1
Vier Tage nachdem Eddie ihn ohne sein ursprüngliches Paar Hosen und die Turnschuhe, aber noch im Besitz des Ranzens und seines Lebens durch das Tor zwischen den Welten gezogen hatte, erwachte Jake, weil ihm etwas Warmes und Nasses über das Gesicht strich.
Wäre ihm das an einem der drei vorangegangenen Tage passiert, hätte er seine Gefährten zweifellos mit seinen Schreien aufgeweckt, denn er war fiebrig gewesen, und Träume von dem Mörtelmann hatten seinen Schlaf gequält. In diesen Träumen rutschte seine Hose nicht, der Torwächter behielt ihn fest in der Hand und stopfte ihn in das unaussprechliche Maul, wo die Zähne zuschnappten wie die Balken, die ein Burgtor hüteten. Jake erwachte schlotternd und hilflos stöhnend aus diesen Träumen.
Der Spinnenbiß in seinem Nacken hatte das Fieber verursacht. Als Roland ihn am zweiten Tag untersucht und festgestellt hatte, daß die Infektion schlimmer geworden war, hatte er sich kurz mit Eddie unterhalten und Jake dann eine rosa Tablette gegeben. »Du solltest mindestens eine Woche jeden Tag vier davon nehmen«, sagte er.
Jake hatte ihn zweifelnd angesehen. »Was ist das?«
»Cheflet«, sagte Roland, dann sah er Eddie erbost an. »Sag du es ihm. Ich kann es immer noch nicht aussprechen.«
»Keflex. Du kannst unbesorgt sein, Jake, es stammt aus einer von der Regierung genehmigten Drogerie aus dem guten alten New York. Roland hat ein paar geschluckt, und der ist gesund wie ein Pferd. Sieht auch ein bißchen wie eines aus, wie du selbst sehen kannst.«
Jake war erstaunt: »Wie habt ihr Medizin aus New York holen können?«
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte der Revolvermann. »Zu gegebener Zeit wirst du sie ganz hören, aber vorläufig solltest du dich damit begnügen, einfach die Tablette zu nehmen.«
Jake gehorchte. Die Wirkung war schnell und lindernd. Die häßliche rote Schwellung um den Biß herum verblaßte binnen vierundzwanzig Stunden, und inzwischen war auch das Fieber zurückgegangen.
Das warme Ding stupste ihn wieder an. Jake richtete sich mit einem Ruck auf und öffnete die Augen.
Das Geschöpf, welches ihm das Gesicht geleckt hatte, war ein Billy-Bumbler, aber das wußte Jake nicht; er hatte zuvor noch nie einen gesehen. Dieser war magerer als die, die Rolands Gruppe früher gesehen hatte, das schwarz-grau gestreifte Fell war matt und verfilzt. An einer Flanke war ein Klumpen altes, getrocknetes Blut zu sehen. Die schwarzen Augen mit den goldenen Ringen sahen Jake ängstlich an; sein Schwanz zuckte hoffnungsvoll hin und her. Jake entspannte sich. Er vermutete, daß es Ausnahmen von der Regel gab, schätzte aber, daß etwas, das mit dem Schwanz wedelte – oder es wenigstens versuchte –, nicht allzu gefährlich sein konnte.
Das erste Licht dämmerte gerade, es war wahrscheinlich gegen halb sechs Uhr morgens. Genauer konnte Jake es nicht bestimmen, weil seine digitale Seiko nicht mehr funktionierte… oder besser gesagt, auf eine außerordentlich exzentrische Weise funktionierte. Als er sie nach dem Übergang zum erstenmal angesehen hatte, hatte die Seiko behauptet, es wäre 98:71:65, eine Zeit, die, soweit Jake wußte, nicht existierte. Genaueres Hinsehen machte ihm deutlich, daß die Uhr jetzt rückwärts lief. Hätte sie das auf eine kontinuierliche Weise getan, hätte sie wohl immer noch einen gewissen Nutzen gehabt, aber das tat sie eben nicht. Eine Zeitlang wechselten die Ziffern mit der richtigen Geschwindigkeit (Jake wies das nach, indem er zwischen jeder Zahl das Wort ›Mississippi‹ sagte), und dann stoppte die Anzeige zehn oder zwanzig Sekunden völlig – bis er dachte, die Uhr hätte endgültig den Geist aufgegeben –, oder die Ziffern sausten nacheinander wie ein Flimmern vorbei.
Er hatte dieses seltsame Verhalten gegenüber Roland erwähnt und ihm die Uhr gezeigt und gedacht, es würde ihn in Erstaunen versetzen, aber Roland hatte sie lediglich einen oder zwei Augenblicke eingehend betrachtet und dann wegwerfend genickt und gesagt, es wäre eine interessante Uhr, aber als Faustregel galt, daß kein Zeitmeßgerät heutzutage besonders gut funktionierte. Die Seiko war also nutzlos, aber dennoch wollte Jake sie nicht wegwerfen… wahrscheinlich, überlegte er, weil sie ein Stück aus seinem alten Leben war, und davon waren nicht mehr viele übrig.
Gerade jetzt behauptete die Seiko, daß es zweiundsechzig Minuten nach vierzig am Mittwoch, Donnerstag und Samstag im Dezember und März war.
Der Morgen war extrem neblig; in einer Entfernung von fünfzig oder sechzig Schritten verschwand die Welt einfach. Wenn dieser Tag wie die anderen war, würde die Sonne in einer oder zwei Stunden als schwache weiße Scheibe herauskommen, und gegen halb zehn würde der Tag heiß und klar sein. Jake sah sich um und erblickte seine Weggefährten (er wagte nicht, sie Freunde zu nennen, jedenfalls noch nicht), die unter ihren Felldecken schliefen – Roland ganz in der Nähe, Eddie und Susannah ein größerer Buckel auf der anderen Seite des erloschenen Lagerfeuers.
Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Tier, das ihn geweckt hatte. Es sah wie eine Mischung aus Waschbär und Waldmurmeltier aus, der man zu guter Letzt noch einen Schuß Dackel zugefügt hatte.
»Wie geht es dir, Boy?« fragte er leise.
»Oy!« antwortete der Billy-Bumbler sofort, sah ihn aber weiter ängstlich an. Seine Stimme klang tief und heiser, fast wie ein Bellen, die Stimme eines englischen Footballspielers, der eine schlimme Halsentzündung hatte.
Jake zuckte überrascht zurück. Der Billy-Bumbler, den die schnelle Bewegung erschreckte, wich noch einmal einige Schritte zurück, schien fliehen zu wollen, blieb dann aber doch standhaft. Der Schwanz zuckte hektischer denn je, die schwarzgoldenen Augen musterten Jake nervös. Seine Schnurrhaare zitterten.
»Der hier kann sich an Menschen erinnern«, bemerkte eine Stimme an Jakes Schulter. Er drehte sich um und sah Roland, der hinter ihm kauerte, die Unterarme auf den Oberschenkeln liegen und die langen Hände zwischen den Knien baumeln hatte. Er betrachtete das Tier mit wesentlich mehr Aufmerksamkeit, als er Jakes Uhr hatte zuteil werden lassen.
»Was ist das?« fragte Jake leise. Er wollte das Tier nicht verscheuchen; er war bezaubert. »Seine Augen sind wunderschön!«
»Billy-Bumbler«, sagte Roland.
»Umher!« stieß das Geschöpf aus und wich weiter zurück.
»Es spricht!«
»Eigentlich nicht. Bumbler wiederholen nur, was sie hören – oder gehört haben. Ich habe es seit Jahren nicht mehr erlebt, wie einer das macht. Der Bursche hier sieht fast verhungert aus. Ist wahrscheinlich zum Plündern gekommen.«
»Er hat mir das Gesicht geleckt. Kann ich ihn füttern?«
»Wenn du das machst, werden wir ihn nie wieder los«, sagte Roland, dann lächelte er verhalten und schnippte mit den Fingern. »He! Billy!«
Das Geschöpf ahmte irgendwie das Geräusch des Fingerschnippens nach; es hörte sich an, als würde es die Zunge gegen den Gaumen schnalzen lassen. »Ee!« rief es mit seiner heiseren Stimme. »Ee, Illy!« Jetzt peitschte sein buschiger Schwanz buchstäblich hin und her.
»Na los, gib ihm was zu futtern. Ich habe einmal einen alten Tottier sagen hören, ein guter Billy bringt Glück. Der hier sieht wie ein guter aus.«
»Ja«, stimmte Jake zu. »Stimmt.«
»Einst waren sie zahm, und in jeder Baronie streifte ein halbes Dutzend durch das Schloß oder Herrenhaus. Sie haben zu nichts getaugt, davon abgesehen, daß sie die Kinder erfreut und die Rattenplage im Zaum gehalten haben. Sie können treu sein – jedenfalls waren sie es in alten Zeiten –, aber ich habe nie gehört, daß einer so treu wie ein guter Hund gewesen wäre. Die Wilden sind Plünderer. Nicht gefährlich, aber eine Landplage.«
»Plage!« schrie der Bumbler. Seine ängstlichen Augen flackerten zwischen Jake und dem Revolvermann hin und her.
Jake griff langsam in die Tasche, weil er Angst hatte, das Tier zu erschrecken, und zog den Rest einer Frikadelle à la Revolvermann heraus. Er warf ihn dem Billy-Bumbler zu. Der Bumbler zuckte zusammen, stieß einen leisen, kindlichen Schrei aus, drehte sich um und bot den pelzigen Ringelschwanz dar. Jake war sicher, daß er weglaufen würde, aber er blieb stehen und sah zweifelnd über die Schulter.
»Komm schon«, sagte Jake. »Iß, Boy.«
»Oy«, murmelte der Bumbler, bewegte sich aber nicht.
»Laß ihm Zeit«, sagte Roland. »Ich glaube, er wird kommen.«
Der Bumbler streckte sich und offenbarte einen langen und überraschend anmutigen Hals. Die zierliche schwarze Nase zuckte, als er das Futter beschnupperte. Schließlich trottete er vorwärts, und Jake stellte fest, daß er ein wenig hinkte. Der Bumbler beschnupperte die Frikadelle, dann trennte er mit einer Pfote das Fleisch von dem Blatt. Diesen Vorgang führte er mit einer Behutsamkeit aus, die seltsam feierlich wirkte. Als das Blatt sich völlig vom Fleisch gelöst hatte, schlang der Bumbler es mit einem einzigen Bissen hinunter und sah zu Jake auf. »Oy!« sagte er, und als Jake lachte, wich er wieder zurück.
»Das ist aber ein Knochengestell«, sagte Eddie verschlafen hinter ihnen. Als der Bumbler diese Stimme hörte, drehte er sich sofort um und verschwand im Nebel.
»Du hast ihn verscheucht!« sagte Jake vorwurfsvoll.
»Herrje, das tut mir leid«, sagte Eddie. Er strich mit einer Hand durch sein schlafzerzaustes Haar. »Wenn ich gewußt hätte, daß es sich um einen persönlichen Freund von dir handelt, hätte ich eine verdammte Sahnetorte serviert.«
Roland schlug Jake kurz auf die Schulter. »Er kommt zurück.«
»Wenn ihn nichts tötet, ja. Wir haben ihn schließlich gefüttert, oder nicht?«
Bevor Jake antworten konnte, setzte das Geräusch der Trommeln wieder ein. Es war der dritte Morgen, an dem sie sie hörten, und zweimal hatten sie das Geräusch vernommen, als sich der Nachmittag dem Abend zuneigte: ein schwaches, tonloses Pochen aus der Richtung der Stadt. Heute morgen war das Geräusch deutlicher, aber nicht verständlicher. Jake haßte es. Es war, als würde irgendwo in dieser dicken und konturlosen Nebeldecke das Herz eines großen Tieres schlagen.
»Hast du immer noch keine Ahnung, was das sein könnte, Roland?« fragte Susannah. Sie hatte sich angezogen, das Haar zurückgesteckt und legte gerade die Decke zusammen, unter der sie und Eddie schliefen.
»Nein. Aber ich bin sicher, wir werden es herausfinden.«
»Wie beruhigend«, sagte Eddie gallig.
Roland stand auf. »Kommt. Vergeuden wir den Tag nicht.«
2
Als sie etwa eine Stunde unterwegs waren, löste sich der Nebel allmählich auf. Sie schoben abwechselnd Susannahs Rollstuhl, der unglücklich holperte, denn die Straße bestand inzwischen aus großem, unebenem Kopfsteinpflaster. Am späten Vormittag war der Tag schön, heiß und klar; der Umriß der Stadt zeichnete sich deutlich am südöstlichen Horizont ab. Jake fand, daß er sich nicht besonders von der Silhouette von New York unterschied, aber er dachte, daß die Gebäude hier nicht ganz so hoch waren. Wenn sie verfallen waren, wie das meiste in Rolands Welt, dann konnte man das von hier aus nicht sehen. Jake gab sich, wie Eddie, der unausgesprochenen Hoffnung hin, sie könnten dort Hilfe finden… oder wenigstens eine gute, warme Mahlzeit.
Links, dreißig oder vierzig Meilen entfernt, konnten sie das breite Band des Flusses Send sehen. Große Vogelschwärme kreisten darüber. Ab und zu legte einer die Flügel an und fiel wie ein Stein herunter – wahrscheinlich ein Angelausflug. Straße und Fluß bewegten sich langsam aufeinander zu, aber den Punkt des Zusammentreffens konnte man noch nicht sehen.
Vor sich entdeckten sie noch mehr Gebäude. Die meisten sahen wie Farmen aus, und alle waren verlassen. Manche waren eingestürzt, doch schien dies das Wirken der Zeit zu sein, keine Folge von Vandalismus, was Jakes und Eddies Hoffnungen, in der Stadt Hilfe zu finden, weiteren Auftrieb verlieh – Hoffnungen, die sie beide strikt für sich behielten, damit sich kein anderer darüber lustig machen konnte. Kleine Herden zottiger Tiere wanderten grasend über die Ebene. Sie hielten sich von der Straße fern, außer um sie zu überqueren, und das machten sie schnell, im Galopp, wie Gruppen kleiner Kinder, die Angst vor dem Verkehr haben. Jake fand, sie sahen wie Bisons aus… nur gab es auch einige, die zwei Köpfe hatten. Er sprach den Revolvermann darauf an, und Roland nickte.
»Muties.«
»Wie unter den Bergen?« Jake hörte die Angst in seiner Stimme und wußte, der Revolvermann mußte sie auch hören, aber er konnte sie nicht unterdrücken. Er erinnerte sich sehr genau an diese endlose Alptraumfahrt mit der Draisine.
»Ich glaube, daß die mutierten Erbanlagen hier ausgemerzt werden. Bei den Wesen, die wir unter den Bergen gefunden haben, wurden sie noch schlimmer.«
»Was ist da oben?« Jake deutete zur Stadt. »Werden wir dort auch Mutanten finden, oder…« Er stellte fest, daß er seiner Hoffnung nicht deutlicher Ausdruck verleihen konnte.
Roland zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht, Jake, sonst würde ich es dir sagen.«
Sie kamen an einem verlassenen Gebäude vorbei – mit ziemlicher Sicherheit ein Farmhaus –, das teilweise verbrannt war. Aber das könnte ein Blitz gewesen sein, dachte Jake und fragte sich, was er damit bezweckte – sich etwas zu erklären oder sich selbst zum Narren zu halten.
Roland, der möglicherweise seine Gedanken las, legte einen Arm um Jakes Schultern. »Es ist sinnlos, auch nur Vermutungen anzustellen, Jake«, sagte er. »Was hier passiert sein mag, ist vor langer Zeit passiert.« Er deutete mit dem Finger. »Das da drüben war möglicherweise ein Pferch. Jetzt ragen nur noch ein paar Pfosten aus dem Gras.«
»Die Welt hat sich weitergedreht, richtig?«
Roland nickte.
»Was ist mit den Menschen? Sind sie in die Stadt gegangen, was meinst du?«
»Einige sicher«, sagte Roland. »Einige halten sich noch hier auf.«
»Was?« Susannah fuhr ruckartig herum und sah ihn verblüfft an.
Roland nickte. »Wir werden schon seit ein paar Tagen beobachtet. Es leben nicht viele Menschen in diesen alten Behausungen, aber doch einige. Je näher wir der Zivilisation kommen, desto mehr werden es sein.« Er machte eine Pause. »Oder dem, was einmal die Zivilisation war.«
»Woher weißt du, daß sie da sind?« fragte Jake.
»Ich habe sie gerochen. Habe ein paar Gärten gesehen, die hinter Unkraut verborgen waren, das absichtlich gepflanzt worden ist, um sie zu verdecken. Und mindestens eine funktionierende Windmühle in einem Hain. Aber größtenteils ist es einfach Intuition… wie Schatten im Gesicht statt Sonnenschein. Ich könnte mir denken, ihr drei werdet das mit der Zeit auch lernen.«
»Glaubst du, sie sind gefährlich?« fragte Susannah. Sie näherten sich einem großen, baufälligen Gebäude, das einmal eine Scheune oder ein Genossenschaftsmarkt gewesen sein konnte. Sie betrachtete es unbehaglich und legte die Hand auf den Griff der Waffe, die sie auf der Brust trug.
»Wird ein fremder Hund beißen?« erwiderte der Revolvermann.
»Was soll das heißen?« fragte Eddie. »Es stinkt mir, wenn du mit deiner Zen-Buddhismus-Scheiße daherkommst, Roland.«
»Es bedeutet, ich weiß es nicht«, sagte Roland. »Wer ist dieser Mann namens Zen Buddhismus? Ist er so weise wie ich?«
Eddie sah Roland lange an, bis er entschied, daß Roland einen seiner seltenen Scherze machte. »Ah, laß dich heimgeigen«, sagte er. Er sah einen von Rolands Mundwinkeln zucken, bevor er sich abwandte. Als Eddie Susannahs Rollstuhl wieder anschob, fiel ihm noch etwas auf. »He, Jake!« rief er. »Ich glaube, du hast einen neuen Freund gefunden!«
Jake drehte sich um und fing breit an zu grinsen. Vierzig Meter hinter ihnen hinkte der magere Billy-Bumbler emsig hinter ihnen her und schnupperte am Unkraut, das zwischen den Pflastersteinen der Großen Straße wuchs.
3
Ein paar Stunden später befahl Roland eine Rast und sagte ihnen, sie sollten sich bereitmachen.
»Wofür?« fragte Eddie.
Roland sah ihn an. »Für alles.«
Es war gegen drei Uhr nachmittags. Sie standen an einem Punkt, wo die Große Straße zu einem langen Wall anstieg, der sich diagonal über die Ebene zog wie eine Falte in der größten Bettdecke der Welt. Unten und jenseits der Straße lag die erste Ansiedlung, in die sie kamen. Sie machte einen verlassenen Eindruck, aber Eddie hatte die Unterhaltung von heute morgen nicht vergessen. Rolands Frage – Wird ein fremder Hund beißen? – schien gar nicht mehr so zenmäßig zu sein.
»Jake?«
»Was?«
Eddie nickte zum Griff der Ruger, die aus dem Bund von Jakes Jeans ragte – dem zweiten Paar, das er vor seinem Aufbruch in den Ranzen gestopft hatte. »Soll ich sie nehmen?«
Jake sah Roland an. Der Revolvermann zuckte nur die Achseln, als wollte er sagen: Es ist deine Entscheidung.
»Okay.« Jake gab sie ihm. Er schnallte den Schulranzen ab, kramte darin und holte das volle Magazin heraus. Er konnte sich erinnern, wie er hinter hängende Hefter in einer Schreibtischschublade seines Vaters gegriffen hatte, um sie zu holen, aber das alles schien vor langer Zeit passiert zu sein. Wenn er heute an sein Leben in New York und seine Karriere an der Piper School dachte, dann war es, als würde er durch das falsche Ende eines Teleskops sehen.
Eddie nahm das Magazin, untersuchte es, ließ es einrasten, überprüfte die Sicherung und steckte die Ruger in seinen Gürtel.
»Hört gut zu und gedenkt meiner Worte«, sagte Roland. »Wenn hier Menschen leben, dann sind sie wahrscheinlich alt und haben mehr Angst vor uns als wir vor ihnen. Die jüngeren Leute sind sicher schon längst fort. Es ist unwahrscheinlich, daß die Zurückgebliebenen Feuerwaffen haben – es könnte sein, daß unsere die ersten Waffen sind, die manche zu Gesicht bekommen – abgesehen vielleicht von Bildern in alten Büchern. Macht keine bedrohlichen Gesten. Und auch die alte Kindheitsregel hat etwas für sich: Sprecht nur, wenn ihr angesprochen werdet.«
»Was ist mit Pfeil und Bogen?« fragte Susannah.
»Ja, die könnten sie haben. Auch Speere und Keulen.«
»Vergeßt Steine nicht«, sagte Eddie düster und sah zu der Gruppe Holzhäuser. Der Ort sah wie eine Geisterstadt aus, aber wer konnte das mit Sicherheit sagen? »Und wenn Steineknappheit herrscht, haben sie immer noch das Pflaster der Straße.«
»Ja, irgendwas gibt es immer«, stimmte Roland zu. »Aber wir selbst fangen keinen Ärger an – ist das klar?«
Sie nickten.
»Vielleicht wäre es einfacher, einen Umweg zu machen«, sagte Susannah.
Roland nickte, ohne einen Blick von der Anlage vor ihnen zu nehmen. In der Mitte des Dorfs kreuzte eine andere Straße die Große Straße. »Das wäre einfacher, aber wir machen es nicht. Umwege sind eine schlechte Angewohnheit, der man leicht verfällt. Es ist immer besser, geradeaus zu gehen, wenn es keinen guten Grund für etwas anderes gibt. Hier sehe ich keinen Grund. Und falls Menschen hier leben, nun, schaden könnte es nicht. Ein wenig Palaver wäre nicht schlecht für uns.«
Susannah überlegte, daß Roland jetzt anders zu sein schien, und sie glaubte nicht, es läge nur daran, daß die Stimmen in seinem Kopf verstummt waren. So war er, als er noch Kriege zu führen und Männer zu befehligen und seine alten Freunde um sich hatte, dachte sie. So war er, bevor die Welt sich weitergedreht hat und er mit ihr auf der Jagd nach Walter. So war er, bevor die Große Leere ihn verschlossen und verschroben gemacht hat.
»Sie könnten wissen, was das Trommeln zu bedeuten hat«, schlug Jake vor.
Roland nickte wieder. »Alles Wissen, über das sie verfügen, käme uns recht – besonders über die Stadt, –, aber es bringt nichts, sich allzu viele Gedanken über Menschen zu machen, die vielleicht nicht einmal da sind.«
»Ich will dir was sagen«, meinte Susannah. »Ich würde nicht rauskommen, wenn ich uns sehen würde. Vier Menschen, drei davon bewaffnet! Wir sehen wahrscheinlich wie eine Bande Gesetzloser aus deinen Geschichten aus, Roland – wie hast du sie genannt?«
»Waldläufer.« Seine linke Hand sank auf den Sandelholzgriff seines zweiten Revolvers und zog diesen ein kleines Stück aus dem Halfter. »Aber kein Waldläufer hat jemals so etwas getragen, und wenn es Älteste in diesem Dorf gibt, dann werden sie das wissen. Gehen wir.«
Jake sah nach hinten und gewahrte den Bumbler, der mit der Schnauze zwischen den Vorderpfoten auf der Straße lag und sie genauestens betrachtete. »Oy!« rief Jake.
»Oy!« wiederholte der Bumbler und sprang sofort auf die Beine.
Sie schritten den schattigen Wall zum Dorf hinab, und Oy trottete hinter ihnen her.
4
Zwei Häuser am Ortsrand waren verbrannt; der Rest des Dorfs schien unversehrt zu sein, wenn auch staubig. Sie kamen an einem verlassenen Viehpferch links vorbei, einem Gebäude rechts, bei dem es sich um ein Geschäft handeln konnte, und dann befanden sie sich auf dem Gelände des Dorfs, wie es war. Etwa ein Dutzend baufällige Häuser standen auf beiden Straßenseiten. Zwischen einigen verliefen schmale Gassen. Die andere Straße, ein weitgehend mit Steppengras überwucherter Feldweg, verlief von Nordosten nach Südwesten.
Susannah sah den nordöstlichen Arm entlang und dachte: Einst fuhren Barken auf dem Fluß, und irgendwo an dieser Straße lag ein Hafen und wahrscheinlich noch ein baufällige kleine Siedlung, hauptsächlich Saloons und Bordelle. Dies war der letzte Handelsposten, bevor die Barken weiter zur Stadt fuhren. Die Wagen kamen auf dem Weg dorthin hier durch, und wieder zurück. Wie lange ist das her?
Sie wußte es nicht – aber es mußte lang her sein, so wie die Stadt aussah.
Irgendwo quietschte ein rostiges Scharnier monoton. Anderswo schlug ein Holzladen einsam im Steppenwind hin und her.
Vor der Häusern befanden sich Geländer zum Festzurren, die meisten in Trümmern. Einst waren Gehwege aus Brettern da gewesen, aber die Bretter waren heute weitgehend verschwunden; Gras wuchs durch die Löcher, wo sie gewesen waren. Die Schilder an den Häusern waren verblaßt, aber manche konnte man noch lesen – sie waren in der verballhornten Form des Englischen geschrieben, die Roland die niedere Sprache nannte. ESSEN UND GETREIDE stand auf einem, und sie vermutete, es sollte Futter und Getreide heißen. An der Fassade daneben standen unter einer linkischen Zeichnung von Büffeln im Gras die Worte: AUSRUHEN ESSEN TRINKEN. Unter diesem Schild hingen schiefe Schwingtüren, die sich leicht im Wind bewegten.
»Ist das ein Saloon?« Sie wußte nicht genau, weshalb sie flüsterte, aber sie hätte nicht mit normaler Stimme sprechen können. Es wäre gewesen, als würde man mit dem Banjo ›Clinch Mountain Breakdown‹ bei einer Beerdigung spielen.
»Es war einer«, sagte Roland. Er flüsterte nicht, aber seine Stimme klang gedämpft und nachdenklich. Jake ging dicht an seiner Seite und sah sich nervös um. Oy hinter ihnen hatte die Entfernung auf zehn Meter verringert. Er trottete rasch dahin und schwang den Kopf wie ein Pendel von einer Seite zur anderen, während er die Gebäude begutachtete.
Jetzt konnte es auch Susannah spüren: das Gefühl, als würden sie beobachtet werden. Es war genau, wie Roland es beschrieben hatte: als wäre Sonnenschein von Schatten verdrängt worden.
»Es sind Menschen hier, richtig?« flüsterte sie.
Roland nickte.
An der nordöstlichen Ecke der Kreuzung stand ein Gebäude mit einem Schild, das sie auch entziffern konnte: HOTEL, stand darauf, und: BETTEN. Abgesehen von einer Kirche mit schiefem Turm weiter vorne war es das größte Gebäude des Dorfs – drei Stockwerke. Sie sah hoch und erspähte gerade noch etwas Weißes – sicher ein Gesicht –, das sich von einem der glaslosen Fenster zurückzog. Plötzlich wollte sie weg von hier. Roland gab jedoch einen langsamen, gleichmäßigen Schritt vor, und sie glaubte, den Grund dafür zu kennen: Eile konnte den Beobachtern den Eindruck vermitteln, als hätten sie Angst… als könnte man sie überfallen. Dennoch…
An der Kreuzung wurden beide Straßen breiter und bildeten einen Platz, der von Gras und Unkraut in Besitz genommen worden war. In der Mitte stand ein erodierter Wegstein. Darüber hing ein Metallkästchen an einem rostigen, schlaffen Kabel.
Roland ging mit Jake an seiner Seite zu dem Wegstein. Eddie schob Susannahs Rollstuhl hinter ihnen her. Gras flüsterte in den Speichen, und der Wind kitzelte sie mit einer Haarlocke an der Wange. Ein Stück weiter die Straße hinab polterte der Fensterladen, und das Scharnier quietschte. Sie erschauerte und strich das Haar aus der Stirn.
»Ich wünschte, er würde sich beeilen«, sagte Eddie mit gedämpfter Stimme. »Dieser Ort ist nicht geheuer.«
Susannah nickte. Sie sah über den Platz und konnte sich wieder fast vorstellen, wie es am Markttag gewesen sein mußte – Menschengedränge auf den Gehwegen, einige wenige Frauen aus dem Dorf mit Körben an den Armen, aber hauptsächlich Kutschenfahrer und derb gekleidete Schiffer (sie wußte nicht, warum sie so sicher war, was Barken und Schiffer anbelangte, aber sie war es). Wagen fuhren über den Platz, wirbelten auf der ungepflasterten Straße würgende Wolken gelben Staubs auf, während die Fahrer ihre Karrenpferde
(Ochsen, es waren Ochsen)
mit der Peitsche antrieben. Sie konnte diese Wagen sehen, staubiges Segeltuch war auf manchen über Stoffballen gespannt und über Pyramiden geteerter Fässer auf anderen; sie konnte die Ochsen sehen, die sich geduldig in ihr doppeltes Zaumzeug legten, mit zuckenden Ohren Fliegen verscheuchten, die um ihre breiten Schädel summten; konnte Stimmen und Gelächter hören und ein Klavier im Saloon, das eine schwungvolle Melodie wie ›Buffalo Gals‹ oder ›Darlin’ Katy‹ hämmerte.
Es ist, als hätte ich in einem anderen Leben hier gelebt, dachte sie.
Der Revolvermann beugte sich über die Inschrift auf dem Wegstein. »Große Straße«, las er. »Lud – hundertundsechzig Räder.«
»Räder?« fragte Jake.
»Eine alte Maßeinheit.«
»Hast du schon von Lud gehört?« fragte Eddie.
»Möglich«, antwortete der Revolvermann. »Als ich noch sehr klein war.«
»Reimt sich auf krud«, sagte Eddie. »Vielleicht kein gutes Zeichen.«
Jake begutachtete die Ostseite des Steins. »Flußstraße. Es ist komisch geschrieben, aber das steht da.«
Eddie betrachtete die Westseite des Steins. »Da steht: Jimtown – vierzig Räder. Ist das nicht der Geburtsort von Wayne Newton, Roland?«
Roland sah ihn verständnislos an.
»Ich halt ja schon die Klappe«, sagte Eddie und verdrehte die Augen.
An der Südwestecke des Platzes befand sich das einzige Gebäude der Stadt aus Stein – ein flacher, staubiger Würfel mit rostigen Gitterstäben vor den Fenstern. Gerichtsgebäude und Gefängnis in einem, dachte Susannah. Sie hatte im Süden ähnliche gesehen; ein paar Parkplätze davor, und niemand hätte einen Unterschied feststellen können. Etwas war mit nunmehr verblaßter gelber Farbe auf die Fassade des Gebäudes geschrieben worden. Sie konnte es lesen, und obwohl sie es nicht verstand, machte es sie ängstlicher denn je. PUBES STERBEN, stand da.
»Roland!« Als sie seine Aufmerksamkeit hatte, deutete sie auf die Inschrift. »Was bedeutet das?«
Er las es, dann schüttelte er den Kopf. »Weiß nicht.«
Sie sah sich wieder um. Der Platz wirkte jetzt kleiner, und die Gebäude schienen sich über sie zu beugen. »Können wir weiter?«
»Bald.« Er bückte sich und klaubte einen kleinen Stein aus dem Straßenbelag. Diesen ließ er nachdenklich in der linken Hand hüpfen, während er zu dem Metallkästchen über dem Wegstein aufsah. Er beugte den Arm, und Susannah wurde einen Moment zu spät klar, was er vorhatte.
»Nein, Roland!« schrie sie und zuckte angesichts ihrer eigenen entsetzten Stimme zusammen.
Er schenkte ihr keine Beachtung und warf den Stein nach oben. Seine Treffsicherheit war präzise wie immer; der Stein prallte mit einem hohlen Poltern genau in die Mitte des Kästchens. Das Surren eines Uhrwerks erklang im Inneren, dann glitt eine rostige grüne Flagge aus einem Schlitz an der Seite. Als diese eingerastet war, läutete schrill eine Glocke. In großen schwarzen Buchstaben stand das Wort GEHEN auf der Flagge.
»Hol mich der Teufel«, sagte Eddie. »Eine Ampel wie bei den Keystone Kops. Wenn du noch einen Stein wirfst, erscheint dann STOP?«
»Wir haben Gesellschaft«, sagte Roland leise und deutete auf das Steingebäude. Ein Mann und eine Frau waren herausgekommen und schritten die Stufen herab. Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen, Roland, dachte Susannah. Die sind älter als Methusalem, alle beide.
Der Mann trug einen Overall und einen Sombrero aus Stroh. Die Frau hielt sich beim Gehen krampfhaft an einer seiner nackten, sonnenverbrannten Schultern fest. Sie trug Selbstgestricktes und einen Schürhaken in der Hand, und als sie näher zu dem Wegstein kamen, sah Susannah, daß die Frau blind war; der Unfall, der ihr das Augenlicht genommen hatte, mußte ungemein gräßlich gewesen sein. Wo ihre Augen gewesen waren, befanden sich nur noch zwei leere Höhlen voll Narbengewebe. Sie sah ängstlich und verwirrt zugleich aus.
»Ist sie Waldläufer, Si?« rief sie mit brüchiger, zitternder Stimme. »Du wirst uns noch umbringen, behaupte ich!«
»Schweig, Mercy«, antwortete er. Er sprach wie die Frau mit einem starken Akzent, den Susannah kaum verstehen konnte. »Sind keine Waldläufer, die nicht. Sie haben einen Pube bei sich, das hab’ ich dir gesagt – Waldläufer sind noch nie mit einem Pube gereist.«
Blind oder nicht, sie versuchte, sich von ihm loszumachen. Er fluchte und hielt sie am Arm fest. »Hör auf, Mercy! Hör auf, sag ich! Du wirst stürzen und dir Böses tun, verdammich!«
»Wir wollen euch nichts zuleide tun!« rief der Revolvermann. Er benützte die Hochsprache, und als der Mann sie hörte, leuchteten seine Augen ungläubig. Die Frau drehte sich wieder um und wandte das blinde Gesicht in ihre Richtung.
»Ein Revolvermann!« rief der Alte. Seine Stimme brach und krächzte vor Aufregung. »Bei Gott! Ich hab’s gewußt! Ich hab’s gewußt!«
Er wollte über den Platz zu ihnen laufen und zog die Frau mit sich. Sie stolperte hilflos neben ihm her, und Susannah wartete auf den Augenblick, wo sie stürzen mußte, aber der Mann fiel vorher; er landete heftig auf den Knien, und sie landete schmerzhaft neben ihm auf dem Kopfsteinpflaster der Großen Straße.
5
Jake spürte etwas Pelziges am Knöchel und sah hinab. Oy kauerte neben ihm und sah ängstlicher denn je drein. Jake bückte sich und streichelte ihm den Kopf, um Trost gleichermaßen zu spenden wie zu empfangen. Das Fell war seidig und unglaublich weich. Einen Augenblick dachte er, der Bumbler würde weglaufen, aber er sah nur zu ihm auf, leckte seine Hand und sah dann wieder zu den beiden alten Menschen. Der Mann versuchte, der Frau aufzuhelfen – mit relativ wenig Erfolg. Sie drehte den Kopf in völliger Verwirrung hierhin und dorthin.
Der Mann namens Si hatte sich die Hände am Kopfsteinpflaster aufgerissen, achtete aber nicht darauf. Er gab es auf, der Frau zu helfen, riß den Sombrero vom Kopf und hielt ihn vor die Brust. Jake fand, daß der Hut so groß wie ein Scheffelkorb aussah. »Wir heißen Euch willkommen, Revolvermann!« rief er. »Wahrhaftig willkommen! Ich habe gedacht, Eure Gemeinschaft sei völlig vom Antlitz der Erde verschwunden, das habe ich!«
»Ich danke dir für dein Willkommen«, antwortete Roland in der Hochsprache. Er legte der blinden Frau behutsam die Hände auf die Oberarme. Sie zuckte kurz zusammen, dann entspannte sie sich und ließ sich von ihm hochhelfen. »Zieh deinen Hut auf, Alterchen. Die Sonne brennt heiß.«
Er gehorchte, dann stand er nur da und sah Roland mit leuchtenden Augen an. Nach einem Moment wurde Jake klar, was das Leuchten war. Si weinte.
»Ein Revolvermann! Ich hab’ es dir gesagt, Mercy! Ich habe das Schießeisen gesehen und hab’ es dir gesagt!«
»Keine Waldläufer?« fragte sie, als könnte sie es nicht glauben. »Bist du sicher, daß sie keine Waldläufer sind, Si?«
Roland wandte sich an Eddie. »Vergewissere dich, ob sie gesichert ist, und dann gib ihr Jakes Pistole.«
Eddie zog die Ruger aus dem Hosenbund, überprüfte die Sicherung und drückte der blinden Frau zögernd die Waffe in die Hände. Diese keuchte, ließ sie um ein Haar fallen und strich dann staunend mit den Händen darüber. Sie wandte die leeren Höhlen, wo die Augen gewesen waren, dem Mann zu. »Eine Waffe!« flüsterte sie. »Bei meinem heiligen Hut!«
»Ay, irgendeine«, antwortete der alte Mann wegwerfend, nahm sie ihr weg und gab sie Eddie zurück, »aber der Revolvermann hat eine richtige, und es ist eine Frau dabei, die hat auch eine. Außerdem hat sie eine braune Haut wie die Menschen aus Garlan, wie mein Da’ immer behauptet hat.«
Oy stieß ein schrilles, pfeifendes Bellen aus. Jake drehte sich um und sah noch mehr Menschen die Straße entlangkommen – alles in allem fünf oder sechs. Auch sie waren alt wie Si und Mercy; eine Frau, die mit krummem Rücken am Stock ging und wie die Hexe in einem Märchen aussah, war sogar uralt. Als sie näher kamen fiel Jake auf, daß zwei der Männer eineiige Zwillinge waren. Langes weißes Haar fiel auf die Schultern ihrer selbstgewebten karierten Hemden. Ihre Haut war weiß wie feines Leinen, die Augen rosa. Albinos, dachte er.
Die Alte schien die Anführerin zu sein. Sie hinkte mit dem Stock auf Rolands Gruppe zu und betrachtete sie mit stechenden Augen, Augen so grün wie Smaragde. Der zahnlose Mund war tief eingefallen. Der Zipfel des alten Schals, den sie trug, flatterte im Präriewind. Ihr Blick fiel auf Roland.
»Heil, Revolvermann! Erfreuliches Zusammentreffen!« Sie sprach die Hochsprache, und Jake konnte sie, wie Eddie und Susannah, gut verstehen, obwohl er vermutete, daß ihm die Worte in seiner Welt wie Gestammel vorgekommen wären. »Willkommen in River Crossing!«
Der Revolvermann hatte seinen Hut abgezogen, nun verbeugte er sich vor ihr und klopfte mit der verstümmelten rechten Hand dreimal nacheinander an seinen Hals. »Danke-sai, Alte Mutter.«
Darüber gackerte sie unbeherrscht, und Eddie wurde klar, daß der Revolvermann gleichzeitig einen Scherz und ein Kompliment gemacht hatte. Der Gedanke, den Susannah schon gehabt hatte, kam ihm nun auch: So ist er gewesen… früher. Jedenfalls war das ein Teil von ihm.
»Revolvermann mögt Ihr sein, unter Eurer Kleidung jedoch seid Ihr auch nur ein albernes Mannsbild«, sagte sie und wechselte in die niedere Sprache über.
Roland verbeugte sich wieder. »Schönheit hat mich stets albern gemacht, Mutter.«
Diesmal quietschte sie buchstäblich vor Lachen. Oy drückte sich an Jakes Bein. Einer der Albinozwillinge eilte nach vorne, um die Alte zu stützen, als sie in ihren staubigen, rissigen Schuhen nach hinten kippte. Sie erlangte das Gleichgewicht jedoch von sich aus wieder und machte mit einer Hand eine verdrossene, scheuchende Geste. Der Albino zog sich zurück.
»Seid Ihr auf der Suche, Revolvermann?« Ihre grünen Augen musterten ihn listig; die faltige Tasche ihres Mundes flabberte.
»Ay«, sagte Roland. »Wir sind auf der Suche nach dem Dunklen Turm.«
Die anderen sahen ihn verwirrt an, aber die alte Frau schrak zurück und machte das Zeichen des bösen Blicks – nicht gegen sie, bemerkte Jake, sondern nach Südosten, den Pfad des Balkens entlang.
»Tut mir leid, das zu hören!« rief sie. »Denn keiner, der sich je auf die Suche nach diesem schwarzen Hund machte, kehrte je wieder! So sagte mein Großvater, und dessen Großvater vor ihm! Kein einziger nicht!«
»Ka«, sagte der Revolvermann geduldig, als würde das alles erklären… und Jake kam allmählich dahinter, daß das zumindest für Roland zutraf.
»Ay«, stimmte sie zu. »Ka des schwarzen Hundes! Ei-jei-jei; du machst, wie dir geheißen, lebst deinen Weg entlang und stirbst, wenn die Lichtung zwischen den Bäumen erreicht ist. Werdet Ihr das Brot mit uns brechen, Revolvermann, bevor Ihr weiterreist? Ihr und Eure Gruppe von Rittern?«
Roland verbeugte sich erneut. »Allzulang ist es her, seit wir Brot in anderer Gesellschaft als unserer eigenen gebrochen haben, Alte Mutter. Wir können nicht lange bleiben, doch ja – wir nehmen die Speisung voll Dankbarkeit und Freude an.«
Die alte Frau drehte sich zu den anderen um. Sie sprach mit ihrer brüchigen und schrillen Stimme – aber es waren die Worte und nicht der Tonfall, in dem sie gesprochen wurden, der Jake kalte Schauer über den Rücken jagte: »Sehet, ihr alle, die Rückkehr des Weißen! Nach bösen Plagen und bösen Tagen kehrt das Weiß zurück! Seid guten Herzens und haltet die Köpfe hoch, denn wir durften erleben, wie das Rad des Ka sich erneut zu drehen anfängt!«
6
Die alte Frau, deren Namen Tante Talitha lautete, führte sie über den Platz zu der Kirche mit dem windschiefen Turm – es war die Kirche des Ewigen Blutes, wie ein verblaßtes Schild auf dem wuchernden Rasen verriet. Mit grüner Farbe, die zu einer Geisterschrift verblaßt war, war eine andere Botschaft auf die Tafel geschmiert worden: TOD DEN GRAUEN.
Sie führte sie durch die verfallene Kirche und hinkte mit ihrem Stock rasch den Mittelgang entlang an zertrümmerten und umgestürzten Bänken vorbei, eine kurze Treppenflucht hinunter und in eine Küche, die sich so drastisch von der Ruine darüber unterschied, daß Susannah überrascht blinzelte. Hier war alles blitzblank. Der Holzboden war uralt, wurde aber offensichtlich regelmäßig gebohnert, so daß er fast von innen heraus zu glänzen schien. Der schwarze Kochherd beanspruchte eine ganze Ecke. Er war makellos, und das Holz, welches daneben in einem gemauerten Alkoven aufgeschichtet war, sah sorgfältig gesammelt und gut gelagert aus.
Drei weitere ältere Einwohner hatten sich zu ihrer Gruppe gesellt, zwei Frauen und ein Mann, der mit Krücke und Holzbein dahinhinkte. Zwei der Frauen gingen zu den Schränken und taten geschäftig; eine dritte klappte den Herd auf und hielt ein Schwefelholz an das Holz, das bereits ordentlich darin aufgeschichtet war; eine andere machte eine Tür auf und ging eine kurze Treppe hinunter in eine Kältekammer. Derweil führte Tante Talitha die anderen durch einen breiten Eingang im hinteren Teil der Kirche. Sie deutete mit dem Stock auf zwei Klapptische, die dort unter einem sauberen, aber zerrissenen Tuch verwahrt wurden, worauf die beiden älteren Albinos unverzüglich hinübergingen und sich mit einem davon abmühten.
»Komm mit, Jake«, sagte Eddie. »Helfen wir ihnen.«
»Nee!« sagte Tante Talitha brüsk. »Wir sind vielleicht alt, aber wir brauchen keine Hilfe! Noch nicht, Bürschchen!«
»Laßt sie in Ruhe«, sagte Roland.
»Die alten Narren werden sich einen Bruch heben«, murmelte Eddie, aber er folgte den anderen und überließ den Tisch den beiden Männern.
Susannah stöhnte, als Eddie sie aus dem Rollstuhl hob und durch die Hintertür trug. Dies war kein Rasen, sondern ein Mustergarten mit Blumenbeeten, die wie Fackeln im grünen Gras leuchteten. Sie sah einige, die sie kannte – Ringelblumen und Zinnien und Flammenblumen –, aber viele andere waren ihr fremd. Sie sah, wie eine Bremse auf einer hellblauen Blüte landete… die sich sofort darüber schloß und fest zusammenrollte.
»Mann!« sagte Eddie, der sich umsah. »Ein Blumengarten!«
Sie sagte: »Diesen Ort allein bewahren wir, wie er in den alten Zeiten war, bevor die Welt sich weitergedreht hat. Und wir halten ihn vor denen verborgen, die durchreiten – Pubes, Graue, Waldläufer. Sie würden ihn niederbrennen, wüßten sie davon… und uns töten, weil wir ihn erhalten. Sie hassen alles Schöne – sie alle. Das haben sämtliche Dreckskerle gemeinsam.«
Die blinde Frau zupfte an seinem Arm und brachte ihn zum Schweigen.
»Keine Reiter mehr heutzutage«, sagte der alte Mann mit dem Holzbein. »Schon lange nicht mehr. Sie bleiben in der Nähe der Stadt. Ich schätze, dort finden sie alles, was sie zu ihrem Wohlbefinden brauchen.«
Die Albinozwillinge kämpften sich mit dem Tisch heraus. Eine der alten Frauen folgte ihnen und drängte sie, sie sollten ihr endlich Platz machen. Sie hielt einen irdenen Krug in jeder Hand.
»Setzt Euch nieder, Revolvermann!« rief Tante Talitha und deutete mit dem Stock aufs Gras. »Setzt euch alle nieder!«
Susannah konnte hundert widerstreitende Gerüche wahrnehmen. Sie erfüllten sie mit einem Gefühl der Benommenheit und des Unwirklichen, als wäre dies alles ein Traum. Sie konnte kaum daran glauben, an dieses winzige Stückchen Eden hinter der verfallenden Fassade einer Geisterstadt.
Eine weitere Frau kam mit einem Tablett voller Gläser heraus. Sie paßten nicht zusammen, waren aber fleckenlos und funkelten in der Sonne wie kostbares Kristall. Sie hielt das Tablett zuerst Roland hin, dann Tante Talitha, Eddie, Susannah und zuletzt Jake. Nachdem jeder ein Glas genommen hatte, schenkte die erste Frau eine dunkle, goldfarbene Flüssigkeit ein.
Roland beugte sich zu Jake, der neben Oy am Rand eines ovalen Beetes mit hellgrünen Blumen saß. Er murmelte: »Trink nur soviel, wie die Höflichkeit erfordert, Jake, sonst müssen wir dich aus dem Dorf tragen; dies ist Graf – starkes Apfelbier.«
Jake nickte.
Talitha hielt das Glas hoch, und als Roland es ihr nachtat, schlossen sich auch Eddie, Susannah und Jake an.
»Was ist mit den anderen?« flüsterte Eddie Roland zu.
»Sie wird man nach der Spende bedienen. Und nun schweig.«
»Möchtet Ihr ein Wort an uns richten, Revolvermann?« fragte Tante Talitha.
Der Revolvermann erhob sich und hielt das Glas in einer erhobenen Hand. Er senkte den Kopf, als würde er nachdenken. Die wenigen verbliebenen Einwohner von River Crossing betrachteten ihn respektvoll und, dachte Jake, ein wenig ängstlich. Schließlich hob er wieder den Kopf. »Trinken wir auf die Erde und die Tage, welche über sie hinweggezogen sind?« fragte er. Seine Stimme war heiser und bebte vor Gefühlsregungen. »Trinken wir auf die Erfüllung von einst und auf dahingeschiedene Freunde? Trinken wir auf in Freundschaft verbundene gute Gesellschaft? Bringen uns diese Dinge weiter, Alte Mutter?«
Sie weinte, sah Jake, und doch wurde ihr Gesicht zu einer Maske strahlenden Glücks… und einen Augenblick lang war sie beinahe jung. Jake betrachtete sie staunend und voll plötzlich aufkeimenden Glücksgefühls. Zum erstenmal, seit Eddie ihn durch die Tür gezogen hatte, spürte Jake, wie der Schatten des Torwächters wirklich aus seinem Herzen wich.
»Ay, Revolvermann!« sagte sie. »Wohl gesprochen! Sie bringen uns meilenweit voran, und das sollen sie!« Sie neigte das Glas und trank es in einem Zug leer. Als ihr Glas leer war, leerte Roland das seine. Eddie und Susannah tranken auch, allerdings nicht so rasch.
Jake kostete von seinem Getränk und stellte fest, daß es ihm schmeckte – es war nicht bitter, wie er erwartet hatte, sondern süß und herb zugleich, wie Apfelwein. Aber er spürte die Wirkung fast augenblicklich und stellte das Glas sorgfältig beiseite. Oy schnupperte daran, dann wandte er sich ab und legte die Schnauze auf Jakes Knöchel.
Um sie herum spendete die kleine Gruppe alter Menschen – die letzten Einwohner von River Crossing – Beifall. Die meisten weinten unverhohlen wie Tante Talitha. Jetzt wurden weitere Gläser – nicht so erlesen, aber gebrauchsfähig – herumgereicht. Die Party begann, und es war eine prächtige Party an dem langen Sommernachmittag unter dem endlosen Himmel der Prärie.
7
Eddie fand, die Mahlzeit an diesem Tag war die beste, die er seit den mythischen Geburtstagsfesten seiner Kindheit gehabt hatte, als seine Mutter es sich zur Aufgabe machte, ihm alles zu servieren, was ihm schmeckte – Hackfleisch und Bratkartoffeln und Maiskolben und Schokoladentorte und Vanilleeis.
Allein die Vielfalt der Speisen vor ihnen – nachdem sie monatelang nichts anderes gegessen hatten als Hummerfleisch und Wild und die wenigen bitteren Grünpflanzen, die Roland als genießbar bezeichnet hatte –, hatte zweifellos etwas mit dem Vergnügen zu tun, das ihm das Essen bereitete, aber Eddie glaubte nicht, daß das der einzige Grund war; er stellte fest, daß der Junge tellerweise in sich hineinschaufelte (und alle paar Minuten dem Bumbler zu seinen Füßen ein Stück von etwas abgab), und Jake war noch keine Woche hier.
Es gab Schüsseln mit Stew (Stücke von Büffelfleisch schwammen in einer dicken braunen Soße mit Gemüse), Platten mit frischen Biskuits, Schalen mit frischer weißer Butter und Schüsseln mit Blättern, die wie Spinat aussahen, aber keiner war… nicht genau. Eddie war nie besonders verrückt nach Gemüse gewesen, aber als er davon gekostet hatte, wachte ein unterernährter Teil von ihm auf und schrie danach. Er aß von allem reichlich, aber sein Bedarf nach dem grünen Blattgemüse nahm die Ausmaße von Gier an, und er sah, daß auch Susannah sich immer wieder damit den Teller füllte.
Die alte Frauen und die Albinozwillinge räumten die Schüsseln ab. Sie kehrten mit Kuchenstückchen zurück, die hoch auf zwei dicken Keramikplatten aufgeschichtet waren, und dazu gehörte eine Schüssel Schlagsahne. Der Kuchen verströmte einen süßlichen Wohlgeruch, bei dem Eddie den Eindruck hatte, als wäre er gestorben und in den Himmel gekommen.
»Nur Büffelsahne«, sagte Tante Talitha wegwerfend. »Keine Kühe mehr – die letzte hat vor dreißig Jahren das Zeitliche gesegnet. – Büffelsahne ist nichts Besonderes, aber besser als nichts, bei Daisy!«
Wie sich herausstellte, war der Kuchen mit Blaubeeren gefüllt. Eddie fand, daß er jedem Kuchen, den er bisher gegessen hatte, eine Landmeile voraus war. Er aß drei Stücke, lehnte sich zurück und rülpste schallend, ehe er sich die Hand vor den Mund halten konnte. Er sah sich schuldbewußt um.
Mercy, die blinde Frau, gackerte. »Das hab’ ich gehört! Jemand dankt der Köchin, Tantchen!«
»Ay«, sagte Tante Talitha, die selbst lachte. »So ist es.«
Die beiden Frauen, die das Essen serviert hatten, kamen wieder zurück. Eine trug einen dampfenden Krug; die andere balancierte eine Anzahl Keramiktassen auf einem Tablett.
Tante Talitha saß am Kopf der Tafel, Roland rechts von ihr. Jetzt beugte er sich zu ihr und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie hörte zu, ihr Lächeln ließ ein wenig nach, dann nickte sie.
»Si, Bill und Till«, sagte sie. »Ihr drei bleibt. Wir ziehen uns zu einem kurzen Palaver mit diesem Revolvermann und seinen Freunden zurück, weil diese noch am heutigen Nachmittag weiterziehen wollen. Ihr anderen trinkt euren Kaffee in der Küche und seid leise. Und vergeßt nicht die guten Manieren, bevor ihr geht!«
Bill und Till, die Albinozwillinge, blieben am unteren Ende der Tafel sitzen. Die anderen stellten sich in einer Reihe auf und gingen langsam an den Reisenden vorbei. Jeder gab Eddie und Susannah die Hand und küßte Jake auf die Wange. Der Junge ließ es mit Anstand über sich ergehen, aber Eddie konnte sehen, daß er überrascht und verlegen zugleich war.
Wenn sie zu Roland kamen, knieten sie vor ihm nieder und berührten den Sandelholzgriff des Revolvers, der aus dem Halfter an der linken Hüfte ragte. Er legte ihnen die Hände auf die Schultern und küßte jedem die runzlige Stirn. Mercy war die letzte; sie schlang die Arme um Rolands Taille und gab ihm einen feuchten, schallenden Schmatz auf die Wange.
»Gott schütze und behüte Euch, Revolvermann! Wenn ich Euch nur sehen könnte!«
»Vergiß deine Manieren nicht, Mercy!« sagte Tante Talitha schneidend, aber Roland achtete nicht auf sie und beugte sich über die blinde Frau.
Er nahm ihre Hände sanft, aber fest in seine und führte sie zu seinem Gesicht. »Sieh mich damit, meine Schöne«, sagte er und machte die Augen zu, als sich ihre runzligen und von Arthritis deformierten Finger langsam über Stirn, Wangen, Lippen und Kinn tasteten.
»Ay, Revolvermann!« hauchte sie und hob ihre toten Augenhöhlen seinen blauen Augen entgegen. »Ich sehe dich ausgezeichnet! Ein schönes Gesicht ist es, doch voll Traurigkeit und Anteilnahme. Ich habe Angst um Euch und die Euren.«
»Und doch wurden wir voll des Guten, oder nicht?« sagte er und drückte einen sanften Kuß auf die runzlige Haut ihrer Stirn.
»Ay – das sind wir. Das sind wir. Danke für Euren Kuß, Revolvermann. Aus ganzem Herzen danke ich Euch.«
»Geh weiter, Mercy«, sagte Tante Talitha mit sanfterer Stimme. »Trink deinen Kaffee.«
Mercy stand auf. Der alte Mann mit Krücke und Holzbein führte ihre Hand zum Hosenbund. Sie ergriff ihn und ließ sich nach einem letzten Gruß an Roland und seine Gefährten von ihm wegführen.
Eddie wischte sich die feuchten Augen ab. »Wer hat sie geblendet?« fragte er heiser.
»Waldläufer«, sagte Tante Talitha. »Mit einem Brandeisen haben sie es getan, so war es. Haben gesagt, weil sie sie keck angesehen hat. Vor fünfundzwanzig Jahren war das. Trinkt jetzt euren Kaffee, alle zusammen! Er schmeckt heiß nicht besonders, aber wenn er kalt ist, ist er nicht besser als Schlamm auf dem Weg.«
Eddie hob die Tasse zum Mund und kostete versuchsweise. Er wäre nicht gerade so weit gegangen, ihn als Schlamm auf dem Weg zu bezeichnen, aber es war auch nicht gerade Beste Bohne.
Susannah kostete und sah verblüfft drein. »Aber das ist Zichorie!«
Talitha sah sie an. »Ich kenne es nicht. Ich kenne nur Dockey, und nur Dockeykaffee haben wir hier, seit ich den Fluch der Frauen zum letztenmal hatte, und dieser Fluch wurde schon vor langer, langer Zeit von mir genommen.«
»Wie alt sind Sie denn, Ma’am?« fragte Jake plötzlich.
Tante Talitha sah ihn überrascht an, dann gackerte sie. »In Wahrheit, Junge, entsinne ich mich nicht. Ich erinnere mich, daß ich genau an dieser Stelle saß und meinen Achtzigsten feierte, aber an diesem Tag hatten sich über fünfzig Menschen auf dem Rasen versammelt, und Mercy hatte noch ihre Augen.« Sie sah zu dem Bumbler, der zu Jakes Füßen lag. Oy nahm die Schnauze nicht von Jakes Knöchel, sah sie aber mit seinen goldumrandeten Augen an. »Ein Billy-Bumbler, bei Daisy! Es ist lang und länger her, seit ich einen Bumbler in Begleitung von Menschen gesehen habe… es scheint, als hätten sie die Erinnerung an die Zeiten verloren, da sie bei den Menschen hausten.«
Einer der Albinozwillinge bückte sich, um Oy zu streicheln. Oy wich vor ihm zurück.
»Früher haben sie Schafe gehütet«, sagte Bill (oder möglicherweise Till) zu Jake. »Hast du das gewußt, Jüngster?«
Jake schüttelte den Kopf.
»Tut er sprechen?« fragte der Albino. »Manche sprachen in den alten Zeiten.«
»Ja, er spricht.« Er sah zu dem Bumbler hinab, der den Kopf wieder auf Jakes Knöchel gelegt hatte, sobald die fremde Hand aus seinem Umkreis verschwunden war. »Sag deinen Namen, Oy.«
Oy sah nur zu ihm auf.
»Oy!« drängte Jake, aber Oy blieb stumm. Jake sah Tante Talitha und die Zwillinge ein wenig verlegen an. »Nun, er spricht… aber anscheinend nur, wenn er will.«
»Der Junge sieht nicht aus, als gehörte er hierher«, sagte Tante Talitha zu Roland. »Seine Kleidung ist seltsam… und seine Augen sind auch seltsam.«
»Er ist noch nicht lange hier.« Roland lächelte Jake zu, und Jake lächelte unsicher zurück. »In einem Monat oder zweien wird niemand mehr etwas Seltsames an ihm bemerken.«
»Ay? Ich zweifle, das tu’ ich. Und woher kommt er?«
»Von weit fort«, sagte der Revolvermann. »Sehr weit.«
Sie nickte. »Und wann kehrt er zurück?«
»Niemals«, sagte Jake. »Dies ist jetzt meine Heimat.«
»Dann hab’ Gott Erbarmen mit dir«, sagte sie, »denn die Sonne geht in dieser Welt unter. Und sie geht für immer unter.«
Darauf regte sich Susannah unbehaglich und griff mit einer Hand zum Bauch, als hätte sie Magenschmerzen.
»Suze?« fragte Eddie. »Alles in Ordnung?«
Sie versuchte zu lächeln, aber es war eine klägliche Vorstellung; ihre übliche Zuversicht und ihr Selbstvertrauen schienen vorübergehend von ihr gewichen zu sein. »Ja, natürlich. Mir ist nur ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen, mehr nicht.«
Tante Talitha warf ihr einen langen, abschätzenden Blick zu, der Susannah unbehaglich zu stimmen schien… dann lächelte sie. »›Ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen‹ – ha! Das habe ich seit Eselsjahren nicht mehr gehört.«
»Mein Dad hat es dauernd gesagt.« Susannah lächelte Eddie zu – diesmal ein zuversichtlicheres Lächeln. »Wie auch immer, was es war, ist jetzt vorbei. Mir geht es prima.«
»Was weißt du von der Stadt und dem Land zwischen dort und hier?« fragte Roland, der die Kaffeetasse nahm und trank. »Gibt es Waldläufer dort? Und was sind die anderen? Graue und Pubes?«
Tante Talitha seufzte tief.
8
»Ihr müßtet viel hören, Revolvermann, und wir wissen wenig. Eines jedoch weiß ich, nämlich: Die Stadt ist ein böser Ort, besonders für den Jüngsten da. Für jeden Jüngsten. Gibt es eine Möglichkeit, sie zu umgehen, ohne von Eurem Weg abzuweichen?«
Roland sah auf und betrachtete die mittlerweile vertraute Formation der Wolken, die dem Pfad des Balkens folgten. An diesem endlosen Himmel über der Ebene war die Form, gleich einem Fluß am Himmel, unmöglich zu übersehen.
»Vielleicht«, sagte er, aber seine Stimme klang seltsam widerwillig. »Ich denke, wir könnten Lud im Südwesten umgehen und auf der anderen Seite wieder dem Balken folgen.«
»Dem Balken folgt Ihr also«, sagte sie. »Ay, das habe ich mir gedacht.«
Eddie stellte fest, daß seine eigenen Gedanken an die Stadt in zunehmendem Maße von der wachsenden Hoffnung getönt wurden, daß sie Hilfe finden würden, wenn sie jemals dort ankamen – zurückgebliebene Güter, die ihnen bei ihrer Suche dienlich sein konnten, vielleicht sogar Menschen, die ihnen mehr über den Dunklen Turm und was sie tun sollten, wenn sie ihn fanden, sagen konnten. Diejenigen zum Beispiel, die die Grauen genannt wurden – das hörte sich genau nach den weisen alten Elfen an, die er sich vorstellte.
Die Trommeln waren unheimlich, das war schon richtig; sie erinnerten ihn an hundert billige Dschungelfilme (die er meistens mit Henry neben sich und einer Schüssel Popcorn zwischen ihnen im Fernsehen gesehen hatte), wo die sagenhaften Städte, nach denen die Entdecker suchten, in Trümmern lagen und die Eingeborenen zu Stämmen blutrünstiger Kannibalen degeneriert waren. Aber Eddie fand es unmöglich, daß das in einer Stadt geschehen sein sollte, die zumindest aus der Ferne so sehr wie New York aussah. Wenn es keine weisen alten Elfen oder erhaltene Güter gab, dann doch mindestens Bücher, er hatte Roland erzählen hören, wie selten Papier hier war, aber jede Stadt, die Eddie je besucht hatte, war förmlich in Büchern ertrunken. Sie fanden vielleicht sogar ein funktionierendes Transportmittel, so etwas wie einen Landrover. Das war wahrscheinlich nur ein alberner Traum, aber wenn Tausende Meilen unbekanntes Gebiet vor einem lagen, waren ein paar alberne Träume zweifellos in Ordnung, und sei es nur, um bei guter Laune zu bleiben. Und war das alles nicht wenigstens möglich, verdammt?
Er machte den Mund auf, um einiges davon auszusprechen, aber Jake ergriff vor ihm das Wort.
»Ich glaube nicht, daß wir ihr ausweichen können«, sagte er und errötete ein wenig, als alle sich umdrehten und ihn ansahen. Oy räkelte sich auf seinen Füßen.
»Nicht?« sagte Tante Talitha. »Und warum denkst du das, sag an?«
»Wissen Sie etwas über Züge?« fragte Jake.
Es folgte ein langes Schweigen. Bill und Till wechselten einen unbehaglichen Blick. Tante Talitha sah Jake nur stechend an. Jake senkte den Blick nicht.
»Ich habe von einem gehört«, sagte sie. »Womöglich gar einen gesehen. Da drüben.« Sie deutete in Richtung Send. »Lange her, als ich ein Kind war und die Welt sich noch nicht weitergedreht hatte… jedenfalls nicht so weit wie heute. Sprichst du von Blaine, sag, Junge?«
Jakes Augen leuchteten vor Überraschung und Einsicht auf. »Ja! Blaine!« Roland betrachtete Jake eindringlich.
»Und woher weißt du von Blaine, dem Mono?« fragte Tante Talitha.
»Mono?« Jake sah sie verständnislos an.
»Ay, so wurde er genannt. Woher weißt du von dem Alten?«
Jake sah hilflos zu Roland, dann wieder zu Tante Talitha. »Ich weiß nicht, woher ich das weiß.«
Und das ist die Wahrheit, dachte Eddie plötzlich, aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Er weiß mehr, als er ihr sagen will… und ich glaube, er hat Angst.
»Ich glaube, das ist unsere Angelegenheit«, sagte Roland mit trockener, brüsker, befehlsgewohnter Stimme. »Darauf mußt du uns selbst kommen lassen, Alte Mutter.«
»Ay«, stimmte sie hastig zu. »Behaltet es für euch. Es wird das beste sein, unsereiner weiß nichts davon.«
»Was ist mit der Stadt?« drängte Roland. »Was weißt du von Lud?«
»Wenig inzwischen, doch was wir wissen, sollt Ihr hören.« Dann schenkte sie sich eine frische Tasse Kaffee ein.
9
Aber eigentlich waren es die Zwillinge Bill und Till, die am meisten redeten, wobei einer die Geschichte nahtlos fortsetzte, wenn der andere verstummte. Ab und zu fügte Tante Talitha etwas hinzu oder verbesserte etwas, und die Zwillinge warteten respektvoll, bis sie wußten, daß sie fertig war. Si sagte überhaupt nichts – er saß lediglich vor seiner unberührten Tasse Kaffee und zupfte an Strohhalmen, die aus der Krempe seines großen Sombrero ragten.
Sie wußten wahrhaftig wenig, wurde Roland schnell klar, selbst über die Geschichte ihres eigenen Dorfs (was ihn nicht überraschte; in den späten Tagen verblaßten Erinnerungen rasch, und lediglich die jüngste Vergangenheit schien zu existieren), aber was sie wußten, war beunruhigend. Doch auch das überraschte Roland nicht.
In den Tagen ihrer Urgroßeltern war River Crossing ziemlich genau das Städtchen, das sich Susannah vorgestellt hatte: ein Handelsposten an der Großen Straße, mit bescheidenem Wohlstand, ein Ort, wo Waren manchmal verkauft, häufiger aber getauscht wurden. Es hatte zumindest nominell zur Flußbaronie gehört, obwohl schon damals Baronien und Landgüter im Verschwinden begriffen gewesen waren.
Damals waren Büffeljäger hier gewesen, obwohl die Herden klein waren und schlimme Mutationen aufwiesen. Das Fleisch dieser mutierten Mischlinge war nicht giftig, aber übelriechend und bitter. Doch River Crossing, das zwischen einem Ort namens The Landing und dem Dorf Jimtown lag, war eine Siedlung von einigem Gewicht gewesen. Es lag an der Großen Straße und nur sechs Tagesreisen zu Land und drei per Schiff von der Stadt entfernt. »Es sei denn, der Fluß führte Niedrigwasser«, sagte einer der Zwillinge. »Dann dauerte es länger, und mein Großda’ sagte, es gab Zeiten, da saßen Barken bis rauf nach Tom’s Neck fest.«
Die alten Leute wußten natürlich nichts von den ursprünglichen Bewohnern der Stadt und der Technologie, mit deren Hilfe sie die Türme und Hochhäuser gebaut hatten; das waren die Großen Alten gewesen, und deren Geschichte verlor sich schon in den fernsten Weiten der Vergangenheit, als Tante Talithas Urgroßvater noch ein Junge gewesen war.
»Die Häuser stehen noch«, sagte Eddie. »Ich frage mich, ob die Maschinen, mit denen die Großen Alten sie gebaut haben, immer noch funktionieren.«
»Möglich«, sagte einer der Zwillinge. »Wenn ja, junger Mann, lebt freilich kein Mann und keine Frau hierenthalben, die noch wüßten, sie zu bedienen… glaube ich, das tue ich.«
»Nee«, sagte sein Bruder widerborstig, »ich bezweifle, daß die alten Methoden selbst heute den Grauen und Pubes völlig unbekannt sind.« Er sah Eddie an. »Unser Da’ hat gesagt, daß es einst elektrische Kerzen in der Stadt gegeben hat. Manche behaupten, sie möchten immer noch brennen.«
»Muß man sich vorstellen«, sagte Eddie staunend, und Susannah kniff ihn unter dem Tisch fest ins Bein.
»Ja«, sagte der andere Zwilling. Er sprach im Ernst und schien Eddies Sarkasmus nicht mitbekommen zu haben. »Man drückte einen Knopf, und sie erstrahlten hell, kalte Kerzen ohne Behältnis für Öl oder Dochte. Und ich habe sagen hören, daß in den alten Zeiten Quick, der Renegatenprinz, sogar mit einem mechanischen Vogel am Himmel geflogen sein soll. Aber ein Flügel brach ab, und er starb bei dem gewaltigen Absturz, genau wie Ikarus.«
Susannah klappte den Mund auf. »Ihr kennt die Geschichte von Ikarus?«
»Ay, Lady«, sagte er und schien überrascht, daß ihr das seltsam vorkam. »Er mit den Flügeln aus Bienenwachs.«
»Ammenmärchen, alle beide«, sagte Tante Talitha verächtlich schniefend. »Ich weiß, die Geschichte der ewigen Lichter ist wahr, habe ich sie doch mit eigenen Augen gesehen, als ich noch ein grünes Gör war, und sie möchten von Zeit zu Zeit noch leuchten, ay; ich kenne Vertrauenswürdige, welche sagen, sie haben sie an klaren Tagen gesehen, doch ist es lange Jahre her, seit ich selbst sie gesehen. Aber kein Mensch ist je geflogen; nicht einmal die Großen Alten.«
Dennoch gab es freilich seltsame Maschinen in der Stadt, die gebaut waren, um eigentümliche und manchmal gefährliche Aufgaben zu übernehmen. Viele funktionierten vielleicht noch, aber die älteren Zwillinge behaupteten, niemand in der Stadt wüßte, wie man sie in Gang bringt, denn ihre Geräusche waren seit Jahren nicht mehr vernommen worden.
Das könnte sich vielleicht ändern, dachte Eddie mit leuchtenden Augen. Das heißt, falls zufällig ein tüchtiger, reisender junger Mann des Wegs käme, der ein bißchen von seltsamen Maschinen und ewigen Lichtem versteht. Es könnte nur darauf ankommen, den Schalter zu finden. Ich meine, es könnte wirklich so einfach sein. Vielleicht haben sie auch einfach nur ein paar Sicherungen durchbrennen lassen – stellt euch das einmal vor, Freunde und Nachbarn! Man wechselt einfach ein paar 400-Amp-Sicherungen aus und beleuchtet die gesamte Kulisse wie Reno in einer Samstagnacht!
Susannah stieß ihn mit dem Ellbogen an und fragte mit gedämpfter Stimme, was so komisch war. Eddie schüttelte den Kopf, legte einen Finger auf die Lippen und holte sich einen bitterbösen Blick von der Liebe seines Lebens. Derweil setzten die Albinos ihre Geschichte fort und spielten sich den Ball mit der unbewußten Übereinstimmung zu, die es wahrscheinlich nur unter Zwillingen geben kann, die ihr ganzes Leben miteinander verbracht haben.
Vor vier oder fünf Generationen, sagten sie, war die Stadt noch dicht bewohnt und einigermaßen zivilisiert gewesen, obschon die Einwohner mit Gespannen und Ochsenkarren auf den breiten Boulevards fuhren, die die Großen Alten für ihre legendären pferdelosen Fahrzeuge erbaut hatten. Die Stadtbewohner waren Mechaniker und ›Handwirker‹, wie die Zwillinge sich ausdrückten, und der Handel auf und über dem Fluß hatte geblüht.
»Darüber?« fragte Roland.
»Die Brücke über den Send steht noch«, sagte Tante Talitha. »Jedenfalls vor zwanzig Jahren.«
»Ay, der alte Bill Muffin und sein Junge haben sie gesehen, das ist noch keine zwanzig Jahre her«, stimmte Si zu und leistete damit seinen ersten Beitrag zu der Unterhaltung.
»Was für eine Brücke?« fragte der Revolvermann.
»Ein großes Ding aus Stahl und Kabeln«, sagte einer der Zwillinge. »Sie ragt in den Himmel wie das Netz einer großen Spinne.« Er fügte schüchtern hinzu: »Ich würde sie gern noch einmal wiedersehen, bevor ich sterbe.«
»Wahrscheinlich inzwischen eingestürzt«, sagte Tante Talitha geringschätzig, »und recht so. Teufelswerk.« Sie wandte sich an die Zwillinge. »Erzählt ihnen, was sich seither zugetragen und weshalb die Stadt heute so gefährlich ist – das heißt, abgesehen von irgendwelchem Spuk, der dort hausen mag, und ich schätze, im Überfluß gibt es den dort. Die Leute möchten weiterziehen, und die Sonne steht schon im Westen.«
10
Der Rest der Schilderung war eine weitere Version einer Geschichte, die Roland von Gilead schon viele Male gehört und in einem gewissen Maß auch selbst erlebt hatte. Sie war bruchstückhaft und unvollständig und zweifellos mit Mythen und Fehlinformationen gespickt. Ihr linearer Verlauf war von den seltsamen Veränderungen – zeitlich und richtungsmäßig – verzerrt, die heute in der Welt stattfanden, und man konnte sie in einem umfassenden Satz zusammenfassen: Es war einmal eine Welt, die wir gekannt haben, aber diese Welt hat sich weitergedreht.
Diese alten Leute von River Crossing wußten ebensowenig von Gilead, wie Roland von der Flußbaronie wußte, und der Name John Farson, der Untergang und Anarchie über Rolands Land gebracht hatte, sagte ihnen nichts; aber alle Geschichten vom Verschwinden der alten Welt waren ähnlich… zu ähnlich, dachte Roland, als daß dies ein Zufall sein könnte.
Ein großer Bürgerkrieg war vor drei- oder vierhundert Jahren in Garlan, möglicherweise auch in einem ferneren Land namens Porla, ausgebrochen. Dessen Wellen hatten sich langsam ausgebreitet und Chaos und Anarchie vor sich her geschoben. Wenige Königreiche, wenn überhaupt, hatten sich gegen diese langsame Flutwelle behaupten können, und die Anarchie hatte sich so sicher über diesen Teil der Welt gesenkt, wie die Nacht dem Sonnenuntergang folgt. Ganze Armeen waren unterwegs gewesen, manchmal auf dem Vormarsch, manchmal auf dem Rückzug, aber stets verwirrt und ohne langfristige Ziele. Im Lauf der Zeit zerfielen sie in kleinere Gruppen, diese wiederum verkamen zu herumziehenden Banden und Waldläufern. Der Handel wurde spärlicher und versiegte schließlich völlig. Das Reisen, das unbequem gewesen war, wurde nun gefährlich. Zuletzt wurde es fast völlig unmöglich. Die Kommunikation mit der Stadt wurde zunehmend spärlicher und war vor rund hundertzwanzig Jahren ganz zum Erliegen gekommen.
So wie hundert andere Dörfer auch, durch die Roland geritten war – zuerst mit Cuthbert und den anderen Revolvermännern, die man aus Gilead vertrieben hatte, dann allein auf der Jagd nach dem Mann in Schwarz –, war River Crossing vom Rest der Welt abgeschnitten worden und mußte auf seine eigenen Ressourcen zurückgreifen.
An dieser Stelle raffte sich Si auf, dessen Stimme die Reisenden sofort in ihren Bann schlug. Er sprach im heiseren, gemessenen Tonfall eines Mannes, der sein Leben lang Geschichten erzählt hatte – einer der begnadeten Narren, die dazu geboren waren, Erinnerung und Fantasie zu Träumen zu weben, die so wunderbar filigran waren wie ein Spinnennetz voll Tautropfen.
»Wir haben das letztemal zur Zeit meines Großda’ Tribut zum Schloß der Baronie geschickt«, sagte er. »Sechsundzwanzig Männer sind mit einem Wagen voll Fellen aufgebrochen – damals gab es keine harte Währung mehr, und das war das Beste, das sie zusammengebracht hatten. Es war eine lange und gefahrvolle Reise von fast achtzig Rädern, und sechs Männer starben unterwegs. Die Hälfte von ihnen fiel Waldläufern zum Opfer, die auf dem Weg zu den Kämpfen in der Stadt waren; die andere Hälfte starb an Krankheiten oder Teufelsgras.
Als sie schließlich ankamen, war das Schloß verlassen, abgesehen von Krähen und Amseln. Die Mauern waren eingestürzt, Unkraut wuchs im Innenhof. Auf den Feldern im Westen hatte ein großes Gemetzel stattgefunden; die Ebene war weiß von gebleichten Gebeinen und rot von rostigen Rüstungen, so hat es jedenfalls mein Großda’ erzählt, und die Stimmen von Dämonen heulten wie der Ostwind aus den Kiefern der Gefallenen. Das Dorf beim Schloß war bis auf die Grundmauern niedergebrannt worden, tausend oder mehr Schädel waren auf der Palisade aufgespießt worden. Unsere Männer ließen die Wagenladung Felle vor dem zertrümmerten Schloßportal – denn niemand wollte den Ort der Geister und wehklagenden Stimmen betreten – und machten sich wieder auf den Heimweg. Auf der Rückreise fielen weitere zehn, so daß von sechsundzwanzig, die aufgebrochen waren, nur zehn wiederkehrten, darunter mein Großda’… aber er hat sich einen Ausschlag an Hals und Brust geholt, den er bis zu seinem Todestag nicht mehr losgeworden ist. Das war die Strahlenkrankheit, so haben sie gesagt. Danach, Revolvermann, hat niemand mehr das Dorf verlassen. Wir waren auf uns allein gestellt.«
Sie gewöhnten sich an die Übergriffe der Waldläufer, fuhr Si mit seiner brüchigen, aber melodischen Stimme fort. Wachen wurden aufgestellt; wenn berittene Banden gesichtet wurden – die sich fast immer auf der Großen Straße und dem Pfad des Balkens nach Südosten bewegten und in den Krieg zogen, der endlos in Lud wütete –, zogen sich die Dorfbewohner in den Unterschlupf zurück, den sie unter der Kirche gegraben hatten. Geringfügige Schäden an der Dorffassade wurden nicht ausgebessert, damit sie die umherziehenden Banden nicht neugierig machten. Die meisten freilich zeigten keine Neugier; sie ritten nur in gestrecktem Galopp durch und zogen mit Bogen oder Streitäxten auf den Schultern ins Kriegsgebiet.
»Von welchem Krieg sprichst du?« fragte Roland.
»Ja«, sagte Eddie, »und was ist mit den Trommeln?«
Die Zwillinge wechselten rasche, fast abergläubische Blicke.
»Von den Gottestrommeln wissen wir nichts«, sagte Si zu ihnen. »Weder gehört noch gesehen haben wir sie. Was nun den Krieg in der Stadt anbelangt…«
Der Krieg hatte ursprünglich zwischen Waldläufern und Gesetzlosen gegen einen lockeren Bund von Mechanikern und ›Handwirkern‹ stattgefunden, die in der Stadt lebten. Die Einwohner hatten beschlossen zu kämpfen, statt sich von den Plünderern ausnehmen zu lassen, die ihre Geschäfte niederbrannten und die Überlebenden in die Große Leere hinausjagten, wo sie mit Sicherheit sterben mußten. Einige Jahre hatten sie Lud erfolgreich gegen die tückischen, aber schlecht organisierten Banden der Plünderer verteidigt, die über die Brücke oder mit Booten und Barken einfallen wollten.
»Die Stadtleute benützten die alten Waffen«, sagte einer der Zwillinge, »und obwohl ihre Zahl verschwindend gering war, konnten die Waldläufer mit ihren Bogen und Speeren und Streitäxten dagegen nichts ausrichten.«
»Meinen Sie, die Stadtbewohner haben Gewehre benützt?« fragte Eddie.
Einer der Albinos nickte. »Ay, Gewehre, aber nicht nur Gewehre. Es gab Waffen, die schleuderten Feuerbälle über eine Meile weit und weiter. Explosionen wie Dynamit, nur stärker. Die Gesetzlosen – die jetzt die Grauen sind, wie euch sicher schon aufgegangen ist – konnten nur den Fluß belagern, und das haben sie getan.«
Lud wurde de facto zur letzten Festung und Zuflucht der Endzeitwelt. Die Klügsten und Begabtesten des Umlands reisten einzeln und zu zweit dorthin. Es war die Abschlußprüfung für die Neuankömmlinge, sich durch die Reihen der Belagernden zu schleichen. Die meisten kamen unbewaffnet über das Niemandsland der Brücke, und wer so weit kam, wurde durchgelassen. Manche erwiesen sich als überflüssig und wurden wieder des Wegs geschickt, aber wer über ein Handwerk oder Geschick verfügte (oder Verstand genug, sich etwas anzueignen), durfte bleiben. Landwirtschaftliche Kenntnisse wurden besonders hoch geschätzt: Geschichten behaupteten, daß jeder große Park in Lud in einen Gemüsegarten umgewandelt wurde. Da sie vom Umland abgeschnitten waren, mußten sie entweder Nahrungsmittel in der Stadt anbauen oder zwischen den Glastürmen und Metallpfaden verhungern. Die Großen Alten waren fort, ihre Maschinen ein Geheimnis, und die übriggebliebenen stummen Wunder waren nicht eßbar.
Nach und nach veränderte sich der Charakter des Krieges. Das Machtgleichgewicht verlagerte sich zugunsten der belagernden Grauen – so genannt, weil sie im Durchschnitt viel älter als die Stadtbewohner waren. Letztere wurden selbstverständlich auch älter. Sie wurden immer noch Pubes genannt, obwohl sie die Pubertät in den meisten Fällen längst hinter sich hatten. Und sie vergaßen schließlich, wie die alten Waffen funktionierten, oder verbrauchten sie.
»Wahrscheinlich beides«, grunzte Roland.
Vor neunzig Jahren – also schon zu Lebzeiten von Si und Tante Talitha – war eine letzte Bande von Gesetzlosen gekommen; so groß, daß die Vorhut bei Dämmerung durch River Crossing ritt und die Nachhut erst nach Sonnenuntergang passierte. Es war die letzte Armee, die dieser Teil der Welt jemals gesehen hatte, und sie wurde von einem Krieger und Prinzen namens David Quick angeführt – demselben, der angeblich später vom Himmel in den Tod stürzte. Er hatte die verstreuten Überreste der Banden von Gesetzlosen organisiert, die sich noch um die Stadt herumtrieben, und jeden getötet, der seinen Plänen Widerstand entgegensetzte. Quicks Armee der Grauen benützte weder Boote noch die Brücke selbst, um in die Stadt einzudringen; statt dessen bauten sie zwölf Meilen unterhalb eine schwimmende Brücke und griffen die Flanke an.
»Seither lodert der Krieg wie ein Kaminfeuer«, führte Tante Talitha zu Ende. »Wir hören ab und zu Berichte von jemandem, dem die Flucht gelungen ist, ay, so ist es. Diese treffen mittlerweile ein wenig öfter ein, denn die Brücke, sagen sie, ist ungeschützt, und ich glaube, das Feuer ist beinahe erloschen. Innerhalb der Stadt kämpfen die Grauen und Pubes um die letzten Vorräte, doch könnte ich mir denken, die Nachkommen der Waldläufer, die Quick über die schwimmende Brücke gefolgt sind, sind heute die wahren Pubes, obwohl sie immer noch Graue genannt werden. Die Nachfahren der ursprünglichen Stadtbewohner müssen inzwischen fast so alt sein wie wir, doch müssen noch einige Jüngere unter ihnen hausen, die von den alten Geschichten und der Verlockung des Wissens, das noch dort existieren mag, angezogen werden.
Diese beiden Seiten halten die alte Feindschaft immer noch aufrecht, Revolvermann, und beide werden nach dem jungen Mann lechzen, den Ihr Eddie nennt. Wenn die dunkelhäutige Frau fruchtbar ist, werden sie sie nicht töten, obwohl ihre Beine zu kurz sind; sie würden sie behalten, um Kinder zu gebären, denn Kinder sind heute selten, und obwohl die alten Krankheiten im Abklingen sind, werden viele doch noch entstellt geboren.«
Darauf regte sich Susannah, als wollte sie etwas sagen, aber dann trank sie doch nur den Rest Kaffee und nahm wieder ihre vorherige lauschende Haltung ein.
»Aber wenn sie nach dem jungen Mann und der Frau lechzen, Revolvermann, auf den Knaben werden sie versessen sein.«
Jake bückte sich und streichelte wieder Oys Fell. Roland sah sein Gesicht und wußte, was er dachte: wieder die Reise unter den Bergen; eine neue Version der Langsamen Mutanten.
»Euch würden sie ohne Zögern töten«, sagte Tante Talitha, »denn Ihr seid ein Revolvermann, ein Mann außerhalb seiner Zeit und seines Orts, weder Fisch noch Fleisch, für keine Seite von Nutzen. Aber einen Jungen kann man nehmen, benützen, ihn lehren, sich an bestimmte Dinge zu erinnern und alle anderen zu vergessen. Sie haben schon vergessen, worum sie in erster Linie überhaupt gekämpft haben; die Welt hat sich seither weitergedreht. Jetzt kämpfen sie einfach beim Klang dieser gräßlichen Trommeln, einige noch jung, die meisten jedoch alt genug für den Schaukelstuhl, wie wir hier, allesamt aber dumme Toren, die nur leben, um zu töten, und töten, um zu leben.« Sie machte eine Pause. »Nachdem Ihr uns alte Tottier nun angehört habt, seid Ihr sicher, es wäre nicht doch das Beste, einen Umweg zu machen und sie ihren Belangen zu überlassen?«
Bevor Roland antworten konnte, sprach Jake mit klarer, fester Stimme. »Erzählen Sie uns, was Sie über Blaine, den Mono, wissen«, sagte er. »Erzählen Sie uns alles über Blaine und Lokführer Bob.«
11
»Lokführer wer?« fragte Eddie, aber Jake sah weiter unverwandt die alten Leute an.
»Das Gleis liegt da drüben«, antwortete Si schließlich. Er deutete zum Fluß. »Nur ein Gleis, hoch auf einer Säule aus Steinen von Menschenhand, wie die Alten ihre Straßen und Mauern gebaut haben.«
»Monorail – eine Einschienenbahn!« rief Susannah. »Blaine, der Mono!«
»Blaine ist eine Pein«, murmelte Jake.
Roland sah ihn an, sagte aber nichts.
»Fährt dieser Zug noch?« wandte sich Eddie an Si.
Si schüttelte langsam den Kopf. Sein Gesicht sah besorgt und unbehaglich aus. »Nein, Junger Sir – aber zu meinen Lebzeiten und denen von Tantchen, da fuhr er noch. Als wir grün hinter den Ohren waren und der Krieg in der Stadt noch erbittert geführt wurde. Wir hörten ihn, bevor wir ihn sahen – ein tiefes Summen, wie man es manches Mal vernahm, wenn ein schlimmes Sommergewitter sich zusammenbraut – eins, das voller Blitze steckt.«
»Ay«, sagte Tante Talitha. Ihr Gesicht sah verloren und verträumt aus.
»Dann kam er – Blaine, der Mono; er funkelte in der Sonne mit einer Schnauze wie die Patronen in Eurem Revolver, Revolvermann. Vielleicht zwei Räder lang. Ich weiß, das hört sich an, als könnte es nicht sein, und vielleicht war es auch nicht so – wir waren grün, müßt Ihr gewärtig sein, das macht den Unterschied aus. Aber ich glaube dennoch, daß er so lang war, denn wenn er kam, schien er sich über den ganzen Horizont zu strecken. Schnell, flach und vorbei, ehe man ihn richtig ansehen konnte!
An Tagen, an denen das Wetter schlecht war und die Luft stand, kreischte er manchmal wie eine Harpyie, wenn er von Westen kam. Manchmal kam er in der Nacht, hatte ein langes, weißes Licht vor sich ausgebreitet, und sein Schrei weckte uns alle. Hat sich angehört wie die Trompete, die am Ende der Welt alle Toten aus den Gräbern ruft, sagen sie, so war es!«
»Erzähl ihnen von dem Knall, Si!« sagte Bill oder Till mit einer vor Ehrfurcht bebenden Stimme. »Erzähl ihnen von dem gottlosen Knall, der ihm stets nachfolgte!«
»Ay, darauf wollte ich gerade kommen«, antwortete Si mit einem Anflug von Gereiztheit. »Wenn er vorbei war, herrschte ein paar Sekunden Stille… manchmal bis zu einer Minute, möglicherweise… und dann erfolgte eine Explosion, die die Schränke durchschüttelte und Tassen von den Regalen warf und manchmal sogar das Glas in den Fensterscheiben zerbrach. Aber niemals sah jemand Blitz oder Feuer. Es war wie eine Explosion in der Welt der Geister.«
Eddie klopfte Susannah auf die Schulter, und als diese sich zu ihm umdrehte, formte er mit den Lippen das Wort Überschallknall. Es war verrückt – er hatte noch nie von einem Zug gehört, der mit Überschallgeschwindigkeit fuhr –, aber es war die einzig logische Erklärung.
Sie nickte und drehte sich wieder zu Si um. »Er war die einzige Maschine der Großen Alten, die ich jemals mit eigenen Augen in Betrieb gesehen habe«, sagte er mit leiser Stimme. »Und wenn das kein Teufelswerk gewesen ist, dann gibt es keinen Teufel. Zum letztenmal gesehen habe ich ihn in dem Frühjahr, als ich Mercy geheiratet habe, und das muß vor sechzig Jahren gewesen sein.«
»Siebzig«, sagte Tante Talitha mit Nachdruck.
»Und dieser Zug fuhr in die Stadt«, sagte Roland. »Von dort, woher wir gekommen sind… von Westen… vom Wald.«
»Ay«, sagte unerwartet eine neue Stimme, »aber es fuhr noch einer… aus der Stadt hinaus… und möglicherweise fährt der noch.«
12
Sie drehten sich um. Mercy stand bei einem Blumenbeet zwischen der Rückwand der Kirche und dem Tisch, wo sie saßen. Sie näherte sich mit ausgestreckten Armen langsam ihren Stimmen.
Si erhob sich linkisch, eilte, so gut er konnte, zu ihr und ergriff ihre Hand. Sie schlang einen Arm um seine Taille, dann blieben sie stehen und sahen wie das älteste Brautpaar der Welt aus.
»Tantchen hat dir gesagt, du sollst deinen Kaffee drinnen trinken!« sagte er.
»Meinen Kaffee hab’ ich schon lange getrunken«, sagte Mercy. »Ein bitteres Gebräu, das ich verabscheue. Außerdem – ich wollte das Palaver hören.« Sie hob einen zitternden Finger und deutete in Rolands Richtung. »Ich wollte seine Stimme hören. Sie klingt gut und hell, das tut sie.«
»Ich erflehe deine Verzeihung, Tantchen«, sagte Si und sah die alte Frau ein wenig furchtsam an. »Sie gehörte nie zu den Folgsamen, und die Jahre haben sie nicht besser gemacht.«
Tante Talitha sah zu Roland. Dieser nickte fast unmerklich. »Laß sie kommen und sich zu uns gesellen«, sagte sie.
Si führte sie zum Tisch, schalt sie aber dabei ununterbrochen. Mercy sah ihm mit ihren blinden Augen über seine Schulter und hatte den Mund zu einer undeutbaren Linie zusammengekniffen.
Als Si sie an den Tisch gesetzt hatte, beugte sich Tante Talitha auf den Unterarmen nach vorne und sagte: »Hast du nun etwas zu sagen, alte Schwester-sai, oder wolltest du nur dein Mundwerk spazierenführen?«
»Ich höre, was ich höre. Meine Ohren sind scharf wie je, Talitha – schärfer!«
Roland ließ die Hand einen Moment zum Gürtel sinken. Als er sie wieder auf den Tisch hob, hielt er eine Patrone zwischen den Fingern. Er warf sie Susannah zu, die sie fing. »Wirklich, Sai?« fragte er.
»Gut genug«, sagte sie und drehte sich in seine Richtung, »zu wissen, daß Ihr etwas geworfen habt. Zu der Frau, glaube ich – der mit der braunen Haut. Etwas Kleines. Was war es, Revolvermann? Ein Biskuit?«
»Fast«, sagte er lächelnd. »Dein Gehör ist so vortrefflich, wie du sagst. Und nun sag uns, was du sagen wolltest.«
»Es gibt noch einen Mono«, sagte sie, »wenn’s nicht derselbe ist, der eine andere Strecke fährt. Wie auch immer, ein Mono fuhr eine andere Strecke… jedenfalls bis vor sieben oder acht Jahren. Ich konnte hören, wie er die Stadt verlassen hat und ins angrenzende wüste Land hinausgefahren ist.«
»Unfug!« platzte einer der Albinozwillinge heraus. »Nichts fährt ins wüste Land! Nichts könnte dort überleben!«
Sie wandte ihm das Gesicht zu. »Lebt ein Zug, Till Tudbury?« fragte sie. »Bekommt eine Maschine Ausschlag und das Kotzen?«
Nun, wollte Eddie sagen, da war dieser Bär…
Er dachte noch einmal darüber nach und überlegte sich, daß es besser sein konnte, die Klappe zu halten.
»Wir hätten es auch hören müssen«, beharrte der andere Zwillingsbruder hitzig. »Ein Geräusch wie das, von dem Si immer erzählt…«
»Der hat keinen Knall gemacht«, gab sie zu, »aber ich habe das andere Geräusch gehört, das Summen, wie man es manchmal hört, wenn in der Nähe der Blitz eingeschlagen hat. Wenn der Wind heftig war und von der Stadt her geweht hat, habe ich es gehört.« Sie reckte das Kinn trotzig vor und fügte hinzu: »Einmal habe ich aber auch den Knall gehört. Von weit, weit weg. In der Nacht, als Big Charlie Wind gekommen ist und fast den Kirchturm umgepustet hat. Muß zweihundert Räder von hier entfernt gewesen sein. Möglicherweise zweihundertfünfzig.«
»Bockmist!« keifte der Zwilling. »Du mußt Gras gekaut haben!«
»Ich werd’ dir gleich was kauen, Bill Tudbury, wenn du nicht mit deinem Plärren aufhörst. Es gehört sich nicht, daß man Bockmist vor einer Dame sagt. Warum…«
»Hör auf, Mercy!« zischte Si, aber Eddie schenkte diesem Austausch ländlicher Artigkeiten kaum Beachtung. Für ihn klang es logisch, was die alte Frau gesagt hatte. Natürlich würde kein Überschallknall zu hören sein, nicht von einem Zug, der seine Fahrt in Lud begann; er konnte sich nicht genau erinnern, wie hoch die Schallgeschwindigkeit war, aber er dachte, daß sie in der Gegend von dreihundert Metern pro Sekunde lag. Ein Zug, der bei Null anfing, würde einige Zeit brauchen, bis er diese Geschwindigkeit erreicht hatte; und bis er sie erreicht hatte, würde er außer Hörweite sein… es sei denn, die Bedingungen wären gerade richtig, wie es – laut Mercy – in der Nacht der Fall war, als Big Charlie Wind gekommen war – was immer das auch sein mochte.
Und das barg Möglichkeiten. Blaine, der Mono, war kein Landrover, aber vielleicht… vielleicht…
»Du hast das Geräusch dieses anderen Zugs seit sieben oder acht Jahren nicht mehr gehört, Sai?« fragte Roland. »Bist du sicher, daß es nicht viel länger her ist?«
»Kann nicht sein«, antwortete sie, »denn das letztemal war in dem Jahr, als der alte Bill Muffin die Bluterkrankheit bekommen hat. Armer Bill!«
»Das ist fast zehn Jahre her«, sagte Tante Talitha mit eigentümlich sanfter Stimme.
»Warum hast du nie gesagt, daß du so was gehört hast?« fragte Si. Er sah den Revolvermann an. »Man kann nicht alles glauben, was sie sagt, Herr – sie möchte immer gern im Mittelpunkt stehen, meine Mercy.«
»Also wirklich, du alte Schlammassel!« schrie sie und schlug ihm auf den Arm. »Ich hab’ nie was gesagt, weil ich dir mit deiner Geschichte, auf die du so stolz bist, nicht die Schau stehlen wollte, aber jetzt ist es wichtig, was ich gehört habe, und darum rede ich jetzt!«
»Ich glaube dir, Sai«, sagte Roland. »Aber bist du ganz sicher, daß du das Geräusch des Mono seither nicht mehr gehört hast?«
»Nee, seither nicht mehr. Ich denke, er hat schließlich das Ende seines Wegs erreicht.«
»Das bezweifle ich«, sagte Roland. »Das bezweifle ich wirklich sehr.« Er sah nachdenklich auf den Tisch und war plötzlich sehr weit von ihnen entfernt.
Tschuff-tschuff, dachte Jake und erschauerte.
13
Eine halbe Stunde später standen sie wieder auf dem Platz. Susannah saß im Rollstuhl, Jake rückte die Gurte seines Rucksacks zurecht, während Oy auf den Hinterbeinen saß und ihnen aufmerksam zusah. Nur die Ältesten hatten an dem Essen in dem kleinen Garten Eden hinter der Kirche des Ewigen Blutes teilgenommen, schien es, denn als sie auf den Platz zurückkehrten, wartete noch ein rundes Dutzend Menschen. Diese betrachteten Susannah, sahen Jake aber länger an (seine Jugend schien offenbar interessanter zu sein als ihre dunkle Haut), doch es war deutlich, daß sie eigentlich gekommen waren, um Roland zu sehen; uralte Ehrfurcht leuchtete in ihren staunenden Augen.
Er ist das lebendige Überbleibsel einer Vergangenheit, die sie nur aus Geschichten kennen, dachte Susannah. Sie sehen ihn an, wie religiöse Menschen einen der Heiligen angesehen haben müssen – Petrus, Paulus oder Matthäus –, wenn dieser beschlossen hatte, zum samstagabendlichen Bohnenessen vorbeizuschauen und ihnen erzählte, wie es gewesen war, mit Jesus, dem Zimmermann auf dem Meer von Galiläa herumzuspazieren.
Das Ritual, mit dem das Essen zu Ende gegangen war, wurde nun wiederholt, aber diesmal nahmen alle Einwohner von River Crossing daran teil. Sie stellten sich alle in einer Reihe auf, schüttelten Eddie und Susannah die Hände, küßten Jake auf die Wange oder Stirn und knieten dann vor Roland nieder, um seine Berührung und seinen Segen entgegenzunehmen. Mercy schlang die Arme um ihn und drückte das blinde Gesicht an seinen Bauch. Roland umarmte sie ebenfalls und dankte ihr für ihre Informationen.
»Möchtet Ihr nicht die Nacht bei uns verbringen, Revolvermann? Der Sonnenuntergang nähert sich in Eile, und es ist lange her, seit Ihr und die Euren die Nacht mit einem Dach über dem Kopf verbracht habt, möchte ich meinen.«
»So ist es, dennoch müssen wir weiter.«
»Werdet Ihr wiederkehren, so es möglich ist, Revolvermann?«
»Ja«, sagte Roland, aber Eddie mußte seinem seltsamen Freund nicht ins Gesicht sehen, um zu wissen, daß sie River Crossing nie wiedersehen würden. »Wenn ich kann.«
»Ay.« Sie umarmte ihn ein letztes Mal, dann legte sie eine Hand Si auf die sonnengebräunte Schulter. »Lebet wohl.«
Tante Talitha kam als letzte. Als sie knien wollte, hielt Roland sie an den Schultern fest. »Nein, Sai. Du nicht.« Und dann kniete sich Roland vor ihr in den Staub auf dem Platz. »Wirst du mich segnen. Alte Mutter? Wirst du uns alle segnen, ehe wir weiter unseres Weges ziehen?«
»Ay«, sagte sie. Ihre Stimme klang nicht überrascht, sie hatte keine Tränen in den Augen, aber dennoch bebte ihre Stimme. »Ich sehe, daß Euer Herz aufrichtig ist und Ihr Euch an die alten Weisen Eurer Art haltet; ay, Ihr nehmt sie sehr genau. Ich segne Euch und die Euren und bete, daß Euch kein Leid geschehen mag. Und nun nehmt dies, so Ihr wollt.« Sie griff ins Leibchen ihres verblichenen Kleides und holte ein silbernes Kreuz an einer feinen Silberkette heraus. Sie streifte es ab.
Nun war Roland der Überraschte. »Bist du sicher? Ich bin nicht gekommen, um etwas fortzunehmen, das dir und den Deinen gehört, Alte Mutter.«
»Dessen bin ich gewißlich, gewisser kann ich nicht sein. Ich habe es Tag und Nacht über hundert Jahre lang getragen, Revolvermann. Jetzt sollt Ihr es tragen, es am Fuß des Dunklen Turms niederlegen und den Namen von Talitha Unwin am fernen Ende der Erde aussprechen.« Sie streifte ihm die Kette über den Kopf. Das Kreuz fiel in den offenen Halsausschnitt seines Wildlederhemds, als würde es dorthin gehören. »Geht jetzt. Wir haben das Brot gebrochen, wir haben ein Palaver abgehalten, wir haben Euren Segen und Ihr den unseren. Seid standhaft und seid aufrichtig.« Ihre Stimme bebte und brach beim letzten Wort.
Roland erhob sich, dann verbeugte er sich und klopfte sich dreimal an den Hals. »Danke-sai.«
Sie verbeugte sich ebenfalls, sagte aber nichts. Jetzt rannen Tränen an ihren Wangen hinab.
»Bereit?« fragte Roland.
Eddie nickte. Er glaubte nicht, daß er sprechen konnte.
»Nun gut«, sagte Roland. »Gehen wir.«
Sie gingen die Überreste der Hauptstraße des Dorfes entlang, und Jake schob Susannahs Rollstuhl. Als sie am letzten Gebäude vorbeikamen (HANDEL & TAUSCH stand auf dem verblaßten Schild), drehte er sich um. Die alten Leute standen immer noch um den Wegstein versammelt, eine verlorene Gruppe Menschen, mitten auf der weiten, unermeßlichen Ebene. Jake hob die Hand. Bis zu diesem Punkt hatte er sich zusammennehmen können, aber als mehrere der alten Leutchen – Si, Bill und Till darunter – ebenfalls die Hände hoben, brach auch Jake in Tränen aus.
Eddie legte ihm einen Arm um die Schulter. »Geh einfach weiter, Sportsfreund«, sagte er mit unsicherer Stimme. »Nur so kann man es machen.«
»Sie sind so alt!« schluchzte Jake. »Wie können wir sie einfach so zurücklassen? Es ist nicht richtig!«
»Es ist Ka«, sagte Eddie ohne nachzudenken.
»Wirklich? Nun, Ka ist beschis-schis-schissen!«
»Aber total«, stimmte Eddie zu, doch auch er ging weiter. Ebenso Jake, und er drehte sich nicht noch einmal um. Er hatte Angst, sie würden immer noch da sein, im Zentrum ihrer gottverlassenen Ortschaft stehen und warten, bis Roland und seine Freunde nicht mehr zu sehen waren. Und er hätte recht gehabt.
14
Sie kamen keine sieben Meilen weit, da wurde der Himmel dunkel, und der Sonnenuntergang färbte den westlichen Horizont grell orange. In der Nähe lag ein Hain von Eukalyptusbäumen; dort suchten Jake und Eddie nach Holz.
»Ich kann nicht verstehen, warum wir nicht geblieben sind«, sagte Jake. »Die blinde Lady hat uns eingeladen, und weit sind wir sowieso nicht gekommen. Ich bin immer noch so vollgefressen, daß ich nur watscheln kann.«
Eddie lächelte. »Ich auch. Und ich kann dir noch etwas sagen: Dein guter Freund Eddie Cantor Dean freut sich schon darauf, daß er sich morgen früh endlich mal wieder lang und ausgiebig und in aller Ruhe in diesem Hain in die Büsche hocken kann. Du kannst dir nicht vorstellen, wie satt ich es habe, Wildfleisch zu essen und Hasenköttel zu scheißen. Wenn du mir vor einem Jahr gesagt hättest, daß ein guter Schiß einmal der Höhepunkt meines Tages sein würde, hätte ich dir ins Gesicht gelacht.«
»Ist dein zweiter Vorname wirklich Cantor?«
»Ja, aber es wäre mir recht, wenn du das nicht an die große Glocke hängst.«
»Keine Bange. Warum sind wir eigentlich nicht geblieben, Eddie?«
Eddie seufzte. »Weil wir herausgefunden hätten, daß sie Feuerholz brauchen.«
»Hm?«
»Und wenn wir Feuerholz gesammelt hätten, hätten wir herausgefunden, daß sie auch frisches Fleisch brauchen, weil sie uns ihre allerletzten Vorräte serviert haben. Und wir wären richtige Drecksäcke, wenn wir nicht ersetzt hätten, was wir ihnen weggenommen haben, richtig? Zumal wir Schußwaffen haben, und sie bestenfalls ein paar Bogen und fünfzig oder hundert Jahre alte Pfeile. Also wären wir für sie auf die Jagd gegangen. Bis dahin wäre es Nacht gewesen, und wenn wir am nächsten Morgen wieder aufgestanden wären, hätte Susannah gesagt, wir sollten zumindest noch ein paar Reparaturen ausführen, bevor wir weiterziehen – oh, natürlich nicht an der Fassade der Stadt, das wäre gefährlich gewesen, aber vielleicht in dem Hotel oder wo immer sie auch wohnen. Nur ein paar Tage, und was sind schon ein paar Tage, richtig?«
Roland tauchte aus dem Halbdunkel auf. Er bewegte sich so lautlos wie immer, sah aber müde und erschöpft aus. »Ich habe mir gedacht, ihr beiden wärt vielleicht in ein Treibsandloch gefallen«, sagte er.
»Nee. Ich habe Jake nur gerade die Fakten erläutert, wie ich sie! sehe.«
»Und was wäre daran schlimm gewesen?« fragte Jake. »Dieses Dunkle Türmchen steht schon sehr lange Zeit dort, wo es ist, richtig? Es wird nicht weggehen, oder?«
»Ein paar Tage, dann noch ein paar, dann noch ein paar.« Eddie betrachtete den Ast, den er gerade aufgehoben hatte, und warf ihn angewidert wieder weg. Ich höre mich schon an wie er, dachte er. Und doch wußte er, daß er nur die Wahrheit sagte. »Vielleicht würden wir dafür sorgen, daß ihr Brunnen wieder in Gang kommt, und es wäre unhöflich, einfach weiterzuziehen, bevor wir ihn zu Ende gegraben haben. Aber weshalb sollten wir es dabei belassen, wo wir doch ein paar Wochen dranhängen und ihnen ein Wasserrad bauen könnten, richtig? Sie sind alt und sollten ebensowenig Wasser aus dem Brunnen hochziehen müssen, wie sie Büffel zu Fuß jagen sollten.« Er sah Roland an, und seine Stimme klang vorwurfsvoll. »Ich will dir was sagen – wenn ich mir vorstelle, wie Bill und Till da draußen eine Herde wilder Büffel verfolgen, bekomme ich eine Gänsehaut.«
»Das machen sie schon lange Zeit«, sagte Roland, »und ich denke, sie könnten uns noch das eine oder andere beibringen. Die kommen zurecht. Laßt uns lieber Holz sammeln – es wird eine kalte Nacht.«
Aber für Jake war das Thema noch nicht erledigt. Er sah Eddie eindringlich – fast streng – an. »Willst du damit sagen, wir könnten nie genug für sie tun, ja?«
Eddie schob die Unterlippe vor und blies sich das Haar aus der Stirn. »Nicht unbedingt. Ich sage nur, es würde nie leichterfallen weiterzuziehen als heute. Schwerer vielleicht, aber nicht leichter.«
»Es ist trotzdem nicht richtig.«
Sie kamen zu dem Platz, der, sobald das Feuer entfacht war, zu einer weiteren Lagerstelle auf dem Weg zum Dunklen Turm wurde. Susannah hatte sich aus dem Rollstuhl gestemmt, lag auf dem Rücken, hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt und sah zu den Sternen hinauf. Nun richtete sie sich auf und schichtete das Holz so zurecht, wie Roland es ihr vor Monaten gezeigt hatte.
»Was richtig ist – genau darum geht es hier«, sagte Roland. »Aber wenn man zu lange das kleine Richtige ansieht, Jake – das unmittelbar vor einem liegt –, dann verliert man leicht das große Richtige aus den Augen, das weiter entfernt ist. Alles ist aus den Fugen – es ist schiefgegangen und wird immer schlimmer. Wir sehen es um uns herum, aber die Lösung ist noch weit entfernt. Während wir den zwanzig oder dreißig Menschen helfen, die noch in River Crossing leben, können anderswo zwanzig- oder dreißigtausend sterben. Und wenn es einen Ort im Universum gibt, wo man das alles wieder in Ordnung bringen kann, dann ist es der Dunkle Turm.«
»Warum? Wie?« fragte Jake. »Was ist dieser Turm eigentlich?«
Roland kauerte sich neben die Feuerstelle, die Susannah aufgeschichtet hatte, holte Stahl und Feuerstein heraus und schlug Funken ins Anfeuerholz. Wenig später züngelten kleine Flammen zwischen den Zweigen und trockenen Grasbüscheln empor. »Diese Fragen kann ich nicht beantworten«, sagte er. »Ich wünschte, ich könnte es.«
Das, dachte Eddie bei sich, war eine ungeheuer schlaue Antwort. Roland hatte gesagt: Das kann ich nicht beantworten… aber das war etwas anderes als: Das weiß ich nicht. Etwas ganz anderes.
15
Das Abendessen bestand aus Wasser und Gemüse. Sie erholten sich alle noch von der üppigen Mahlzeit in River Crossing, und selbst Oy nahm die Reste nicht an, die Jake ihm zuwarf, nachdem er ein wenig davon gegessen hatte.
»Wieso hast du dort nicht gesprochen«, schalt Jake den Bumbler. »Ich habe dagestanden wie ein Idiot!«
»Id-jot«, sagte Oy und legte die Schnauze auf Jakes Knöchel.
»Er redet jedesmal besser«, bemerkte Roland. »Er hört sich sogar schon wie du an, Jake.«
»Ake«, stimmte Oy zu, ohne die Schnauze von Jakes Knöchel zu nehmen. Die goldenen Ringe in Oys Augen faszinierten Jake; im flackernden Feuerschein schienen sich diese Ringe langsam zu drehen.
»Aber bei den alten Leuten wollte er nicht sprechen.«
»In solchen Dingen sind Bumbler wählerisch«, sagte Roland. »Sie sind seltsame Geschöpfe. Ich vermute, daß der hier von seiner Meute ausgestoßen worden ist.«
»Wieso denkst du das?«
Roland deutete auf Oys Flanke. Jake hatte das Blut abgewischt (das hatte Oy nicht gefallen, aber er hatte es über sich ergehen lassen), und der Biß heilte, obwohl der Bumbler immer noch ein wenig hinkte. »Ich gehe jede Wette ein, daß das der Biß eines anderen Bumblers ist.«
»Aber warum sollte seine eigene Meute…«
»Vielleicht hatten sie sein Schwatzen satt«, sagte Eddie. Er hatte sich neben Susannah niedergelassen und ihr einen Arm um die Schultern gelegt.
»Vielleicht«, sagte Roland, »besonders wenn er der einzige war, der noch zu sprechen versucht hat. Die anderen sind vielleicht zum Ergebnis gekommen, daß er zu klug – oder zu hochgestochen – für ihren Geschmack war. Bei Tieren ist die Eifersucht nicht so häufig wie bei Menschen, aber durchaus üblich.«
Der Gegenstand dieser Unterhaltung hatte die Augen zugemacht und schien zu schlafen… aber Jake stellte fest, daß seine Ohren zu zucken anfingen, sobald das Gespräch fortgesetzt wurde.
»Wie klug sind sie eigentlich?« fragte Jake.
Roland zuckte die Achseln. »Der alte Stallknecht, von dem ich dir erzählt habe – der meinte, daß gute Bumbler Glück bringen –, hat geschworen, daß er in seiner Jugend einen gehabt hat, der addieren konnte. Er sagte, der Bumbler hat die Summen gesagt, indem er entweder auf dem Stallboden kratzte oder Steine mit der Schnauze zusammenschob.« Er grinste. Dabei hellte sich sein ganzes Gesicht auf und vertrieb die düsteren Schatten, die darauf lagen, seit sie aus River Crossing aufgebrochen waren. »Natürlich sind Stallknechte und Fischer geborene Lügner.«
Behagliches Schweigen senkte sich über sie, und Jake konnte spüren, wie ihn Müdigkeit überkam. Er dachte, daß er bald schlafen würde, was ihm ganz recht war. Dann erklang das rhythmische Trommelschlagen aus Südosten, und er richtete sich wieder auf. Sie lauschten wortlos.
»Das ist ein Rock and Roll-Rhythmus«, sagte Eddie plötzlich. »Kenne ich. Wenn man die Gitarren wegläßt, bleibt das übrig. Hört sich sogar ganz an wie Z. Z. Top.«
»Z. Z. wer?« fragte Susannah.
Eddie grinste. »Die gab es zu deiner Zeit noch nicht«, sagte er. »Ich meine, möglicherweise schon, aber damals müssen sie noch ein paar Bengel gewesen sein, die in Texas zur Schule gegangen sind.« Er lauschte. »Der Teufel soll mich holen, wenn sich das nicht ganz genau wie der Beat von etwas wie ›Sharp-Dressed Man‹ oder ›Velcro Fly‹ anhört.«
»›Velcro Fly‹?« sagte Jake. »Das ist ein dummer Titel für ein Stück.«
»Aber ziemlich komisch«, sagte Eddie. »Du hast sie um zehn Jahre oder so verpaßt, Sportsfreund.«
»Wir sollten uns besser hinlegen«, sagte Roland. »Allzu schnell ist es wieder Morgen.«
»Ich kann nicht schlafen, wenn ich diese Scheiße höre«, sagte Eddie. Er zögerte, dann sprach er etwas aus, das ihm seit dem Morgen durch den Kopf ging, als sie Jake blaß und kreischend durch die Tür in diese Welt gezogen hatten. »Glaubst du nicht, es wird Zeit, daß wir unsere Geschichte erzählen, Roland? Vielleicht stellen wir fest, daß wir mehr wissen als wir denken.«
»Ja, die Zeit dafür ist fast gekommen. Aber nicht in der Dunkelheit.« Roland drehte sich auf die Seite, zog die Decke hoch und schien einzuschlafen.
»Herrgott«, sagte Eddie. Er stieß ein mißfälliges kurzes Pfeifen zwischen den Zähnen hervor.
»Er hat recht«, sagte Susannah. »Komm schon, Eddie – gehen wir schlafen.«
Er grinste und küßte sie auf die Nasenspitze. »Ja, Mami.«
Fünf Minuten später waren er und Susannah eingeschlafen, Trommeln hin oder her. Aber Jake stellte fest, daß seine Müdigkeit verflogen war. Er lag da, sah zu den fremden Sternen empor und lauschte dem konstanten rhythmischen Pochen, das aus der Dunkelheit erklang. Vielleicht waren es die Pubes, die zu einem Song mit dem Titel ›Velcro Fly‹ rockten, während sie sich in einen rituellen Blutrausch hineinsteigerten.
Er dachte an Blaine, den Mono, einen so schnellen Zug, daß er über diese riesige, heimgesuchte Welt brauste und einen Überschallknall hinter sich her zog, und das führte ihn logischerweise zu Gedanken an Charlie Tschuff-Tschuff, der auf ein entlegenes Abstellgleis geschoben worden war, als eine neue Burlington Zephyr eingetroffen war und ihn überflüssig gemacht hatte. Er dachte an Charlies Gesichtsausdruck, der fröhlich und heiter sein sollte, es aber irgendwie nicht war. Er dachte an die Eisenbahngesellschaft von Mittwelt und die verlassenen Landstriche zwischen St. Louis und Topeka. Er dachte daran, daß Charlie bereit gewesen war, als Mr. Martin ihn gebraucht hatte, und wie Charlie seine eigene Sirene tuten lassen und selbst Kohlen nachladen konnte. Er fragte sich wieder, ob Lokführer Bob die Burlington Zephyr sabotiert hatte, damit sein heißgeliebter Charlie noch einmal eine Chance bekam.
Schließlich hörte das rhythmische Trommeln so plötzlich auf, wie es angefangen hatte, und Jake döste ein.
16
Er träumte, aber nicht von dem Mörtelmann.
Statt dessen träumte er, daß er irgendwo in der Großen Leere des westlichen Missouri auf einer asphaltierten Straße stand. Oy war bei ihm. Eisenbahnwarnschilder – weiße, x-förmige Zeichen mit einem roten Licht in der Mitte – standen am Straßenrand. Die Lichter blinkten, eine Glocke ertönte.
Dann erklang ein Summton aus Südosten, der immer lauter wurde. Er hörte sich an wie Blitzschlag in einer Flasche.
Er kommt, sagte er zu Oy.
Ommt! stimmte Oy zu.
Und plötzlich raste eine gewaltige, zwei Räder lange rosa Gestalt über die Ebene auf sie zu. Sie war flach und patronenförmig, und als Jake sie sah, erfüllte schreckliche Angst sein Herz. Die beiden großen Fenster vorne, die in der Sonne blitzten, sahen wie Augen aus.
Laß ihn in Ruh; er hat genug von deinen dummen Fragen, sagte Jake zu Oy. Er ist nur ein gräßlicher Tschuff-tschuff-Zug, und sein Name ist Blaine, die Pein.
Plötzlich sprang Oy auf die Schienen und kauerte dort mit angelegten Ohren. Seine goldenen Augen blitzten. Die Zähne hatte er zu einem verzweifelten Fauchen gefletscht.
Nein! schrie Jake. Nein, Oy!
Aber Oy schenkte ihm keine Aufmerksamkeit. Das rosa Projektil raste auf die winzige, trotzige Gestalt des Billy-Bumblers zu, und das Summen schien über Jakes Haut zu kriechen, bis ihm die Nase blutete und die Plomben in seinen Zähnen vibrierten.
Er sprang zu Oy. Blaine, der Mono (oder war es Charlie Tschuff-Tschuff?), raste auf sie zu, und Jake erwachte plötzlich zitternd und schweißgebadet. Die Nacht schien wie ein stoffliches Gewicht auf ihm zu lasten. Er streckte die Hand aus und tastete panisch nach Oy. Einen schrecklichen Augenblick glaubte er, der Bumbler wäre fort, dann berührten seine Finger das seidige Fell. Oy gab ein Fiepen von sich und sah ihn voll verschlafener Neugier an.
»Schon gut«, flüsterte Jake mit trockener Stimme. »Da ist kein Zug. Es war nur ein Alptraum. Geh wieder schlafen, Boy.«
»Oy«, stimmte der Bumbler zu und schloß die Augen wieder.
Jake drehte sich auf den Rücken und sah wieder zu den Sternen hinauf. Blaine ist mehr als eine Pein, dachte er. Er ist gefährlich. Sehr gefährlich.
Ja, vielleicht.
Kein vielleicht! beharrte sein Verstand hektisch.
Na gut, Blaine war eine Pein – zugegeben. Aber in seinem Abschlußaufsatz hatte noch etwas anderes zum Thema Blaine gestanden, oder nicht?
Blaine ist die Wahrheit. Blaine ist die Wahrheit. Blaine ist die Wahrheit.
»O herrje, was für ein Schlamassel«, flüsterte Jake. Er machte die Augen zu und war innerhalb von Sekunden wieder eingeschlafen. Diesmal schlief er traumlos.
17
Gegen Mittag des nächsten Tages kamen sie zur Kuppe eines weiteren Walls und sahen die Brücke zum erstenmal. Sie überspannte den Send an einer Stelle, wo der Fluß schmaler wurde, sich nach Süden erstreckte und an der Stadt vorbeifloß.
»Heiliger Jesus«, sagte Eddie leise. »Kommt dir das bekannt vor, Suze?«
»Ja.«
»Jake?«
»Ja – sieht aus wie die George-Washington-Brücke.«
»Total«, stimmte Eddie zu.
»Aber was macht die GWB in Missouri?« fragte Jake.
Eddie sah ihn an. »Was hast du gesagt, Sportsfreund?«
Jake sah verwirrt drein. »Ich meine Mittwelt. Du weißt schon.«
Eddie sah ihn durchdringender denn je an. »Woher weißt du, daß dies hier Mittwelt ist? Du warst nicht bei uns, als wir den Wegstein gefunden haben.«
Jake stopfte die Hände in die Hosentaschen und sah auf seine Mokassins. »Ich hab’s geträumt«, sagte er knapp. »Du glaubst doch nicht, daß ich diese Reise im Reisebüro meines Vaters gebucht habe, oder?«
Roland berührte Eddie an der Schulter. »Belaß es vorerst dabei.« Eddie sah Roland kurz an und nickte.
Sie blieben noch eine Weile stehen und betrachteten die Brücke. Sie hatten Zeit gehabt, sich an die Silhouette der Stadt zu gewöhnen, aber dies war etwas anderes. Die Brücke träumte in der Ferne, ein vager Umriß, der ins Blau des Vormittagshimmels geätzt war. Roland konnte vier Paar unvorstellbar hoher Türme aus Metall erkennen – eines an jedem Ende der Brücke, zwei in der Mitte –, die mit dicken Kabeln verbunden waren. Zwischen diesen und dem Ansatz der Brücke verliefen viele vertikale Linien – entweder mehr Kabel oder Metallstreben, das konnte er nicht sagen. Aber er sah auch Lücken und stellte nach längerem Hinsehen fest, daß die Brücke nicht mehr völlig eben war.
»Ich glaube, diese Brücke wird bald in den Fluß stürzen«, sagte Roland.
»Nun, vielleicht«, meinte Eddie widerwillig, »aber ich finde, so schlimm sieht sie gar nicht aus.«
Roland seufzte. »Mach dir nicht zu viele Hoffnungen, Eddie.«
»Was soll das heißen?« Eddie hörte, wie gereizt seine Stimme klang, aber nun war es zu spät, das zu ändern.
»Es heißt, ich möchte, daß du deinen Augen traust, Eddie – das ist alles. Als ich aufwuchs, gab es ein Sprichwort: ›Nur ein Narr glaubt, daß er träumt, bevor er aufwacht.‹ Verstehst du?«
Eddie lag eine sarkastische Antwort auf der Zunge, aber er schluckte sie nach einem kurzen inneren Kampf hinunter. Es war nur, daß Roland eine Art hatte – unabsichtlich, da war er sicher, aber deshalb nicht leichter zu ertragen –, bei der er, Eddie, sich wie ein Kind vorkam.
»Ich glaube ja«, sagte er schließlich. »Es bedeutet dasselbe wie das Lieblingssprichwort meiner Mutter.«
»Und wie lautete das?«
»Das Beste hoffen und mit dem Schlimmsten rechnen.«
Rolands Gesicht wurde von einem Lächeln erhellt. »Ich glaube, das Sprichwort deiner Mutter gefällt mir besser.«
»Aber sie steht noch!« platzte Eddie heraus. »Zugegeben, sie ist nicht im besten Zustand – wahrscheinlich hat sie seit tausend Jahren niemand mehr gründlich gewartet –, aber sie steht noch. Wie die ganze Stadt! Ist es so schlimm zu hoffen, wir könnten dort etwas finden, das uns weiterhilft? Oder Menschen, die uns zu essen geben und mit uns reden wie die alten Leutchen in River Crossing, statt auf uns zu schießen? Ist es so schlimm zu glauben, das Blatt könnte sich wenden?«
In der anschließenden Stille wurde Eddie verlegen klar, daß er eine Rede gehalten hatte.
»Nein.« Rolands Stimme klang gütig – eine Güte, die Eddie immer wieder überraschte, wenn er sie hörte. »Es ist niemals schlimm zu hoffen.« Er sah Eddie und die anderen wie ein Mann an, der aus einem Traum erwacht. »Für heute sind wir weit genug gereist. Ich glaube, es wird Zeit, daß wir unser eigenes Palaver abhalten, und das wird eine Weile dauern.«
Der Revolvermann ging von der Straße ins hohe Gras, ohne sich noch einmal umzusehen. Nach einem Augenblick folgten ihm die anderen drei.
18
Bis sie die alten Leute in River Crossing getroffen hatten, hatte Susannah Roland stets als Figur aus einer der Fernsehserien betrachtet, die sie sich selten angesehen hatte: Cheyenne, The Riflemen und natürlich Rauchende Colts. Das hatte sie sich manchmal im Radio angehört, bevor es im Fernsehen gesendet worden war. (Sie überlegte sich, wie fremd Eddie und Jake das Konzept eines Hörspiels sein mußte und lächelte – Rolands Welt war nicht die einzige, die sich weitergedreht hatte.) Sie konnte sich noch erinnern, was der Sprecher zu Beginn jeder Rundfunksendung gesagt hatte: »Es macht einen Mann achtsam – und ein wenig einsam…«
Bis River Crossing hatte Roland das für sie vollkommen verkörpert. Er war nicht breitschultrig wie Marshai Dillon, auch nicht annähernd so groß, und sein Gesicht kam ihr mehr wie das eines resignierten Dichters denn eines Gesetzeshüters aus dem Wilden Westen vor, aber sie hatte ihn dennoch als eine real existierende Version jenes erfundenen Streiters für den Frieden gesehen, dessen einziger Lebenszweck (abgesehen von einem gelegentlichen Drink im Saloon Longbranch mit seinen Freunden Doc und Kitty) darin bestanden hatte, IN DODGE ORDNUNG ZU HALTEN.
Jetzt war ihr klar, daß Roland einmal mehr gewesen war als ein Polyp, der durch eine Dali-Landschaft am Ende der Welt ritt. Er war ein Diplomat gewesen, ein Schlichter; möglicherweise sogar ein Lehrmeister. Zuallererst aber war er ein Soldat dessen gewesen, was diese Menschen ›das Weiße‹ nannten, womit sie ihrer Vermutung zufolge die Kräfte der Zivilisation meinten, die verhinderten, daß die Menschen einander dauernd umbrachten und zumindest ein wenig Zeit anderen Aufgaben widmeten, so daß eine Art Fortschritt zustande kam. Zu seiner Zeit war er mehr wandernder Rittersmann als Kopfgeldjäger gewesen. Und in vieler Hinsicht war dies noch seine Zeit; die Menschen von River Crossing jedenfalls waren eindeutig dieser Überzeugung gewesen. Warum hätten sie sonst im Staub gekniet, um seinen Segen zu empfangen?
Im Lichte dieser neuen Wahrnehmung sah Susannah nun, wie gerissen der Revolvermann sie alle seit jenem schrecklichen Morgen im sprechenden Ring manipuliert hatte. Jedesmal, wenn ihre Unterhaltung darauf gekommen war, Erlebnisse zu vergleichen – und was wäre logischer gewesen, wenn man an das kataklysmische und unerklärliche ›Auserwählen‹ dachte, das sie alle durchgemacht hatten? –, war Roland zur Stelle gewesen und hatte das Gespräch so schnell und aalglatt in andere Bahnen gelenkt, daß niemand (nicht einmal sie, die vier Jahre in der Bürgerrechtsbewegung aktiv gewesen war) auch nur bemerkt hatte, was er tat.
Susannah glaubte, daß sie den Grund verstand – er hatte Jake Zeit geben wollen, alles zu verarbeiten. Aber dieses Wissen um seine Motive änderte nichts an ihren Gefühlen – Staunen, Erheiterung, Verdrossenheit – darüber, wie geschickt er sie manipuliert hatte. Sie erinnerte sich an etwas, das Andrew, ihr Chauffeur, kurz bevor Roland sie in diese Welt geholt hatte, zu ihr sagte. Daß Präsident Kennedy der letzte Revolvermann der westlichen Welt gewesen war. Damals hatte sie erbost reagiert, aber sie dachte, heute begriff sie es. In Roland war viel mehr von JFK als von Matt Dillon. Sie vermutete, daß Roland wenig von Kennedys Fantasie besaß, aber wenn es um Romantik ging… Entschlossenheit… Charisma…
Und Verschlagenheit, dachte sie. Vergiß die Verschlagenheit nicht.
Sie war selbst überrascht, als sie plötzlich in schallendes Gelächter ausbrach.
Roland hatte sich mit überkreuzten Beinen gesetzt. Jetzt drehte er sich zu ihr um und zog die Brauen hoch. »Ist etwas komisch?«
»Sehr. Sag mir – wie viele Sprachen kannst du sprechen?«
Der Revolvermann dachte darüber nach. »Fünf«, sagte er schließlich. »Ich habe auch die Seilianischen Dialekte einmal ausgezeichnet beherrscht, glaube aber, bis auf die Flüche habe ich alles vergessen.«
Susannah lachte wieder. Es war ein fröhliches, entzücktes Lachen. »Du bist ein Fuchs, Roland«, sagte sie. »Wirklich und wahrhaftig.«
Jake sah interessiert drein. »Sag einmal einen Fluch auf Strelleranisch.«
»Sellianisch«, verbesserte Roland ihn. Er dachte eine Weile nach, dann sagte er etwas Schnelles und Geschmiertes – Eddie fand, es hörte sich ein wenig an, als würde er mit einer dicklichen Flüssigkeit gurgeln. Roland grinste, als er es sagte.
Jake grinste ebenfalls. »Was heißt das?«
Roland legte dem Jungen einen Moment einen Arm um die Schultern. »Daß wir eine ganze Menge zu bereden haben.«
»Jede Wette«, sagte Eddie.
19
»Wir sind Ka-tet«, begann Roland, »das bedeutet eine Gruppe von Menschen, die das Schicksal zusammengeführt hat. Die Philosophen meines Landes haben gesagt, ein Ka-tet kann nur durch Tod oder Verrat aufgelöst werden. Cort, mein großer Lehrmeister, hat erläutert, da Tod und Verrat ebenfalls Speichen am großen Rad des Ka sind, kann eine solche Verbindung niemals gebrochen werden. Je mehr Jahre vergehen und je mehr ich sehe, um so besser verstehe ich Corts Auffassung.
Jedes Mitglied eines Ka-tet ist wie das Teil eines Puzzles. Für sich allein genommen, ist jedes Teil ein Rätsel, aber zusammengesetzt ergeben sie ein Bild… oder den Ausschnitt eines Bildes. Es können viele Ka-tets erforderlich sein, um ein Bild zu beenden. Es darf euch nicht überraschen, solltet ihr feststellen, daß sich eure Leben auf eine Weise gekreuzt haben, die ihr bisher noch gar nicht erkannt habt. Zunächst einmal ist jeder von euch befähigt, die Gedanken des anderen zu verstehen…«
»Was?« rief Eddie.
»Es stimmt. Ihr teilt eure Gedanken so natürlich, ihr habt nicht einmal mitbekommen, daß es passiert, aber es ist so. Mir fällt es vielleicht leichter, das zu sehen, weil ich kein vollwertiges Mitglied dieses Ka-tet bin – wahrscheinlich, weil ich nicht aus eurer Welt stamme –, daher kann ich nicht in vollem Umfang an diesem Austausch der Gedanken teilhaben. Aber ich kann senden. Susannah… erinnerst du dich noch, als du in dem Kreis gewesen bist?«
»Ja. Du hast mir zugerufen, ich soll den Dämon loslassen, wenn du es sagst. Aber du hast es nicht laut ausgesprochen.«
»Eddie… erinnerst du dich noch, als wir auf der Lichtung waren und die mechanische Fledermaus auf dich zugekommen ist?«
»Ja. Du hast mir gesagt, ich soll runter.«
»Er hat den Mund nicht aufgemacht, Eddie«, sagte Susannah.
»Doch, das hast du! Du hast gebrüllt! Ich hab’ dich gehört, Mann!«
»Ich habe gebrüllt, das stimmt, aber mit dem Verstand.« Der Revolvermann wandte sich an Jake. »Kannst du dich noch erinnern? In dem Haus?«
»Als das Brett, an dem ich gezogen habe, sich nicht gelöst hat, hast du mir gesagt, ich soll das andere nehmen. Aber wenn du meine Gedanken nicht lesen kannst, Roland, woher hast du dann gewußt, in welchen Schwierigkeiten ich stecke?«
»Ich habe es gesehen. Ich habe nichts gehört, aber gesehen – nur ein wenig, wie durch ein schmutziges Fenster.« Sein Blick glitt über sie. »Diese Nähe, das Teilen von Gedanken, nennt man Khef, ein Wort, das in der ursprünglichen Sprache der alten Welt noch viele Bedeutungen hat – Wasser, Geburt und Lebenskraft sind nur drei davon. Seid euch dessen bewußt. Vorerst verlange ich nicht mehr.«
»Kann man sich eines Dings bewußt sein, an das man nicht glaubt?« fragte Eddie.
Roland lächelte. »Sei einfach nur aufgeschlossen.«
»Das kann ich.«
»Roland?« Das war Jake. »Glaubst du, Oy könnte auch Teil unseres Ka-tet sein?«
Susannah lächelte. Roland nicht. »Ich bin momentan nicht einmal imstande, auch nur eine Vermutung anzustellen, aber ich will dir eines sagen, Jake – ich habe viel über unseren pelzigen Freund nachgedacht. Ka beherrscht nicht alles, und Zufälle sind immer noch möglich… aber das plötzliche Auftauchen eines Billy-Bumblers, der sich noch an Menschen erinnert, scheint mir kein Zufall zu sein.«
Er drehte sich zu ihnen um.
»Ich werde anfangen. Eddie wird als nächster sprechen und dort fortfahren, wo ich aufgehört habe. Dann Susannah. Du, Jake, sprichst als letzter. Einverstanden?«
Sie nickten.
»Prima«, sagte Roland. »Wir sind Ka-tet – eins aus vielen. Das Palaver soll beginnen.«
20
Sie redeten bis Sonnenuntergang und machten nur einmal Pause für eine kalte Mahlzeit, und als es vorbei war, hatte Eddie das Gefühl, als hätte er zwölf harte Runden mit Sugar Ray Leonard hinter sich. Er zweifelte nicht mehr daran, daß sie ›Khef geteil‹ hatten, wie Roland sagte; er und Jake schienen buchstäblich das Leben des anderen in Träumen gelebt zu haben, als wären sie zwei Hälften eines Ganzen.
Roland fing damit an, was unter den Bergen geschehen war, wo Jakes erstes Leben in dieser Welt zu Ende gegangen war. Er erzählte von seinem Palaver mit dem Mann in Schwarz und Walters verschleierten Worten über das Tier und jemand, den er den Zeitlosen Fremden nannte. Er erzählte von dem seltsamen, erschreckenden Traum, den er gehabt hatte, ein Traum, in dem das gesamte Universum von einem Strahl fantastischen weißen Lichts verschlungen worden war. Und wie am Ende dieses Traums nur ein einziger purpurner Grashalm übriggeblieben war.
Eddie sah zur Seite zu Jake und war verblüfft über das Wissen – das Wiedererkennen – in den Augen des Jungen.
21
Während seines Deliriums hatte Roland Teile seiner Geschichte in Eddies Gegenwart herausgeplappert, aber für Susannah war sie völlig neu, und diese lauschte mit aufgerissenen Augen. Als Roland die Worte wiederholte, die Walter zu ihm gesprochen hatte, sah sie Bruchstücke ihrer eigenen Welt wie Reflexionen in einem zerbrochenen Spiegel: Automobile, Krebs, Raketen zum Mond, künstliche Befruchtung. Sie hatte keine Ahnung, was das Tier sein konnte, aber den Namen des Zeitlosen Fremden erkannte sie als Variation des Namens von Merlin, dem Magier, der angeblich den Aufstieg von König Arthur unterstützt hatte. Es wurde immer seltsamer.
Roland erzählte, wie er aufgewacht war und festgestellt hatte, daß Walter schon lange tot war – die Zeit hatte irgendwie einen Sprung vorwärts gemacht, möglicherweise hundert Jahre, möglicherweise fünfhundert. Jake hörte fasziniert zu, als der Revolvermann schilderte, wie er zum Westlichen Meer gelangt war, wie er zwei Finger der rechten Hand verloren und Eddie und Susannah auserwählt hatte, ehe er auf Jack Mort gestoßen war, den dunklen Dritten.
Der Revolvermann gab Eddie ein Zeichen, worauf dieser die Geschichte mit dem Angriff des großen Bären fortsetzte.
»Shardik?« warf Jake ein. »Aber das ist der Titel eines Buchs. Eines Buchs in unserer Welt! Es wurde von dem Mann geschrieben, der das berühmte Buch über Kaninchen geschrieben hat…«
»Richard Adams!« rief Eddie. »Und das Buch über die Häschen hieß Watership Down – Unten am Fluß! Ich habe gewußt, daß ich den Namen kenne! Aber wie kann das sein, Roland? Wie kann es sein, daß die Menschen in deiner Welt etwas aus unserer wissen?«
»Es existieren Türen, oder nicht?« antwortete Roland. »Haben wir nicht schon vier davon gesehen? Glaubt ihr, sie hätten vorher nie existiert und würden nicht wieder existieren?«
»Aber…«
»Wir alle haben die Hinterlassenschaften eurer Welt in meiner gesehen, und als ich in eurer Stadt New York war, sah ich die Spuren meiner Welt in eurer. Ich sah Revolvermänner. Die meisten waren träge und langsam, aber sie waren dennoch Revolvermänner und eindeutig Mitglieder ihres eigenen uralten Ka-tet.«
»Roland, das waren nur Bullen. Du warst ihnen haushoch überlegen.«
»Dem letzten nicht. Als Jack Mort und ich uns in der unterirdischen Bahnstation befanden, hat der mich fast erledigt. Ich habe seine Augen gesehen. Er kannte das Gesicht seines Vaters. Ich glaube, er kannte es sehr gut. Und dann… erinnerst du dich an den Namen von Balazars Nachtclub?«
»Klar«, sagte Eddie unbehaglich. »Leaning Tower – der Schiefe Turm. Aber das hätte Zufall sein können. Du hast selbst gesagt, daß Ka nicht alles regiert.«
Roland nickte. »Du bist wirklich wie Cuthbert – ich erinnere mich an etwas, das er sagte, als wir noch Knaben waren. Wir planten einen mitternächtlichen Ausflug zum Friedhof, aber Alain wollte nicht mitkommen. Er sagte, er hätte Angst davor, die Schatten seiner Väter und Mütter zu beleidigen. Cuthbert hat ihn ausgelacht. Er sagte, er würde erst an Geister glauben, wenn er einen mit den Zähnen gefangen hatte.«
»Gut für ihn!« rief Eddie. »Bravo!«
Roland lächelte. »Ich dachte mir, daß dir das gefallen würde. Wie auch immer, lassen wir diesen Geist vorerst ruhen. Fahr mit deiner Geschichte fort.«
Eddie erzählte von der Vision, die über ihn kam, als Roland den Kieferknochen ins Feuer geworfen hatte – die Vision von Schlüssel und Rose. Er erzählte von seinem Traum und wie er durch die Tür von Tom und Gerry’s künstlerischem Delikatessengeschäft auf das Feld der Rosen gelangt war, über dem der dunkle, rußfarbene Turm aufragte. Er erzählte von der Schwärze, die aus den Fenstern herausgequollen war und eine Form angenommen hatte; inzwischen sprach er Jake direkt an, denn Jake hörte voll besessener Konzentration und zunehmenden Staunens zu. Er bemühte sich, das Hochgefühl und Grauen zu vermitteln, mit welchen der Traum ihn erfüllt hatte, und sah ihren Augen an – besonders denen von Jake –, daß ihm das besser gelang, als er zu hoffen gewagt hatte… oder sie hatten selbst Träume gehabt.
Er erzählte, wie sie Shardiks Spur zum Portal des Bären zurückverfolgt hatten, und wie er sich an den Tag erinnerte, an dem er seinen Bruder überredet hatte, mit ihm nach Dutch Hill zu gehen, damit sie sich die Villa ansehen konnten, als er den Kopf an das Portal gehalten hatte. Er erzählte von der Tasse und der Nadel und wie die Nadel unnötig geworden war, nachdem sie festgestellt hatten, daß sie das Wirken des Balkens an allem ablesen konnten, selbst am Flug der Vögel am Himmel.
An dieser Stelle griff Susannah die Erzählung auf. Als sie anfing zu erzählen, wie Eddie sich daranmachte, seine eigene Version des Schlüssels zu schnitzen, legte Jake sich zurück, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und sah den Wolken nach, die langsam auf ihrem geraden südöstlichen Kurs zur Stadt trieben. Ihre geordnete Form zeigte die Präsenz des Balkens so deutlich wie Rauch aus einem Schornstein die Windrichtung anzeigt.
Sie kam zum Ende mit der Geschichte, wie sie Jake schließlich in diese Welt gezogen und damit die Teilung in seiner und Rolands Erinnerung so plötzlich und unwiderruflich beseitigt hatten, wie Eddie die Tür in dem sprechenden Ring zugeschlagen hatte. Die einzige Tatsache, die sie verschwieg, war eigentlich keine Tatsache. Heute morgen war ihr nicht schlecht gewesen, und eine einzige Periode, die ausgesetzt hatte, sagte nicht besonders viel. Wie Roland selbst sagen würde, das war eine Geschichte, die man sich besser für einen anderen Tag aufhob. Doch als sie fertig war, wünschte sie, sie könnte vergessen, was Tante Talitha gesagt hatte, als Jake ihr eröffnete, daß dies jetzt seine Welt war: Dann hab’ Gott Erbarmen mit dir, denn die Sonne geht in dieser Welt unter. Und sie geht für immer unter.
»Und jetzt bist du an der Reihe, Jake«, sagte Roland.
Jake setzte sich und sah Richtung Lud, wo die Fenster der hohen Türme das Spätnachmittagslicht als goldene Schleier spiegelten. »Die ist vollkommen verrückt«, murmelte er, »aber sie ergibt fast einen Sinn. Wie ein Traum, wenn man aufwacht.«
»Vielleicht können wir dir helfen, sie zu erklären«, sagte Susannah.
»Vielleicht. Zumindest könnt ihr mir helfen, über den Zug nachzudenken. Ich habe es satt, allein zu versuchen, hinter den Sinn von Blaine zu kommen.« Er seufzte. »Ihr wißt, was Roland durchgemacht hat, zwei Leben auf einmal gelebt, also kann ich mir den Teil schenken. Ich bin sowieso nicht sicher, ob ich erklären könnte, wie mir zumute war, und ich will es eigentlich auch nicht. Es war schrecklich. Ich glaube, ich fange mit meinem Abschlußaufsatz an, denn da habe ich endgültig die Hoffnung aufgegeben, daß alles einfach wieder aufhören könnte.« Er sah sie nacheinander ernst an. »Da habe ich aufgegeben.«
22
Jake redete bis Sonnenuntergang.
Er erzählte ihnen alles, woran er sich erinnern konnte, angefangen mit Mein Verständnis von Wahrheit bis zu dem monströsen Torwächter, der buchstäblich aus dem Mauerwerk gekommen war, um ihn anzugreifen. Die drei anderen hörten zu, ohne ihn ein einziges Mal zu unterbrechen.
Als er fertig war, drehte Roland sich zu Eddie um, und in seinen Augen leuchtete eine strahlende Mischung von Empfindungen, die Eddie zunächst für Staunen hielt. Dann wurde ihm klar, er sah übermäßige Erregung… und große Angst. Sein Mund wurde trocken. Denn wenn Roland Angst hatte…
»Bezweifelst du immer noch, daß unsere Welten einander überlappen, Eddie?«
Er schüttelte den Kopf. »Selbstverständlich nicht. Ich bin dieselbe Straße entlanggegangen, und das in seiner Kleidung! Aber… Jake, kann ich das Buch einmal sehen? Charlie Tschuff-Tschuff?«
Jake griff nach seinem Ranzen, aber Roland hielt seine Hand fest.
»Noch nicht«, sagte er. »Geh wieder zu dem unbebauten Grundstück, Jake. Erzähl diesen Teil noch einmal. Versuch dich an alles zu erinnern.«
»Vielleicht solltest du mich hypnotisieren«, sagte Jake zögernd. »Wie damals im Rasthaus.«
Roland schüttelte den Kopf. »Das ist nicht nötig. Was dir auf diesem Grundstück widerfahren ist, war das wichtigste Ereignis in deinem Leben, Jake. In unser aller Leben. Du kannst dich an alles erinnern.«
Und so erzählte Jake es noch einmal. Ihnen allen war klar, Jakes Erlebnis auf dem Brachgrundstück, wo Tom und Gerry’s künstlerisches Delikatessengeschäft gestanden hatte, war das geheime Herz des gemeinsamen Ka-tet. In Eddies Traum hatte das Delikatessengeschäft noch gestanden; in Jakes Wirklichkeit war es abgerissen gewesen, aber in beiden Fällen war es ein Ort mit gewaltiger, talismanähnlicher Macht gewesen. Und Roland bezweifelte nicht, daß der brachliegende Platz voll Glasscherben und Backsteintrümmern nur eine weitere Version von Susannahs Drawers und dem Ort war, den er am Ende seiner Vision als Stätte der Knochen gesehen hatte.
Als er diesen Teil der Geschichte noch einmal erzählte, wobei er nun sehr langsam sprach, stellte Jake fest, daß der Revolvermann recht gehabt hatte: Er konnte sich an alles erinnern. Seine Erinnerung wurde so gut, daß er sein Erlebnis schließlich noch einmal zu durchleben schien. Er erzählte ihnen von dem Schild, auf dem stand, daß diese sogenannten Turtle-Bay-Luxuswohnungen an der Stelle entstehen sollten, wo Tom und Gerry’s einst gewesen war. Er konnte sich sogar an das kurze Gedicht erinnern, das auf den Zaun gesprüht gewesen war, und rezitierte es für sie:
»Sieh der SCHILDKRÖTE strahlende Pracht,
Auf deren Rücken die Welt gemacht.
Willst du spielen, komm und lauf,
Eins, zwei, drei, den BALKEN rauf.«
Susannah murmelte: »Klar ist ihr Denken und stets rein; Sie schließt uns alle darin ein… hieß es nicht so, Roland?«
»Was?« fragte Jake. »Was hieß so?«
»Ein Gedicht, das ich als Kind gelernt habe«, sagte Roland. »Das ist auch eine Verbindung, die uns etwas sagt, auch wenn ich nicht sicher bin, ob es etwas ist, das wir wissen müssen… aber man kann nie sagen, ob uns ein bißchen Wissen nicht einmal zugute kommt.«
»Zwölf Portale, die durch sechs Balken verbunden sind«, sagte Eddie. »Wir haben beim Bären angefangen. Wir gehen nur bis zur Mitte – zum Turm –, aber wenn wir bis zum anderen Ende weitergehen würden, würden wir ganz bestimmt zum Portal der Schildkröte kommen, oder nicht?«
Roland nickte. »Dessen bin ich gewiß.«
»Portal der Schildkröte«, sagte Jake nachdenklich, ließ die Worte auf der Zunge zergehen und schien sie zu kosten. Dann kam er zum Ende, indem er ihnen noch einmal von der anrührenden Stimme des Chors erzählte, seiner Erkenntnis, daß es überall Gesichter und Storys und Geschichten gab, und seiner wachsenden Überzeugung, daß er über etwas gestolpert war, das aller Wahrscheinlichkeit nach das Herz einer jeglichen Existenz bildete. Als letztes erzählte er ihnen erneut, wie er den Schlüssel gefunden und die Rose gesehen hatte. Im Überfluß seiner Erinnerungen fing Jake an zu weinen, aber er schien es nicht mitzubekommen.
»Als sie sich auftat«, sagte er, »sah ich in ihrer Mitte das strahlendste Gelb, das ich je in meinem Leben gesehen habe. Zuerst dachte ich, es wären nur Pollen, die so grell aussahen, weil alles auf dem Platz zu strahlen schien, sogar die alten Süßigkeitenverpackungen und weggeworfenen Bierflaschen anzusehen war, als würde man die größten Gemälde aller Zeiten betrachten. Erst dann wurde mir klar, daß es eine Sonne war. Ich weiß, es klingt verrückt, aber das war es. Doch es war mehr als eine. Es waren…«
»Es waren alle Sonnen«, murmelte Roland. »Es war alles Existierende.«
»Ja! Und es war richtig – aber es war auch falsch. Ich kann nicht erklären, warum es falsch war, aber es war. Es war wie zwei Herzschläge, einer im anderen, und der innere hatte eine Krankheit. Oder eine Infektion. Und dann verlor ich das Bewußtsein.«
23
»Du hast am Ende deines Traums dasselbe gesehen, Roland, oder nicht?« fragte Susannah. Ihre Stimme klang leise und ehrfürchtig. »Der Grashalm, den du am Ende gesehen hast… du hast gedacht, der Halm wäre purpurn, weil er mit Farbe verspritzt war.«
»Ihr versteht nicht«, sagte Jake. »Es war wirklich purpurn. Als ich es gesehen habe, wie es wirklich war, da war das Gras purpurn. Solches Gras hatte ich noch nie gesehen. Die Farbe war nur Tarnung. So wie der Torwächter sich als altes, verlassenes Haus getarnt hat.«
Die Sonne hatte den Horizont erreicht. Roland fragte Jake, ob er ihnen jetzt Charlie Tschuff-Tschuff zeigen und es ihnen vorlesen wollte. Jake reichte das Buch herum. Eddie und Susannah betrachteten den Einband lange Zeit.
»Das Buch hatte ich als kleiner Junge auch«, sagte Eddie schließlich. Er sagte es im unbetonten Tonfall absoluter Sicherheit. »Dann sind wir von Queens nach Brooklyn gezogen – ich war nicht einmal vier Jahre alt –, und da habe ich es verloren. Aber an das Umschlagbild kann ich mich erinnern. Und mir erging es ebenso wie dir, Jake. Es hat mir nicht gefallen. Ich habe ihm nicht getraut.«
Susannah hob den Kopf und sah Eddie an. »Ich hatte es auch – wie könnte ich das kleine Mädchen mit meinem Namen vergessen… auch wenn es damals nur mein zweiter Vorname war. Und was den Zug betrifft, habe ich genauso empfunden. Ich konnte ihn nicht leiden und habe ihm nicht getraut.« Sie klopfte mit einem Finger auf den Bucheinband, bevor sie es Roland reichte. »Ich fand, das Lächeln war nichts weiter als ein dicker, fetter Schwindel.«
Roland warf nur einen flüchtigen Blick darauf, dann richtete er den Blick wieder auf Susannah. »Hast du deins auch verloren?«
»Ja.«
»Und ich wette, ich weiß auch wann«, sagte Eddie.
Susannah nickte. »Jede Wette. Nachdem der Mann den Backstein auf meinen Kopf fallen ließ. Ich hatte es noch, als wir zur Hochzeit meiner Tante Blue nach Norden fuhren. Im Zug hatte ich es noch. Das weiß ich noch, weil ich meinen Dad gefragt habe, ob Charlie Tschuff-Tschuff uns zieht. Ich wollte nicht, daß es Charlie war, denn wir wollten nach Elizabeth, New Jersey, und ich dachte mir, Charlie könnte uns sonstwo hinbringen. Hat er nicht zuletzt Leute durch ein Spielzeugdorf gefahren, oder so was, Jake?«
»Einen Freizeitpark.«
»Ja, genauso war es. Am Ende ist ein Bild, wie er Kinder dort spazierenfährt, oder nicht? Sie haben alle gelächelt oder gelacht, aber ich fand stets, sie sehen aus, als würden sie schreien, man solle sie endlich aussteigen lassen.«
»Ja!« rief Jake. »Ja, das ist richtig! Genau richtig!«
»Ich hatte Angst, Charlie könnte uns zu sich bringen – wo auch immer er lebte – statt zur Hochzeit meiner Tante und uns nie mehr nach Hause lassen.«
»Man kann nicht nach Hause zurückkehren«, sagte Eddie nervös und strich sich mit der Hand durchs Haar.
»Die ganze Zeit, während wir mit diesem Zug fuhren, habe ich das Buch nicht losgelassen. Ich kann mich sogar noch erinnern, wie ich gedacht habe: ›Wenn er versucht, uns zu entführen, reiße ich ihm die Seiten aus, bis er aufgibt.‹ Aber selbstverständlich sind wir an unserem Ziel angekommen, und obendrein pünktlich. Daddy hat mich mit nach vorne genommen, damit ich die Lokomotive sehen konnte. Es war eine Diesellok, keine Dampflok, und ich weiß noch, daß mich das gefreut hat. Nach der Hochzeit hat mir dann dieser Mort den Backstein auf den Kopf fallen lassen, und ich lag lange im Koma. Danach habe ich Charlie Tschuff-Tschuff nie wiedergesehen. Bis heute.« Sie zögerte, dann fügte sie hinzu: »Dies hier könnte mein Exemplar sein – oder das von Eddie.«
»Klar – ist es wahrscheinlich auch«, sagte Eddie. Sein Gesicht war blaß und feierlich… und dann grinste er wie ein kleiner Junge. »›Ist die SCHILDKRÖTE nicht fein? Alles dient dem BALKEN klein.‹«
Roland sah nach Westen. »Die Sonne geht unter. Lies die Geschichte vor, solange wir noch Licht haben, Jake.«
Jake schlug die erste Seite auf, zeigte ihnen das Bild von Lokführer Bob in Charlies Kabine und begann: »Bob Brooks war Lokführer der Eisenbahngesellschaft von Mittwelt auf der Strecke St. Louis-Topeka…«
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»… und ab und zu hören die Kinder, wie Charlie mit seiner leisen, brummigen Stimme sein Lied singt«, las Jake zu Ende. Er zeigte ihnen das letzte Bild – die glücklichen Kinder, die möglicherweise schrien –, dann schlug er das Buch zu. Die Sonne war untergegangen, der Himmel purpurfarben.
»Nun, es paßt nicht vollkommen«, sagte Eddie, »mehr wie in einem Traum, in dem das Wasser manchmal bergauf fließt – aber es paßt so gut, daß ich mich dämlich grusle. Dies ist Mittwelt – Charlies Reich. Nur heißt er hier überhaupt nicht Charlie. Hier heißt er Blaine, der Mono.«
Roland sah Jake an. »Was meinst du?« fragte er. »Sollen wir einen Umweg um die Stadt machen? Uns von diesem Zug fernhalten?«
Jake dachte mit gesenktem Kopf darüber nach und knetete mit den Händen geistesabwesend Oys dichtes, seidiges Fell. »Würde ich gerne«, sagte er schließlich, »aber wenn ich das mit dem Ka richtig verstanden habe, sollten wir es nicht.«
Roland nickte. »Wenn es sich um Ka handelt, stellen sich Fragen danach, was wir tun oder lassen sollen, überhaupt nicht; wenn wir versuchen würden, die Stadt zu umgehen, würden wir feststellen, daß die Umstände uns dorthin zurücktreiben. In solchen Fällen ist es besser, sich ins endgültige Los zu fügen, anstatt es hinauszuschieben. Was meinst du, Eddie?«
Eddie dachte so lange und gründlich darüber nach wie Jake. Er wollte nichts mit einem sprechenden Zug zu tun haben, der von selbst fuhr, ob er nun Charlie Tschuff-Tschuff oder Blaine, der Mono hieß, und was Jake ihnen vorgelesen hatte, deutete in jedem Fall darauf hin, daß es sich um etwas Garstiges handelte. Aber sie mußten eine unvorstellbare Strecke zurücklegen, und irgendwo an deren Ende lag das Ding, das sie suchten. Und nach diesem Gedanken stellte Eddie zu seiner Verblüffung fest, daß er ganz genau wußte, was er dachte und was er wollte. Er hob den Kopf und sah fast zum erstenmal, seit er in diese Welt gekommen war, mit seinen haselnußbraunen Augen fest in Rolands blaßblaue.
»Ich möchte auf diesem Feld der Rosen stehen und den Turm dort stehen sehen. Ich weiß nicht, was als nächstes passiert. Wahrscheinlich trauernde Hinterbliebene mit Kränzen, und zwar für uns alle. Aber das ist mir einerlei. Ich will dort stehen. Ich glaube, es ist mir egal, ob Blaine der Teufel ist und der Zug uns auf dem Weg zum Turm durch die Hölle selbst führt. Ich bin dafür, daß wir gehen.«
Roland nickte und wandte sich an Susannah.
»Nun, ich hab’ keine Träume vom Dunklen Turm gehabt«, sagte sie, »daher kann ich mich nicht vor diesem Hintergrund mit der Frage befassen – dem Hintergrund des Verlangens, könnte man wohl sagen. Aber ich glaube mittlerweile an Ka, und ich bin nicht so verblödet, daß ich nicht spüren würde, wenn mir jemand mit den Knöcheln auf den Kopf trommelt und sagt: ›Da entlang, Dummkopf.‹ Was ist mit dir, Roland? Was meinst du?«
»Ich glaube, für einen Tag ist genug geredet worden und es wird Zeit, es bis morgen dabei bewenden zu lassen.«
»Was ist mit Ringelrätselreihen?«. fragte Jake. »Möchtest du das auch ansehen?«
»Dafür ist an einem anderen Tag noch Zeit«, sagte Roland. »Gehen wir schlafen.«
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Aber der Revolvermann lag lange wach, und als die rhythmischen Trommeln wieder einsetzten, stand er auf und schlenderte zur Straße. Dort blieb er stehen und sah zur Brücke und zur Stadt. Er war mit jedem Zoll der Diplomat, den Susannah in ihm vermutete, und er hatte von dem Augenblick, als er zum erstenmal davon hörte, schon gewußt, daß der Zug die nächste Station auf dem Weg sein würde, den sie zurücklegen mußten… aber er hatte es für unklug gehalten, das auszusprechen. Besonders Eddie haßte es, wenn er herumgeschubst wurde; wenn er spürte, daß das geschah, senkte er einfach den Kopf, stemmte die Füße in den Boden, machte dumme Witze und bockte wie ein Maultier. Diesmal wollte er, was Roland wollte, aber er würde höchstwahrscheinlich dennoch Tag sagen, wenn Roland Nacht sagte, und Nacht, wenn Roland Tag sagte. Es war sicherer, bedacht vorzugehen und zu fragen statt zu befehlen.
Er drehte sich um und wollte zurückgehen… dann ließ er die Hand auf die Waffe fallen, als er die dunkle Gestalt erblickte, die am Straßenrand stand und ihn ansah. Er zog nicht, aber es war knapp.
»Ich habe mich gefragt, ob du nach dieser kleinen Vorstellung schlafen kannst«, sagte Eddie. »Die Antwort lautet wohl nein.«
»Ich habe dich überhaupt nicht gehört, Eddie. Du lernst dazu… aber diesmal hättest du für dein Geschick fast eine Kugel in den Bauch bekommen.«
»Du hast mich nicht gehört, weil dir zuviel durch den Kopf geht.« Eddie gesellte sich zu ihm, und selbst bei Sternenlicht konnte Roland sehen, daß er Eddie kein bißchen zum Narren gehalten hatte. Sein Respekt für Eddie wuchs weiter. Eddie erinnerte ihn an Cuthbert, aber in vieler Hinsicht hatte er Cuthbert bereits überflügelt.
Wenn ich ihn unterschätze, dachte Roland, werde ich mir wahrscheinlich eine blutige Pfote holen. Und wenn ich ihn im Stich lasse oder etwas tue, das ihm wie Verrat vorkommt, wird er mich wahrscheinlich töten.
»Was geht dir durch den Kopf, Eddie?«
»Du. Wir. Ich möchte etwas wissen. Ich glaube, bis heute bin ich davon ausgegangen, daß du es schon wüßtest. Jetzt bin ich nicht mehr so sicher.«
»Dann sag es mir.« Er dachte wieder: Wie ähnlich er Cuthbert ist!
»Wir sind bei dir, weil wir es müssen – das ist unser gottverdammtes Ka. Aber wir sind auch bei dir, weil wir es wollen. Ich weiß, das trifft auf mich und Susannah zu, und ich bin sicher, es gilt auch für Jake. Du hast einen klaren Verstand, mein alter Khef-Kumpel, aber manchmal glaube ich, du hast ihn in einem Luftschutzbunker eingeschlossen, weil man so schwer an ihn rankommt. Ich will ihn sehen, Roland. Ist dir klar, was ich dir sage? Ich will den Dunklen Turm sehen.« Er sah Roland eindringlich ins Gesicht, erblickte offenbar nicht, was er sich erhoffte, und hob verzweifelt die Hände. »Ich will damit sagen, ich möchte, daß du meine Ohren losläßt.«
»Deine Ohren loslassen?«
»Ja. Du mußt mich nicht mehr ziehen. Ich komme freiwillig mit. Wir kommen freiwillig mit. Wenn du heute nacht im Schlaf sterben würdest, würden wir dich begraben und allein weiterziehen. Wir würden wahrscheinlich nicht lange durchhalten, aber wir würden auf dem Pfad des Balkens sterben. Verstehst du jetzt?«
»Ja. Jetzt verstehe ich.«
»Du sagst, du verstehst mich, und das denke ich auch… aber glaubst du mir auch?«
Natürlich, dachte er. Wo könntest du sonst hin, Eddie, in dieser dir fremden Welt? Und was könntest du sonst machen? Du würdest einen beschissenen Farmer abgeben.
Aber das war gemein und ungerecht, und das wußte er auch. Den freien Willen zu schmähen, indem man ihn mit Ka verwechselte, war schlimmer als Blasphemie; es war ermüdend und dumm. »Ja«, sagte er. »Ich glaube dir. Ich glaube dir bei meiner Seele.«
»Dann hör auf, dich zu benehmen, als wären wir eine Schafherde und du der Schäfer, der hinter uns herspaziert, mit dem Stock winkt und darauf achtet, daß wir nicht dumm von der Straße gehen und in ein Treibsandloch geraten. Öffne dich uns. Wenn wir in der Stadt oder in diesem Zug sterben, dann möchte ich wenigstens mit dem Wissen sterben, daß ich mehr war als nur eine Figur auf deinem Spielbrett.«
Roland spürte, wie Wut seine Wangen rötete, aber er hatte die Gabe der Selbsttäuschung nie besonders gut beherrscht. Er wußte, er war nicht wütend, weil Eddie sich irrte, sondern weil Eddie ihn durchschaut hatte. Roland hatte gesehen, wie er immer weiter nach vorne gekommen war und dabei sein Gefängnis immer weiter hinter sich gelassen hatte – und Susannah auch, denn sie war ebenfalls eine Gefangene gewesen. Doch er hatte mit dem Herzen nie richtig die Beweise akzeptiert, die ihm seine Sinne zeigten. Sein Herz wollte sie anscheinend immer noch als minderwertige Wesen sehen.
Roland holte tief Luft. »Revolvermann, ich erflehe deine Verzeihung.«
Eddie nickte. »Wir laufen in einen ganzen Wirbelsturm von Ärger hinein… das spüre ich, und ich habe Angst. Aber es ist nicht dein Ärger, es ist unser Ärger. Okay?«
»Ja.«
»Was meinst du, wie schlimm kann es in der Stadt werden?«
»Ich weiß nicht. Ich weiß nur, wir müssen versuchen, Jake zu beschützen, denn die alte Tante hat gesagt, daß ihn beide Seiten haben wollen. Es kommt ganz darauf an, wie lange wir brauchen, diesen Zug zu finden. Und noch mehr hängt davon ab, was genau passiert, wenn wir ihn gefunden haben. Wenn wir noch zwei Leute mehr wären, würde ich Jake in eine Sänfte setzen und auf beiden Seiten von Schützen bewachen lassen. Da wir aber nur zu viert sind, gehen wir in einer Reihe. Ich voraus, Jake wird Susannahs Rollstuhl schieben, und du bildest die Nachhut.«
»Wieviel Ärger? Eine Vermutung.«
»Nein.«
»Ich glaube, doch. Du kennst die Stadt nicht, aber du weißt, wie sich die Menschen in deiner Welt verhalten, seit alles langsam auseinanderfällt. Wieviel Ärger?«
Roland drehte sich zum konstanten Trommeln um und dachte nach. »Vielleicht nicht allzuviel. Ich denke mir, die Kämpfer, die noch dort sind, sind alt und demoralisiert. Vielleicht hast du mit deinen Hoffnungen recht und manche bieten uns sogar ihre Hilfe an, wie die Ka-tet von River Crossing. Vielleicht bekommen wir sie überhaupt nicht zu Gesicht – sie werden uns sehen und feststellen, daß wir Schußwaffen tragen, und dann ducken sie sich vielleicht einfach und lassen uns des Weges ziehen. Wenn das nicht eintrifft, laufen sie hoffentlich wie Ratten fort, wenn wir ein paar niederschießen.«
»Und wenn sie sich zur Gegenwehr entschließen?«
Roland lächelte grimmig. »Dann, Eddie, werden wir uns alle an die Gesichter unserer Väter erinnern.«
Eddies Augen leuchteten in der Dunkelheit, und erneut wurde Roland nachdrücklich an Cuthbert erinnert – Cuthbert, der einmal gesagt hatte, er würde an Geister glauben, wenn er einen mit den Zähnen erwischen konnte; Cuthbert, mit dem er einst Brotkrumen unter dem Galgenbaum ausgestreut hatte.
»Habe ich alle deine Fragen beantwortet?«
»Nee – aber ich glaube, diesmal bist du aufrichtig zu mir gewesen.«
»Dann gute Nacht, Eddie.«
»Gute Nacht.«
Eddie drehte sich um und ging weg. Roland sah ihm nach. Jetzt lauschte er, und er konnte ihn hören… aber gerade so. Er wollte selbst zurückgehen, doch dann drehte er sich zur Dunkelheit um, wo Lud lag.
Er ist das, was die alte Frau einen Pube genannt hat. Sie hat gesagt, daß beide Seiten ihn haben wollen.
Wirst du ihn diesmal wieder fallenlassen?
Nein. Diesmal nicht, nie mehr.
Aber er wußte etwas, das die anderen alle nicht wußten. Nach dem Gespräch, das er gerade mit Eddie geführt hatte, sollte er es ihnen vielleicht sagen… doch er beschloß, das Wissen noch eine Weile für sich zu behalten.
In der alten Sprache, die einstmals die lingua franca seiner Welt gewesen war, hatten die meisten Worte, wie Khef und Ka, viele Bedeutungen. Das Wort Char jedoch – Char wie in Charlie Tschuff-Tschuff – hatte nur eine.
Char bedeutete Tod.