt. Dort gab es stets Dinge zum Hineinkriechen und darin Herumwühlen, Dinge, die köstlich nach Feuer dufteten. Auf einer Wache hatte Sparky eine Vorliebe dafür entwickelt, Lichtschalter und elektrische Schaltpulte abzulecken. Der Captain kam schließlich zu der Überzeugung, die Elektroinstallation sei derart mangelhaft, dass sie komplett erneuert werden musste. Als Sparky dann auch noch Geschmack an einer Bier-Neonreklame von einem der Feuerwehrmänner fand, hätte er beinahe die ganze Wache niedergebrannt. Ein gelangweilter Salamander, der nichts zu tun hatte, war eine gefährliche Angelegenheit.

Als die Stelle als Brandermittler frei wurde, war Anya nur allzu bereit, einen Job anzutreten, der es ihr erlauben würde, in ihrem eigenen Bett zu schlafen und Sparky von all den schmackhaften Geräten fernzuhalten. Und bald musste sie feststellen, dass sie die Ermittlungsarbeit sogar als befriedigender empfand. Hinter den Kulissen setzte sie das Puzzle aus forensischen und psychologischen Teilen zusammen, das verschiedene Motive für eine Brandstiftung offenlegte: die Vertuschung eines Verbrechens, Versicherungsbetrug, Rache oder ein pathologisches Vergnügen. Das genaue Motiv einer Brandstiftung war immer einzigartig - so einzigartig, wie die Flammen und Rauchschäden eines jeden Brands.

Durch den Wechsel in die Ermittlungsabteilung hatte sie das Aquarium hinter sich gelassen; nun stand sie draußen und schaute von dort aus zu. Ermittler erfreuten sich regelmäßiger Arbeitszeiten, und nach Feierabend gingen sie nach Hause zu ihren Familien. Unter ihnen war nicht viel von der Kameradschaft zu spüren, die auf den Wachen herrschte. Und je mehr Zeit verging, desto breiter wurde der Graben zwischen Anya und ihren Kollegen.

Anya ging zur Leitstelle des Einsatzortes. Diese war gut erkennbar an dem Gewirr aus Feuerwehrleuten und Mitarbeitern der Energieversorger, die sich über einige Baupläne beugten. Sie sah einen hünenhaften Mann, der einen Schutzanzug trug und auf ein Klemmbrett kritzelte: Captain Marsh. Er war deutlich größer als die Arbeiter der Versorgungsunternehmen, und an seinem Hals baumelte eine Atemschutzmaske. Der Anzug war ihm an den Ärmeln etwas zu klein. Auf seiner haselnussbraunen Stirn glitzerten Schweißperlen und sein grau meliertes Haar klebte ihm am Kopf. Dort prangte eine Narbe, die er wie ein Ehrenabzeichen trug. Er gab sich nicht die Mühe die Wunde zu verbergen, die er sich vor Jahren zugezogen hatte, als er auf einem Leiterwagen mitgefahren und ein Haus explodiert war. Marsh war ein sachlicher Typ und hielt nichts davon, die Wahrheit zu beschönigen.

»Captain«, begrüßte sie ihn. »Was haben wir hier?«

Marsh blickte von seinem Klemmbrett auf. »Kalinczyk. Wir haben ein Lagerhaus, das in mehrere Bereiche aufgeteilt war. Es wurde mit Wänden aus verschiedenem Material gearbeitet, die nicht den Vorschriften entsprechen.« Marsh machte es wütend, wenn sich Leute nicht an Vorschriften hielten und dadurch etwas Schlimmes passierte.

»Haben Sie schon Kontakt zum Eigentümer aufgenommen?«

»Den haben wir noch nicht erreicht, also wissen wir auch nicht, was alles drin war. Bisher fanden wir Möbel, Büroausstattungen, Dokumentenarchive und etwas, das aussieht wie ein privater Lagerraum. Wer weiß, was da noch ist? Alles, was wir gefunden haben, war leicht entflammbar und auf engem Raum dicht gepackt.« Marsh blätterte in den Papieren auf seinem Klemmbrett. »Das Feuer wurde um vier Uhr zwanzig von einem Wachmann gemeldet, der bei dem Gebrauchtwagenhändler einen halben Block von hier entfernt arbeitet.« Mit dem Daumen zeigte er auf einen Mann, der auf dem Rücksitz eines Streifenwagens saß. »Das ist er.«

»Vorbestraft?«

»Nein. Die Polizei hat ihn überprüft. Nichts.«

Anyas Blick schweifte zu den Rettungsfahrzeugen, die immer noch am Brandort waren, und zu einem verkohlten Etwas in Form eines Menschen, das halb unter einer Decke versteckt lag. Sie runzelte die Stirn. »Sie sagten, einer unserer Leute sei verletzt worden.«

»Ja.« Marsh seufzte. »Statt in Sicherheit zu investieren, haben die Eigentümer eine Schaufensterpuppe vor einem Fenster im ersten Stock platziert, damit es so aussieht, als würde hier jemand arbeiten.« Er zeigte auf die bäuchlings am Boden liegende Gestalt. »Die erste Leiterwagengruppe vor Ort hat gedacht, dort wäre eine Person eingeschlossen, und ist durch das Fenster rein, um sie zu retten. Neuman hat Verbrennungen erlitten, als er die Puppe rausgezogen hat. Den Jungen hat's schlimm erwischt.« Marshs Lippen zuckten vor Zorn. Anya wusste, dass er in Teilzeit an der Feuerwehrakademie unterrichtete und die meisten jungen Brandbekämpfer persönlich kannte.

»Tut mir leid, Captain.«

»Ja, mir auch.«

Anya nickte. »Ich mache mich an die Arbeit.«

Dann wandte sie sich dem einzigen Zeugen zu: dem Wachmann, einen Hispanier Anfang zwanzig mit abstehendem Haar, der immer noch im Wagen saß. Ihr fiel auf, dass er keine Waffe trug und dass seine braun-weiße Uniform so neu war, dass man noch die Bügelfalten erahnen konnte.

Anya öffnete die Tür und setzte sich neben ihn. »Hi. Ich bin Lieutenant Kalinczyk vom Detroit Fire Department.«

Der junge Mann schaute sie an. Anya fiel auf, dass er einen Rucksack unter dem Arm hielt. »Bin ich in Schwierigkeiten?«

Anya schüttelte den Kopf und zog ihr Notizbuch hervor. »Nein. Der Rücksitz des Streifenwagens ist nur derzeit der sicherste Ort für Sie, weil wir nicht wissen, was für ein Zeug aus dem niedergebrannten Gebäude jetzt durch die Luft fliegt. Ihr Name, bitte?«

»John Sandoval.«

»John, wie wäre es, wenn Sie mir erzählen, was passiert ist?«

»Ich arbeite drüben bei dem Gebrauchtwagenhandel als Nachtwächter. Ist ein netter Job. Tagsüber gehe ich zur Uni, und hier habe ich normalerweise nicht viel zu tun. Es gibt einen hohen Stacheldrahtzaun und eine gute Alarmanlage - Keine Ahnung, wozu die einen Wachmann brauchen. Nicht, dass ich mich beklagen wollte. Ist gutes Geld für mich.« Die Worte sprudelten nur so aus seinem Mund. »Ich war dabei für mein Examen zu lernen, als ich ein Licht auf der anderen Straßenseite bemerkte.«

»Was für ein Licht? Von Scheinwerfern? Von einer Taschenlampe?«

Er schüttelte den Kopf. »Weder noch, glaube ich. Es war ein ziemlich schwaches Licht. Gelb. Ich habe es gerade noch gesehen, bevor es um eine Ecke des Gebäudes verschwand.«

»Es war außerhalb des Gebäudes?«

»Ja, in der Gasse. Ich habe mir nicht viel dabei gedacht, bis ich ungefähr eine Stunde später den Rauch gerochen habe. Ich bin aufgestanden, um nachzusehen, und da sah ich, dass der erste Stock brannte. Dann habe ich die 911 angerufen.« Er hob hilflos die Hände. Anya sah, dass sie sauber waren. Weder auf den Handflächen noch unter den Fingernägeln gab es Spuren von Brandbeschleunigern. »Das war alles, das habe ich den Cops schon erzählt.«

»Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen? Jugendliche, Autos, irgendwas Ungewöhnliches?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts gesehen. Ich habe im Wachdienstwagen an der Südseite des Freigeländes gesessen. Es war nichts los.«

»Irgendwelche sonderbaren Gerüche? Benzin, Chemikalien?«

»Nein. Es schien alles ganz normal zu sein.« Johns Gesichtsausdruck verfinsterte sich. »Ähm ... werden Sie meinem Boss erzählen, dass ich während der Arbeit gelernt habe?«

»Nein.« Anya schüttelte den Kopf, schenkte ihm ein angedeutetes Lächeln und setzte die Kappe auf ihren Stift. »Ich will Ihnen nicht Ihren netten Job versauen.«

John grinste erleichtert. »Danke, Ma'am. Ahm ... kann ich jetzt gehen? Meine Prüfung ist um acht Uhr dreißig.«

»Klar.« Sie reichte ihm ihre Karte. »Ich melde mich bei Ihnen. Rufen Sie an, falls Ihnen noch irgendwas einfällt.«

»Natürlich.« John warf sich den Rucksack über die Schulter und stieg aus dem Streifenwagen.

Anya folgte ihm hinaus und holte die Kamera aus ihrer Tasche. Sie umrundete das Gebäude und machte Foto um Foto. Sie betrachtete die Türen auf der Vorder- und Rückseite näher, aus denen sich tropfende Löschschläuche hervorschlängelten. An den schweren Metalltüren sah sie Kratzspuren der Werkzeuge, die die Feuerwehrleute zum Öffnen benutzt hatten. Die Leiter war noch ausgefahren und führte hinauf zu dem aufgebrochenen Fenster im ersten Obergeschoss, hinter dem die Puppe gewesen war. Es bot sich ein deutliches Bild des Schauplatzes, an dem der junge Feuerwehrmann in Schwierigkeiten geraten war.

Aber wie war der Brandstifter hineingelangt? Das Ausmaß des Gebäudeschadens verriet Anya, dass das Feuer vermutlich drinnen gelegt worden war. Ohne Brennmaterial wäre ein Feuer in der Gasse oder vor einer Außenwand in kurzer Zeit von selbst wieder erloschen. Ihr geübter Blick streifte die vernagelten Fenster des Erdgeschosses und die Fenster im Obergeschoss, deren Scheiben durch die Hitze und den Druck des Feuers herausgesprengt worden waren. Von oben war ihr Brandstifter nicht reingekommen. Er musste eine Möglichkeit gefunden haben, auf Straßenebene einzudringen.

Sie runzelte die Stirn. Feuer, die gelegt wurden, um von der Versicherung zu kassieren, gingen meist vom Dach aus. Und Feuer wanderte stets aufwärts. Ein Feuer, das oben gelegt wurde, verursachte nur minimale Schäden im Inneren. Aber es brannte spektakulär genug, um die Gebäudestruktur ausreichend in Mitleidenschaft zu ziehen, damit die Versicherung zahlte - und man sicherte sich eine kurze Sendezeit in den Abendnachrichten. Wurde ein Feuer jedoch im Erdgeschoss oder darunter gelegt, dann beabsichtigte der Brandstifter alles niederzubrennen, was sich im Gebäude befand. Die Person, die für diesen Brand verantwortlich war, kannte sich mit Feuer aus.

Anya umrundete die Fundamente und betrachtete die Kellerfenster. Die meisten waren mit Stahlgittern gesichert, die einem Tritt nach wie vor standhalten würden. Das Glas dahinter war mit eingelegtem Draht verstärkt und hätte einem Einbruchsversuch standgehalten.

Trotzdem. Dies war ein altes Gebäude - ein Gebäude, das nicht bewacht wurde und keine funktionierende Alarmanlage hatte. Anderenfalls wäre die Feuerwehr rechtzeitig durch den entsprechenden Sicherheitsdienst alarmiert worden, und nicht erst, wenn die Flammen so groß sind, dass man sie von der anderen Straßenseite aus sieht. Gebäudewartung dürfte im Kopf des Eigentümers keine große Rolle gespielt haben. Es musste einen Weg hinein geben.

Da. Sie trat ein Stück Gitterrost beiseite. Das Fenster dahinter lag verborgen im Schatten der Gasse und war von der Straße aus nicht zu sehen. Früher war das verrußte Gitter an den Mauersteinen festgeschraubt gewesen, aber nun hatten sich die rostigen Schrauben gelöst. Anya konnte sich gut vorstellen, wie der Brandstifter hier ungesehen gekauert und so lange am Gitter gezerrt hatte, bis er es lösen konnte. Und als er gegangen war, hatte er es wieder vorgezogen. Das bedeutete, dass er nicht in Panik gewesen war und darauf geachtet hatte, seine Spuren zu verwischen. Er war vorsichtig und ging methodisch vor. Kein gutes Zeichen.

Das Glas war herausgebrochen und das Drahtgitter sauber abgetrennt worden. Anya fotografierte sorgfältig die Ränder. Eine Draht- oder Blechschere dürfte kurzen Prozess damit gemacht haben. Sie nahm sich vor, die Forensikexperten herzuschicken, damit sie nach Fingerabdrücken suchten.

Aber zuerst wollte sie sehen, was der Brandstifter gesehen und getan hatte, als er das Feuer legte. Anya ging zurück zum Haupteingang und schritt über die tentakelartigen Feuerwehrschläuche.

Sie schaltete ihre Taschenlampe an und starrte in die feuchte Dunkelheit. Das Erdgeschoss war nur noch eine Ruine. Das Gewicht der ersten und zweiten Etage lastete auf den verbliebenen Wänden. Verkohlte Balken reichten hinauf bis zu dem zerstörten Dach. In Gebäuden aus jener Zeit war weniger Stahl verbaut worden als in modernen Bauwerken, dafür aber viel Holz. Anya konnte sehen, wo das Feuer über den abgenutzten Holzboden hinweggefegt war, genährt durch jahrzehntealten Lack und Schmutz. Trümmer der Trockenmauer lagen auf dem Boden - geborsten wie Eierschalen, zertrümmert vom Gewicht einstürzender Wände. Anya nahm an, dass diese Wände viel später errichtet worden waren, um einzelne Mietlagerräume abzuteilen, genau wie Marsh gesagt hatte. Der herumliegende Schutt bestand aus allerlei Gerümpel: zertrümmerte Aktenschränke, durchnässte schwarze Pappkisten und geschmolzene Abfallsäcke, die wie Geister von Balken herabhingen. Nasse Möbelstücke standen in Pfützen aus Wasser und Asche. Von oben fielen schmutzige Tropfen herunter wie ein schwarzer Regen. Anya konnte keine Sprinkleranlage an der Decke entdecken, als sie sich einen Weg durch das Trümmerfeld bahnte. Sie nahm an, dass das ganze Gebäude einfach abgerissen werden würde. Sie sah nichts, was es wert war, gerettet zu werden.

Anya schwenkte ihre Taschenlampe und suchte nach einem Weg in den Keller. Neben dem Fahrstuhl entdeckte sie eine Tür zum Treppenhaus. Der Fahrstuhl war von altmodischer Art: mit einer Gittertür, die sich langsam aus den in der Hitze geschmolzenen Angeln löste. Sie konnte Rauch und Ruß in dem Fahrstuhlschacht sehen, und sie stellte sich vor, wie die Flammen aus dem Keller emporgeschlagen sein mussten. Als sie aufblickte, sah sie die Überreste der Kabine auf der Höhe des ersten Obergeschosses baumeln. Dieser offene Fahrstuhlschacht musste für einen perfekten Kamineffekt gesorgt und dem Feuer den Sauerstoff geboten haben, den es brauchte, um sich im gesamten Gebäude auszubreiten.

Die Tür zum Treppenhaus war durch einen Haufen geschwärzter Lattenkisten blockiert. Anya schob sie zur Seite und fühlte die rissige Oberfläche versengten Holzes durch ihre Handschuhe. Der Brandstifter war vermutlich gar nicht bis ins Erdgeschoss gekommen. Er hatte im Keller seine Arbeit getan und war verschwunden. Wäre er mit dem Fahrstuhl wieder runtergefahren, hätte die Kabine im Keller sein müssen.

Warum hatte es ihn überhaupt nicht interessiert, was in dem Lagerhaus war? Hätte er sich nicht umsehen müssen, um herauszufinden, ob es etwas gab, das sich zu stehlen lohnte? Er hatte die Zeit und die Gelegenheit gehabt - keine Alarmanlage, niemand, der ihn hätte beobachten können.

Anya öffnete die Metalltür, die sich knirschend in dem verzogenen Türrahmen bewegte. Der Lichtkegel ihrer Taschenlampe glitt über die Stufen, die alle vom Feuer beschädigt und weitgehend zerstört waren. Auf dem Weg nach oben war nichts mehr, was das Gewicht eines Menschen hätte tragen können. Von der nach unten führenden Treppe war kaum mehr übrig als ein dekoratives, metallenes Geländer.

Anya schnappte sich eine kurze Leiter, die von einem Feuerwehrwagen stammte, und schleifte sie durch die Trümmer. Sie schob sie durch die Tür, lehnte sie an den Türrahmen und kletterte hinunter in den Keller. Mit dem letzten Schritt landete sie in einer kalten Pfütze, die bis zu ihren Knöcheln reichte.

So tief im Gebäude war sie von den Straßengeräuschen abgeschirmt. Alles, was sie noch hören konnte, war ihr Atem in der Atemmaske, das tropfende Wasser, das sich in Pfützen sammelte, und das ein oder andere besorgniserregende Knarren aus den Trümmern über ihr.

Die schwarzen Wände bestätigten ihren Verdacht: Der Keller war der Ausgangspunkt des Feuers gewesen. Nur Gegenstände aus Metall hatten den Brand überstanden und waren nun mit einer dicken Rußschicht bedeckt. Alles andere war von den Flammen zerstört worden. Ihre Taschenlampe beleuchtete eine sonderbare Sammlung mechanischer Einzelteile. Einige sahen aus wie Teile großer Uhren, wie Zahnräder und verdrehte Zeiger in geschmolzenen Gehäusen. Sie erkannte außerdem Bauteile von Staubsaugern, deren Kunststoffschläuche verbrannt waren. Die Griffe und das Metallgehäuse hatten das Feuer überstanden und ähnelten nun dem schwarzen Panzer einer riesigen Kakerlake. Ein großer Boiler stand in der Mitte des Raums und bohrte seine eisernen Tentakel in die Kellerdecke. Anya öffnete die Klappe und lugte in seinen Bauch, stocherte im Inneren herum. Nichts als Kohle - und zwar sehr alte Kohle. Dies war nicht die Zündquelle des Feuers. Der Boiler hatte von außen schlimmere Brandschäden als von innen.

Die Ermittlungen am Tatort einer Brandstiftung gestalten sich stets problematisch. Denn bei dem Versuch, das Feuer zu löschen, werden oft so viele Beweismittel vernichtet, dass jede noch so kleine Spur Gold wert ist. Wie sich zeigte, bildete auch dieser Fall keine Ausnahme. Anya fragte sich, was das Wasser, das ihr um die Füße schwappte, wohl verbarg.

Sie runzelte die Stirn. Bei einem so starken Feuer sollte es irgendwelche Hinweise darauf geben, was es entfacht hatte. Doch sie sah keinen offensichtlichen Ausgangspunkt, keine v-förmige Rußspur, die verriet, dass das Feuer hier angefangen und die Wand hinaufgekrochen war. Sämtliche Balken über ihr waren gleichermaßen rußgeschwärzt, die Oberflächen rissig wie die Haut eines Alligators. Sie nahm einen Eispickel aus der Werkzeugtasche und stach ihn aufs Geratewohl in die Balken, um herauszufinden, wie tief sie verkohlt waren. Die verkohlte Schicht musste dort, wo das Feuer angefangen hatte, am dicksten sein - Aber sie war bei den mittleren Balken genauso dick wie bei den äußeren. Es war physikalisch schlicht unmöglich, dass das Feuer überall zugleich entflammt war.

Anya stocherte in dem Schutt auf dem Boden herum, fand aber keine Überreste von Benzinkanistern und keine Hinweise auf andere Brandbeschleuniger. Für einen Moment zog sie die Atemmaske vom Gesicht, doch sie konnte keinen ungewöhnlichen Geruch von Gas oder Benzin feststellen. Sie nahm einen tragbaren Kohlenwasserstoffdetektor aus ihrer Tasche. Das handtellergroße Gerät war imstande, wirklich jede flüchtige Verbindung in der Luft aufzuspüren, die als Brandbeschleuniger infrage kam. Zweimal ging sie mit dem Gerät am Rand des Kellers entlang, beide Male konnte das Gerät zu ihrer Enttäuschung nichts finden.

Anya kratzte Proben der Rußschicht von Wänden und Balken und tat sie in kleine Gefäße, um sie zur Analyse zu geben. Vielleicht konnte das Labor irgendwelche Chemikalien entdecken, die ihr helfen würden, die Ursache des Feuers herauszufinden - Doch der vermeintliche Ablauf machte ihr schwer zu schaffen. Es sah so aus, als wären die Flammen gleichmäßig und direkt aus dem Boden hochgeschlagen. Aber der Zeuge hatte keine Explosion beschrieben, und Anya sah keine Anzeichen für den Überdruck, den eine Explosion bewirkt hätte: Die Metallrohre und der Boiler waren noch baulich intakt, die Mauersteine saßen an ihrem angestammten Platz im Mörtel. Das ergab keinen Sinn. Feuer verhielt sich nicht so. Das Verhalten von Feuer war grundsätzlich vorhersehbar. Ob eine oder mehrere Zündquellen: Es breitete sich ungleichmäßig aus, abhängig von den Umgebungseinflüssen wie Wind oder verfügbarem Sauerstoff. Da gab es eine Logik. Aber dieser Ort war auf unerklärliche Weise so gleichmäßig gebacken worden wie ein Kuchen im Ofen.

Anya wünschte, sie hätte behaupten können, so etwas noch nie erlebt zu haben, aber das konnte sie nicht. Leider half ihr das kein bisschen, den Tathergang zu verstehen. Sie vermutete, dass dieses Feuer das Werk des Serienbrandstifters war, den sie suchte. Auf die gleiche, ebenmäßige Art waren im vergangenen Monat bereits drei Gebäude verbrannt. Die Feuer hatten immer im Keller begonnen, und es geschah stets in ungenutzten Gebäuden innerhalb der Stadtgrenzen. An allen anderen Tatorten hatte der Brandstifter eine Visitenkarte hinterlassen. Keinen Beweis, nur einen rätselhaften Anhaltspunkt. Sie richtete die Lampe auf das trübe Wasser am Boden, dann ließ sie sich auf Hände und Knie fallen, um sich durch den Schutt zu wühlen. Die Wasseroberfläche reflektierte den Lichtschein und warf schimmernde, unebene Lichtflecken an die Decke. Anya zog ein Trümmerstück vom Bodenabfluss, und das schmutzige Wasser floss langsam ab. Sie hoffte, was sie suchte wäre nicht da - doch sollte es da sein, musste sie es finden.

Anya schritt die Außenwände ab und versuchte abzuschätzen, wo die Kellermitte lag. Dort hielt sie inne, spähte zu Boden und wischte den Schmutz in dem abfließenden Wasser fort. Dann stockte ihr der Atem. Unter der Asche kam ein in den Betonboden geritztes Symbol zum Vorschein - genau dort, wo sie gehofft hatte, es nicht zu finden, genau in der Mitte des Kellers.

Eine gekrümmte, schlangenartige Form, ähnlich einer Welle, war dort hineingekratzt worden. Das Ende war gekrönt von einem Paar gebogener Hörner. Anya betastete die Markierung. Die Ränder waren absolut glatt; sie konnte sich nicht vorstellen, welches Werkzeug solche Kerben in ausgehärtetem Beton hinterlassen sollte. Wie ein gewaltiges Markenzeichen breitete sich die schwarze Einkerbung knapp einen Meter auf dem Boden aus.

Ihr Brandstifter war hier gewesen. Das war sein Werk.

Anya fühlte die Hitze, die von dem Symbol ausging, durch den Stoff ihrer Handschuhe. Zögernd zog sie sie aus und fuhr mit den Fingern über die gewundene Linie. Ihre Haut kribbelte bei der Berührung - ein ähnliches Gefühl wie vorhin, als sie den Getränkeautomaten mit dem kleinen Mädchen darin berührt hatte.

Dann spürte sie, wie sich ihr Halsreif erwärmte und Sparky sich im Schlaf regte. Gleich darauf fühlte sie eine tastende Salamanderpfote in der Nähe ihres Schlüsselbeins.

»Nicht jetzt«, flüsterte sie.

Sparky zog sich zurück und rollte sich wieder zusammen, aber sie konnte noch ein Knurren, das aus seiner Brust kam, hören.

»Das macht dann fünfzehn Dollar, Miss.«

Anya drehte sich in die Richtung, aus der die dünne, schrille Stimme kam und stolperte in der schlammigen Asche. Sie sah die geisterhaften Umrisse eines alten Mannes, der sich über den Metallbehälter eines Staubsaugers beugte. Der Schlauch war geschmolzen und die Form unter all dem Ruß kaum noch zu erkennen. Aber der alte Mann stand mit einem Schraubenzieher in der Hand über dem Ding und sah sie an.

»Er hat nur einen neuen Filter gebraucht. Der alte wurde durch den Dreck hier unten verklebt.«

Sparky erschien und legte sich um ihre Schultern. Sie spürte seinen Atem, aber er fühlte sich nicht bedroht genug, um dem Geist entgegenzutreten oder seine volle, bedrohliche Größe anzunehmen.

Anya näherte sich vorsichtig dem alten Mann. »Haben Sie vielen Dank.«

Er tippte an seine Hutkrempe. »Gern geschehen, Miss.« Anya erkannte, dass er die typische Arbeitskleidung eines Mechanikers trug. »Hier unten hatte ich bis vor Kurzem nicht viel zu tun.«

»Das sehe ich.« Anya lächelte ihm zu. »Wie lange sind Sie schon hier?«

Der Geist sah auf die Uhr und kratzte sich am Bart. »Dreiundzwanzig Jahre. Noch sieben bis zum Ruhestand.«

»Das ist eine lange Zeit.«

Der Geist zuckte mit den Schultern. »Ich beschäftige mich und bastele ein bisschen an dem Schrott herum.« Er zeigte auf die kaputten Einzelteile und Zahnräder, die den Boden bedeckten. Dann fing er an zu pfeifen und widmete sich wieder seiner Arbeit. »Die Rasenmähersaison geht bald los. Dann gibt es wieder mehr zu tun.«

»Hatten Sie ... Kundschaft? Letzte Nacht?«

Er hörte auf zu pfeifen und legte die Stirn in Falten. »Ja. Da war ein Mann.« Er fummelte weiter an dem Staubbehälter herum. »Ein großer Mann. Seine Augen haben ausgesehen wie glühende Kohlen.«

»Wissen Sie, was er wollte?«

Der Geist richtete sich auf und rieb sich den Hinterkopf. »Nein. Ich habe mich bedeckt gehalten. Kunden, die erst nach Feierabend auftauchen, bringen nur Ärger.«

»Sind Sie hier unten ganz allein?«

»Hier bin nur ich. Ist nett und ruhig.« Er sah sich in dem Trümmerfeld um. »Jedenfalls bis vor Kurzem.«

Sie trat näher an ihn heran. »Warum sind Sie ganz allein? Warum sind Sie nicht

gegangen?«

Sein Blick erstarrte, und ein Hauch von Furcht zeigte sich in den ledrigen Gesichtszügen. »Ich habe Angst vor Fahrstühlen.« Damit wandte sich der Geist ab und verschmolz mit der Wand.

Anya schauderte und überlegte, ob der Mechaniker so gestorben war - bei einem Unfall in dem klapprigen Fahrstuhl.

Sie mochte keine Überschneidungen zwischen ihrem Alltagsjob und ihrer nächtlichen Arbeit. Sie hatte es gern, wenn sie ihre Aufträge in zwei verschiedenen Kästen in ihrem Kopf verstauen konnte, zwischen denen es keine Berührungspunkte gab. Aber das Kribbeln in ihren Fingerspitzen blieb, während sie mit ihrer Kamera immer wieder das auf sonderbare Weise schöne Bild am Boden erhellte - die Figur, die sie schon an drei anderen Tatorten gesehen hatte. Sie schwor sich, ihre Bedeutung zu entschlüsseln, auch wenn das bedeutete, die selbst gesteckte Grenze zu ihren nächtlichen Aktivitäten zu überschreiten.