KAPITEL NEUN

Er war irgendwo in der Nähe.

Anya wandte den Blick von der Beerdigungszeremonie ab. Sie stand am Rande der Trauergemeinde, als die Sargträger die Flagge zusammenfalteten und Neumans Eltern überreichten. Sparky hockte auf ihren polierten Schuhen. Sie war zu weit entfernt, um die Worte des Bischofs zu hören, um irgendetwas zu hören, außer dem klickenden Geräusch der Gewehre, die zum Salut vorbereitet wurden.

Der Rasen auf dem Holy Sepulchre Friedhof zeigte sich in einem frischen Grün, während viele Bäume bereits ihr herbstlich verfärbtes Laub fallen ließen. Anyas Blick wanderte über die Menschen, die sich hier in diesem neuesten Teil des Friedhofs versammelt hatten, über die Feuerwehrwagen, die an der Zufahrtsstraße parkten und weiter zu dem ältesten Teil des Friedhofs mit seinen in den Boden abgesackten, verzierten Grabmalen und Gruften. Der neue Abschnitt war in symmetrischen Reihen angelegt, die Grabsteine waren exakt geometrisch. Über ausgedehnte Rasenflächen zog er sich bis zu den zerklüfteten, kunstvoll gearbeiteten Grabsteinen der vorletzten Jahrhundertwende. Diese Steine waren von der Luftverschmutzung und der langen Zeit geschwärzt, ihre Inschriften von den Jahren und saurem Regen zu einem großen Teil ausradiert. Der Friedhof war zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts durch die Garten-Friedhofs-Bewegung entstanden, die parkähnliche Anlagen gestaltet hatte. Zu jener Zeit wurden freundliche, baumbestandene Friedhöfe geplant, die auch für das Familienpicknick oder spielende Kinder Raum ließen. Damals herrschte noch die viktorianische Meinung, die grob besagte, dass der Odem des Todes die Lebenden stets umweht. Als die Gesellschaft jedoch immer weniger mit dem Tod zu tun haben wollte, wurden die Grabmale schlichter und schmuckloser, und die Gräber wurden seltener besucht.

Heute allerdings waren zu viele Leute hier. Anya schaffte es nicht die eine Person - ihren Brandstifter - in der Menge auszumachen. Bei Neumans Beerdigung standen Hunderte von Trauernden in mehreren Reihen um das Grab herum. Die Presseleute blieben respektvoll abseits, schossen ein paar Fotos und trotteten dann zurück zu ihren Übertragungswagen. Außer ihnen bewegten sich Dutzende Trauernde, die andere Tote beklagten, zwischen den Grabsteinen umher und hielten Blumen in den Händen. Eine Frau war eifrig damit beschäftigt, das wuchernde Unkraut auf einem Grab in etwa fünfzehn Metern Entfernung auszurupfen. Eine Gruppe von Schülern im Highschool-Alter fertigte mit Malkreide auf Pergament Reliefzeichnungen von älteren Grabsteinen an. Ein Mann, möglicherweise ein Historiker oder Ahnenforscher, spazierte mit Notizbuch und Stift zwischen den Gräbern umher. Das waren die Lebenden. Die Garten-Friedhofs-Bewegung wäre begeistert.

Die Toten wanderten ebenfalls durch den Sonnenschein. Auch im Leben nach dem Tod blieb der Friedhof ein Park. Der Geist eines Kindes saß auf einem Stein und ließ die Beine baumeln, während ein Mädchen im gleichen Alter in der Nähe auf einen Walnussbaum kletterte. Der Geist einer jungen Frau streckte sich im Schatten einer Kiefer aus und spielte mit seinem Säugling. Ein pummeliger Mann in mittleren Jahren saß auf einer Seite eines Doppelgrabmals und hielt eine Schirmmütze in der Hand. Der Todestag seiner Frau auf der anderen Seite des Grabmals war noch nicht eingraviert worden, und Anya fragte sich, wie lange er wohl noch auf ihre Gesellschaft würde warten müssen.

Der Geist eines älteren Mannes führte einige Meter entfernt seinen Hund zwischen den Gräberreihen spazieren. Sparky flitzte davon, um mit dem Hund zu spielen. Der alte Mann lachte, als der Salamander und der Hund sich gegenseitig am Hintern beschnüffelten und um einen Grabstein herumtollten.

»Das tut mir leid«, sagte Anya und versuchte Sparky zurückzurufen. Keiner der vielen Trauergäste am Grab bemerkte, dass sie fort war.

Der Geist des alten Mannes lachte. »Lassen Sie sie doch spielen. Bones langweilt sich. Ein bisschen Fangenspielen wird ihm das ganze Jahrzehnt verschönern.«

Die Gewehre feuerten zum Salut und ließen Anya aufschrecken und sich wieder auf die Zeremonie konzentrieren. Einundzwanzigmal feuerten die Gewehre. Anya nahm an, dass inzwischen sogar die Geister auf das Geschehen aufmerksam geworden waren: auf die Eltern, die kein lebendes Kind mehr hatten und die sich verzweifelt an der Flagge festhielten, und auf die Schützen, mit weißen Litzen an den Schultern, die ihre Gewehre festhielten.

Aber einer drehte sich nicht um, einer schaute nicht hin. In der Ferne im alten Teil des Friedhofs sah Anya eine Gestalt zwischen den Bäumen umhergehen. Sie trug eine schwarze Jacke, eine schwarze Hose und eine Sonnenbrille. Das Profil konnte sie aus dieser Distanz nicht erkennen, aber wie sich die Gestalt bewegte kam Anya bekannt vor - die Art, wie sie beim Gehen das rechte Bein belastete. Der Geist eines Mannes in Anzug und mit Bowlerhut spazierte vor dem Fremden den Pfad entlang. Der Fremde schien seine Schritte zu beschleunigen. Offenbar verfolgte er den Geist.

Anya überließ den Geist mit seinem Hund sich selbst und rannte los. Sparky riss sich von dem Geisterhund los und stürzte wie ein riesiges Eichhörnchen hinter ihr her. Die kühle Oktoberluft brannte in ihrer wunden Kehle, und ihre Lunge drohte, den Dienst einzustellen.

Der fremde Mann ignorierte sie und näherte sich dem Geist, der am Rand der Grabreihe entlangschwebte. Die Füße des Geistes berührten nicht den Boden; gemächlich wie eine Wolke trieb er den ausgetretenen Pfad zwischen den Grabsteinen hinab.

Sie wollte dem Mann zurufen, ihn auffordern, stehenzubleiben, wollte dem Geist eine Warnung hinterherbrüllen, doch sie brachte nur ein heiseres Krächzen heraus. Sie bezweifelte, dass irgendeiner der Trauergäste sie gehört hatte - und der unaufmerksame Geist wohl auch nicht.

Es war zu spät. Der Mann schritt zielstrebig über das Gras und einfach in den Geist hinein. Es sah aus, als wäre er in eine dichte Rauchwolke getreten - und der Geist löste sich auf. Er zerfaserte in einzelne Schwaden, die in der kühlen blauen Luft fortschwebten. Ein schwacher Seufzer, beinahe wie das Rauschen einer Muschel, wanderte über das Gras.

Er hatte den Geist verschlungen, so einfach, als wäre er nur durch einen hauchdünnen Vorhang getreten. Die Lässigkeit, mit der er das getan hatte, schockierte sie ... und er ging einfach weiter. Ohne auch nur einmal innezuhalten, marschierte er weiter über den Hügel zu den Gruften.

Anya folgte ihm, doch er verschwand hinter einer kleinen Baumgruppe. Außer Atem rannte sie hinterher und kam auf eine Lichtung, die dominiert wurde von einem Jugendstilmausoleum aus Kalkstein. Drei Walnussbäume standen direkt davor, und ihre Äste bogen sich graziös zu Boden. Zwei schwarze, schmiedeeiserne Löwen bewachten mit erhobenen Vorderpfoten den bogenförmigen Eingang. Die Eisentür hinter ihnen stand einen Spaltbreit offen.

Eine Einladung?

Sparky richtete die Kiemen auf, und seine Nasenflügel bebten. Anya knöpfte ihre Uniformjacke auf und griff nach ihrer Waffe. Dann öffnete sie die Tür und zog sogleich die Hand zurück, als sie die Hitze spürte, die von dem Metall ausging. Das Schloss war einfach weggeschmolzen, ohne dass das kunstvolle, eiserne Tor Schaden genommen hätte.

Das Tageslicht schickte Anyas langen Schatten voraus. Und die geometrischen Schatten des Türgitters erstreckten sich über den Boden und die angelaufenen Messingtafeln an den Wänden. In der Mitte des Mausoleums war eine Marmorbank. Eine dunkle Gestalt stand vor der gegenüberliegenden Wand und betastete einen Fleck Graffitifarbe auf einer der Messingtafeln. Sparky kauerte sich tief zu Boden und nahm knurrend seine Angriffshaltung ein.

»So etwas wie das hier wird heutzutage nicht mehr gebaut«, sagte er. Im Profil, ruhig und ohne die Aura des Feuers, war sein Gesicht durchaus attraktiv: ein kantiges Kinn und tief liegende Augen unter dichten Brauen. Seine Sonnenbrille hing an seinem Hemdkragen. Er hätte ebenso gut den Seiten eines Hochglanzmagazins entsprungen sein können. »Es ist eine Schande, sie zu verunstalten.«

Anya lachte; ein kurzes, heiseres Bellen. »Ein Brandstifter, der zugleich Denkmalschützer sein will.«

Nun drehte er sich um, zog eine Braue hoch und sah sie an. Sein linkes Auge war von einem warmen Braunton, die Pupille in der Dunkelheit geweitet. In dem anderen Auge hatte sich eine Trübung über der erstarrten Linse ausgebreitet, die nicht mehr auf Licht reagierte. Die Braue über diesem Auge war etwas uneben, als läge unter den perfekt gepflegten Härchen eine Narbe. Ihr ging auf, dass er auf diesem Auge blind war.

»Man muss das Alte entfernen, um Platz für das Neue zu schaffen«, sagte er.

Anya richtete unverwandt die Waffe auf ihn. »Ist das der Grund, warum Sie diese Feuer legen? Um Platz für ...«

»Um Platz für Sirrush zu schaffen.« Er zeigte ihr ein strahlendes Lächeln, und seine Zähne blitzten in der Dunkelheit weiß auf.

»Wer zum Teufel sind Sie?«

»Ich bin Sirrushs rechte Hand. Das ist doch offensichtlich.«

»Mir egal, selbst wenn Sie die rechte Hand Gottes sind. Nehmen Sie die Hände hoch«, befahl Anya.

»Nein«, sagte er. »Ich unterhalte mich viel lieber hier mit Ihnen, wo wir unter uns sind, und nicht auf dem Rücksitz eines Polizeiwagens.«

Sie kniff die Augen zusammen. »Ich werde Sie nicht davonkommen lassen. Sie gehen mit mir, und wenn ich Sie den Hügel runterzerren muss.«

Er lächelte. »Ich glaube nicht, dass Sie mich zu irgendetwas zwingen können.« Seine Hand flammte auf wie eine Fackel, und er wischte mit den Fingern sorgfältig das Graffiti von der Messingtafel. Dann schüttelte er seine Hand aus wie ein Streichholz. »Sie werden es bestimmt nicht schaffen, mir Handschellen anzulegen.«

Anya wich zur Tür zurück und tastete an ihrem Gürtel nach den Handschellen. Hinter ihrem Rücken legte sie die Handschellen um die Eisenstäbe der Tür herum, ließ sie zuschnappen, um die Tür zu verriegeln, und warf den Schlüssel hinaus ins Gras.

»Das ist interessant«, bemerkte er und verschränkte die Arme vor der Brust.

Sie zog ihr Handy aus der Handtasche und wählte 911. »Hier spricht Lieutenant Kalinczyk vom DFD. Ich bin auf dem Holy Sepulchre Friedhof und brauche Verstärkung ...« Sie erklärte ihrem Gesprächspartner die genaue Lage des Mausoleums, während ihr das Herz in der Brust hämmerte. »Bringen Sie Feuerlöscher mit. Massenweise.« Als sie auflegte, hatte sich der Brandstifter immer noch nicht gerührt.

»Sie haben noch ungefähr fünf Minuten, um sich mit mir zu unterhalten, ehe es hier von Cops wimmelt.«

Er reckte einen Finger hoch, der in einem roten Feuer leuchtete. »Ich kann mir den Weg durch diese Tür freibrennen.«

»Sicher. Irgendwann vielleicht. Aber, wenn es Ihre Künstlerseele nicht zu sehr verletzt, bis dahin habe ich vermutlich schon ein paarmal auf Sie geschossen.« Sparky meldete sich knurrend zur Stelle. »Und an ihm müssen Sie auch vorbei.«

Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Bei einem anderen Mann und an einem anderen Ort hätte sie es anziehend gefunden. »Wie sind Sie denn zu diesem Feuerelementargeist gekommen? Ich gestehe ... ich beneide Sie.« Er streckte Sparky die Hand entgegen, woraufhin dieser die Zähne bleckte.

»Finger weg von ihm.«

»Das scheint in der Tat geboten zu sein.«

»Was haben Sie mit Virgil gemacht? Und mit dem Geist des Mannes hier auf dem Friedhof?«, wollte Anya wissen. Nun war sie an der Reihe, ein paar Fragen zu stellen, ehe der Typ sich der Realität, das heißt Vross und den Detectives im Polizeihauptquartier würde stellen müssen.

Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe sie verzehrt.«

»Warum? Sie haben Ihnen nichts getan. Sie haben niemandem etwas getan.«

Er starrte sie an, als verstünde er die Frage nicht. »Weil wir so etwas nun einmal tun.«

Sie presste die Lippen zusammen und beschloss, begriffsstutzig zu tun. »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«

»Sie. Ich. Wir sind Laternen.«

»Ich bin überhaupt nichts Besonderes, auch wenn ich irgendwann mal Pfadfinderin war.«

Er schnaubte empört. »Sie sehen sie, genauso wie ich sie sehe.« Er näherte sich, und Anya richtete ihre Waffe auf sein dunkles, glänzendes Auge. »Sie sind eine Laterne. Ich kann das Loch in Ihrer Brust spüren, die Hitze Ihrer Haut ...« Nur einige Zentimeter von ihr entfernt fuhr er mit der flachen Hand durch die Luft. »Sie sind wie ich. Sie brennen innerlich, so als hätten Sie einen Stern verschluckt.« Sein Blick war so schwarz und farblos wie Quartz, als er sie von Kopf bis Fuß musterte. »Sie haben keine Ahnung, wozu Sie imstande sind - was ich Sie lehren könnte ...« Er trat noch einen Schritt näher.

»Bleiben Sie, wo Sie sind.« Ihr Finger am Abzug krümmte sich. »Ich weiß nicht, was Sie sind, aber gegen Kugeln ist nichts immun.«

Er legte den Kopf schief. »Das ist wohl wahr.« Als er Anstalten machte, sich abzuwenden, sah Anya ein Stück weißen Verbandmulls rechts unter seinem Kragen hervorlugen. Sie hatte ihn in jener Nacht getroffen. Bei all seiner Macht war er doch nicht unbezwingbar. »Ich bin das, was Sie sein könnten, mit dem richtigen Lehrer ...«

»Sie sind das, was ich sein könnte, wäre ich vollkommen schwachsinnig. Wer kann schon auf die Idee kommen, Sirrush aus seinem Todesschlaf zu wecken? Und wozu?«

Sein Auge glühte - vor Magie oder Gier, das konnte sie nicht erkennen. »Sirrush ist die letzte Hoffnung für diese Stadt. Sie werden sehen ...«

Sie hörte Schritte den grasbewachsenen Hügel zum Mausoleum heraufkommen, Gebrüll. Bei der Beerdigung des Feuerwehrmanns waren genug Polizisten anwesend, um eine kleine Armee zu überwältigen - und jetzt kamen sie.

»Hier drin!«, rief Anya.

Der Brandstifter faltete die Hände zusammen. »Sie vergeuden nur Zeit, Lieutenant Kalinczyk.«

»Nein. Ich halte Sie davon ab, Ihre kranken Fantasien in die Tat umzusetzen.«

Er lächelte und sah zu, wie sich die Polizisten hinter dem Eisentor drängelten. »Wir werden sehen, wessen Fantasien sich am Ende erfüllen.«

Sie hatte angenommen, die rechte Hand von Sirrush würde sich nach Kräften zur Wehr setzen.

Die Polizisten und Feuerwehrleute öffneten die Tür mit einem Bolzenschneider. Anya warnte sie, dass der Verdächtige vermutlich entflammbare Substanzen und Zündquellen bei sich habe, doch der ließ sich, umringt von einsatzbereiten Feuerlöschern, widerstandslos Handschellen anlegen. Die rechte Hand von Sirrush lächelte hinter der Seitenscheibe des Polizeiwagens, und genauso lächelte er sie etwas später durch einen Einwegspiegel im Polizeihauptquartier an.

Vross und seine Kumpane starrten den Mann dort im Verhörzimmer durch das Glas hindurch an. »Seinem Ausweis nach heißt er Drake Ferrer.«

»Warum kommt mir dieser Name so bekannt vor?«, fragte Anya.

»Es ist der Name eines einflussreichen Architekten, der versucht hat, die Stadt neu zu beleben ... hat versucht, sich Subventionen bewilligen zu lassen und private Gelder zu sammeln, um den Warehouse District und einige der schlimmsten Wohngegenden abzureißen. Er wollte dort Häuser für Leute mit niedrigem Einkommen bauen, Schulen, all so ein Zeug. Ein echter Gutmensch. Aber er hat das Geld nicht zusammengekriegt. Bei einem Raubüberfall vor etlichen Jahren hat man ihm die Scheiße aus dem Leib geprügelt, und dann ist er aus den Klatschspalten verschwunden. Teufel auch, ich staune, dass es ihn überhaupt noch gibt.«

Anya starrte durch die Scheibe. Er war ihr nicht wie der typische, nervöse Brandstifter vorgekommen. Dafür war er zu selbstsicher. »Vielleicht hat ihn der Fehlschlag um den Verstand gebracht.«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht.« Vross zog ruckartig seinen Gürtel an dem bemerkenswert fülligen Leib hoch. »Er sagt, er hätte nichts weiter getan, als sich die Architektur des Mausoleums anzusehen, als Sie ihn gefangengenommen haben. Sein Anwalt ist bereits unterwegs und spricht von einer unrechtmäßigen Festnahme.«

Anya schnaubte verärgert. »Sie haben doch den Zettel an meinem Wagen gesehen.«

»Auf dem Zettel gibt es keine Fingerabdrücke. Und wir wissen nicht, was zum Teufel die Notiz bedeuten soll.«

»Die Fingerabdrücke vom Lagerhaus, am Fenstergitter ... die sind von ihm.«

»Auf diesem Gitter gibt es zwölf verschiedene Abdrücke, immer vorausgesetzt, dass das Labor keinen Mist gebaut hat. Keiner davon stammt von ihm ... zumindest keiner von denen, die sie bis jetzt gefunden haben.«

»Dann hat er Handschuhe getragen. Ich habe sein Gesicht auf Videoaufnahmen von zwei Tatorten gesehen.«

»Das ist nebensächlich. Er sagt, er sei in der Schule gewesen, um sich ein Formular für eine Bewerbung als Schulassistent zu holen, und in der Straße vor dem Schönheitssalon hat er angeblich eine Mietwohnung besichtigt.«

Anya drehte sich wütend zu ihm um. »Ich habe auf ihn geschossen. Sehen Sie sich die Wunde an seiner Schulter an.« Sie tippte mit dem Finger gegen die Glasscheibe.

»Da ist nur ein Brandmal. Es könnte von einer ätzenden Flüssigkeit stammen, könnte von wer-weiß-was kommen. Uns liegt jedenfalls keine Meldung vor, derzufolge er in dieser Nacht eine Notaufnahme aufgesucht hätte.«

»Ich habe ihn gesehen.«

»Sagen Sie. Es war dunkel. Und Sie haben auch gesagt, der Brandstifter hätte einen Schweißbrenner benutzt.« Vross' Stimme troff vor Sarkasmus. »Sie haben also einen Kerl gesehen, der so aussah wie der da.«

»Und wo war er dann bitte in der Nacht, in der das Lagerhaus abgebrannt ist?«

»Der Bursche hat ein Alibi. Er war bei einer Hochzeitsfeier der gehobenen Gesellschaft. Einer unserer Stabschefs war auch da. Und für die anderen Nächte hat er auch ein Alibi.«

Sie seufzte frustriert. »Was erzählen Sie mir hier eigentlich, Vross? Arbeiten Sie für seine Verteidigung?«

»Ich erzähle Ihnen ...«, Vross verschränkte die Hände vor der Brust, und Anya konnte die Schweißflecken unter seinen Achseln sehen, »... dass wir nicht genug gegen den Mann in der Hand haben, um ihn festzuhalten. Sie haben voreilig gehandelt, und nun haben wir nichts vorzuweisen. Ich erzähle Ihnen, dass Sie sich bei Neumans Beerdigung zum Narren gemacht und seine Eltern ohne jeden Grund in helle Aufregung versetzt haben. Wir müssen ihn in vierundzwanzig Stunden wieder laufen lassen.«

Anya schlug mit der Faust gegen die Wand. »Wie dumm sind Sie eigentlich? Ich habe Ihnen den Kerl gerade auf einem Silbertablett serviert, und wir haben mehr als genug, um den Fall vor Gericht zu bringen.«

»Passen Sie auf, was Sie sagen, Prinzessin. Es gibt keinen Fall, solange ich nicht sage, dass es ihn gibt.«

»Und wie es den gibt.«

Die Tür zum Beobachtungsraum wurde geöffnet, und Marsh, immer noch in Ausgehuniform, stand auf der Schwelle.

»Bringen Sie dem Miststück mal Manieren bei, Marsh«, grollte Vross.

»Halten Sie verdammt noch mal die Klappe«, gab Marsh zurück.

Anya blinzelte verblüfft. Sie hatte Marsh noch nie fluchen hören.

»Auf ein Wort, bitte.« Marsh deutete in Richtung Korridor. Anya folgte ihm nach draußen.

»Captain, ich ...«, fing sie an.

Marsh hob einen Finger hoch, und sie verstummte. »Sie sind gerade auf ein paar ziemlich bedeutsame Zehen getreten, Lieutenant«, sagte er leise.

»Vross ist nicht ...«

»Ich spreche nicht von Vross. Vross ist nicht wichtig. Ich spreche von Ihrem Verdächtigen. Er hat ein paar Freunde in sehr hohen Positionen.«

Anyas Wangen brannten. »Aber die Beweise ...«

»Deuten in seine Richtung. Aber wir brauchen mehr. Wir müssen seine Anwesenheit an den Tatorten zum Zeitpunkt der Brandstiftungen nachweisen, und das können wir nicht. Der Staatsanwalt wird den Fall nicht anrühren, solange er nicht gesteht.«

»Aber das ist der Kerl, Marsh: der Mann, der in der Nacht im Lagerhaus war. Ich habe ihn gesehen.«

»Sie und wer noch?«

Als sie an Brian in seinem Krankenhausbett dachte, verlor sie jeglichen Mut. »Der andere Zeuge ist nicht in der Verfassung, eine Aussage zu machen.«

»Liefern Sie mir was.« Marsh presste die Lippen zusammen und öffnete die Tür zum Beobachtungsraum. »Liefern Sie mir genug, um diesen Hurensohn die nächsten fünfzig Jahre wegzusperren. Weisen Sie ihm nach, dass er am Tatort war.«

Anya starrte den Mann auf der anderen Seite der Glasscheibe an. Er hatte sich auf den Stuhl fallen lassen und fixierte den Einwegspiegel. Sie hätte schwören können, dass er sie trotzdem sehen konnte.

»Ich will mit ihm reden«, sagte sie.

Vross setzte zum Protest an, aber Marsh hob die Hand hoch. »Sie haben bei ihm doch nichts erreicht, nicht wahr?«

»Er sagt nur ständig, dass er seinen Anwalt will.«

»Dann haben wir wohl nichts zu verlieren, wenn sie es versucht.«

Vross zerdrückte seinen Kaffeebecher in der Hand und warf Anya die elektronische Schlüsselkarte zum Verhörzimmer zu. Sie verfehlte ihren Kopf, und Anya griff sie aus der Luft wie eine Schlange, die nach einem Vogel schnappt - dabei schenkte sie ihm ein höhnisches Lächeln. Als sie den Beobachtungsraum verließ, spürte sie seinen stechenden Blick in ihrem Rücken.

Als sie allein vor der Stahltür zum Verhörzimmer stand, griff sie nach dem Kupferreif an ihrem Hals.

»Wach auf, kleiner Kerl«, murmelte sie.

Gleich darauf fühlte sie, wie Sparky sich rührte. Er streckte sich, gähnte in ihrem Haar und wuchs zu voller Größe heran. Dann glitt er über ihren Jackenärmel und ihr Hosenbein zu Boden. Unten angekommen streckte er seinen Kopf zu ihrer Hand empor und leckte an der Schlüsselkarte. Er setzte eine Miene auf, als hätte er Vross' Fingerabdrücke auf der Karte geschmeckt.

Anya zog sie durch das Lesegerät des Schlosses. Ein grünes Licht leuchtete auf, und die Tür wurde mit einem metallischen Klacken entriegelt. Anya ging hinein. Sparky schlich neben ihr her.

Ferrer blickte ihr interessiert entgegen. »Da sind Sie ja wieder.«

Sie setzte sich auf den Stuhl ihm gegenüber und stützte die Ellbogen auf den Tisch. Sie hatte kein Notizbuch bei sich, kein Diktiergerät und auch keine schriftlichen Angebote, die sie ihm hätte unterbreiten können. Aber sie wusste, dass er sie in eine Falle gelockt hatte.

»Warum sind Sie hier, Mr Ferrer?« In Anbetracht der Videokamera unter der Decke achtete sie auf einen zivilisierten Ton.

»Ich glaube, das habe ich der Polizei bereits erzählt. Sie haben mich in dem Mausoleum in die Enge getrieben und mich beschuldigt, ein Serienbrandstifter zu sein.« Ein amüsiertes Funkeln blitzte in seinem gesunden Auge auf, und sie sah, wie sich seine Aufmerksamkeit von ihrem Gesicht löste und sein Blick allmählich ihren Hals herabwanderte. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sich ihre Uniformjacke, die sie vorhin aufgeknöpft hatte, beim Hinsetzen geöffnet hatte. Ihr Hemdkragen war ein Stück aufgeknöpft, um kühlende Luft an ihre Brandverletzung zu lassen. Sie hatte den Druck eines Büstenhalters auf der verschmorten Haut nicht ertragen, und nun spürte sie, wie das Hemd durch die antibiotische Wundsalbe an ihrer Haut klebte. Ihr erster Impuls war, die Jacke wieder zuzuknöpfen, doch hätte sie das getan, so hätte er erkannt, dass sie sich unter seinem forschenden Blick verwundbar fühlte - und sie weigerte sich hartnäckig, ihm diese Befriedigung zu gönnen.

»Bitte, Mr. Ferrer. Warum sind Sie wirklich hier? Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Mann, der über so viel Macht und Ansehen verfügt, irgendwo sein muss, wo er nicht hinwill.«

Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Sparky sich an der Wand aufrichtete, um an dem elektronischen Türschloss zu lecken, und sie wusste, dass Ferrer ihn auch sah, denn sein Blick huschte in diesem Moment zur Tür. Das Licht an dem Lesegerät wechselte von Rot nach Gelb. Guter Junge, dachte Anya.

»Ich gebe zu, die Chance, noch einmal mit Ihnen zu sprechen, ist ein beträchtlicher Anreiz.« Ferrer richtete seinen Blick wieder auf den Tisch. »Sie sind wirklich hübsch, ganz ähnlich wie ein Pin-up-Girl aus den Vierzigern. Vielleicht liegt das an der Uniform. Sie müssen mir irgendwann einmal Modell stehen.«

»Flirten Sie gerade mit mir, Mr. Ferrer?«

»Ja.« Sein Blick war offen und ruhig. »Ich dachte, im Verlauf eines Verhörs wird von mir erwartet, dass ich ehrlich bin.«

Sparky ging aufgebracht durch das Zimmer. Er roch das Testosteron in der Luft, und er würde nicht zulassen, dass Drake Ferrer seinen Schützling anbaggerte. Er stapfte zu ihm hin und biss ihm rigoros ins Knie.

Anya lächelte, als Ferrer aufkeuchte und sich bemühte, seine Reaktion zu verbergen. Sie war sich sicher, dass es für die Beobachter im Nebenraum so aussah, als hätte er lediglich einen Muskelkrampf.

Anya stützte wieder die Ellbogen auf den Tisch und das Kinn auf die Hände, um vor der Kamera einen besorgten Eindruck zu machen. »Ist alles in Ordnung, Mr. Ferrer?«

»Absolut bestens.«

»Gut.« Anya zog die Zeichnung aus ihrer Tasche hervor und glättete sie auf dem Tisch. »Sie scheinen ein fleißiger Künstler zu sein. Ist das Ihr Werk?«

Ferrer drehte das Blatt zu sich hin und tat so, als würde er es kritisch beäugen. »Eine gute Arbeit. Der Künstler hat den ernsten Zug um Ihre Mundwinkel wirklich gut eingefangen. Die Form Ihrer Hände hat er sehr feinsinnig nachempfunden. Das ergibt einen netten Kontrast zu der strengen Uniform. Und mit der Strichführung hat er Ihre Haltung recht gut getroffen. Die Augen sind exakt dargestellt, etwas umschattet und wunderschön.« Er drehte das zerknitterte Papier wieder zu ihr. »Leider ist es nicht meine Arbeit.«

»Ihnen ist bewusst, dass wir das einem Graphologen übergeben werden, oder? Einem Experten für Handschrift.«

»Ich erwarte nichts Geringeres von Ihnen. Aber das kriminaltechnische Labor von Detroit ... nun ja«, er machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand. »Ich bin überzeugt, welche Ergebnisse sie auch erzielen, sie werden vor Gericht absolut unanfechtbar sein.«

Sie kniff die Augen zusammen. »Welche Verbindung besteht zwischen Ihnen und diesen Bränden?«

»Gar keine. Wie ich dem Detective schon sagte, habe ich nichts damit zu tun.«

»In dem Mausoleum haben Sie mir erzählt, Sie würden diese Feuer legen, um irgendein Fabelwesen herbeizurufen.«

Ferrer lachte lauthals. »Das ist eine hübsche Theorie. Ich bin überzeugt, Ihre Vorgesetzten werden davon begeistert sein.«

Anya warf Sparky einen Blick zu. Der Salamander stellte sich auf die Hinterbeine und nahm einen Bissen von Ferrers Ellbogen.

Ferrer weigerte sich stoisch zu brüllen und versuchte, Sparky abzuschütteln. Anya hoffte, ihn auf diese Weise ausreichend zu provozieren, damit er in Flammen aufging, so wie in der Nacht am Lagerhaus.

Aber er schluckte den Köder nicht. Noch nicht.

Anya hatte nie zuvor einen Verdächtigen beim Verhör verletzt; das verstieß gegen ihre Prinzipien, was das angemessene Verhalten eines Ermittlungsbeamten anging. Doch dieses Ideal kollidierte nun mit der Notwendigkeit, diesem Mann ein Geständnis abzuringen, um den Brandstiftungen ein Ende zu machen. Einen Moment lang hielt sie inne.

Eine fordernde Stimme in ihrem Hinterkopf zischte: Niemand wird es je erfahren. Die Stimme pulsierte in ihren Schläfen und zermalmte ihre Gewissensbisse, die sich angesichts der Pein, die Ferrer erdulden musste, geregt hatten. Ferrer war schuldig. Sie musste ihn zum Reden bringen, ehe noch jemand verletzt wurde - ganz gleich, was es kostete.

»Ein Feuerwehrmann ist tot, Mr. Ferrer.«

»Ich habe es in der Zeitung gelesen. Das ist wirklich bedauerlich.« Nicht die kleinste Spur von Reue zeigte sich in seiner Miene.

»Ich möchte, dass Sie mir die Wahrheit sagen. Warum haben Sie diese Feuer gelegt?«

»Ich sagte es doch bereits: Ich habe sie nicht gelegt«, erwiderte er mit zusammengebissenen Zähnen und einem kalten Lächeln.

Anya nickte Sparky zu. Der Salamander kletterte auf den Tisch. Seine Nasenflügel bebten. Er witterte Blut. Anya betrachtete das Spiel von Licht und Schatten auf seinem gefleckten Körper. Sparky musste sich nicht mit der Frage nach richtig oder falsch herumschlagen. Er biss einfach zu, wenn etwas nicht gut roch. Darum beneidete sie ihn.

Ferrer beobachtete ihn, aber nicht furchtsam, sondern fasziniert.

»Haben Sie Haustiere, Miss Kalinczyk?«, fragte er. »Falls Sie ein Haustier haben, dann stelle ich es mir sehr gut ausgebildet vor. Dann wäre es bestimmt ein wahrhaft Furcht einflößender Gegner.«

»Hätte ich ein Haustier, Mr. Ferrer, dann hätten Sie recht.«

Sparky knurrte und biss Ferrer in die rechte Schulter, dorthin, wo der Verband unter seinem Kragen hervorlugte. Ferrer grunzte und versuchte, den Salamander abzuschütteln, aber das war etwa so, als versuchte man, das Maul eines Pitbulls zu öffnen. Anya saß derweil so am Tisch, dass ihre Hände gut zu sehen waren. Sie hörte ein Pochen am Glas, das Zeichen für sie, das Verhörzimmer zu verlassen. Sie ignorierte es. Und sie ignorierte das Rütteln an der Tür. Sparky hatte das Schloss blockiert. Sie war ganz allein mit Ferrer.

Anya ging um den Tisch herum, hielt ihre Hände aber immer noch so, dass sie gut zu sehen waren, während Ferrer mit Sparky kämpfte. Sie war überzeugt, auf der Videoaufzeichung würde er mit bloßer Luft kämpfen - vielleicht würde es wirken wie ein Krampfanfall. Sie kniete sich vor ihn, wohl wissend, dass es so aussah, als sorge sie sich ernstlich um den Gefangenen. Dann rief sie nach einem Sanitäter, deutlich genug, um sicherzustellen, dass es auf dem Video zu hören war.

»Mr. Ferrer, sagen Sie die Wahrheit. Sagen Sie, dass Sie diese Feuer gelegt haben.«

Ferrer schaffte es endlich, Sparky abzuwehren. Blut befleckte den Saum seines Ärmels und tropfte auf den Boden. Atemlos sah er ihr direkt in die Augen. Zugleich hörte sie, wie draußen jemand die elektrische Schließvorrichtung abmontierte. Marsh und Vross konnten jeden Moment hereinkommen.

Ein glückliches Lächeln huschte über sein attraktives Gesicht. »Sie müssen noch viel darüber lernen, was es heißt, eine Muse im Dienste des Feuers zu sein.«

Und das war alles, was er sagte.

Als Anya nach Hause kam, lagen Blumen auf ihrer Schwelle.

Vorsichtig griff sie nach dem Floristenpapier und blickte hinein. Weiße Chrysanthemen. Irgendwo in ihrem Gedächtnis regte sich eine Erinnerung: ihre Mutter, die sagte, diese Blumen symbolisierten die Wahrheit. Sie hatten zu ihren Lieblingsblumen gehört.

Anya klappte die schlichte, weiße Karte auf.

DAS, WAS SIE WISSEN MÜSSEN, IST NICHT

DAS, WONACH SIE SUCHEN.D.

Die Kanten der Karte schnitten scharf in ihre Handfläche, als sie sie zusammenknüllte und mit den Blumen in den Müll warf. Dieser Mistkerl.

Sie betrat das Haus, schaltete aber das Licht nicht ein. Ihr Anrufbeantworter blinkte rot: zwei Nachrichten von Katie, die wissen wollte, ob alles in Ordnung war; ein Anrufer, der sich verwählt hatte; und ein Verkäufer, der ihr eine Fassadenverkleidung andrehen wollte.

Anya fühlte sich unendlich schwer, erschöpft von der Last zu vieler Sorgen und Enttäuschungen. Sie schälte sich aus ihrer Kleidung, stieg unter die Dusche und ließ sich das warme Wasser über Gesicht und Haar laufen. Die Piraten-Gummiente kreiste in dem Wasserwirbel zu ihren Füßen. Sie achtete darauf, nur ihren Rücken dem Wasserstrahl auszusetzen, damit die empfindliche Brandwunde auf ihrer Brust verschont blieb. Die dämonische Verbrennung warf inzwischen Blasen, von denen einige aufgeplatzt waren und eine klare Flüssigkeit absonderten. Anya brauchte sie nur anzusehen, und schon drehte sich ihr der Magen um. Deshalb konzentrierte sie sich lieber auf die Gruppe aus Gummienten, die auf dem Regalbrett einen fröhlichen Plastik-Schmusekreis bildete. Zu ihren Füßen schnappte Sparky nach den aufspritzenden Wassertropfen.

Erst jetzt fiel Anya auf, dass sie im Dunkeln duschte. Sie hatte das fehlende Licht gar nicht bemerkt. Eigentlich hätte ihr das zu denken geben müssen, aber sie war außerstande, noch weitere beklemmende Gefühle aus den Tiefen ihres Verstands heraufzubeschwören. Die waren bereits alle für Brian und den Fall reserviert.

Ein halbes Dutzend Mal putzte sie sich die Zähne und gurgelte mit Mundwasser, trotzdem hatte sie immer noch einen säuerlichen Geschmack in der Kehle. Den Gummientenbademantel fest zugeschnürt, kroch sie ins Bett. Sparky hatte seinen Leuchtwurm genau in der Mitte liegen gelassen und rollte sich um ihn herum zusammen. Als sie seinen Kopf streichelte, steckte er sich den Schwanz ins Maul. Armer kleiner Kerl. Anya beugte sich vor und küsste seinen ledrigen Kopf. Obwohl Sparky eigentlich dazu bestimmt war, ihr Beschützer zu sein, war es ihr in den letzten paar Tagen eher so vorgekommen, als müsse sie ihn behüten.

»Es wird alles gut, Sparky. Wir haben schon Schlimmeres durchgemacht, also werden wir auch das überstehen.«

Der Leuchtwurm verbreitete seinen sanften Schein, der in ihre Träume glitt, wie Licht durch einen Türspalt.

Wieder einmal träumte sie von der Eishöhle.

Zu ihrer Rechten rannte Sparky im Kreis und glühte bernsteinfarben. Zu ihrer Linken stand das Mädchen aus dem Getränkeautomaten. Seine Schnürsenkel waren offen. Vor Anya knurrte die unsichtbare Macht und jagte Hitzewellen über die glatten Wände.

Aber da war noch etwas: eine zähe Flüssigkeit, die sich pechschwarz über den weißen Eisboden erstreckte. Sie sah aus, wie in Wasser gelöste Tinte und begann langsam, sich aufzurichten. Sie formte sich, bis sie eine menschliche Gestalt angenommen hatte. Das Wesen blieb dabei durchsichtig, und Anya konnte etwas von dem Eis hinter ihm erkennen. Es zog schlangenförmige Spuren des ektoplasmischen Schlamms nach sich, so als wäre es nicht imstande, eine perfekt ausgeformte Gestalt anzunehmen.

Sparky stellte sich vor sie und fauchte mit ausgebreiteten Kiemen. Anya drängte das kleine Mädchen hinter sich. »Was zum Teufel bist du?«

Das Wesen wogte vor ihr wie ein Aal in einer unsichtbaren Strömung. »Wir wurden einander bereits vorgestellt.«

Die Stimme ... sie erkannte sie wieder, sie hatte sie bei dem verpatzten Exorzismus gehört und im Verhörzimmer in ihrem eigenen Kopf. Es war Chloes Dämon.

»Wie ist dein Name?«, herrschte Anya ihn an. Sie wusste, dass ein Dämon wahrheitsgemäß antworten musste, wenn er nach seinem Namen gefragt wurde. Und Wahrheit war der erste Schritt auf dem Weg zur Kontrolle.

»Mimiveh.«

»Toll. Dann macht es dir doch sicher nichts aus, wenn ich dich Mimi nenne.«

Die Finsternis zuckte verärgert. »Furchtbarer Mensch.«

»Was willst du, Mimi?«

Der Dämon kicherte. Er erhob sich in die Luft und warf einen Blick hinter Anyas Rücken. Sparky sprang ihn an und kehrte mit einem Maul voll zerfaserten schwarzen Nebels zurück. »Ich spiele gern mit kleinen Mädchen.«

Anya hob drohend die rechte Hand. Sie hatte diesen Dämon schon einmal verschlungen; sie konnte es wieder tun. »Vergiss es. Du spielst nicht mit ihr. Oder mit Chloe.«

Der Dämon griff mit tintigen Tentakeln nach Anyas Gesicht. Seine Berührung brannte so sehr wie die Verbrennung auf ihrer Brust. »Dann, schätze ich, muss ich wohl mit dir spielen.«