III.
Tür und Dämon

 

1

 

Eddie war fast eingeschlafen, als ihm eine Stimme deutlich ins Ohr flüsterte: Sag ihm, er soll den Schlüssel festhalten. Der Schlüssel bringt die Stimmen zum Schweigen.

Er fuhr kerzengerade in die Höhe und sah sich panisch um. Susannah lag tief schlafend neben ihm; ihre Stimme war es nicht gewesen.

Und auch nicht die eines anderen, schien es. Sie waren jetzt seit acht Tagen auf dem Pfad des Balkens durch den Wald unterwegs und hatten ihr Lager heute abend in der tiefen Kluft eines Talkessels aufgeschlagen. Ganz in der Nähe links rauschte ein Bach tosend vorbei, der in dieselbe Richtung strömte, in die sie unterwegs waren: Südosten. Rechts stieg das Land steil an. Es waren keine Eindringlinge hier, nur Susannah, die schlief, und Roland, der wachte. Dieser saß zusammengekauert unter seiner Decke am Ufer des Baches und sah in die Dunkelheit hinaus.

Sag ihm, er soll den Schlüssel festhalten. Der Schlüssel bringt die Stimmen zum Schweigen.

Eddie zögerte einen Augenblick. Rolands geistige Gesundheit stand auf der Kippe, neigte sich langsam zur schlechteren Seite, und das Schlimmste war: Niemand wußte das besser als der Mann selbst. Im Augenblick wäre Eddie bereit gewesen, nach jedem Strohhalm zu greifen.

Er hatte eine zusammengelegte Hirschhaut als Kissen benützt. Nun schob er die Hand darunter und zog ein in Leder gewickeltes Bündel heraus. Er ging zu Roland und mußte zu seinem Schrecken feststellen, daß der Revolvermann ihn erst bemerkte, als er nur noch vier Schritte von dessen ungeschütztem Rücken entfernt war. Es hatte eine Zeit gegeben – und die war noch gar nicht so lange her –, da hätte Roland bemerkt, daß Eddie wach war, noch ehe dieser sich aufgerichtet haben würde. Er hätte es am veränderten Atemrhythmus bemerkt.

Er war sogar damals am Strand wachsamer, obwohl er nach dem Biß des Hummerdings halbtot war, dachte Eddie grimmig.

Schließlich drehte Roland den Kopf herum und sah ihn an. Seine Augen waren von Schmerz und Müdigkeit umwölkt, aber Eddie stellte fest, daß es sich bei beidem um nicht mehr als ein oberflächliches Funkeln handelte. Darunter spürte er eine zunehmende Verwirrung, die mit ziemlicher Sicherheit zu Wahnsinn werden würde, wenn sie sich weiter ungehindert ausbreiten konnte. Mitleid verzehrte Eddies Herz.

»Kannst du nicht schlafen?« fragte Roland. Seine Stimme klang nuschelnd, wie unter Drogen.

»Ich war fast eingeschlafen, bin aber wieder aufgewacht«, sagte Eddie. »Hör zu…«

»Ich glaube, ich bereite mich auf das Sterben vor.« Roland sah Eddie an. Der helle Schein verschwand aus seinen Augen, nun sahen sie aus wie zwei tiefe, dunkle Brunnen, die keinen Grund zu haben schienen. Eddie erschauerte, aber mehr wegen dieses leeren Blicks als wegen Rolands Worten. »Und weißt du, worauf ich auf der Lichtung am Ende dieses Pfades hoffe, Eddie?«

»Roland…«

»Stille«, sagte Roland. Er gab ein staubiges Seufzen von sich. »Nur Stille. Das wird reichen. Ein Ende von… dem hier.«

Er drückte die Fäuste an die Schläfen, und Eddie dachte: Das habe ich erst vor kurzem jemand anderen machen sehen. Aber wen? Wo?

Das war natürlich lächerlich; er hatte seit fast zwei Monaten niemand anderen als Roland und Susannah gesehen. Aber dennoch war ihm, als würde es so sein.

»Roland, ich habe etwas gemacht«, sagte Eddie.

Roland nickte. Der Hauch eines Lächelns umspielte seine Lippen. »Ich weiß. Was ist es? Bist du endlich bereit, es mir zu sagen?«

»Ich glaube, es könnte etwas mit diesem Ka-tet zu tun haben.«

Der leere Blick verschwand aus Rolands Augen. Er sah Eddie nachdenklich an, sagte aber nichts.

»Sieh her.« Eddie faltete das Stück Leder auseinander.

Das nützt gar nichts! bellte Henrys Stimme plötzlich. Sie war so laut, daß Eddie tatsächlich ein wenig zusammenzuckte. Es ist nur eine dumme Holzschnitzerei! Er wird einen Blick darauf werfen und darüber lachen! Er wird dich auslachen! »Oh, sieh dir das an!« wird er sagen. »Hat die Memme was geschnitzt?«

»Sei still«, murmelte Eddie.

Der Revolvermann zog die Brauen hoch.

»Nicht du.«

Roland nickte ohne Überraschung. »Dein Bruder besucht dich häufig, Eddie, richtig?«

Einen Moment sah Eddie ihn nur an, ohne seine Schnitzerei aus dem Leder zu holen. Dann lächelte er. Es war kein sehr angenehmes Lächeln. »Nicht so oft wie früher, Roland. Gott sei Dank.«

»Ja«, sagte Roland. »Zu viele Stimmen liegen einem Mann schwer auf dem Herzen… was ist es, Eddie? Zeig es mir bitte.«

Eddie hielt das Stück Eschenholz hoch. Der fast vollständige Schlüssel kam daraus hervor wie der Kopf einer Galionsfigur am Bug eines Schiffes… oder die Klinge eines Schwertes aus einem Stein. Eddie wußte nicht, wie genau es ihm gelungen war, die Form des Schlüssels zu gestalten, den er im Feuer gesehen hatte (und er vermutete, er würde es auch nie erfahren, wenn er nicht das richtige Schloß fand, um ihn auszuprobieren), aber er dachte, daß er nahe dran war. In einem war er sich jedenfalls ganz sicher: Es war bei weitem die beste Schnitzerei, die er je gemacht hatte. Bei weitem.

»Bei den Göttern, Eddie, das ist wunderschön!« sagte Roland. Die Apathie war aus seiner Stimme verschwunden; er sprach in einem Tonfall überraschter Ehrerbietung, den Eddie noch nie bei ihm gehört hatte. »Ist es fertig? Noch nicht ganz, oder?«

»Nein – nicht ganz.« Er strich mit dem Daumen über den dritten Zahn, dann über die S-Form am Ende des dritten Zahns. »An diesem Zahn muß ich noch ein wenig arbeiten, und die Krümmung am Ende ist noch nicht richtig. Ich weiß nicht, woher ich das weiß; ich weiß es eben.«

»Das ist dein Geheimnis.« Es war keine Frage.

»Ja. Wenn ich nur wüßte, was es bedeutet.«

Roland sah sich um. Eddie folgte seinem Blick und sah Susannah. Die Tatsache, daß Roland sie zuerst gehört hatte, spendete ihm eine gewisse Erleichterung.

»Was macht ihr Jungs noch so spät auf? Auf’n Busch klopfen?« Sie sah den Holzschlüssel in Eddies Hand und nickte. »Ich habe mich schon gefragt, wann du das herumzeigen würdest. Weißt du, es ist gut. Ich weiß nicht, wozu es taugt, aber es ist verdammt gut.«

»Du hast keine Ahnung, welche Tür es öffnen könnte?« wandte sich Roland an Eddie. »Das war nicht Teil deines Khef?«

»Nein – aber es könnte für etwas taugen, auch wenn es noch nicht fertig ist.« Er hielt Roland den Schlüssel hin. »Ich möchte, daß du es für mich aufbewahrst.«

Roland nahm es nicht. Er sah Eddie eindringlich an. »Warum?«

»Weil… nun… weil ich glaube, daß mir jemand gesagt hat, du solltest es.«

»Wer?«

Dein Junge, dachte Eddie plötzlich, und kaum war ihm der Gedanke gekommen, da wußte er, daß er stimmte. Es war dein gottverdammter Junge.

Aber das wollte er nicht sagen. Er wollte den Namen des Jungen nicht einmal aussprechen. Das konnte ausreichen, Roland wieder ausrasten zu lassen.

»Ich weiß nicht. Aber ich finde, du solltest es versuchen.«

Roland griff langsam nach dem Schlüssel. Als seine Finger ihn berührten, schien ein heller Glanz den Schaft entlangzuflimmern, aber er war so schnell wieder erloschen, daß Eddie nicht sicher war, ob er ihn überhaupt gesehen hatte. Vielleicht war es nur das Sternenlicht gewesen.

Rolands Hand schloß sich um den Schlüssel, der aus dem Ast wuchs. Einen Augenblick lang zeigte sein Gesicht keine Reaktion. Dann runzelte er die Stirn und legte den Kopf zu einer lauschenden Haltung schräg.

»Was ist denn?« fragte Susannah. »Hörst du…«

»Pssst!« Der Verwirrung in Rolands Gesicht folgte langsam Staunen. Er sah von Eddie zu Susannah und dann wieder zu Eddie. Seine Augen füllten sich mit einem tiefempfundenen Gefühl, so wie sich ein Krug mit Wasser füllt, wenn man ihn in einen Brunnen hält.

»Roland?« fragte Eddie unbehaglich. »Alles in Ordnung?«

Roland flüsterte etwas. Eddie konnte nicht verstehen, was es war.

Susannah blickte ängstlich drein. Sie sah Eddie panisch an, als wollte sie fragen: Was hast du mit ihm gemacht?

Eddie nahm eine Hand von ihr zwischen seine beiden. »Ich glaube, es ist alles in Ordnung.«

Roland klammerte die Hand so fest um das Stück Holz, daß Eddie kurz befürchtete, er könnte es entzweibrechen, aber das Holz war kräftig. Der Hals des Revolvermanns schwoll an; sein Adamsapfel hüpfte, als er zu sprechen versuchte. Und plötzlich rief er mit heller, lauter Stimme zum Himmel:

»FORT! DIE STIMMEN SIND FORT!«

Er sah sie an, und da sah Eddie etwas, mit dem er in seinem ganzen Leben nicht gerechnet hätte – nicht einmal, wenn dieses Leben tausend Jahre währen würde.

Roland von Gilead weinte.

 

 

2

 

Der Revolvermann schlief zum erstenmal seit Monaten tief und traumlos, und er hatte den noch nicht ganz fertiggestellten Schlüssel fest in einer Hand, während er schlief.

 

 

3

 

In einer anderen Welt, aber unter dem Schatten desselben Ka-tet, hatte Jake Chambers den lebhaftesten Traum seines Lebens.

Er ging durch das verfilzte Dickicht eines uralten Waldes – einer toten Zone voll von umgestürzten Bäumen und struppigen, dornigen Büschen, die in seine Knöchel stachen und versuchten, ihm die Turnschuhe zu stehlen. Er kam zu einem schmalen Gürtel jüngerer Bäume (Erlen, dachte er, möglicherweise Buchen – er war ein Junge aus der Stadt und wußte von Bäumen nur eines mit Sicherheit, daß manche Blätter und manche Nadeln hatten) und entdeckte einen Pfad hindurch. Diesem folgte er ein wenig schneller. Vor ihm lag eine Art Lichtung.

Er blieb einmal stehen, bevor er sie erreicht hatte, als er eine Art Markierung rechts von sich sah. Er verließ den Pfad und sah sie sich an. Es waren Buchstaben darin eingeschnitzt, doch waren diese so verwittert, daß er sie nicht erkennen konnte. Schließlich machte er die Augen zu (das hatte er noch nie in einem Traum gemacht) und strich jeden einzelnen Buchstaben mit den Fingern nach wie ein blinder Junge, der Braille liest. Jeder einzelne erstand in der Dunkelheit hinter seinen Lidern, bis sie einen Satz bildeten, der wie ein Umriß blauen Leuchtens vorstand:

 

REISENDER, JENSEITS LIEGT MITTWELT

 

Jake, der in seinem Bett schlief, zog die Knie an die Brust. Die Hand, die den Schlüssel hielt, lag unter dem Kissen, und jetzt umklammerten seine Finger ihn fester.

Mittwelt, dachte er. Klar doch. St. Louis und Topeka und Oz und der Jahrmarkt und Charlie Tschuff-Tschuff.

Er schlug die Traumaugen auf und ging weiter. Der Boden der Lichtung hinter den Bäumen bestand aus altem, rissigem Asphalt. In die Mitte war ein verblaßter gelber Kreis gemalt worden. Jake stellte fest, daß es sich um ein Basketballfeld handelte, noch ehe er den Jungen am anderen Ende sah, der an der Strafraumlinie stand und einen staubigen alten Ball Marke Wilson in den Korb warf. Er fiel unfehlbar durch das Loch ohne Netz. Der Korb war an etwas befestigt, das wie der Kiosk einer U-Bahn aussah, der die Nacht über geschlossen ist. Auf die Tür waren abwechselnd gelbe und schwarze Streifen gemalt. Dahinter – oder darunter – konnte Jake das konstante Dröhnen gewaltiger Maschinen hören. Das Geräusch war irgendwie beunruhigend. Beängstigend.

Tritt nicht auf die Roboter, sagte der Junge, der die Körbe warf, ohne sich umzudrehen. Ich glaube, sie sind alle tot, aber ich an deiner Stelle würde kein Risiko eingehen.

Jake sah sich um und stellte fest, daß eine Reihe zertrümmerter mechanischer Geräte herumlagen. Eines sah wie eine Ratte oder Maus aus, eines wie eine Fledermaus. Eine zertrümmerte mechanische Schlange lag fast unmittelbar vor seinen Füßen.

Bist du ich? fragte Jake und ging einen Schritt auf den Jungen am Korb zu, aber noch bevor dieser sich umdrehte, wußte Jake, daß es nicht so war. Der Junge war größer als Jake und mindestens dreizehn. Sein Haar war dunkler, und als er Jake ansah, stellte dieser fest, die Augen des Fremden waren haselnußbraun. Seine waren blau.

Was denkst du? fragte der fremde Junge und warf Jake den Ball zu.

Nein, natürlich nicht, sagte Jake. Er sagte es mit einem entschuldigenden Unterton. Es ist nur so, daß ich die letzten drei Wochen oder so zweigeteilt war. Er blieb stehen und warf vom Mittelfeld aus. Der Ball beschrieb einen hohen Bogen und fiel lautlos durch den Reif. Er war entzückt… aber er merkte, er hatte auch Angst vor dem, was dieser fremde Junge ihm erzählen könnte.

Ich weiß, sagte der Junge. Es war beschissen für dich, was? Er trug verblichene Madras-Shorts und ein gelbes T-Shirt, auf dem stand: KEIN MOMENT LANGEWEILE IN MITTWELT. Um die Stirn trug er ein grünes Band, damit ihm die Haare nicht in die Augen fielen. Und es wird noch schlimmer, bevor es besser wird.

Was ist das für ein Ort? fragte Jake. Und wer bist du?

Es ist das Portal des Bären… aber es ist auch Brooklyn.

Das schien keinen Sinn zu ergeben, aber irgendwie doch. Jake sagte sich, daß das in Träumen immer so war, aber dies hier schien irgendwie gar kein Traum zu sein.

Was mich anbelangt, ich bin nicht besonders wichtig, sagte der Junge. Er warf den Basketball über die Schulter. Dieser stieg in die Höhe und fiel sauber durch den Reif. Ich soll dich führen, das ist alles. Ich führe dich dorthin, wo du hingehen mußt, und ich zeige dir, was du sehen mußt, aber du mußt vorsichtig sein, weil ich dich nicht kenne. Und Fremde machen Henry nervös. Er kann gemein werden, wenn er nervös ist, und Henry ist größer als du.

Wer ist Henry? fragte Jake.

Vergiß es. Sieh nur zu, daß er dich nicht bemerkt. Du mußt nur in der Nähe bleiben… und uns folgen. Und wenn wir gehen…

Der Junge sah Jake an. Mitleid und Angst sprachen aus seinen Augen. Jake stellte plötzlich fest, daß der Junge allmählich verblasste – er konnte die schwarzen und gelben Streifen des Kioskes durch das gelbe T-Shirt des Jungen erkennen.

Wie werde ich dich finden? Plötzlich hatte Jake große Angst, der Junge könnte völlig verschwinden, bevor er Jake alles sagen konnte, was er wissen mußte.

Kein Problem, sagte der Junge. Seine Stimme hatte einen seltsam klirrenden Unterton angenommen. Fahr einfach mit der U-Bahn nach Co-Op City. Du wirst mich finden.

Nein, unmöglich! rief Jake. Co-Op City ist riesig! Dort müssen hunderttausend Menschen wohnen!

Jetzt war der Junge nur noch ein verschwommener Umriß. Nur seine haselnußbraunen Augen waren noch ganz da, wie das Grinsen der Cheshire-Katze in Alice im Wunderland. Sie sahen Jake voll Mitgefühl und Furcht an. Null Problemo, sagte er. Du hast den Schlüssel und die Rose gefunden, oder nicht? Mich wirst du auf dieselbe Weise finden. Heute nachmittag, Jake. Gegen drei Uhr müßte gut sein. Du mußt vorsichtig sein, und du mußt schnell sein. Er verstummte – ein geisterhafter Junge, der einen alten Basketball neben dem durchsichtigen Fuß liegen hatte. Ich muß gehen… aber es war schön, dich kennenzulernen. Du scheinst ein netter Junge zu sein, und es überrascht mich nicht, daß er dich gern hat. Aber es besteht Gefahr. Sei vorsichtig… und sei schnell.

Warte! rief Jake und rannte über das Basketballfeld auf den verblassenden Jungen zu. Mit einem Fuß stolperte er über einen Mechanismus, der wie ein zerdepperter Spielzeugtraktor aussah. Er stolperte, fiel auf die Knie und riß sich die Hose auf. Er achtete nicht auf den leichten Schmerz. Warte! Du mußt mir sagen, was das alles zu bedeuten hat! Du mußt mir sagen, warum mir das alles zustößt!

Wegen des Balkens, antwortete der Junge, der jetzt nur noch aus einem schwebenden Augenpaar bestand, und wegen des Turms. Letztendlich dient alles, auch die Balken, dem Dunklen Turm. Hast du gedacht, bei dir wäre das anders?

Jake ruderte mit den Armen und stand stolpernd auf. Werde ich ihn finden? Werde ich den Revolvermann finden?

Ich weiß nicht, antwortete der Junge. Seine Stimme schien jetzt aus einer Entfernung von Millionen Meilen zu kommen. Ich weiß nur, daß du es versuchen mußt. Diesbezüglich hast du keine andere Wahl.

Der Junge war fort. Das Basketballfeld im Wald war verlassen. Nur das leise Dröhnen der Maschinen war noch zu hören, und das gefiel Jake nicht. Mit diesem Geräusch stimmte etwas nicht, und er dachte, was mit der Maschine nicht in Ordnung war, beeinträchtigte auch die Rose – oder umgekehrt. Alles hing irgendwie zusammen.

Er hob den alten, staubigen Basketball auf und warf. Der Ball fiel durch den Korb… und verschwand.

Ein Fluß, seufzte die Stimme des fremden Jungen. Sie war wie der Hauch einer Brise. Sie kam von überall und nirgends. Die Antwort ist ein Fluß.

 

 

4

 

Jake wachte im ersten trüben Licht der Dämmerung auf und sah zur Decke seines Zimmers. Er mußte an den Mann im Manhattan-Restaurant für geistige Nahrung denken – Aaron Deepneau, der auf der Bleeker Street herumgehangen hatte, als Bob Dylan noch kaum wußte, wie er einen offenen G-Dur-Akkord auf seiner Hohner spielen sollte. Aaron Deepneau hatte Jake ein Rätsel aufgegeben.

 

Was bewegt sich und kommt nicht fort,

Hat einen Mund und spricht kein Wort,

Hat ein Bett und kann doch nicht schlafen,

Und birgt für manchen einen sicheren Hafen?

 

Jetzt kannte er die Antwort. Ein Fluß bewegte sich – er strömte; ein Fluß hatte einen Mund, besser gesagt, eine Mündung; ein Fluß hatte auch ein Bett; und ein Fluß barg gewiß auch einen sicheren Hafen. Der Junge hatte ihm die Antwort verraten. Der Junge im Traum.

Und plötzlich fiel ihm noch etwas ein, das Deepneau gesagt hatte: Das ist nur die halbe Antwort. Samsons Rätsel besteht aus zwei Teilen, mein Freund.

Jake sah auf die Nachttischuhr und stellte fest, es war zwanzig nach sechs. Zeit aufzustehen, wenn er hier fort sein wollte, bevor seine Eltern wach wurden. Er würde heute nicht in die Schule gehen; Jake überlegte sich, daß die Schule vielleicht für immer gestrichen war, was ihn anbelangte.

Er schlug die Bettdecke zurück, schwang die Füße auf den Boden und stellte fest, daß er an beiden Knien Aufschürfungen hatte. Frische Aufschürfungen. Er hatte sich gestern die linke Seite gestoßen, als er auf den Steinen ausgerutscht und gefallen war, und er hatte sich den Kopf angeschlagen, als er bei der Rose das Bewußtsein verloren hatte, aber mit seinen Knien war nichts passiert.

»Das ist in dem Traum geschehen«, flüsterte Jake und mußte feststellen, daß er nicht im geringsten überrascht war. Er zog sich rasch an.

 

 

5

 

Ganz hinten in seinem Schrank fand er unter einem Durcheinander von alten Turnschuhen ohne Schnürsenkel und einem Stapel Spiderman-Comics den Schulranzen, den er in der Grundschule getragen hatte. In der Piper würde sich ums Verrecken niemand mit einem Ranzen erwischen lassen, den man auf dem Rücken trug – wie gewöhnlich, meine Güte –, und als Jake ihn ergriff, verspürte er eine Woge übermächtiger Sehnsucht nach den alten Zeiten, als das Leben noch so einfach gewesen war.

Er verstaute ein sauberes Hemd, ein frisches Paar Jeans, etwas Unterwäsche und Socken darin, dann fügte er Ringelrätselreihen und Charlie Tschuff-Tschuff hinzu. Er hatte den Schlüssel auf den Schreibtisch gelegt, bevor er im Schrank nach dem alten Schulranzen gesucht hatte, und die Stimmen hatten sofort wieder eingesetzt, aber sie waren fern und gedämpft. Außerdem war er sicher, er konnte sie ganz zum Schweigen bringen, wenn er den Schlüssel in die Hand nahm, und das beruhigte ihn.

Okay, dachte er und sah in den Ranzen. Selbst mit den Büchern hatte er noch jede Menge Platz. Was noch?

Einen Moment dachte er, sonst nichts mehr, aber dann fiel es ihm ein.

 

 

6

 

Im Arbeitszimmer seines Vaters roch es nach Zigaretten und Ehrgeiz.

Es wurde von einem riesigen Teakholzschreibtisch beherrscht. Auf der anderen Seite des Zimmers, an einer Wand, die sonst mit Büchern vollgestellt war, waren vier Fernsehmonitoren von Mitsubishi eingelassen. Jeder war auf einen der großen Konkurrenzsender eingestellt, und nachts, wenn sein Vater hier drinnen war, gab jeder seine Abfolge Bilder zur besten Sendezeit von sich, aber der Ton blieb ausgeschaltet.

Die Vorhänge waren zugezogen, und Jake mußte die Schreibtischlampe einschalten, damit er sehen konnte. Allein hier drinnen zu sein, machte ihn nervös. Sollte sein Vater aufwachen und hereinkommen (was möglich war; wie spät er auch ins Bett ging oder wieviel er trank, Elmer Chambers hatte immer einen leichten Schlaf und war ein Frühaufsteher), würde er böse werden. Was einen sauberen Abgang mindestens erschweren würde. Je früher er hier wieder draußen war, desto erleichterter würde sich Jake fühlen.

Der Schreibtisch war abgeschlossen, aber sein Vater hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, wo er den Schlüssel aufbewahrte. Jake streckte die Finger unter die Schreibtischunterlage und fischte ihn hervor. Er machte die dritte Schublade auf, griff unter die hängenden Ordner und berührte kaltes Metall.

Ein Dielenbrett quietschte auf dem Flur, und Jake erstarrte. Als sich das Quietschen nicht wiederholte, zog Jake die Waffe heraus, die sein Vater dort aufbewahrte – eine 44er Ruger Automatik. Sein Vater hatte Jake die Waffe an dem Tag, als er sie kaufte, mit großem Stolz gezeigt – vor zwei Jahren war das gewesen. Er war vollkommen taub für das nervöse Beharren seiner Frau gewesen, er sollte sie wegschließen, bevor jemand zu Schaden kam.

Jake ertastete den Knopf an der Seite, der das Magazin herausspringen ließ. Dieses fiel ihm mit einem metallischen Schnack! in die Hand, das in der stillen Wohnung sehr laut wirkte. Er sah wieder nervös zur Tür, dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf das Magazin. Es war voll. Er wollte es schon in die Waffe schieben, holte es dann aber doch wieder heraus. Eine geladene Waffe in einer geschlossenen Schreibtischschublade aufzubewahren, gut und schön; aber eine in New York City herumzutragen – das stand wieder auf einem anderen Blatt.

Er stopfte die Automatik ganz unten in den Ranzen, dann tastete er wieder hinter die hängenden Ordner. Diesmal holte er eine halbvolle Schachtel Munition heraus. Er wußte noch, sein Vater hatte auf dem Polizeischießstand in der First Avenue geübt, dann aber das Interesse verloren.

Das Dielenbrett quietschte wieder. Jake wollte hier raus.

Er holte eines der Hemden, die er eingepackt hatte, aus dem Ranzen und wickelte das Magazin und die Schachtel Munition darin ein. Er wollte gerade gehen, als sein Blick auf den kleinen Stapel Briefpapier neben den Postein- und -ausgangskörbchen fiel. Die verspiegelte Sonnenbrille von Ray Ban, die sein Vater so gerne trug, lag zusammengeklappt auf dem Briefpapier. Er nahm ein Blatt und nach einem Augenblick des Nachdenkens auch die Sonnenbrille. Die Brille steckte er in die Brusttasche. Dann nahm er den schlanken goldenen Füller aus dem Ständer und schrieb Lieber Dad, liebe Mom unter den Briefkopf.

Er hielt inne und betrachtete den Gruß stirnrunzelnd. Wie ging es weiter? Was genau hatte er zu sagen? Daß er sie liebte? Das entsprach der Wahrheit, aber es reichte nicht aus – alle möglichen anderen unangenehmen Tatsachen durchbohrten dieses Kernstück wie Nadeln ein Wollknäuel. Daß er sie vermissen würde? Er wußte nicht, ob das stimmte oder nicht, was irgendwie schrecklich war. Daß er hoffte, sie würden ihn vermissen?

Plötzlich wurde ihm klar, worin das Problem bestand. Wenn er vorhätte, nur heute wegzugehen, würde ihm etwas einfallen. Aber er verspürte die beinahige Gewißheit, daß es sich nicht nur um diesen Tag handelte, diese Woche, diesen Monat oder diesen Sommer. Er hatte eine Ahnung, wenn er die Wohnung diesmal verließ, würde es für immer sein.

Er knüllte das Blatt Papier fast zusammen, überlegte es sich dann aber doch anders. Er schrieb: Bitte paßt auf euch auf. Alles Liebe, J. Das war ziemlich dürftig, aber besser als nichts.

Prima. Würdest du jetzt aufhören, das Schicksal auf die Probe zu stellen, und hier verschwinden?

Das machte er.

Es war fast totenstill in der Wohnung. Er schlich auf Zehenspitzen durch das Wohnzimmer, hörte aber nur das Atmen seiner Eltern: das leise Röcheln seiner Mutter, das etwas nasalere Schnarchen seines Vaters, bei dem jedes Einatmen mit einem kurzen, hohen Pfeifton endete., Der Kühlschrank fing an zu summen, als er unter der Tür stand, und Jakes Herz schlug heftig. Dann stand er vor der Tür. Er schloß sie, so leise er konnte, auf, dann ging er hinaus und zog sie behutsam hinter sich zu.

Ein Stein schien ihm vom Herzen zu fallen, als das Schloß einrastete, und ein starkes Gefühl der Vorfreude überkam ihn. Er wußte nicht, was vor ihm lag, und hatte allen Grund zu der Annahme, daß es gefährlich sein würde, aber schließlich war er elf Jahre alt – zu jung, das exotische Entzücken zu verleugnen, das ihn plötzlich erfüllte. Vor ihm lag eine Straße – eine verborgene Straße, die weit in ein unbekanntes Land führte. Es gab Geheimnisse, die sich ihm offenbaren konnten, wenn er klug war… und wenn er Glück hatte. Er hatte sein Zuhause im kargen Licht der Dämmerung verlassen, und vor ihm lag ein großes Abenteuer.

Wenn ich standhaft bin, wenn ich es durchstehe, werde ich die Rose sehen, dachte er, als er den Knopf des Fahrstuhls drückte. Ich weiß es… und ihn werde ich auch sehen.

Auch das erfüllte ihn mit einem solchen Eifer, daß es an Ekstase grenzte.

Drei Minuten später kam er unter dem Baldachin hervor, der dem Eingang des Hauses Schatten spendete, wo er sein ganzes Leben lang gelebt hatte. Er verweilte einen Augenblick, dann wandte er sich nach links. Diese Entscheidung hatte nichts Wahlloses. Er ging auf dem Pfad des Balkens nach Südosten und nahm seine eigene unterbrochene Suche nach dem Dunklen Turm wieder auf.

 

 

7

 

Zwei Tage nachdem Eddie Roland den unfertigen Schlüssel gegeben hatte, drangen die drei Reisenden – heiß, schwitzend, müde und ausgelaugt – durch ein besonders verfilztes Dickicht von Unterholz und jungen Bäumen und fanden zwei parallel verlaufende Pfade unter den verflochtenen Ästen alter Bäume, die sich rechts und links drängten. Nach einigen Augenblicken eingehender Betrachtung kam Eddie zum Ergebnis, daß es sich nicht nur um Pfade handelte, sondern um die Überreste einer längst aufgegebenen Straße. Büsche und verkrüppelte Bäume wuchsen als häßliches Gestrüpp auf dem einstigen Mittelstreifen. Bei den grasbewachsenen Vertiefungen handelte es sich um Reifenspuren, die beide so breit waren, daß Susannahs Rollstuhl darin fahren konnte.

»Halleluja!« rief er. »Darauf trinken wir!«

Roland nickte und löste den Wasserschlauch, den er um die Taille trug. Er reichte ihn erst Susannah, die im Tragegurt auf seinem Rücken hing. Eddies Schlüssel, den er jetzt an einer Wildlederschnur um den Hals trug, baumelte bei jeder Bewegung unter dem Hemd. Susannah trank einen Schluck und gab Eddie den Schlauch. Er trank und machte sich daran, den Rollstuhl auseinanderzuklappen. Eddie hatte angefangen, dieses sperrige, unhandliche Fortbewegungsmittel zu hassen; es war wie ein Anker aus Eisen, der sie immerzu aufhielt. Abgesehen von einer oder zwei abgebrochenen Speichen war er noch weitgehend in Ordnung. Eddie hatte an manchen Tagen gedacht, daß das verdammte Ding sie alle überleben würde. Aber jetzt konnte es sich wieder als nützlich erweisen… jedenfalls eine Weile.

Eddie half Susannah aus dem Tragegurt und setzte sie in den Rollstuhl. Sie drückte die Hände an den Rückenansatz, streckte sich und grinste vor Freude. Eddie und Roland konnten beide das Knacken ihres Rückgrats hören, als sie sich streckte.

Ein Stück vor ihnen kam ein großes Tier aus dem Wald, das wie eine Mischung aus Dachs und Waschbär aussah. Es sah sie mit seinen goldgesäumten Augen an, schnupperte mit der spitzen, borstigen Schnauze, als wollte es sagen: Huch! Tolle Sache!, ging weiter über die Straße und! verschwand wieder. Zuvor konnte Eddie aber noch seinen Schwanz erkennen – lang und zusammengerollt wie eine fellbezogene Bettfeder.

»Was war das, Roland?«

»Ein Billy-Bumbler.«

»Nicht eßbar?«

Roland schüttelte den Kopf. »Zäh. Bitter. Lieber würde ich Hund essen.«

»Hast du schon?« fragte Susannah. »Hund gegessen, meine ich.«

Roland nickte, ging aber nicht weiter darauf ein. Eddie mußte an eine Dialogzeile aus einem alten Film mit Paul Newman denken: Ganz recht, Lady – sie gegessen und wie einer gelebt.

Vögel zwitscherten fröhlich in den Bäumen. Ein leichter Windhauch wehte über die Straße. Eddie und Susannah streckten ihm dankbar die Gesichter entgegen, dann sahen sie einander an und lächelten. Das Maß an Dankbarkeit, das er ihretwegen empfand, setzte Eddie wieder in Erstaunen – es war beängstigend, jemanden zu haben, den man liebte, aber auch sehr schön.

»Wer hat diese Straße gemacht?« fragte Eddie.

»Menschen, die schon lange verschwunden sind«, sagte Roland.

»Die, welche die Tassen und Teller gemacht haben, die wir gefunden hatten?«

»Nein – die nicht. Ich könnte mir denken, dies muß eine Kutschenstraße gewesen sein, und wenn sie nach all diesen Jahren noch so deutlich ist, muß sie wahrlich groß gewesen sein… vielleicht die Große Straße. Würden wir graben, würden wir, könnte ich mir vorstellen, das Schotterbett finden, und darunter das Abwassersystem. Aber wenn wir nun schon einmal hier rasten, laßt uns etwas essen.«

»Essen!« schrie Eddie. »Her damit! Hühnchen Florentiner Art. Polynesische Shrimps! Sautiertes Kalbfleisch mit Pilzen und…«

Susannah stieß ihn mit dem Ellbogen an. »Hör auf damit, weißer Junge.«

»Ich kann nichts dafür, daß ich eine blühende Fantasie habe«, sagte Eddie fröhlich.

Roland ließ die Tasche von der Schulter gleiten, kauerte sich nieder und stellte eine kleine Mittagsmahlzeit aus Dörrfleisch in olivfarbenen Blättern zusammen. Eddie und Susannah hatten festgestellt, daß diese Blätter ein wenig wie Spinat schmeckten, nur intensiver.

Eddie schob Susannah zu ihm, dann gab Roland ihr drei »Frikadellen à la Revolvermann«, wie er sie nannte. Sie fing an zu essen.

Als Eddie sich wieder umdrehte, hielt Roland ihm drei der eingewickelten Dörrfleischstreifen hin, aber noch etwas anderes. Es war das Stück Eschenholz, aus dem der Schlüssel wuchs. Roland hatte ihn von der Wildlederschnur genommen, die ihm nun als offene Schlinge um den Hals hing.

»He, den brauchst du, oder nicht?«

»Wenn ich ihn abnehme, kommen die Stimmen wieder, aber sie sind sehr weit entfernt«, sagte Roland. »Ich werde mit ihnen fertig. Eigentlich höre ich sie auch, wenn ich ihn trage – wie die Stimmen von Männern, die leise hinter dem nächsten Hügel sprechen. Das liegt, glaube ich, daran, daß der Schlüssel noch nicht fertig ist. Du hast nicht mehr daran gearbeitet, seit du ihn mir gegeben hast.«

»Nun, du hast ihn getragen, und ich wollte nicht…«

Roland sagte nichts, aber seine blaßblauen Augen betrachteten Eddie mit ihrem geduldigen Ausbilderblick.

»Na gut«, sagte Eddie. »Ich habe Angst, daß ich ihn versaue. Zufrieden?«

»Laut deinem Bruder hast du alles versaut… ist das nicht so?« fragte Susannah.

»Susannah Dean, Psychologin. Du hast den Beruf verfehlt, Süße.«

Susannah war durch den Sarkasmus nicht vor den Kopf gestoßen. Sie hob den Wasserschlauch mit dem Ellbogen wie ein Saufkumpan den Krug und trank in vollen Zügen. »Es stimmt aber, oder nicht?«

Eddie, dem klar war, daß er auch die Schleuder nicht fertig geschnitzt hatte – noch nicht –, zuckte die Achseln.

»Du mußt ihn fertigstellen«, sagte Roland nachsichtig. »Ich glaube, der Zeitpunkt kommt, da du ihn benützen mußt.«

Eddie wollte etwas sagen, dann klappte er den Mund zu. Es hörte sich so einfach an, wenn man es so frei heraus sagte, aber keiner verstand das Wesentliche. Das Wesentliche war dies: Siebzig Prozent oder achtzig würden einfach nicht reichen, nicht einmal achtundneunzigeinhalb. Diesmal nicht. Wenn er es diesmal versaute, konnte er nicht einfach das Ding über die Schulter werfen und weiterziehen. Zunächst einmal hatte er keine Esche mehr gesehen, seit er dieses spezielle Stück Holz geschnitzt hatte. Aber was ihm am allermeisten zusetzte, war dies: Es ging um alles oder nichts. Wenn er sich nur einen Patzer erlaubte, würde sich der Schlüssel nicht drehen, wenn er sich drehen sollte. Und diese kleine Rundung am Ende machte ihn zunehmend nervös. Es sah so einfach aus, aber wenn die Krümmung nicht hundertprozentig stimmte…

Aber so, wie er ist, wird er auch nicht funktionieren; das weißt du.

Er seufzte und sah den Schlüssel an. Ja, das wußte er. Er mußte versuchen, ihn zu vollenden. Seine Angst zu versagen würde es noch schwerer machen, als es ohnehin schon war, aber er mußte die Angst überwinden und es trotzdem versuchen. Vielleicht konnte er es sogar durchziehen. Weiß Gott, er hatte eine Menge durchgezogen, seit Roland an Bord eines Delta-Jets auf dem Weg zum JFK-Flughafen in seinen Verstand eingedrungen war. Daß er noch am Leben und geistig gesund war, das war an sich schon eine Leistung.

Eddie gab Roland den Schlüssel zurück. »Trag ihn noch eine Weile«, sagte er. »Ich mache mich wieder an die Arbeit, wenn wir einen Rastplatz für die Nacht gefunden haben.«

»Versprochen?«

»Ja.«

Roland nickte, nahm den Schlüssel und knotete die Wildlederschnur wieder zu. Er machte es langsam, aber Eddie entging nicht, wie behende er die verbliebenen zwei Finger der rechten Hand bewegte. Der Mann war anpassungsfähig, das mußte man ihm lassen.

»Es wird etwas passieren, oder nicht?« fragte Susannah plötzlich.

Eddie sah zu ihr auf. »Wie kommst du darauf?«

»Ich schlafe bei dir, Eddie, und ich weiß, daß du jede Nacht träumst. Manchmal redest du auch. Es scheinen nicht gerade Alpträume zu sein, aber es ist ziemlich deutlich, daß etwas in deinem Kopf vor sich geht.«

»Ja. Das stimmt. Ich weiß nur noch nicht, was es ist.«

»Träume haben große Macht«, bemerkte Roland. »Kannst du dich überhaupt nicht an deine erinnern?«

Eddie zögerte. »Ein wenig, aber sie sind ziemlich wirr. Ich bin wieder ein Kind, soviel weiß ich. Die Schule ist aus. Henry und ich spielen auf dem alten Spielplatz in der Markey Avenue, wo heute das Jugendgericht steht. Ich möchte, daß Henry mich zu einem Haus in Dutch Hill bringt. Einem alten Haus. Die Kinder nennen es die ›Villa‹, und alle sagen, daß es dort spukt. Was vielleicht sogar gestimmt hat. Es war unheimlich dort, das weiß ich noch. Echt unheimlich.«

Eddie schüttelte nachdenklich den Kopf.

»Ich habe zum erstenmal seit Jahren an die Villa gedacht, als wir auf der Lichtung des Bären waren und ich den Kopf dicht an diesen merkwürdigen Pavillon gehalten habe. Weiß nicht – vielleicht habe ich deswegen den Traum.«

»Aber du glaubst es nicht«, sagte Susannah.

»Nein, ich glaube, was da vorgeht, das ist weitaus komplizierter als nur die Erinnerung an etwas.«

»Seid ihr – du und dein Bruder – wirklich an diesem Ort gewesen?« fragte Roland.

»Ja – ich habe ihn dazu überredet.«

»Und ist etwas passiert?«

»Nein. Aber es war unheimlich. Wir standen da und haben das Haus eine Weile angesehen, und Henry hat mich aufgezogen – er hat gesagt, ich müßte reingehen und ein Andenken mitbringen, so etwas –, aber ich wußte, es war eigentlich nicht sein Ernst. Er hatte ebensogroße Angst vor dem Gebäude wie ich.«

»Und das ist alles?« fragte Susannah. »Du träumst einfach, daß du zu diesem Haus gehst. Der Villa?«

»Es ist noch ein bißchen mehr. Jemand kommt… und hängt dann einfach da rum. Ich bemerke ihn in dem Traum, aber nur ein bißchen… wie aus dem Augenwinkel, wißt ihr? Aber ich weiß, wir müssen so tun, als ob wir einander nicht kennen.«

»War dieser Jemand am fraglichen Tag tatsächlich dort?« fragte Roland. Er sah Eddie eindringlich an. »Oder ist er nur ein Spieler in diesem Traum?«

»Es ist schon lange her. Ich kann nicht älter als dreizehn gewesen sein. Wie sollte ich mich mit Sicherheit an so etwas erinnern?«

Roland sagte nichts.

»Okay«, sagte Eddie schließlich. »Ja, ich glaube, er war an jenem Tag dort. Ein Junge, der eine Sporttasche oder einen Rucksack trug, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Und eine Sonnenbrille, die zu groß für sein Gesicht war. Mit Spiegelgläsern.«

»Wer war diese Person?« fragte Roland.

Eddie schwieg lange Zeit. Er hielt die letzte Frikadelle à la Roland in seiner Hand, hatte aber keinen Hunger mehr. »Ich glaube, es ist der Junge, den du im Rasthaus getroffen hast«, sagte er schließlich. »Ich glaube, dein alter Freund Jake hat mich und Henry an dem Nachmittag beobachtet, als wir nach Dutch Hill gegangen sind. Ich glaube, er ist uns gefolgt. Weil er die Stimmen hört, genau wie du, Roland. Und weil er an meinen Träumen Anteil hat und ich an seinen. Ich glaube, woran ich mich erinnere, das passiert gerade jetzt in Jakes Zeit. Der Junge versucht, hierher zurückzukommen. Und wenn der Schlüssel nicht fertig ist, wenn er handelt – oder wenn er fehlerhaft ist –, wird der Junge wahrscheinlich sterben.«

Roland sagte: »Vielleicht hat er einen eigenen Schlüssel. Ist das möglich?«

»Ja, könnte schon sein«, sagte Eddie. »Aber das reicht nicht.« Er seufzte und steckte die letzte Frikadelle für später in die Tasche. »Und ich glaube nicht, daß er das weiß.«

 

 

8

 

Sie gingen weiter; Roland und Eddie wechselten sich an Susannahs Rollstuhl ab. Sie hatten sich für die linke Reifenspur entschieden. Der Rollstuhl schwankte und holperte, und ab und zu mußten sie ihn über Baumstümpfe heben, die hier und da wie verfaulte Zahnstummel aus dem Boden ragten. Dennoch kamen sie schneller voran als in der letzten Woche. Das Gelände stieg an, und wenn Eddie zurücksah, konnte er feststellen, daß der Wald sich in einer Reihe sanfter Stufen neigte. Weit im Nordwesten sah er das Band eines Flusses, der über ein zertrümmertes Felsenantlitz fiel. Das war, stellte er staunend fest, die Stelle, die sie den ›Schießstand‹ genannt hatten. Sie war inzwischen fast im Dunst dieses Sommernachmittags hinter ihnen verschwunden.

»Mach langsam, Junge!« rief Susannah schrill. Eddie drehte sich wieder um und konnte gerade noch rechtzeitig bremsen, sonst wäre der Rollstuhl gegen Roland geprallt. Der Revolvermann war stehengeblieben und spähte ins verfilzte Dickicht.

»Wenn so was noch mal vorkommt, nehm ich dir ‘n Führerschein ab«, sagte Susannah schnippisch.

Eddie achtete nicht auf sie. Er folgte Rolands Blick. »Was ist?«

»Das läßt sich nur auf eine Weise herausfinden.« Er drehte sich um, zog Susannah aus dem Rollstuhl und stemmte sie auf die Hüfte. »Sehen wir es uns alle an.«

»Laß mich runter, großer Junge – ich komme zurecht. Ist einfacher für euch Jungs, wenn ihr’s wirklich wissen wollt.«

Als Roland sie langsam auf den grasbewachsenen Streifen hinunterließ, sah Eddie in den Wald. Das Nachmittagslicht warf überlappende Kreuze aus Schatten, aber er glaubte zu erkennen, was Rolands Aufmerksamkeit erregt hatte. Es handelte sich um einen hohen grauen Stein, der fast vollkommen unter einem Dickicht von Weinreben und Ranken verborgen war.

Susannah schlängelte sich geschmeidig wie ein Aal in den Wald neben dem Weg. Roland und Eddie folgten ihr.

»Das ist ein Wegstein, richtig?« Susannah hatte sich auf die Hände gestützt und betrachtete den rechteckigen Stein. Dieser war ehedem aufrecht gestanden, neigte sich aber nun trunken nach rechts wie ein alter Grabstein.

»Ja. Gib mir mein Messer, Eddie.«

Eddie gab es ihm, dann hockte er sich neben Susannah, während der Revolvermann die Ranken durchschnitt. Als sie abfielen, konnte er Buchstaben sehen, die in den Stein gemeißelt waren, und er kannte die Inschrift, noch ehe Roland auch nur die Hälfte davon freigelegt hatte:

 

REISENDER, JENSEITS LIEGT MITTWELT

 

 

9

 

»Was bedeutet das?« fragte Susannah schließlich. Ihre Stimme war leise und ehrfürchtig; ihre Augen maßen unablässig den grauen Stein.

»Es bedeutet, wir nähern uns dem Ende dieses ersten Abschnitts.« Rolands Gesicht war ernst und nachdenklich, als er Eddie das Messer wiedergab. »Ich glaube, wir halten uns ab sofort an diese alte Kutschenstraße – oder besser gesagt, sie hält sich an uns. Sie folgt dem Verlauf des Balkens. Der Wald wird bald zu Ende sein. Ich rechne mit einer großen Veränderung.«

»Was ist Mittwelt?« fragte Eddie.

»Eines der großen Königreiche, die die Welt zu einer Zeit vor dieser beherrscht haben. Ein Königreich der Hoffnung und des Wissens und des Lichts – woran wir uns in meinem Land auch klammern wollten, bevor die Dunkelheit uns ebenfalls überrollt hat. Eines Tages werde ich euch alle alten Geschichten erzählen, wenn Zeit dazu ist… zumindest die, die ich kenne. Sie bilden einen gewaltigen Gobelin, der wunderschön, aber sehr traurig ist.

Laut den alten Geschichten erhob sich einst eine große Stadt am Rande von Mittwelt – vielleicht so groß wie deine Stadt New York. Inzwischen wird sie zu Ruinen verfallen sein, wenn sie überhaupt noch existiert. Aber es könnten Menschen dort sein… oder Ungeheuer… oder beides. Wir müssen auf der Hut sein.«

Er streckte die zweifingrige rechte Hand aus und berührte die Inschrift. »Mittwelt«, sagte er mit leiser, meditativer Stimme. »Wer hätte gedacht…« Er verstummte.

»Nun, da kann man nichts machen, oder?« fragte Eddie.

Der Revolvermann schüttelte den Kopf. »Nein, nichts.«

»Ka«, sagte Susannah plötzlich, worauf beide sie ansahen.

 

 

10

 

Es blieben noch zwei Stunden Tageslicht, daher zogen sie weiter. Die Straße folgte dem Pfad des Balkens nach Südosten, und wenig später vereinigten sich zwei weitere überwucherte Straßen – schmalere – mit der, auf der sie sich befanden. An einer Seite verliefen die moosbewachsenen, verfallenen Überreste einer einstmals gigantischen Steinmauer. In der Nähe saßen ein Dutzend fette Billy-Bumbler und betrachteten die Pilger mit ihren seltsamen goldumrandeten Augen. Eddie fand, sie sahen aus wie Geschworene, denen der Sinn nach Hängen steht.

Die Straße wurde breiter und besser erhalten. Zweimal kamen sie an den Ruinen längst verlassener Gebäude vorbei. Das zweite, sagte Roland, hätte eine Windmühle sein können. Susannah meinte, es sah aus, als würde es darin spuken. »Das würde mich nicht überraschen«, entgegnete der Revolvermann. Sein kalter, nüchterner Tonfall machte sie beide frösteln.

Als die Dunkelheit sie zur Rast zwang, wuchsen die Bäume schon dünner, und die Brise, die sie den ganzen Tag umspielt hatte, wurde zu einem leichten, warmen Wind. Vor ihnen stieg das Land weiter an.

»In ein oder zwei Tagen werden wir die Bergkuppe erreicht haben«, sagte Roland. »Dann werden wir sehen.«

»Was sehen?« fragte Susannah, aber Roland zuckte nur die Achseln.

An diesem Abend fing Eddie wieder an zu schnitzen, aber ohne richtige Inspiration. Die Zuversicht und das Glücksgefühl, welche ihn erfüllt hatten, als der Schlüssel langsam Form annahm, waren von ihm gewichen. Seine Finger fühlten sich ungeschickt und klobig an. Zum erstenmal seit Monaten dachte er sehnsüchtig daran, wie schön es wäre, etwas Heroin zu haben. Nicht viel; er war sicher, ein Tütchen zu einem Nickel und ein zusammengerollter Dollarschein würden dafür sorgen, daß er diese kleine Schnitzarbeit in Null Komma nichts hinter sich brachte.

»Worüber lachst du, Eddie?« fragte Roland. Er saß auf der anderen Seite des Lagerfeuers; die niederen, windgepeitschten Flammen tanzten kapriziös zwischen ihnen.

»Habe ich gelächelt?«

»Ja.«

»Ich habe nur daran gedacht, wie dumm manche Menschen sein können – man setzt sie in ein Zimmer mit sechs Türen, und sie laufen trotzdem gegen die Wände. Und dann haben sie auch noch die Dreistigkeit, sich darüber zu beschweren.«

»Wenn man Angst vor dem hat, was sich hinter den Türen befinden könnte, ist es vielleicht sicherer, gegen die Wände zu laufen«, sagte Susannah.

Eddie nickte. »Vielleicht.«

Er arbeitete langsam und bemühte sich, die Formen in dem Holz zu sehen – ganz besonders die kleine S-Form. Er stellte fest, daß sie ziemlich vage geworden war.

Bitte, lieber Gott, hilf mir, daß ich das nicht versaue, dachte er, hatte aber schreckliche Angst, er könnte schon damit angefangen haben. Schließlich gab er auf, reichte den Schlüssel (den er kaum verändert hatte) wieder dem Revolvermann und legte sich unter eines der Felle. Fünf Minuten später hatte der Traum von dem Jungen und dem alten Spielplatz in der Markey Avenue wieder angefangen.

 

 

11

 

Jake verließ das Gebäude gegen Viertel vor sieben und hatte somit noch über acht Stunden totzuschlagen. Er überlegte sich, ob er gleich mit dem Zug nach Brooklyn fahren sollte, entschied aber, daß das keine gute Idee war. Ein Junge, der nicht in der Schule war, erregte im Hinterland mehr Aufmerksamkeit als im Zentrum einer Großstadt, und wenn er wirklich nach der Stelle suchen mußte, wo er und der Junge sich treffen sollten, war er jetzt schon angeschmiert.

Null Problemo, hatte der Junge im gelben T-Shirt mit dem grünen Stirnband gesagt. Du hast den Schlüssel und die Rose gefunden, oder nicht? Mich wirst du auf dieselbe Weise finden.

Aber Jake konnte sich nicht mehr erinnern, wie er den Schlüssel und die Rose denn nun genau gefunden hatte. Er erinnerte sich nur noch an das Gefühl der Freude und Gewißheit, die sein Herz und sein Denken erfüllt hatten. Er konnte nur hoffen, daß dies wieder passieren würde. Bis dahin mußte er in Bewegung bleiben. Das war die beste Methode, in New York nicht aufzufallen.

Er ging fast den ganzen Weg zur First Avenue, dann den Weg zurück, den er gekommen war, nur ging er jedesmal ein Stückchen stadteinwärts, während er dem Muster der grünen Fußgängerampeln folgte – vielleicht weil er tief im Innersten wußte, daß auch sie dem Balken dienten. Gegen zehn Uhr kam er zum Metropolitan Museum of Art an der Fifth Avenue. Ihm war heiß, er schwitzte und war deprimiert. Er wollte etwas, dachte aber, er sollte sein bißchen Geld so lange wie möglich zusammenhalten. Er hatte jeden Cent aus der Spardose neben seinem Bett genommen, aber es waren nur acht Dollar, plus minus ein paar Cent.

Eine Gruppe Schulkinder versammelte sich zur Führung. Öffentliche Schule, da war Jake ganz sicher. Sie waren alle so leger gekleidet wie er selbst. Keine Blazer von Paul Stuart, keine Krawatten, keine Bundfaltenhosen, keine einfachen kurzen Röcke, die in Kaufhäusern wie Miß So Pretty oder Tweenity ein Vermögen kosteten. Bei denen handelte es sich von Kopf bis Fuß um Woolworth. Jake stellte sich, einer Eingebung folgend, am Ende der Reihe auf und folgte ihnen ins Museum.

Die Führung dauerte eine Stunde und fünfzehn Minuten. Jake genoß sie. Das Museum war still. Noch besser, es war klimatisiert. Und die Bilder waren hübsch. Ganz besonders faszinierten ihn einige Bilder des Alten Westens von Frederick Remington und ein großes Gemälde von Thomas Hart Benton, auf dem eine Dampflokomotive zu sehen war, die über die großen Ebenen Richtung Chicago fuhr, während zähe Farmer in blauen Overalls und Strohhüten auf den Feldern standen und zusahen. Keiner der Lehrer, die die Gruppe begleiteten, bemerkte ihn – erst am Ende. Dann klopfte ihm eine strenge Frau im engen blauen Hosenanzug auf die Schulter und fragte ihn, wer er war.

Jake hatte sie nicht kommen sehen, und einen Moment setzte sein Denken aus. Ohne zu wissen, was er tat, steckte er die Hand in die Tasche und umklammerte den Schlüssel. Sofort wurde sein Kopf wieder klar, und er beruhigte sich wieder.

»Meine Gruppe ist oben«, sagte er und lächelte schuldbewußt. »Wir sollen uns die moderne Kunst ansehen, aber die Bilder hier unten gefallen mir viel besser, weil es richtige Bilder sind. Daher bin ich… Sie wissen schon…«

»Ausgerissen?« half die Lehrerin aus. Ihre Mundwinkel zuckten, ein unterdrücktes Lächeln.

»Nun, ich betrachte es eher als französischen Urlaub.« Die Worte sprudelten ihm einfach aus dem Mund.

Die Schüler, die Jake mittlerweile anstarrten, sahen nur verwirrt drein, aber die Lehrerin lachte tatsächlich. »Du weißt entweder nicht oder hast vergessen«, sagte sie, »daß Deserteure in der französischen Fremdenlegion erschossen worden sind. Ich würde vorschlagen, du begibst dich sofort wieder zu deiner Klasse, junger Mann.«

»Ja, Ma’am. Danke. Inzwischen müßten sie sowieso fast durch sein.«

»Von welcher Schule?«

»Markey Academy«, sagte Jake. Auch das kam einfach so heraus.

Er ging nach oben und lauschte dem körperlosen Echo von Schritten und Stimmen im gewaltigen Raum des Rundgangs und fragte sich, warum er das gesagt hatte. Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie von einer Schule namens Markey Academy gehört.

 

 

12

 

Er wartete eine Weile in der oberen Lobby, dann stellte er fest, daß ein Aufseher ihn mit wachsendem Interesse betrachtete, und überlegte sich, daß es nicht klug wäre, noch länger zu warten – er konnte nur hoffen, daß die Klasse, der er sich vorübergehend angeschlossen hatte, schon gegangen war.

Er sah auf die Armbanduhr, verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die, wie er inbrünstig hoffte, nach Herrje! Wie spät es schon ist! aussah, und stapfte nach unten. Die Klasse – und die hübsche farbige Lehrerin, die über den Ausdruck französischer Urlaub gelacht hatte – waren verschwunden, und Jake dachte, daß es besser wäre, wenn er sich auch davonmachte. Er würde noch eine Weile herumschlendern – langsam, wegen der Hitze – und dann mit der U-Bahn fahren.

An der Ecke Broadway und Forty-second machte er bei einer Würstchenbude halt und opferte einen Teil seines knappen Geldvorrats für ein Würstchen und ein Nehi. Er setzte sich auf die Treppe eines Bankhauses, um sein Mittagessen zu sich zu nehmen, was sich als schwerer Fehler erwies.

Ein Polizist, der den Schlagstock in einer Reihe komplizierter Manöver schwang, kam auf ihn zu. Er schien sich auf nichts anderes zu konzentrieren, aber als er auf der Höhe von Jake war, stieß er den Stock blitzschnell ins Futteral und drehte sich zu Jake um.

»Sag mal, mein Freund«, begann er. »Keine Schule heute?«

Jake hatte das Würstchen hinuntergeschlungen, aber nun blieb ihm der letzte Bissen im Hals stecken. Das war ein verdammtes Pech. Sie befanden sich am Times Square, dem Abschaumzentrum Amerikas; hier trieben sich überall Dealer, Junkies, Huren und Kinderschänder herum… aber dieser Bulle achtete nicht auf sie, sondern auf ihn.

Jake schluckte mühsam, dann antwortete er: »In meiner Schule finden heute die Abschlußprüfungen statt. Ich mußte heute nur eine Arbeit schreiben. Dann durfte ich gehen.« Er verstummte, und der stechende, suchende Blick in den Augen des Polizisten gefiel ihm nicht. »Ich hatte die Erlaubnis«, fügte er unbehaglich hinzu.

»Hm-hmm. Kann ich einen Ausweis sehen?«

Jake verlor den Mut. Hatten seine Eltern die Polizei schon benachrichtigt? Nach dem gestrigen Abenteuer war das ziemlich wahrscheinlich. Unter normalen Umständen würde die Polizei von New York einem vermißten Kind nicht eben viel Beachtung schenken, zumal es nur einen halben Tag fort war, aber sein Vater war eine große Nummer beim Sender und brüstete sich immer damit, daß er sämtliche Hebel in Bewegung setzen konnte. Jake bezweifelte, daß dieser Polizist ein Bild von ihm hatte… aber die Personalien, das war gut möglich.

»Nun«, sagte Jake widerwillig, »ich habe meine Schülerfahrkarte von Mittwelt-Eisenbahnen, aber das ist alles.«

»Mittwelt-Eisenbahnen? Nie gehört. Wo ist das? Queens?«

»Mittstadt meine ich, Mid-Town«, sagte Jake. Herrgott, das ging völlig schief, und zwar schnell. »Wissen Sie? Auf der Thirty-third?«

»Hm-hmmm. Das genügt.« Der Polizist streckte die Hand aus.

Ein Schwarzer, dem Dreadlocks über die Schultern des zitronengelben Anzugs fielen, sah herüber. »Nimmn hopps, Wachmasta«, sagte diese Erscheinung fröhlich. »Reißm sein klein weißn Arsch auf! Tu deine Flicht, soffott!«

»Halt die Klappe und schieß in den Wind, Eli«, sagte der Polizist, ohne sich umzudrehen.

Eli lachte, ließ mehrere Goldzähne blitzen und ging seines Wegs.

»Warum fragen Sie ihn nicht nach einem Ausweis«, fragte Jake.

»Weil ich momentan dich frage. Rück ihn raus, Junge.«

Der Bulle kannte entweder seinen Namen oder spürte, daß etwas faul war – was eigentlich nicht überraschend sein sollte, war er doch der einzige weiße Junge in dieser Gegend, der nicht unterwegs war. Es lief so oder so auf eines hinaus: Es war hirnrissig gewesen, hier sein Mittagessen zu verzehren. Aber seine Füße hatten weh getan, und er hatte Hunger gehabt – großen Hunger.

Du wirst mich nicht aufhalten, dachte Jake. Ich kann nicht zulassen, daß du mich aufhältst. Ich soll mich heute nachmittag mit jemandem in Brooklyn treffen… und ich werde dort sein.

Anstatt in die Brieftasche zu greifen, griff er in die Hosentasche und holte den Schlüssel heraus. Er hielt ihn dem Polizisten hin; der Sonnenschein des späten Vormittags ließ helle Flecken über Wangen und Stirn des Mannes tanzen. Er riß die Augen auf.

»He!« keuchte er. »Was hast du da, Junge?«

Er streckte die Hand danach aus, worauf Jake den Schlüssel ein wenig zurückzog. Die gespiegelten Lichtkreise tanzten hypnotisch auf dem Gesicht des Polizisten. »Sie müssen ihn nicht nehmen«, sagte Jake. »Sie können meinen Namen auch so lesen, oder nicht?«

»Ja, klar.«

Das Gesicht des Polizisten war nicht mehr neugierig. Er sah nur noch den Schlüssel an. Sein Blick war starr und weit, aber nicht völlig leer. Jake las Erstaunen und unerwartetes Glücksgefühl in diesem Blick. Schau an, dachte Jake. Wohin ich gehe, verbreite ich Freude und guten Willen. Die Frage ist, was mache ich jetzt?

Eine junge Frau (keine Bibliothekarin, das sah man an den Hot pants aus grüner Seide und der durchsichtigen Bluse) kam mit purpurroten Fick-mich-Schuhen mit zehn Zentimeter hohen Pfennigabsätzen den Gehweg entlanggewedelt und -getänzelt. Sie sah erst den Polizisten an, dann Jake, weil sie wissen wollte, wen sich der Bulle vorgeknöpft hatte. Als sie den Schlüssel sah, klappte sie den Mund auf und blieb ruckartig stehen. Sie griff mit einer Hand zum Hals. Ein Mann stieß mit ihr zusammen und sagte ihr, sie solle doch verdammt noch mal aufpassen, wohin sie ging. Die junge Frau, die höchstwahrscheinlich keine Bibliothekarin war, schenkte ihm nicht die geringste Beachtung. Jetzt sah Jake, daß noch vier oder fünf andere Passanten stehengeblieben waren. Alle starrten den Schlüssel an. Sie versammelten sich, wie es die Leute manchmal bei einem sehr guten Taschenspieler machten, der an einer Straßenecke seinem Gewerbe nachging.

Du stellst es echt prima an, unauffällig zu sein, dachte er. Super. Er sah über die Schulter des Polizisten, und sein Blick fiel auf ein Schild auf der anderen Straßenseite. Denby’s Discount-Drogerie stand darauf.

»Mein Name ist Tom Denby«, sagte er zu dem Polizisten. »Das steht auch hier auf meinem Discountbowlingausweis – richtig?«

»Richtig, richtig«, hauchte der Polizist. Er hatte jegliches Interesse an Jake verloren; er interessierte sich nur noch für den Schlüssel. Die kleinen Münzen reflektierten Lichts tanzten und kreisten auf seinem Gesicht.

»Und Sie suchen nicht nach jemand mit Namen Tom Denby, oder?«

»Nein«, sagte der Polizist. »Nie von ihm gehört.«

Jetzt hatten sich mindestens ein halbes Dutzend Menschen um den Polizisten versammelt, die alle stumm und staunend den silbernen Schlüssel in Jakes Hand anstarrten.

»Also kann ich gehen, ja?«

»Hm? Oh! Oh, klar – geh, bei deinem Vater!«

»Danke«, sagte Jake, aber einen Augenblick war er nicht sicher, wie er gehen sollte. Er steckte in einer stummen Meute Zombies, und jeden Augenblick wurden es mehr. Ihm wurde klar, daß sie nur kamen, um zu sehen, was das alles zu bedeuten hatte, aber diejenigen, die den Schlüssel sahen, blieben wie angewurzelt stehen.

Er stand auf, ging langsam die breiten Treppenstufen der Bank hinauf und hielt den Schlüssel vor sich wie ein Löwenbändiger einen Stuhl. Als er den breiten betonierten Vorplatz oben erreicht hatte, steckte er ihn wieder in die Hosentasche, drehte sich um und lief weg.

Er blieb nur einmal am gegenüberliegenden Ende des Platzes stehen und drehte sich um. Die kleine Gruppe der Menschen, die unmittelbar um die Stelle herumgestanden waren, wo er sich befunden hatte, erwachte langsam wieder zum Leben. Sie sahen einander mit benommenen Gesichtern an und gingen weiter. Der Polizist sah mit leerem Blick nach rechts, nach links und dann zum Himmel, als wollte er sich erinnern, wie er hierhergekommen war und was er vorgehabt hatte. Jake hatte genug gesehen. Es wurde Zeit, daß er seinen Kadaver zu einer U-Bahn-Haltestelle schleppte und nach Brooklyn fuhr, bevor noch etwas Unheimliches geschehen konnte.

 

 

13

 

Um Viertel vor zwei an diesem Nachmittag schritt er langsam die Treppe der U-Bahn-Haltestelle hinauf und stand an der Ecke Castle und Brooklyn Avenues, wo er die Sandsteintürme von Co-Op City betrachtete. Er wartete auf das Gefühl von Gewißheit und Richtungssinn – das Gefühl, das so war, als könnte er sich vorwärts in der Zeit erinnern. Es stellte sich nicht ein. Nichts stellte sich ein. Er war nur ein gewöhnlicher Junge, der an einer heißen Straßenecke in Brooklyn stand, wo sein kurzer Schatten wie ein müdes Schoßtier zu seinen Füßen lag.

Nun, ich bin hier… und was soll ich jetzt tun?

Jake mußte feststellen, daß er nicht die leiseste Ahnung hatte.

 

 

14

 

Rolands kleine Gruppe Reisender kam zur Bergkuppe des langen, sanft ansteigenden Hangs, den sie erklommen hatten, und blickten nach Südosten. Lange Zeit sagte niemand etwas. Susannah machte zweimal den Mund auf und wieder zu. Zum erstenmal in ihrem ganzen Leben war sie vollkommen sprachlos.

Vor ihnen döste eine fast endlose Ebene im schrägen, goldenen Licht des Sommernachmittags. Das Gras war üppig, smaragdgrün und sehr hoch. Baumgruppen mit langen, schlanken Stämmen und breiten, ausladenden Kronen sprenkelten diese Ebene. Susannah dachte, daß sie einmal bei einem Diavortrag über Australien ähnliche Bäume gesehen hatte.

Die Straße, der sie gefolgt waren, verlief kurvig die andere Seite des Berges hinab und erstreckte sich dann schnurgerade nach Südosten, ein helles, weißes Band, das das Gras teilte. Im Westen konnte sie einige Meilen entfernt eine Herde großer Tiere friedlich grasen sehen. Sie sahen wie Büffel aus. Im Osten schob der letzte Ausläufer des Waldes eine kurvige Halbinsel in das Grasland. Dieser Ausläufer war ein dunkler, verfilzter Umriß, der wie ein Unterarm mit einer geballten Faust am Ende aussah.

Ihr wurde klar, daß das die Richtung war, in die alle Bäche und Flüsse strömten, auf die sie gestoßen waren. Sie waren Nebenflüsse dieses gewaltigen Stroms, der aus diesem ausgestreckten Arm des Waldes herauskam und träge und verträumt unter der Sommersonne dahin zum östlichen Rand der Welt floß. Er war breit, dieser Fluß, schätzungsweise zwei Meilen von einem Ufer zum anderen.

Und sie konnte die Stadt sehen.

Sie lag direkt voraus, eine dunstige Ansammlung von Türmen und Nadeln, die über den fernen Rand des Horizonts aufragten. Diese luftigen Bauten hätten hundert Meilen entfernt sein können, oder zweihundert, oder vierhundert. Die Luft dieser Welt schien vollkommen klar zu sein, was das Schätzen von Entfernungen zu einem vergeblichen Unterfangen machte. Sie war nur sicher, daß der Anblick dieser schemenhaften Türme sie mit stummem Staunen erfüllte… und einem brennenden, quälenden Heimweh nach New York. Sie dachte: Ich glaube, ich würde fast alles tun, um noch einmal die Silhouette von Manhattan von der Triborough Bridge aus zu sehen.

Dann mußte sie lächeln, denn das entsprach nicht der Wahrheit. Die Wahrheit war, sie würde Rolands Welt gegen nichts eintauschen. Ihre stummen, geheimnisvollen und endlosen Weiten machten süchtig. Und ihr Geliebter war hier. In New York – jedenfalls dem New York ihrer Zeit – wäre sie Hohn und Spott ausgesetzt gewesen, Zielscheibe grausamer Streiche eines jeden Idioten: eine sechsundzwanzigjährige schwarze Frau mit ihrem käseblassen Liebhaber, der drei Jahre jünger war als sie und die Angewohnheit hatte, zu plappern wie eine Quasselstrippe, wenn er nervös wurde. Ihr käseblasser Liebhaber, der bis vor acht Monaten den Affen der Sucht auf dem Rücken getragen hatte. Hier war niemand, der hänselte oder lachte. Hier zeigte niemand mit Fingern auf sie. Hier existierten nur Roland, Eddie und sie, die drei letzten Revolverleute der Welt.

Sie ergriff Eddies Hand und spürte diese warm und tröstlich auf ihrer.

Roland deutete voraus. »Das muß der Fluß Send sein«, sagte er mit leiser Stimme. »Ich hätte nie gedacht, daß ich ihn jemals in meinem Leben sehen würde… ich war nicht einmal sicher, ob es ihn tatsächlich gibt, wie bei den Wächtern.«

»Wie schön«, murmelte Susannah. Sie konnte den Blick nicht von der weiten Landschaft nehmen, die üppig in der Wiege des Sommers döste. Sie stellte fest, daß sie mit den Augen den Schatten der Bäume folgte, die meilenweit über die Ebene zu fallen schienen, da die Sonne sich dem Horizont näherte. »So müssen unsere großen Savannen ausgesehen haben, bevor sie besiedelt wurden – sogar bevor die Indianer kamen.« Sie hob die freie Hand und deutete auf die Stelle, wo die Große Straße zum Punkt wurde. »Da ist unsere Stadt«, sagte sie. »Richtig?«

»Ja.«

»Sieht gut aus«, sagte Eddie. »Ist das möglich, Roland? Könnte sie noch weitgehend intakt sein? Haben die Altvorderen so gut gebaut?«

»In diesen Zeiten ist alles möglich«, sagte Roland, aber er hörte sich zweifelnd an. »Du solltest dir aber nicht zu viele Hoffnungen machen, Eddie.«

»Hm? Nein.« Aber Eddie machte sich Hoffnungen. Die Silhouette, die sich vage abzeichnete, hatte Heimweh im Herzen von Susannah geweckt; in Eddie entfachte sie ein plötzliches Feuer der Entschlossenheit. Wenn die Stadt noch existierte – was eindeutig der Fall war –, dann war sie vielleicht noch bewohnt, und möglicherweise nicht nur von den nichtmenschlichen Wesen, die Roland unter den Bergen gesehen hatte. Die Stadtbewohner konnten

(Amerikaner, flüsterte Eddies Unterbewußtsein)

intelligent und hilfreich sein; sie konnten sogar den Unterschied zwischen Erfolg und Scheitern der Suche der Pilger ausmachen… sogar über Leben und Tod. In Eddies Kopf erstrahlte hell eine Vision (die teilweise aus Filmen wie Starfight und Der dunkle Kristall stammte): ein Rat runzliger, aber würdevoller Ältester, die ihnen ein erstklassiges Menü aus den unverseuchten Vorratskammern unter der Stadt vorsetzten (oder vielleicht aus speziellen Gärten, die unter Umweltkuppeln gehegt wurden) und die, während er und Roland und Susannah sich besinnungslos aßen, genau erklären würden, was vor ihnen lag und was alles zu bedeuten hatte. Ihr Abschiedsgeschenk für die Weggefährten würde aus einer preisgekrönten Touristenkarte bestehen, auf der der beste Weg zum Dunklen Turm rot eingezeichnet war.

Eddie kannte den Ausdruck Deus ex machina nicht, aber er wußte – weil er inzwischen hinreichend erwachsen geworden war –, daß solche weisen und gütigen Männer hauptsächlich in Comics und B-Filmen zu Hause waren. Dennoch war die Vorstellung berauschend: eine Enklave der Zivilisation in dieser gefährlichen, weitgehend menschenleeren Welt; weise Elfen, die ihnen genau sagten, was zum Henker sie eigentlich tun mußten. Und der märchenhafte Umriß der Stadt, der sich in der dunstigen Silhouette offenbarte, machte diese Vorstellung immerhin möglich. Selbst wenn die Stadt verlassen und die Bevölkerung durch den längst vergangenen Ausbruch einer Seuche oder chemische Kriegführung ausgelöscht worden war, konnte sie ihnen als gigantische Werkzeugkiste dienen – ein riesiger Laden mit Überschußbeständen aus Armeebesitz, wo sie sich für die harte Reise ausrüsten konnten, die, wie Eddie sicher wußte, wahrscheinlich vor ihnen lag. Davon abgesehen war er ein Großstadtkind, dort geboren und aufgewachsen, daher übte der Anblick dieser hohen Türme eine natürliche Faszination auf ihn aus.

»Na gut!« sagte er und lachte in seiner Aufregung fast laut. »Zwo, drei, vier, marschieren wir! Laßt diese verdammten weisen Elfen um mich sein!«

Susannah sah ihn fragend an, lächelte aber. »Was schwallst du da, weißer Junge?«

»Nichts. Vergiß es. Ich will nur weiter. Was meinst du, Roland? Möchtest du…«

Aber etwas in Rolands Gesicht oder direkt darunter – etwas Verlorenes, Verträumtes – veranlaßte ihn, den Mund zu halten und Susannah einen Arm um die Schulter zu legen, als wollte er sie beschützen.

 

 

15

 

Nach einem kurzen wegwerfenden Blick auf die Silhouette der Stadt war Rolands Aufmerksamkeit auf etwas anderes gelenkt worden, das ein gutes Stück näher an ihrer momentanen Position lag und ihn mit Unruhe und Vorahnungen erfüllte. Er hatte so etwas schon einmal gesehen, und das letzte Mal, als er darauf getroffen war, war Jake bei ihm gewesen. Er erinnerte sich, wie sie endlich aus der Wüste herausgekommen waren und die Spuren des Mannes in Schwarz sie durch die Vorgebirge zu den Bergen geführt hatte. Ein harter Weg war es gewesen, aber wenigstens hatten sie wieder Wasser gehabt. Und Gras.

Eines Nachts war er aufgewacht und hatte festgestellt, daß Jake fort war. Er hatte erstickte, verzweifelte Schreie von einem Weidenhain an einem schmalen Bachlauf gehört. Als er sich durch den Hain zur Lichtung gekämpft gehabt hatte, waren die Schreie verstummt. Roland hatte den Jungen an einem Ort gefunden, der dem vor ihnen aufs exakteste glich. Einem Ort der Steine; einem Ort des Opfers; einem Ort, wo ein Orakel wohnte… und sprach, wenn es dazu gezwungen wurde… und tötete, wann immer es konnte.

»Roland?« fragte Eddie. »Was ist denn? Was ist los?«

»Siehst du das?« Roland deutete hinüber. »Das ist ein sprechender Ring. Die Umrisse, die du siehst, sind alle stehende Steine.« Er betrachtete Eddie, den er erstmals in der furchterregenden, aber wunderbaren Luftkutsche in jener seltsamen anderen Welt getroffen hatte, wo die Revolvermänner blaue Uniformen trugen und wo es einen endlosen Vorrat an Zucker, Papier und Wunderdrogen wie Astin gab. Ein seltsamer Ausdruck – eine Vorahnung – dämmerte in Eddies Gesicht. Die strahlende Hoffnung, welche ihn beim Betrachten der Stadt erfüllt hatte, verpuffte und ließ ihn mit einem grauen und trostlosen Ausdruck zurück. Es war der Ausdruck eines Mannes, der den Galgen betrachtet, an dem er bald hängen wird.

Erst Jake und jetzt Eddie, dachte der Revolvermann. Das Rad, welches unser Leben dreht, ist unbarmherzig; es kommt immer wieder zur selben Stelle.

»O Scheiße«, sagte Eddie. Seine Stimme klang trocken und ängstlich. »Ich glaube, das ist die Stelle, wo der Junge durchzukommen versucht.«

Der Revolvermann nickte. »Höchstwahrscheinlich. Es sind dünne Stätten, und es sind anziehende Stellen. Ich bin ihm schon einmal zu so einer Stelle gefolgt. Das Orakel, welches dort hauste, hätte ihn um ein Haar getötet.«

»Woher weißt du das?« wandte sich Susannah an Eddie. »War es ein Traum?«

Er schüttelte nur den Kopf. »Ich weiß nicht. Aber in dem Augenblick, als Roland auf die verdammte Stelle gedeutet hat…« Er verstummte und betrachtete den Revolvermann. »Wir müssen so schnell wie möglich dorthin.« Eddie hörte sich hektisch und furchtsam zugleich an.

»Wird es heute passieren?« fragte Roland. »Heute nacht?«

Eddie schüttelte wieder den Kopf und leckte sich die Lippen. »Das weiß ich auch nicht. Nicht sicher. Heute nacht? Das glaube ich nicht. Die Zeit… ist hier nicht dieselbe wie drüben, wo der Junge ist. In seiner Gegenwart läuft sie langsamer ab. Vielleicht morgen.« Er hatte gegen die Panik gekämpft, aber nun brach sie durch. Er drehte sich um und packte Roland mit kalten, klammen Fingern am Hemdkragen. »Aber ich muß den Schlüssel fertigstellen; und ich muß noch etwas machen und habe nicht die geringste Ahnung, was es ist. Und wenn der Junge stirbt, ist es meine Schuld!«

Der Revolvermann legte die Hände auf die von Eddie und zog diese von seinem Hemd weg. »Reiß dich zusammen.«

»Roland, verstehst du denn nicht…«

»Ich verstehe, daß Winseln und Jammern unser Problem nicht lösen wird. Ich verstehe, daß du das Gesicht deines Vaters vergessen hast.«

»Hör mit dem Scheiß auf! Mein Vater ist mir schnurzegal!« kreischte Eddie hysterisch, und Roland schlug ihm ins Gesicht. Es erzeugte ein Geräusch, als würde ein Zweig brechen.

Eddies Kopf kippte nach hinten; er riß erschrocken die Augen auf. Er starrte den Revolvermann an, dann hob er langsam den Arm und berührte den roten Handabdruck auf der Wange.

»Du Dreckskerl!« flüsterte er. Er ließ die Hand auf den Griff des Revolvers fallen, den er noch an der linken Hüfte trug. Susannah versuchte, ihre Hände dazwischen zu schieben; Eddie stieß sie weg.

Und jetzt muß ich wieder lehren, dachte Roland, aber diesmal lehre ich für mein Leben, glaube ich, nicht nur für seines.

Irgendwo in der Ferne kreischte eine Krähe ihren heiseren Ruf in die Stille, und Roland mußte einen Moment an seinen Falken David denken. Jetzt war Eddie sein Falke… und wie David würde auch Eddie nicht zögern, ihm das Auge auszureißen, wenn er auch nur eine Winzigkeit nachgab.

Oder die Kehle zerfleischen.

»Wirst du mich erschießen? Soll es so zu Ende gehen, Eddie?«

»Mann, ich hab’ dein Gesabbel so verdammt satt«, sagte Eddie. Tränen der Wut trübten seine Sicht.

»Du hast den Schlüssel noch nicht vollendet, aber nicht, weil du Angst davor hast, ihn zu vollenden. Du hast Angst davor, daß du ihn nicht vollenden kannst. Du hast Angst davor, zu den Steinen hinabzugehen, aber nicht, weil du Angst vor dem hast, was kommen könnte, sobald du den Kreis betreten hast. Du hast Angst davor, was nicht kommen könnte. Du hast keine Angst vor der großen Welt, Eddie, sondern vor der kleinen in dir selbst. Du hast das Gesicht deines Vaters vergessen. Also tu es. Erschieß mich, wenn du es wagst. Ich bin es leid, mir dein Gewimmer anzuhören.«

»Hör auf!« rief Susannah. »Begreifst du nicht, daß er es machen wird? Begreifst du nicht, daß du ihn zwingst, es zu tun?«

Roland richtete den Blick auf sie. »Ich zwinge ihn, sich zu entscheiden.« Er sah wieder zu Eddie, und sein runzliges Gesicht war streng. »Du bist aus dem Schatten des Heroins und dem Schatten deines Bruders herausgekommen, mein Freund. Jetzt komm aus deinem eigenen Schatten heraus, wenn du es wagst. Komm schon. Komm raus oder erschieß mich, und bring es hinter dich.«

Einen Augenblick glaubte er, Eddie würde es tatsächlich tun und alles würde hier zu Ende sein, auf diesem hohen Grat unter dem wolkenlosen Sonnenhimmel und im Angesicht der Türme der Stadt, die wie blaue Gespenster am Horizont schimmerten. Dann fing Eddie Wange an zu zucken. Die verkniffene Linie seines Mundes wurde weicher und begann zu zittern. Er nahm die Hand vom Sandelholzgriff von Rolands Revolver. Seine Brust hob sich einmal… zweimal… dreimal. Er machte den Mund auf und ließ seine ganze Verzweiflung und sein Grauen mit einem einzigen stöhnenden Aufschrei entweichen, während er auf den Revolvermann zustapfte.

»Ich habe Angst, du Dummkopf! Begreifst du das denn nicht? Roland, ich habe Angst!«

Er stolperte über die eigenen Füße. Er fiel vornüber. Roland fing ihn und drückte ihn an sich; er roch Schweiß und Schmutz auf der Haut, roch Eddies Tränen und seine Angst.

Der Revolvermann umarmte ihn einen Augenblick, dann drehte er ihn zu Susannah um. Eddie sank neben ihrem Rollstuhl auf die Knie und ließ niedergeschlagen den Kopf hängen. Sie legte ihm eine Hand auf den Nacken, drückte seinen Kopf an ihren Oberschenkel und sagte verbittert zu Roland: »Manchmal hasse ich dich, großer weißer Mann.«

Roland legte die Handballen an die Stirn und drückte fest zu. »Manchmal hasse ich mich selbst.«

»Das hindert dich aber nie, oder?«

Roland antwortete nicht. Er sah Eddie an, der den Kopf an Susannahs Schenkel gedrückt hatte und die Augen fest zusammenkniff. Sein Gesicht war eine Studie des Elends.

Roland schüttelte die lähmende Müdigkeit ab, die ihn veranlassen wollte, den Rest dieser netten Unterhaltung auf einen anderen Tag zu verschieben. Wenn Eddie recht hatte, gab es aber keinen anderen Tag. Jake war fast bereit für den Übergang. Und Eddie war auserwählt worden, dem Jungen als Hebamme in diese Welt zu helfen. Wenn er dazu nicht bereit war, würde Jake beim Transfer sterben, so sicher wie ein Baby erstickt, falls die Nabelschnur um seinen Hals geschlungen ist, wenn der Geburtsvorgang beginnt.

»Steh auf, Eddie.«

Einen Moment dachte er, Eddie würde einfach in seiner kauernden Haltung bleiben und das Gesicht am Bein dieser Frau verbergen. Wenn ja, war alles verloren… und auch das war Ka. Dann erhob sich Eddie langsam. Er stand da und ließ alles – Hände, Schultern, Kopf, Haar – hängen, was nicht gut war, aber er stand immerhin, und das war ein Anfang.

»Sieh mich an.«

Susannah regte sich unbehaglich, aber diesmal sagte sie nichts.

Eddie hob langsam den Kopf und strich sich mit einer zitternden Hand das Haar aus den Augen.

»Dies gehört dir. Es war falsch, daß ich es überhaupt angenommen habe, wie groß meine Schmerzen auch waren.« Roland schloß die Hand um die Wildlederschnur, zog und riß sie ab. Er hielt Eddie den Schlüssel hin. Eddie griff danach wie ein Mann in einem Traum, aber Roland öffnete die Hand nicht sofort.

»Wirst du versuchen zu tun, was getan werden muß?«

»Ja.« Seine Stimme war kaum hörbar.

»Hast du mir etwas zu sagen?«

»Es tut mir leid, daß ich Angst habe.« Etwas Schreckliches klang in Eddies Stimme mit, was Roland im Herzen weh tat, und er überlegte sich, daß er wußte, was es war: Er hatte den letzten Rest von Eddies Krankheit vor sich, der unter Qualen zwischen ihnen dreien verendete. Man konnte ihn nicht sehen, aber Roland konnte seine sterbenden Schreie hören und versuchte, sich taub zu stellen.

Wieder etwas, das ich im Namen des Turms getan habe. Meine Liste wird immer länger, und der Tag, da ich sie vorlegen muß wie ein Trunkenbold die Rechnung in einer Schänke, rückt immer näher. Wie soll ich sie jemals bezahlen?

»Ich will keine Entschuldigung, am allerwenigsten dafür, daß du Angst hast«, sagte er. »Was wären wir ohne Angst? Tolle Hunde mit Schaum vor dem Maul und Scheiße, die an unseren Aftern trocknet.«

»Was willst du dann?« schrie Eddie. »Du hast alles andere genommen – alles, was ich zu geben hatte! Also was willst du noch von mir?«

Roland hielt den Schlüssel, der ihre Hälfte von Jake Chambers’ Rettung war, in der geballten Faust und sagte nichts. Er sah Eddie direkt in die Augen, und die Sonne schien auf die weite grüne Ebene und das blaugraue Band des Flusses Send, und irgendwo in der Ferne krächzte die Krähe erneut im goldenen Licht dieses dämmernden Sommernachmittags.

Nach einer Weile leuchtete Verstehen in Eddie Deans Augen auf.

Roland nickte.

»Ich habe das Gesicht…« Eddie verstummte. Neigte den Kopf. Schluckte. Sah den Revolvermann wieder an. Das Ding, das zwischen ihnen gestorben war, war jetzt fortgegangen – Roland wußte es. Das Ding war nicht mehr. Einfach so. Hier, auf dieser sonnigen, windigen Kuppe am Rand der Welt, war es für immer dahingegangen. »Ich habe das Gesicht meines Vaters vergessen, Revolvermann… und ich erflehe deine Verzeihung.«

Roland machte die Hand auf und gab die geringe Last des Schlüssels demjenigen zurück, dem es vom Ka vorbestimmt war, ihn zu tragen. »Sprich nicht so, Revolvermann«, sagte er in der Hochsprache. »Dein Vater sieht dich genau… liebt dich von Herzen… und ich ebenso.«

Eddie nahm den Schlüssel in die Hand und wandte sich ab, während Tränen noch auf seinem Gesicht trockneten. »Gehen wir«, sagte er, und dann gingen sie den langgezogenen Hang hinab zu der Ebene, die sich dahinter erstreckte.

 

 

16

 

Jake ging langsam die Castle Avenue entlang – vorbei an Pizzerien und Bars und Lebensmittelläden, wo alte Frauen mit argwöhnischen Gesichtern in den Kartoffeln kramten und die Tomaten drückten. Die Gurte des Ranzens hatten ihm die Haut unter den Armen aufgescheuert, und die Füße taten ihm weh. Er ging unter einem Digitalthermometer vorbei, das verkündete, daß die Lufttemperatur dreißig Grad betrug. Jake hatte den Eindruck, als wären es eher vierzig.

Vor ihm bog ein Polizeiauto in die Straße ein. Jake interessierte sich sofort über die Maßen für Gartengeräte im Schaufenster einer Eisenwarenhandlung. Er sah das Spiegelbild des schwarzweißen Autos in der Scheibe und bewegte sich erst wieder, als es fort war.

He, Jake, alter Junge – wo genau möchtest du eigentlich hin?

Er hatte nicht die geringste Ahnung. Er war sicher, daß der Junge, nach dem er suchte – der Junge mit dem grünen Stirnband und dem gelben T-Shirt mit der Aufschrift KEIN MOMENT LANGEWEILE IN MITTWELT –, irgendwo in der Nähe war; na und? Für Jake war er nicht mehr als eine Nadel im Heuhaufen Brooklyn.

Er kam an einer Seitengasse vorbei, die mit einem dichten Wirrwarr aufgesprühter Graffiti geschmückt war. Es handelte sich weitgehend um Namen – EL TIANTE 91, SPEEDY GONZALES, MOTORVAN MIKE –, aber hier und da waren auch ein paar Sinnsprüche für die Klugen eingestreut, und auf zwei fiel Jakes Blick.

 

EINE ROSE IST EINE ROSE IST EINE ROSE

 

war mit Sprühfarbe, die zum selben blaßrosa Farbton verblichen war wie die Rose auf dem unbebauten Grundstück, wo Tom und Gerry’s künstlerisches Delikatessengeschäft gestanden hatte, auf die Backsteinmauer geschrieben worden. Darunter hatte Jemand in einem so dunklen Blau, daß es fast schwarz wirkte, das folgende Merkwürdige geschrieben:

 

ICH ERFLEHE DEINE VERZEIHUNG.

 

Was das wohl bedeutete? fragte sich Jake. Er wußte es nicht – möglicherweise etwas aus der Bibel –, aber es schlug ihn in den Bann wie – angeblich – das Auge einer Schlange einen Vogel. Schließlich ging er langsam und nachdenklich weiter. Es war fast halb drei, sein Schatten wurde allmählich länger.

Vor sich sah er einen alten Mann, der sich, soweit es ging, im Schatten hielt und sich auf einen Gehstock stützte, die Straße entlanggehen. Hinter seiner dicken Brille schienen seine Augen wie Eier im Glas zu schwimmen.

»Ich erflehe Ihre Verzeihung, Sir«, sagte Jake, ohne nachzudenken oder sich selbst zu hören.

Der alte Mann drehte sich um, sah ihn an, blinzelte vor Überraschung und Angst. »Laß mich in Ruh, Junge«, sagte er. Er hob den Gehstock und schüttelte ihn linkisch in Jakes Richtung.

»Wissen Sie zufällig, ob es hier in der Gegend einen Ort namens Markey Academy gibt, Sir?« Dies war eine völlige Verzweiflungstat, aber etwas anderes fiel ihm nicht ein.

Der alte Mann ließ langsam den Stock sinken – was nur an dem Sir lag. Er betrachtete Jake mit dem irren Interesse eines alten und fast senilen Menschen. »Wieso bist du nicht in der Schule, Junge?«

Jake lächelte resigniert. Das wurde langsam alt. »Abschlußprüfung. Ich bin hierhergekommen, um einen alten Freund zu treffen, der die Markey Academy besucht, das ist alles. Tut mir leid, daß ich Sie behelligt habe.«

Er ging um den alten Mann herum (und hoffte, dieser würde ihm nicht aus Jux und Dollerei im Vorübergehen eine mit dem Stock auf den Arsch geben) und war schon fast an der Ecke, als der alte Mann rief: »Junge! Juuuuunge!«

Jake drehte sich um.

»Eine Markey Akidimy gibt es hier nicht«, sagte der alte Mann. »Ich wohn seit sweiundswansig Jahren hier, ich müßte es wissen. Markey Avenue, aber keine Markey Akidimy.«

Jakes Magen verkrampfte sich plötzlich aufgeregt. Er ging einen Schritt auf den alten Mann zu, der sofort wieder den Stock zur Verteidigung hob. Jake blieb augenblicklich stehen und ließ einen Sicherheitsabstand von zwanzig Schritten zwischen ihnen. »Wo ist die Markey Avenue, Sir? Können Sie mir das sagen?«

»Aber logisch«, sagte der alte Mann. »Hab’ ich nicht grade gesagt, daß ich seit sweiundswansig Jahren hier lebe? Swei Blogs entfernt. Beim Majestic Theatre lings. Aber ich gann dir gleich sagen, Junge, da gibt es geine Markey Akidimy.«

»Danke, Sir! Danke!«

Jake drehte sich um und sah die Castle Avenue hinauf. Ja – zwei Blocks weiter konnte er den unverwechselbaren Baldachin eines Kinos über den Gehweg ragen sehen. Er wollte darauf zulaufen, dann überlegte er sich, daß das Aufmerksamkeit erwecken könnte, und machte langsamer.

Der alte Mann sah ihm nach. »Sir!« sagte er in einem Tonfall gelinden Staunens zu sich selbst. »Sir, also wirklich!«

Er kicherte rostig und ging weiter.

 

 

17

 

Rolands Gruppe machte bei Dämmerung halt. Der Revolvermann hob eine flache Grube aus und entfachte ein Feuer. Sie brauchten es nicht zum Kochen, aber sie brauchten es dennoch. Eddie brauchte es. Wenn er seine Schnitzerei beenden wollte, brauchte er Licht zum Arbeiten.

Der Revolvermann sah sich um und erblickte Susannah, eine dunkle Silhouette vor dem aquamarinfarbenen, dunkelnden Himmel, aber Eddie konnte er nicht sehen.

»Wo ist er?« fragte er.

»Ein Stück die Straße runter. Du läßt ihn jetzt in Ruhe, Roland – du hast schon genug angerichtet.«

Roland nickte, beugte sich über die Feuerstelle und schlug mit einem abgenutzten Stahlstück auf einen Feuerstein. Bald brannte das Anzündholz, das er gesammelt hatte. Er legte nach und nach kleinere Holzscheite darauf und wartete, daß Eddie zurückkehren würde.

 

 

18

 

Eine halbe Meile den Weg zurück, von wo sie gekommen waren, saß Eddie mit überkreuzten Beinen mitten auf der Großen Straße, hielt den unvollendeten Schlüssel in der Hand und sah zum Himmel. Er sah die Straße entlang, erblickte das Leuchten des Feuers und wußte genau, was Roland tat… und warum. Dann wandte er den Blick wieder himmelwärts. Er hatte sich noch nie so einsam gefühlt, so ängstlich.

Der Himmel war riesig – er konnte sich nicht erinnern, daß er jemals soviel endlosen Raum gesehen hatte, so eine ununterbrochene Weite. Er kam sich ungeheuer winzig vor und überlegte sich, daß daran sicher nichts Schlimmes war. Im großen Lauf der Dinge war er winzig.

Der Junge war jetzt nahe. Er glaubte zu wissen, wo Jake war und was er vorhatte, und das erfüllte ihn mit stummem Staunen. Susannah kam aus dem Jahr 1963. Eddie aus dem Jahr 1987. Dazwischen… Jake. Der versuchte herüberzukommen. Versuchte, geboren zu werden.

Ich habe ihn getroffen, dachte Eddie. Ich muß ihn getroffen haben, und ich glaube, ich erinnere mich… gewissermaßen. Es war kurz bevor Henry zur Armee gegangen ist, richtig? Er hat Kurse am Brooklyn Vocational Institute genommen und stand total auf Schwarz – schwarze Jeans, schwarze Motorradstiefel mit Stahlkappen, schwarze T-Shirts mit hochgerollten Ärmeln. Henrys James-Dean-Outfit. Hinterhof-Schick. Das habe ich gedacht, aber nie laut ausgesprochen, weil ich nicht wollte, daß er sauer auf mich ist.

Er stellte fest: Worauf er gewartet hatte, hatte stattgefunden, während er nachdachte; der Alte Stern war herausgekommen. In fünfzehn Minuten, vielleicht weniger, würde sich eine ganze Galaxie fremder Juwelen dazugesellen, aber vorerst leuchtete er noch allein in der weiten Finsternis.

Eddie hielt langsam den Schlüssel hoch, bis der Alte Stern in der breiten Vertiefung in der Mitte leuchtete. Dann sagte er den alten Kinderreim seiner Welt auf, den seine Mutter ihm beigebracht hatte, während sie neben ihm am Fenster seines Zimmers kniete und sie beide den Abendstern betrachteten, der in der Dunkelheit über den Dächern und Feuerleitern von Brooklyn strahlte: »Sternenlicht, Sternenpracht, bist der erste Stern heut nacht; ich bin klein, mein Herz ist rein, laß meinen Wunsch erfüllet sein.«

Der Alte Stern leuchtete in der Noppe des Schlüssels, ein Diamant in Asche.

»Hilf mir, daß ich den Mut aufbringe«, sagte Eddie. »Das ist mein Wunsch. Hilf mir, daß ich den Mut aufbringe, dieses verdammte Ding hier zu vollenden.«

Er blieb noch einen Augenblick sitzen, dann erhob er sich und schlenderte langsam zum Lager zurück. Er setzte sich ans Feuer, so nahe er konnte, nahm das Messer des Revolvermanns, ohne ein Wort an ihn oder Susannah zu richten, und machte sich an die Arbeit. Winzige Holzstreifchen rollten sich spiralförmig an der S-Form am Ende des Schlüssels ab. Eddie arbeitete schnell, drehte den Schlüssel hierhin und dorthin und machte gelegentlich die Augen zu, während er mit dem Daumen über die flachen Vertiefungen strich. Er versuchte, nicht daran zu denken, was passieren würde, sollte er die Kerben falsch schnitzen – das hätte ihn todsicher gelähmt.

Roland und Susannah saßen hinter ihm und sahen ihm schweigend zu. Schließlich legte Eddie das Messer weg. Sein Gesicht war schweißgebadet. »Dieser Junge«, sagte er. »Dieser Jake. Das muß ein tollkühner Bengel sein.«

»Er war tapfer unter den Bergen«, sagte Roland. »Er hatte Angst, ließ es sich aber nicht anmerken.«

»Ich wünschte, ich könnte auch so sein.«

Roland zuckte die Achseln. »Bei Balazar hast du gut gekämpft, obwohl sie dir die Kleidung weggenommen hatten. Es ist sehr schwer für einen Mann, nackt zu kämpfen, aber du hast es geschafft.«

Eddie versuchte, sich an die Schießerei im Nachtclub zu erinnern, aber sie war nur verschwommen in seiner Erinnerung vorhanden – Rauch, Lärm und Licht, das als Wirrwarr von Strahlen durch eine Wand schien. Er glaubte, daß diese Wand vom Feuer automatischer Waffen zerfetzt worden war, konnte sich aber nicht mit Sicherheit daran erinnern.

Er hielt den Schlüssel hoch, so daß sich dessen Zähne deutlich vor dem Feuerschein abhoben. So hielt er ihn lange Zeit und betrachtete hauptsächlich die S-Form. Diese sah genau so aus, wie er sie aus seinem Traum und der kurzen Vision im Feuer in Erinnerung hatte… aber sie schien nicht ganz richtig zu sein. Fast, aber nicht ganz.

Das ist nur wieder Henry. Das liegt nur daran, weil du jahrelang nie gut genug gewesen bist. Du hast es geschafft, Kumpel – aber der Henry in dir will es nicht zugeben.

Er ließ den Schlüssel auf das Stück Leder fallen und schlug es vorsichtig zusammen. »Ich bin fertig. Ich weiß nicht, ob er richtig ist oder nicht, aber besser kann ich ihn nicht machen.« Jetzt, wo er nicht mehr an dem Schlüssel arbeiten konnte, fühlte er sich seltsam leer.

»Möchtest du etwas essen, Eddie?« fragte Susannah leise.

Das ist dein Ziel, dachte er. Da ist deine Richtung. Sie sitzt genau da drüben und hat die Hände im Schoß gefaltet. Mehr Ziel und Orientierung brauchst du nicht…

Aber dann tauchte etwas anderes in seinem Verstand auf – es kam ohne Vorwarnung. Kein Traum… keine Vision…

Nein, keins von beiden. Es ist eine Erinnerung. Es geschieht wieder – du erinnerst dich vorwärts in der Zeit.

»Vorher muß ich noch etwas anderes machen«, sagte er und stand auf.

Auf der anderen Seite des Feuers hatte Roland seltsam geformte Stücke Feuerholz aufgeschichtet. Eddie durchsuchte es und fand einen etwa sechzig Zentimeter langen Ast mit einem Durchmesser von acht Zentimetern. Diesen nahm er, ging wieder zu seinem Platz am Feuer und holte erneut Rolands Messer hervor. Diesmal arbeitete er schneller, weil er den Ast nur anspitzte und in eine Art Zeltpflock verwandelte.

»Könnten wir vor Tagesanbruch aufbrechen?« fragte er den Revolvermann. »Ich glaube, wir sollten zu diesem Kreis, so schnell wir können.«

»Ja. Noch früher, wenn es sein muß. Ich möchte nicht gerne im Dunkeln reisen – ein sprechender Ring ist nachts keine sichere Stätte –, aber wenn es sein muß, muß es eben sein.«

»Wenn ich mir dein Gesicht ansehe, großer Junge, dann bezweifle ich, daß diese Steinringe jemals sichere Stätten sind.«

Eddie legte das Messer wieder weg. Die Erde, die Roland aus der flachen Feuerstelle ausgehoben hatte, war neben Eddies rechtem Fuß aufgeschichtet. Nun malte er mit dem zugespitzten Ende des Asts ein Fragezeichen in den Boden. Das Fragezeichen war klar und deutlich.

»Okay«, sagte er und verrieb es wieder. »Fertig.«

»Dann iß etwas«, sagte Susannah.

Eddie versuchte es, aber er hatte keinen großen Hunger. Als er endlich an Susannah gekuschelt einschlief, war sein Schlaf traumlos, aber leicht. Bis der Revolvermann ihn um vier Uhr morgens wachrüttelte, hörte er den Wind endlos über die Ebene unter ihnen fegen, und ihm schien, als würde er ihn begleiten, hoch in die Nacht fliegen, fort von allen Sorgen, während der Alte Stern und die Alte Mutter feierlich über ihm standen und seine Wangen mit Frost bemalten.

 

 

19

 

»Es ist Zeit«, sagte Roland.

Eddie richtete sich auf. Susannah erhob sich neben ihm und strich mit den Handflächen über das Gesicht. Als Eddies Kopf klarer wurde, erfüllte Eile sein Denken. »Ja. Gehen wir, und zwar schnell.«

»Er ist nahe, richtig?«

»Sehr nahe.« Eddie sprang auf, hielt Susannah um die Taille und hob sie auf den Rollstuhl.

Sie sah ihn ängstlich an. »Haben wir noch genügend Zeit, dorthin zu kommen?«

Eddie nickte. »Gerade noch.«

Drei Minuten später gingen sie wieder die Große Straße entlang. Sie schimmerte vor ihnen wie ein Gespenst. Und wieder eine Stunde später, als das erste Licht der Dämmerung den Himmel im Osten berührte, setzte weit vor ihnen ein rhythmisches Geräusch ein.

Der Klang von Trommeln, dachte Roland.

Maschinen, dachte Eddie. Eine riesige Maschine.

Ein Herz, dachte Susannah. Ein riesiges, krankes, schlagendes Herz… und es ist in dieser Stadt, wo wir hingehen müssen.

Zwei Stunden später verstummte das Geräusch so unvermittelt, wie es angefangen hatte. Weiße, konturlose Wolken brauten sich am Himmel über ihnen zusammen und verschleierten die Sonne erst, dann verdeckten sie sie völlig. Der Kreis der stehenden Steine lag weniger als fünf Meilen vor ihnen und glomm im schattenlosen Licht wie die Zähne eines umgestürzten Ungeheuers.

 

 

20

 

DIESE WOCHE ITALOWESTERN IM MAJESTIC!

 

verkündete der mitgenommene, hoffnungslose Baldachin an der Ecke Brooklyn und Markey Avenue.

 

2 KLASSIKER VON SERGIO LEONE!

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Eine kaugummikauende Süße mit Lockenwicklern im blonden Haar saß im Kartenhäuschen, hörte Led Zep im Radio und las eine der Zeitungen, auf die Mrs. Shaw so scharf war. Links von ihr hing ein Plakat mit Clint Eastwood im einzigen erhaltenen Schaukasten des Kinos.

Jake wußte, er sollte sich sputen – es war fast drei Uhr –, aber er blieb dennoch einen Moment stehen und betrachtete das Plakat hinter dem schmutzigen, gesprungenen Glas. Eastwood trug einen mexikanischen Poncho. Er hatte einen Zigarillo zwischen den Zähnen. Eine Seite des Ponchos hatte er über die Schulter geworfen und den Revolver freigelegt. Seine Augen waren blaßblau. Kanoniersaugen.

Das ist er nicht, dachte Jake, aber er ist es fast. Hauptsächlich wegen der Augen. Die Augen sind beinahe dieselben.

»Du hast mich fallenlassen«, sagte er zu dem Mann auf dem Plakat, dem Mann, der nicht Roland war. »Du hast mich sterben lassen. Was passiert diesmal?«

»He, Junge«, rief die blonde Kartenverkäuferin, und Jake zuckte zusammen. »Kommst du rein, oder stehst du nur da und führst Selbstgespräche?«

»Ich nicht«, sagte Jake. »Die zwei habe ich schon gesehen.«

Er setzte sich wieder in Bewegung und bog an der Markey Avenue links ab.

Er wartete darauf, daß das Gefühl, sich voraus zu erinnern, wiederkommen würde, aber es kam nicht. Dies hier war nur eine heiße, sonnige Straße mit sandsteinfarbenen Mietshäusern, die für Jake wie Gefängnisblocks aussahen. Ein paar junge Frauen schlenderten dahin, schoben in Zweiergruppen Kinderwagen und unterhielten sich mürrisch, aber sonst war die Straße verlassen. Es war ungewöhnlich heiß für Mai – zu heiß zum Spazierengehen.

Wonach suche ich? Wonach?

Hinter ihm ertönte eine rauhe männliche Lachsalve. Dieser erfolgte ein erboster weiblicher Aufschrei: »Gib das zurück!«

Jake zuckte zusammen, weil er dachte, die Frau, der die Stimme gehörte, müßte ihn meinen.

»Gib es zurück, Henry! Das ist mein Ernst!«

Jake drehte sich um und sah zwei Jungs, einer mindestens achtzehn, der andere viel jünger… zwölf oder dreizehn. Beim Anblick dieses zweiten Jungen machte Jakes Herz so etwas wie einen Purzelbaum in der Brust. Der Junge trug keine Madras-Shorts, sondern grüne Kordhosen, aber das gelbe T-Shirt war dasselbe, und er trug einen zerschrammten alten Basketball unter einem Arm. Obwohl er Jake den Rücken zugedreht hatte, wußte Jake, daß er den Jungen aus dem Traum von gestern nacht gefunden hatte.

 

 

21

 

Das Mädchen war die kaugummikauende Schöne aus dem Kartenhäuschen. Der ältere der beiden Jungs – der fast so alt aussah, daß man ihn einen Mann nennen konnte –, hielt ihre Zeitung in der Hand. Sie griff danach. Der Zeitungsdieb – er trug Jeans und ein schwarzes T-Shirt mit hochgerollten Ärmeln – hielt sie über den Kopf und grinste.

»Spring doch, Maryanne! Spring, Mädchen, spring!«

Sie sah ihn mit wütendem Blick und geröteten Wangen an. »Gib sie mir!« sagte sie. »Hör auf, mich zu verarschen, und gib sie mir wieder! Drecksack!«

»Ooooh, nu hör dir das an, Eddie!« sagte der ältere Junge. »Wassene Aussucksweise! Schlimm, schlimm!« Er schwenkte die Zeitung grinsend gerade außerhalb der Reichweite des Mädchens, und plötzlich begriff Jake. Die beiden gingen von der Schule nach Hause – auch wenn sie wahrscheinlich nicht dieselbe besuchten, falls er den Altersunterschied richtig einschätzte –, und der größere Junge war zum Kartenhäuschen gegangen und hatte so getan, als wollte er der Blondine etwas Interessantes erzählen. Dann hatte er durch den Schlitz im Glas gegriffen und die Zeitung herausgezogen.

Das Gesicht des großen Jungen hatte Jake schon oft gesehen; es war das Gesicht eines Jungen, der es den Gipfel des Humors fand, den Schwanz einer Katze mit Feuerzeugbenzin zu übergießen oder einem hungrigen Hund einen Brotball mit einem Angelhaken in der Mitte zu füttern. Die Art Junge, der in der letzten Reihe saß und Krampen schoß und mit einem breiten, dummen Ausdruck gespielter Überraschung »Wer, ich?« sagt, wenn sich schließlich einmal jemand beschwert. Viele wie ihn gab es nicht an der Piper, aber es gab welche. Jake schätzte, daß es sie an jeder Schule gab. An der Piper waren sie besser gekleidet, aber das Gesicht war dasselbe. Er vermutete, in alten Zeiten hätten die Leute gesagt, es war das Gesicht eines Jungen, der zum Hängen geboren war.

Maryanne sprang nach ihrer Zeitung, die der ältere Junge in der schwarzen Hose zu einer Röhre gerollt hatte. Er zog sie weg, bevor sie sie zu fassen bekam, dann schlug er ihr damit auf den Kopf. Wie man einen Hund schlagen mochte, weil er auf den Teppich gepinkelt hat. Sie fing jetzt an zu weinen – hauptsächlich wegen der Demütigung, vermutete Jake. Ihr Gesicht war so rot, daß es fast leuchtete. »Dann behalt sie eben!« schrie sie ihn an. »Ich weiß, du kannst nicht lesen, aber du kannst dir ja wenigstens die Bilder ansehen!«

Sie wandte sich ab.

»Warum gibst du sie nicht zurück?« fragte der kleinere Junge – Jakes Junge – leise.

Der ältere Junge hielt ihr die Zeitungsrolle hin. Das Mädchen entriß sie ihm, und Jake konnte sie dreißig Schritte entfernt reißen hören. »Du bist ein Arsch, Henry Dean!« schrie sie. »Ein echter Arsch!«

»He, was soll das Getue?« Henry hörte sich aufrichtig gekränkt an. »Es war ein Witz. Außerdem ist sie nur an einer Stelle gerissen – du kannst sie immer noch lesen, Herrgott noch mal. Reg dich wieder ab, ja?«

Und auch das paßte wie die Faust aufs Auge, dachte Jake. Typen wie Henry trieben stets auch den dümmsten Witz zwei Schritte zu weit… und sahen dann gekränkt und mißverstanden drein, wenn sie jemand anschrie. Und es hieß immer Wassn los? und es hieß immer Kannste kein Spaß verstehn? und es hieß immer Reg dich wieder ab, ja?

Was hast du mit dem zu schaffen, Junge? fragte sich Jake. Wenn du auf meiner Seite bist, was hast du dann mit einem Volltrottel wie dem zu schaffen?

Aber als sich der kleinere Junge umdrehte und sie gemeinsam weiter die Straße entlanggingen, sah Jake es. Die Gesichtszüge des älteren Jungen waren markanter – die Gesichtshaut schlimm von Akne verunziert –, aber darüber hinaus war die Ähnlichkeit verblüffend. Die beiden Jungs waren Brüder.

 

 

22

 

Jake drehte sich um und schlenderte vor den beiden Jungs her den Gehweg entlang. Er griff mit einer zitternden Hand in die Brusttasche, schaffte es, die Sonnenbrille seines Vaters herauszuziehen und setzte sie sich auf die Nase.

Stimmen schwollen hinter ihm an, als würde jemand langsam den Lautstärkeregler eines Radios aufdrehen.

»Du hättest sie nicht so sehr aufziehen sollen, Henry. Das war gemein.«

»Es gefällt ihr, Eddie.« Henrys Stimme klang gelassen und weltklug. »Wenn du ein bißchen älter bist, wirst du das verstehen.«

»Sie hat geweint.«

»Hat wahrscheinlich Schwester Laufaus«, sagte Henry mit philosophischemTonfall.

Sie waren jetzt ganz nahe. Jake wich zur Fassade der Häuser hin aus. Er hatte den Kopf gesenkt und die Hände tief in die Taschen der Jeans gesteckt. Er wußte nicht, warum es so überaus wichtig war, daß er ihnen nicht auffiel, aber es war so. Henry war so oder so unwichtig, aber…

Der jüngere darf sich auf keinen Fall an mich erinnern, dachte er. Ich weiß nicht genau, warum, aber es ist so.

Sie gingen vorbei, ohne ihm einen Blick zuzuwerfen, und derjenige, den Henry Eddie nannte, lief außen und dribbelte den Ball im Rinnstein.

»Du mußt zugeben, sie hat komisch ausgesehen«, sagte Henry. »Die olle Be-Bop-Maryanne, die nach der Zeitung gehüpft ist. Wuff! Wuff!«

Eddie sah seinen Bruder mit einem Ausdruck an, der mißbilligend sein sollte… und dann gab er auf und lachte schallend. Jake sah die rückhaltlose Liebe in dem aufschauenden Gesicht und dachte sich, daß Eddie seinem großen Bruder eine Menge nachzusehen haben würde, bis er es als sinnlos aufgab.

»Also gehen wir jetzt?« fragte Eddie. »Du hast gesagt, wir können. Nach der Schule.«

»Ich habe gesagt vielleicht. Ich weiß nicht, ob ich zu Fuß bis dahin gehen will. Mom wird auch schon zu Hause sein. Vielleicht sollten wir es bleibenlassen. Heimgehen und in die Glotze starren.«

Sie waren jetzt zehn Schritte vor Jake und entfernten sich weiter.

»Ach, komm schon! Du hast es gesagt!«

Nach dem Gebäude, an dem die beiden Jungs gerade vorbeigingen, kam ein Maschendrahtzaun mit einem offenen Tor. Dahinter, sah Jake, lag der Spielplatz, von dem er gestern nacht geträumt hatte… jedenfalls eine Version davon. Er war nicht von Bäumen umgeben, und es stand auch kein seltsamer U-Bahn-Kiosk mit schwarzen und gelben Streifen auf der Fassade dort, aber der rissige Beton war derselbe. Ebenso die verblaßten gelben Strafraumlinien.

»Nun… vielleicht. Weiß nicht.« Jake merkte, daß Henry seinen Bruder wieder hänselte. Aber Eddie nicht; er war zu sehr darauf fixiert, wo er noch hingehen wollte. »Werfen wir ein paar Körbe, während ich darüber nachdenke.«

Er nahm seinem jüngeren Bruder den Ball weg, dribbelte unbeholfen auf das Spielfeld und setzte zu einem Wurf an, bei dem der Ball hoch am Brett landete und herunterfiel, ohne den Korb auch nur gestreift zu haben. Henry war gut darin, kleinen Mädchen eine Zeitung wegzunehmen, dachte Jake, aber auf dem Basketballfeld war er eine Null.

Eddie ging nach ihm durch das Tor, knöpfte die Kordhose auf und zog sie aus. Darunter trug er die grünen Madras-Shorts, die Jake im Traum gesehen hatte.

»Oh, trägt er seine kurzen Höschen?« sagte Henry. »Sind sie nicht niiieedlich?« Er wartete, bis sein Bruder auf einem Bein balancierte, um die Kordhose auszuziehen, dann warf er den Basketball nach ihm. Es gelang Eddie, diesen wegzuschlagen, womit er sich wahrscheinlich eine blutige Nase ersparte, aber er verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Betonboden. Er holte sich keine Schnittwunden, aber das wäre gut möglich gewesen, sah Jake; jede Menge Glasscherben funkelten am Zaun in der Sonne.

»Komm schon, Henry, laß das«, sagte er, aber nicht im geringsten vorwurfsvoll. Jake vermutete, Henry trieb schon so lange diese Scheiße mit Eddie, daß dieser es nur bemerkte, wenn Henry es mit jemand anderem machte – mit der blonden Kartenverkäuferin, zum Beispiel.

»Tomm sson, Henry, lassas.«

Eddie stand auf und stapfte aufs Feld. Der Ball war gegen den Maschendrahtzaun geprallt und hüpfte zu Henry zurück. Henry versuchte jetzt, an seinem jüngeren Bruder vorbeizudribbeln. Eddie streckte die Hand schnell wie der Blitz, aber seltsam zaghaft aus und nahm ihm den Ball ab. Er duckte sich mühelos unter Henrys ausgestrecktem, fuchtelndem Arm durch und sprintete zum Korb. Henry setzte ihm mit finsterem Stirnrunzeln nach, aber er hätte ebensogut ein Schläfchen halten können. Eddie schnellte mit angewinkelten Knien und zusammengepreßten Beinen hoch und warf den Ball in den Korb. Henry ergriff ihn und dribbelte zum Seitenstreifen.

Das hättest du nicht machen sollen, Eddie, dachte Jake. Er stand unmittelbar hinter der Stelle, wo der Zaun aufhörte, und beobachtete die beiden Jungs. Das schien sicher zu sein, zumindest vorläufig. Er trug die Sonnenbrille seines Dad, und die beiden Jungs waren so in ihr Spiel vertieft, daß sie nicht mitbekommen hätten, wenn Präsident Carter zum Zuschauen gekommen wäre. Jake bezweifelte sowieso, daß Henry wußte, wer Präsident Carter war.

Er ging davon aus, daß Henry seinen Bruder als Strafe für das Ballwegnehmen foulen würde, und zwar schwer, aber er hatte Eddies Listigkeit unterschätzt. Henry täuschte einen Ausfall an, den Jakes Mutter durchschaut haben würde, aber Eddie schien darauf hereinzufallen. Henry stürmte an ihm vorbei und zum Korb, wobei er den Ball den größten Teil des Weges trug. Jake war überzeugt, Eddie hätte ihn mühelos einholen und ihm den Ball wieder wegnehmen können, aber statt das zu tun, blieb der Junge zurück. Henry warf ihn noch – ungeschickt –, und der Ball prallte vom Rand ab. Eddie packte ihn… und ließ ihn zwischen den Fingern durchrutschen. Henry schnappte ihn, drehte sich herum und warf ihn durch den Ring ohne Netz.

»Eins zu eins«, keuchte Henry. »Bis zwölf?«

»Klar.«

Jake hatte genug gesehen. Es würde knapp werden, aber letztendlich würde Henry gewinnen. Eddie würde dafür sorgen. Es würde ihn nicht nur vor einer Tracht Prügel bewahren; es würde Henry auch in gute Laune versetzen und ihn aufgeschlossener für Eddies Vorhaben machen.

He, Dämlack – ich glaube, dein kleiner Bruder führt dich schon lange wie eine Marionette, und du hast nicht die leiseste Ahnung, oder?

Er wich zurück, bis ihm das Mietshaus am Nordende des Spielplatzes die Sicht auf die Gebrüder Dean nahm. Er lehnte sich an die Wand und lauschte dem Hüpfen des Balls auf dem Spielfeld. Bald schnaufte Henry wie Charlie Tschuff-Tschuff, wenn dieser einen steilen Berg hinauffuhr. Er rauchte natürlich; Typen wie Henry rauchten immer.

Das Spiel dauerte fast zehn Minuten, und als Henry endlich seinen Sieg verkünden konnte, war die Straße voll von anderen Kindern auf dem Nachhauseweg. Einige warfen Jake im Vorübergehen seltsame Blicke zu.

»Gutes Spiel, Henry«, sagte Eddie.

»Nicht schlecht«, schnaufte Henry. »Du fällst immer noch auf das alte Antäuschen rein.«

Logisch, dachte Jake, ich glaube, er wird darauf reinfallen, bis er etwa achtzig Pfund schwerer ist. Dann wirst du vielleicht eine Überraschung erleben.

»Sieht so aus. He, Henry, können wir uns jetzt bitte das Haus ansehen?«

»Ja, warum nicht. Machen wir es.«

»Na prima!« rief Eddie. Das Klatschen von Haut auf Haut war zu hören; wahrscheinlich versetzte Eddie seinem Bruder einen freundschaftlichen Klaps. »Boß!«

»Geh rauf in die Wohnung. Sag Mom, wir sind gegen halb fünf oder fünf wieder da. Aber sag nichts von der Villa. Sie würde einen Scheißanfall bekommen. Sie denkt auch, daß es dort spukt.«

»Soll ich ihr sagen, daß wir rüber zu Dewey’s gehen?«

Schweigen, während Henry darüber nachdachte. »Nee. Sie könnte Mrs. Bunkowski anrufen. Sag ihr… sag ihr, wir gehen zu Dahlie’s, um Hoodsie Rockets zu holen. Das wird sie glauben. Und bitte sie noch um ein paar Piepen.«

»Sie wird mir kein Geld geben. Nicht zwei Tage vor dem Zahltag.«

»Dummes Zeug. Du kannst es aus ihr rauskitzeln. Geh jetzt.«

»Okay.« Aber Jake hörte nicht, daß Eddie sich in Bewegung setzte. »Henry?«

»Was?« Ungeduldig.

»Spukt es wirklich in der Villa, was meinst du?«

Jake ging ein wenig näher an den Spielplatz heran. Er wollte nicht bemerkt werden, war aber mehr als überzeugt, daß er das hören mußte.

»Nee. Es gibt keine richtigen Spukhäuser – nur in dummen Filmen.«

»Oh.« Eddies Stimme klang unmißverständlich erleichtert.

»Aber wenn es je eines gegeben hätte«, fuhr Henry fort (der vielleicht nicht wollte, daß sein kleiner Bruder zu erleichtert war, überlegte Jake), »dann wäre es die Villa. Ich habe gehört, daß vor ein paar Jahren zwei Kinder von der Norwood Street reingegangen sind, um Pimmel zu begutachten, und die Bullen haben sie gefunden, da waren ihre Kehlen aufgeschlitzt, und das ganze Blut aus ihren Leichen war verschwunden. Aber an ihnen oder um sie herum wurde kein Blut entdeckt. Kapiert? Das ganze Blut war fort.«

»Verscheißerst du mich?« hauchte Eddie.

»Nee. Aber das war noch nicht das Schlimmste.«

»Was dann?«

»Ihr Haar war schlohweiß«, sagte Henry. Die Stimme, die Jake vernahm, war ernst. Er hatte eine Ahnung, daß Henry seinen Bruder diesmal nicht hänselte, daß er diesmal jedes Wort glaubte, das er erzählte. (Er bezweifelte auch, daß Henry genug Hirn besaß, sich so eine Geschichte auszudenken.) »Beide. Und ihre Augen waren weit aufgerissen, als hätten sie das Allergräßlichste auf der ganzen Welt gesehen.«

»Ach, verschon mich«, sagte Eddie, aber seine Stimme klang gedämpft, ehrfürchtig.

»Willst du immer noch hin?«

»Klar. Wenn wir nicht… du weißt schon… zu nah ran müssen.«

»Dann geh zu Mom. Und versuch, ihr ein paar Piepen abzuluchsen. Ich brauch Zigaretten. Und nimm den Scheißball mit.«

Jake zog sich zurück und versteckte sich im Eingang des nächstgelegenen Mietshauses, als Eddie gerade durch das Spielplatztor kam.

Zu seinem Entsetzen kam der Junge im gelben T-Shirt in Jakes Richtung. Ach du dickes Ei! dachte Jake. Wenn er nun ausgerechnet in diesem Haus wohnt?

So war es. Jake hatte gerade noch Zeit, sich umzudrehen und die Namen auf den Klingelschildern zu studieren, als Eddie so dicht vorbeistrich, daß Jake den Schweiß riechen konnte, den er bei dem Basketballspiel produziert hatte. Er spürte den neugierigen Blick halb, den der Junge ihm zuwarf, halb sah er ihn. Dann ging Eddie durch die Halle zu den Fahrstühlen; er trug die zusammengerollte Schulhose unter einem und den Basketball unter dem anderen Arm.

Jakes Herz schlug heftig in der Brust. Leute zu beschatten war im richtigen Leben viel schwieriger als in den Detektivromanen, die er manchmal las. Er überquerte die Straße und stellte sich einen halben Block weiter zwischen zwei Mietshäuser. Von dort konnte er den Eingang des Hauses der Brüder Dean und das Spielplatztor sehen. Der Spielplatz füllte sich allmählich, hauptsächlich mit kleineren Kindern. Henry lehnte am Maschendrahtzaun, rauchte eine Zigarette und gab sich größte Mühe, wie ein halbstarker Schläger auszusehen. Ab und zu streckte er den Fuß aus, wenn eines der Kinder in wilder Jagd auf ihn zugerannt kam, und bis Eddie zurückkam, war es ihm gelungen, drei zu Fall zu bringen. Das letzte schlug in voller Länge hin, prallte mit dem Gesicht auf den Beton und rannte mit blutiger Stirn weinend die Straße entlang. Henry schnippte ihm die Zigarettenkippe hinterher und lachte fröhlich.

Ein richtiger Scherzkeks, dachte Jake.

Danach wurden die kleinen Kinder schlauer und machten einen großen Bogen um ihn. Henry verließ den Spielplatz schlendernd und ging zu dem Hauseingang, in dem Eddie vor fünf Minuten verschwunden war. Als er dort ankam, ging die Tür auf, und Eddie kam heraus. Er hatte ein Paar Jeans und ein frisches T-Shirt angezogen; außerdem trug er ein grünes Band, wie Jake es im Traum gesehen hatte, um die Stirn. Er winkte triumphierend mit ein paar Dollarscheinen. Henry entriß sie ihm, dann fragte er Eddie etwas. Eddie nickte, worauf die beiden Jungs aufbrachen.

Jake folgte ihnen, ließ dabei einen halben Block Entfernung zwischen sich und den beiden Brüdern.

 

 

23

 

Sie standen im hohen Gras am Rand der Großen Straße und betrachteten den sprechenden Ring.

Stonehenge, dachte Susannah und erschauerte. So sieht es aus. Stonehenge.

Das dichte Gras, welches die gesamte Ebene bedeckte, wuchs zwar um die Ansätze der grauen Monolithen herum, aber der Kreis, den sie einschlossen, bestand aus nackter Erde, auf der hier und da weiße Gegenstände lagen.

»Was ist das?« fragte sie mit leiser Stimme. »Gesteinstrümmer?«

»Sieh noch einmal hin«, sagte Roland.

Sie gehorchte und sah, daß es sich um Knochen handelte. Die Knochen kleiner Tiere. Hoffte sie.

Eddie nahm den zugespitzten Pflock in die linke Hand, wischte die rechte am Hemd trocken und wechselte wieder. Er machte den Mund auf, aber kein Laut drang aus seinem trockenen Hals. Er räusperte sich und versuchte es noch einmal. »Ich glaube, ich muß reingehen und etwas auf den Boden zeichnen.«

Roland nickte. »Gleich?«

»Bald.« Er sah Roland ins Gesicht. »Es ist etwas hier, richtig? Etwas, das wir nicht sehen können.«

»Es ist momentan nicht hier«, sagte Roland. »Jedenfalls glaube ich das. Aber es wird kommen. Unsere Khef – unsere Lebenskraft – wird es anziehen. Und natürlich wird es diesen Ort eifersüchtig hüten. Gib mir meine Waffe wieder, Eddie.«

Eddie knöpfte den Gurt auf und reichte ihn weiter. Dann drehte er sich wieder zu dem Kreis der sechs Meter hohen Steine um. Etwas lebte tatsächlich hier. Er konnte es riechen; ein Gestank, bei dem er an feuchten Verputz und schimmlige Sofas und alte Matratzen denken mußte, die unter Überzügen aus Mehltau faulten. Er kannte ihn, diesen Geruch.

Die Villa – dort habe ich ihn gerochen. An dem Tag, als ich Henry überredet hatte, mit mir zur Villa an der Rhinehold Street in Dutch Hill zu gehen.

Roland knöpfte den Gurt zu, dann knotete er den Wildlederriemen fest. Dabei sah er zu Susannah. »Könnte sein, daß wir Detta Walker brauchen«, sagte er. »Ist sie in der Nähe?«

»Das Miststück ist immer in der Nähe.« Susannah rümpfte die Nase.

»Gut. Einer von uns muß Eddie beschützen, während dieser tut, was er tun muß. Der andere wird nichts weiter als unnützer Ballast sein. Dies ist die Stätte eines Dämons. Dämonen sind nicht menschlich, aber dennoch männlich oder weiblich. Sex ist ihre Waffe und ihre Schwäche. Welchen Geschlechts der Dämon auch sein mag, er wird sich auf Eddie konzentrieren. Um seine Heimstatt zu beschützen. Um zu verhindern, daß seine Heimstatt von einem Fremden benützt wird. Habt ihr verstanden?«

Susannah nickte. Eddie schien gar nicht zuzuhören. Er hatte das Stück Leder, in das der Schlüssel eingewickelt war, ins Hemd gesteckt und sah nun wie hypnotisiert in den Ring aus Steinen.

»Es ist keine Zeit, dies auf eine behutsame oder schönfärberische Weise auszudrücken«, sagte Roland zu ihr. »Einer von uns wird…«

»Einer von uns muß es ficken, damit es Eddie in Ruhe läßt«, unterbrach ihn Susannah. »Diese Wesen können nie auf einen Gratisfick verzichten. Darauf willst du doch hinaus, richtig?«

Roland nickte.

»Und was ist, wenn der Dämon auf beides steht? Was dann, großer Junge?«

Rolands Lippen zuckten – die vageste Andeutung eines Lächelns. »Dann nehmen wir ihn gemeinsam. Vergiß nur nicht…«

Neben ihnen flüsterte Eddie mit schwacher, hohler Stimme: »Nicht alles ist stumm in den Hallen der Toten. Gebt acht, der Schläfer erwacht.« Er richtete die gequälten, entsetzten Augen auf Roland. »Da ist ein Ungeheuer.«

»Der Dämon…«

»Nein. Ein Ungeheuer. Etwas zwischen den Türen. Zwischen den Welten. Es wartet. Und es schlägt die Augen auf.«

Susannah warf Roland einen ängstlichen Blick zu.

»Sei standhaft, Eddie«, sagte Roland. »Sei aufrichtig.«

Eddie holte tief Luft. »Ich bin standhaft, bis es mich umstößt«, sagte er. »Ich muß jetzt reingehen. Es fängt an.«

»Wir gehen alle rein«, sagte Susannah. Sie krümmte den Rücken und schlüpfte aus dem Rollstuhl. »‘n Dämon, der mit mir ficken will, wird feststelln, dasser sich mit ‘ner Fickweltmeisterin eingelassen hat. Ich werd’m ‘n Fick verpassen, den er seiner Lebtag nicht vergißt.«

Als sie zwischen den hohen Steinen hindurch in den Kreis traten, fing es an zu regnen.

 

 

24

 

Kaum sah Jake das Haus, wurde ihm zweierlei klar: erstens, daß er es schon einmal gesehen hatte, und zwar in so schrecklichen Träumen, daß sein bewußtes Denken keinerlei Erinnerungen daran zuließ; zweitens, daß es ein Ort von Tod und Mord und Wahnsinn war. Er stand an der gegenüberliegenden Ecke Rhinehold Street und Brooklyn Avenue, siebzig Meter von Henry und Eddie Dean entfernt, aber selbst da konnte er spüren, daß die Villa den beiden gar keine Beachtung schenkte, sondern mit begierigen, unsichtbaren Händen nach ihm griff. Er dachte, daß sich Krallen am Ende dieser Hände befanden. Scharfe Krallen.

Es will mich, und ich kann nicht weglaufen. Hineinzugehen bedeutet den Tod… aber es nicht zu tun, bedeutet Wahnsinn. Denn irgendwo in diesem Haus befindet sich eine verschlossene Tür. Ich habe den Schlüssel, der sie öffnet, und die einzige Hoffnung auf Rettung befindet sich auf der anderen Seite.

Er betrachtete die Villa, ein Haus, das fast ›abnormal‹ schrie, mit zunehmender Niedergeschlagenheit. Es stand inmitten eines unkrautüberwachsenen, ungepflegten Gartens wie ein Tumor.

Die Brüder Dean waren unter der heißen Nachmittagssonne langsam neun Blocks durch Brooklyn gelaufen und waren schließlich in einen Stadtteil gekommen, bei dem es sich um Dutch Hill handeln mußte, wenn man den Namen der Geschäfte glauben wollte. Jetzt standen sie einen halben Block entfernt vor der Villa. Diese sah aus, als wäre sie jahrelang verlassen, und doch hatte sie bemerkenswert wenig Zerstörungen hinnehmen müssen. Und früher, dachte Jake, war es wirklich einmal eine Villa gewesen – möglicherweise das Zuhause eines reichen Kaufmanns und seiner Familie. In diesen längst vergangenen Zeiten mußte sie weiß gewesen sein, aber jetzt war ihre Farbe ein schmutziges Grau. Die Fenster waren eingeworfen und der weiße Lattenzaun, der sie umgab, mit Sprühfarbe verunziert, aber das Haus selbst war unversehrt.

Es kauerte im heißen Licht, eine baufällige Wohnstatt mit Schindeldach, die aus einem hügeligen, abfallübersäten Garten wuchs und auf Jake irgendwie den Eindruck eines gefährlichen Hundes machte, der nur so tat, als ob er schlief. Das steile Dach hing wie eine gerunzelte Stirn über die Eingangstür. Die Dielen der Veranda waren gesplittert und verzogen. Läden, die einmal grün gewesen sein mochten, knarrten in schiefen Angeln neben blicklosen Fenstern; in manchen hingen noch uralte Vorhänge, die wie Streifen abgestorbener Haut herunterbaumelten. Links beugte sich ein altes Rankgitter von der Fassade weg, das nicht mehr von Nägeln gehalten wurde, sondern nur noch von den namenlosen und irgendwie schäbigen Weinranken, die sich daran festklammerten. Auf dem Rasen stand ein Schild, ein zweites an der Tür. Von seiner Position aus konnte Jake keines lesen.

Das Haus lebte. Er spürte es, konnte sein Bewußtsein fühlen, das von den Dielen und dem windschiefen Dach ausströmte, konnte spüren, wie es in Strömen aus den schwarzen Augenhöhlen der Fenster quoll. Die Vorstellung, sich diesem Ort des Grauens zu nähern, erfüllte ihn mit Unbehagen, und die Vorstellung, tatsächlich einzutreten, mit unvorstellbarem Entsetzen. Und doch mußte er es tun. Er konnte ein tiefes, träges Summen in den Ohren hören – das Geräusch eines Bienenstocks an einem heißen Sommertag –, und einen Augenblick fürchtete er, er könnte ohnmächtig werden. Er machte die Augen zu… und hörte seine Stimme im Kopf.

Du mußt kommen, Jake. Dies ist der Pfad des Balkens, der Weg des Turms, und deine Zeit, auserwählt zu werden, ist gekommen. Sei aufrichtig; sei standhaft; komm zu mir.

Die Angst verging nicht, aber das Gefühl bevorstehender Panik. Er schlug die Augen auf und stellte fest, daß er nicht der einzige war, der die Macht und erwachende Vernunft des Hauses gespürt hatte. Eddie wollte weg vom Zaun. Er drehte sich zu Jake um, der seine großen und unbehaglichen Augen unter dem grünen Stirnband sehen konnte. Sein großer Bruder packte ihn und schob ihn zu dem rostigen Tor, aber die Geste war so halbherzig, daß man sie kaum als Hänselei bezeichnen konnte; was er auch für ein Klotzkopf sein mochte, Henry mochte die ›Villa‹ ebensowenig wie Eddie.

Sie wichen ein Stück zurück und betrachteten das Haus eine Zeitlang. Jake bekam nicht mit, was sie zueinander sagten, aber ihre Stimmen klangen gedämpft und unbehaglich. Plötzlich fiel Jake ein, was Eddie in seinen Traum gesagt hatte: Aber es besteht Gefahr. Sei vorsichtig… und sei schnell.

Plötzlich sprach der richtige Eddie, der auf der anderen Straßenseite, so laut, daß Jake die Worte verstehen konnte. »Können wir jetzt nach Hause gehen, Henry? Bitte? Es gefällt mir hier nicht.« Sein Tonfall war flehend.

»Erbärmliche kleine Memme«, sagte Henry, aber Jake glaubte, daß er ebensoviel Erleichterung wie Beleidigung aus Henrys Stimme heraushören konnte. »Komm schon.«

Er wandte sich von dem verfallenen Haus ab, das mit hochgereckten Schultern hinter seinem schiefen Zaun kauerte, und näherten sich der Straße. Jake wich zurück, dann drehte er sich um und sah ins Schaufenster eines mitleiderregenden kleinen Ladens namens Dutch Hill Secondhand-Geräte. Er sah die vagen und geisterhaften Spiegelbilder von Eddie und Henry über einem alten Hoover-Staubsauger, als die beiden die Rhinehold Street überquerten.

»Bist du sicher, daß es nicht richtig spukt?« fragte Eddie, als sie auf Jakes Seite den Gehweg betraten.

»Nun, ich will dir was sagen«, antwortete Henry. »Nachdem ich jetzt wieder einmal hier gewesen bin, bin ich nicht mehr so sicher.«

Sie gingen unmittelbar hinter Jake vorbei, ohne ihn anzusehen. »Würdest du reingehen?« fragte Eddie.

»Nicht für eine Million Dollar«, antwortete Henry wie aus der Pistole geschossen.

Sie gingen um die Ecke. Jake ging vom Schaufenster weg und sah ihnen nach. Sie gingen dicht nebeneinander auf dem Gehweg in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren; Henry schlurfte mit seinen stahlkappengeschmückten Arschtretern dahin und ließ die Schultern bereits wie ein viel älterer Mann hängen, wohingegen Eddie voll hübscher, unbewußter Anmut neben ihm herschritt. Ihre Schatten, die inzwischen lang auf die Straße fielen, überkreuzten sich verspielt.

Sie gehen nach Hause, dachte Jake und verspürte eine so heftige Einsamkeit, daß er dachte, sie müßte ihn zerquetschen. Sie gehen nach Hause und essen und machen ihre Hausaufgaben und streiten, welche Fernsehserie sie sich ansehen, und dann gehen sie zu Bett. Henry mag ein rücksichtsloses Arschloch sein, aber sie haben wenigstens ein Leben, die beiden, das einen Sinn ergibt… und zu dem kehren sie zurück. Ich frage mich, ob sie eine Ahnung haben, wie glücklich sie sich schätzen können. Eddie vielleicht, könnte ich mir denken.

Jake drehte sich um, rückte die Gurte des Ranzens zurecht und überquerte die Rhinehold Street.

 

 

25

 

Susannah spürte eine Bewegung im verlassenen Grasland hinter dem Kreis aus Steinen; einen seufzenden, flüsternden Sog.

»Etwas kommt«, sagte sie nervös. »Und zwar schnell.«

»Sei vorsichtig«, sagte Eddie, »aber halt es mir vom Leib. Hast du verstanden? Halt es mir vom Leib.«

»Ich habe dich verstanden, Eddie. Tu du, was du tun mußt.«

Eddie nickte. Er kniete in der Mitte des Kreises und hielt den gespitzten Ast vor sich, als würde er Maß nehmen. Dann senkte er ihn und zog eine dunkle, gerade Linie in die Erde. »Roland, paß auf sie auf…«

»Wenn ich kann, Eddie.«

»… aber halt ihn mir vom Leib. Jake kommt. Der kleine Irre kommt tatsächlich.«

Susannah konnte jetzt sehen, wie sich das Gras nördlich des Rings zu einer langen, dunklen Linie teilte und eine Furche schuf, die genau auf den Ring der Steine zukam.

»Macht euch bereit«, sagte Roland. »Es wird sich auf Eddie stürzen. Einer von uns muß ihm einen Hinterhalt legen.«

Susannah krümmte sich in die Höhe wie eine Schlange, die aus dem Korb eines Hindufakirs kommt. Die Hände hielt sie, zu harten braunen Fäusten geballt, seitlich ans Gesicht. Ihre Augen blitzten. »Ich bin bereit«, sagte sie und brüllte dann: »Komm her, großer Junge! Komm auf der Stelle! Lauf, als wennde Geburtstag hast!«

Es regnete heftiger, als der Dämon, der hier hauste, mit Donnerhall in seinen Kreis hineinfuhr. Susannah hatte gerade noch Zeit, etwas Starkes und unbarmherzig Maskulines zu spüren – sie nahm es als Geruch von Gin und Wacholder wahr, der ihr das Wasser in die Augen trieb –, dann schoß er auf die Mitte des Kreises zu. Sie machte die Augen zu und griff danach – nicht mit den Händen oder dem Geist, sondern mit aller weiblicher Kraft, die in ihrem Innersten wohnte: He, großer Junge, wo gehstn hin? Hier drüben isse Muschi!

Der Dämon wirbelte herum. Sie spürte seine Überraschung… und dann seine brutale Gier, die so voll und prall war wie eine pulsierende Arterie. Er sprang sie an wie ein Triebtäter aus dem Schlund einer Gasse.

Susannah heulte und sank zurück, ihre Halsmuskeln standen vor. Das Kleid, das sie trug, wurde zuerst gegen ihre Brüste und den Bauch gedrückt, dann langsam in Stücke gerissen. Sie konnte ein sinnloses, zielloses Keuchen hören, als hätte die Luft selbst beschlossen, mit ihr zu rammeln.

»Suze!« rief Eddie und wollte aufstehen.

»Nein!« schrie sie zurück. »Mach weiter! Ich hab’ den Hurensohn genau da… genau da, wo ich ihn haben will! Mach weiter, Eddie! Bring den Jungen her! Bring…« Kälte berührte grob das zarte Fleisch zwischen ihren Beinen. Sie grunzte und fiel nach hinten… dann stützte sie sich mit einer Hand und stieß trotzig nach vorne und hoch. »Bring ihn rüber!«

Eddie sah unsicher zu Roland, der nickte. Eddie warf Susannah noch einmal einen Blick aus Augen voll dunklem Schmerz und dunkler Angst zu, dann drehte er den beiden bewußt den Rücken zu und sank wieder auf die Knie. Er streckte den gespitzten Ast aus, der zu einem behelfsmäßigen Zeichenstift geworden war, und achtete nicht auf den Regen, der ihm Arme und Nacken benetzte. Der Ast bewegte sich, zeichnete Striche und Linien und Winkel und schuf ein Bild, das Roland sofort kannte.

Es war eine Tür.

 

 

26

 

Jake streckte die Hand aus, berührte die gesplitterte Tür und drückte. Sie schwang langsam auf, kreischend in ihren rostigen Scharnieren. Vor ihm lag ein unebener Plattenweg. Nach dem Weg kam die Veranda. Auf der Veranda die Tür. Diese war zugenagelt worden.

Er ging langsam auf das Haus zu, während sein Herz rasend schnell Morsezeichen zum Hals telegrafierte. Unkraut war zwischen den schiefen Platten hochgewachsen. Er konnte es an seinen Jeans rascheln hören. Seine sämtlichen Sinne schienen zwei Skaleneinheiten schärfer eingestellt worden zu sein. Du wirst doch nicht wirklich da reingehen, oder? schrie eine panische Stimme in seinem Verstand.

Und die Antwort, die ihm darauf einfiel, schien vollkommen irr und zugleich durch und durch logisch zu sein: Alles dient dem Balken.

Auf dem Schild vor dem Haus stand:

 

DURCHGANG BEI STRAFANDROHUNG STRENGSTENS
VERBOTEN!

 

Das vergilbte, rostfleckige Stück Pappe, das auf die Bretter vor der Eingangstür genagelt worden war, war bündiger:

 

AUF ANORDNUNG DER WOHNRAUMVERWALTUNG VON
NEW YORK
BETRETEN VERBOTEN

 

Jake blieb am Fuß der Treppe stehen und sah zur Tür hinauf. Er hatte auf dem unbebauten Grundstück Stimmen gehört, und jetzt hörte er wieder welche… aber dies war ein Chor der Verdammten, ein Brabbeln irrer Verwünschungen und ebenso abgeschmackter Versprechungen. Aber er dachte, daß es nur eine einzige Stimme war. Die Stimme des Hauses; die Stimme eines monströsen Torwächters, der aus einem langen, unruhigen Schlaf geweckt worden war.

Er dachte kurz an die Ruger seines Vaters und überlegte sogar kurz, ob er sie aus der Tasche ziehen sollte, aber was würde sie ihm nützen? Hinter ihm rauschte der Verkehr die Rhinehold Street hinauf und hinunter, und eine Mutter schrie ihrer Tochter zu, sie solle aufhören, mit diesem Jungen Händchen zu halten, und die Wäsche reinbringen, aber hier begann eine andere Welt, die von einem düsteren Wesen beherrscht wurde, über das Waffen keine Macht haben konnten.

Sei aufrichtig, Jake – sei standhaft.

»Okay«, sagte er mit leiser, zitternder Stimme. »Okay, ich versuche es. Aber du läßt mich besser nicht noch einmal fallen.«

Langsam ging er die Verandastufen hinauf.

 

 

27

 

Die Bretter, mit denen die Tür kreuzweise vernagelt war, waren alt und verfault, die Nägel rostig. Jake packte zwei Bretter oben an der Stelle, wo sie sich überkreuzten, und zog. Sie lösten sich mit einem Kreischen wie die Gartentür. Er warf sie über das Verandageländer in ein uraltes Blumenbeet, wo nur noch Hirse und Hundszahn wuchsen. Er bückte sich, umklammerte das untere Kreuz und hielt einen Moment inne.

Ein hohles Geräusch drang durch die Tür; das Geräusch eines Tieres, das hungrig in einem Betonrohr schmatzt. Jake spürte, wie ein ekliger Schweißfilm sich auf seinen Wangen und der Stirn ausbreitete. Er hatte solche Angst, daß er sich gar nicht mehr wirklich fühlte; er schien zur Figur im Alptraum eines anderen geworden zu sein.

Der böse Chor, die böse Präsenz, befand sich hinter dieser Tür. Ihr Klang quoll wie Sirup heraus.

Er zerrte an den unteren Brettern. Sie lösten sich mühelos.

Logisch. Es will, daß ich ins Haus komme. Es hat Hunger, und ich soll der Hauptgang sein.

Plötzlich fiel ihm ein Stück aus einem Gedicht ein, das Ms. Avery ihnen einmal vorgelesen hatte. Es sollte vom schweren Los des modernen Menschen handeln, der von allen Wurzeln und Traditionen abgeschnitten war, aber Jake dachte jetzt, daß der Mann, der das Gedicht geschrieben hatte, dieses Haus gesehen haben mußte: Ich will dir weisen ein Ding, das weder / Dein Schatten am Morgen ist, der dir nachfolgt / Noch dein Schatten am Abend, der dir begegnet / Ich zeige dir…

»Ich zeige dir die Angst in einer Handvoll Staub«, murmelte Jake und legte eine Hand auf den Türknauf. Als er das tat, durchströmte ihn wieder dieses klare Gefühl von Erleichterung und Gewißheit, das Gefühl, daß es diesmal richtig war, daß sich diesmal die Tür zu einer anderen Welt auftun und er eines Himmels gewahr werden würde, welcher unberührt von Qualm und Industrieabgasen war, und am fernen Horizont würden sich nicht Berge zeigen, sondern die dunstigen, vagen Türme einer prachtvollen unbekannten Stadt.

Er schloß die Finger um den silbernen Schlüssel in seiner Tasche und hoffte, die Tür würde verschlossen sein, damit er ihn benützen konnte. Sie war es nicht. Die Scharniere quietschten, Rostflöckchen rieselten herunter, als sie sich öffnete. Der Geruch von Fäulnis traf Jake wie ein Schlag in den Magen: nasses Holz, schimmliger Verputz, verfaulendes Lattenwerk und uralte Polster. Und unter diesen Gerüchen lag noch ein anderer – der Geruch des Baus eines Tieres. Vor ihm lag eine klamme, schattige Diele. Links erstreckte sich eine Treppe irre schief und gewunden zu den oberen Schatten. Das eingestürzte Geländer lag zersplittert auf dem Dielenboden, aber Jake war nicht so dumm, daß er glaubte, er würde nur Splitter sehen. Es lagen auch Knochen in dem Durcheinander – die Knochen kleiner Tiere. Manche sahen nicht gerade wie Tierknochen aus, und die sah Jake nicht zu lange an; er wußte, wenn er das tat, würde er nie den Mut aufbringen weiterzugehen. Er blieb auf der Schwelle stehen und ermutigte sich, den ersten Schritt zu machen. Er hörte ein leises, gedämpftes Geräusch, abgehackt und sehr schnell, und stellte fest, daß es seine eigenen klappernden Zähne waren.

Warum hält mich nicht jemand auf? dachte er panisch. Warum geht nicht jemand auf dem Gehweg vorbei und ruft: ›He, du da! Du hast da drinnen nichts zu suchen – kannst du nicht lesen?‹

Aber er wußte, warum. Fußgänger benützten meistens die andere Straßenseite, und diejenigen, die doch in die Nähe des Hauses kamen, verweilten nicht lange.

Und selbst wenn jemand herüberschauen würde, würden sie mich nicht sehen, weil ich eigentlich gar nicht mehr da bin. Ob gut oder schlecht, ich habe meine Welt bereits hinter mir gelassen. Der Übergang hat begonnen. Seine Welt liegt irgendwo vor mir. Dies…

Dies war die Hölle dazwischen.

Jake betrat die Diele, und obwohl er schrie, als die Tür mit dem Geräusch einer Mausoleumstür hinter ihm zufiel, war er eigentlich nicht überrascht.

Tief in seinem Innersten war er überhaupt nicht überrascht.

 

 

28

 

Es war einmal eine Frau namens Detta Walker gewesen, die ging gerne in die billigen Kaschemmen und Stundenhotels der Ridgeline Road außerhalb von Nutley und an der Route 88, bei der Überlandleitung außerhalb von Amhigh. Damals hatte sie noch Beine gehabt – und wußte sie zu gebrauchen, wie es in dem Lied hieß. Sie trug ein billiges enges Kleid, das wie Seide aussah, aber keine war, und tanzte mit den weißen Jungs, während die Band alle kitschigen Partyschnulzen wie ›Double Shot of My Babies Love‹ und ›The Hippy-Hippy Shake‹ spielte. Schließlich suchte sie sich ein Käsegesicht aus dem Rudel aus und ließ sich von ihm zu seinem Auto auf dem Parkplatz führen. Dort geilte sie ihn auf (eine der inbrünstigsten Küsserinnen war sie, Detta Walker, und mit den ollen Fingernägeln auch nicht gerade ungeschickt), bis er fast den Verstand verlor… und dann ließ sie ihn abblitzen. Was geschah dann? Nun, das war die Preisfrage, oder nicht? Das war das Spiel. Manche weinten und flehten – ganz gut, aber nicht toll. Andere tobten und schrien, was besser war.

Und obwohl man ihr auf den Kopf geschlagen, die Augen blau gehauen, sie angespuckt und einmal so fest in den Hintern getreten hatte, daß sie vornüber auf den Schotterparkplatz des Red Windmill gestürzt war, war sie nie vergewaltigt worden. Sie waren alle mit ihren dicken Eiern nach Hause gegangen, jeder einzelne. Was in Detta Walkers Buch bedeutete, sie war der regierende Champion, die unbesiegte Königin. Wovon? Von ihnen. Von allen zugeknöpften, verklemmten, käsegesichtigen Linkswichsern mit Bürstenschnitt.

Bis jetzt.

Es war unmöglich, dem Dämon zu trotzen, der in dem sprechenden Ring wohnte. Keine Türgriffe zum Festhalten, kein Auto, aus dem man fliehen konnte, kein Gebäude, in dem man Zuflucht suchen konnte, eine Wange zum Schlagen, kein Gesicht zum Zerkratzen, keine Eier zum Treten, wenn der Wichser schwer von Begriff war.

Der Dämon war auf ihr… und dann war er – es – wie der Blitz in ihr.

Sie konnte spüren, wie es – er – sie nach hinten drückte, obwohl sie es – ihn – nicht sehen konnte. Sie konnte seine Hände nicht sehen, aber ihr Wirken, als ihr Kleid an mehreren Stellen brutal aufgerissen wurde. Dann plötzlich Schmerzen. Ihr war zumute, als würde sie da unten entzweigerissen werden, und sie schrie in ihrer Qual und Überraschung. Eddie drehte sich um und kniff die Augen zusammen.

»Alles in Ordnung!« rief sie. »Mach weiter, Eddie, achte nicht auf mich. Mir geht es gut!«

Aber das stimmte nicht. Zum erstenmal seit Detta im Alter von dreizehn Jahren das sexuelle Schlachtfeld betreten hatte, verlor sie. Eine gräßliche, stoffliche Kälte drang in sie ein; es war, als würde sie mit einem Eiszapfen gefickt werden.

Sie bekam am Rande mit, wie Eddie sich abwandte und wieder auf den Boden malte, während sein Gesichtsausdruck teilnahmsvoller Besorgnis von der schrecklichen, konzentrierten Kälte verdrängt wurde, die sie manchmal in ihm spürte und auch in seinem Gesicht sah. Nun, das war ja recht so, oder nicht, schließlich hatte sie ihm gesagt, er solle weitermachen und nicht auf sie achten und tun, was er tun mußte, um den Jungen herüberzubringen. Dies war ihre Aufgabe bei Jakes Rettung, und sie hatte kein Recht, einen der Männer zu hassen, die ihr nicht den Arm herumgedreht – oder sonst etwas – hatten, um sie dazu zu zwingen, aber als die Kälte sie erfüllte und Eddie sich abwandte, da haßte sie sie beide; sie hätte ihnen sogar ihre käseblassen Eier abreißen können.

Dann war Roland bei ihr, legte ihr die kräftigen Hände auf die Schultern, und obwohl er nicht sprach, hörte sie ihn: Nicht kämpfen. Du kannst nicht gewinnen, wenn du kämpfst – du kannst nur sterben. Sex ist seine Waffe, Susannah, aber es ist auch seine Schwäche.

Ja. Das war immer ihre Schwäche. Der einzige Unterschied war, diesmal mußte sie ein wenig mehr geben – aber vielleicht war das nicht weiter tragisch. Vielleicht konnte sie dafür sorgen, daß dieser unsichtbare käseblasse Dämon letztendlich ein bißchen mehr bezahlen mußte.

Sie zwang sich, die Schenkel zu entspannen. Diese wurden sofort gespreizt und zeichneten lange, geschwungene Fächer auf den Boden. Sie warf den Kopf zurück, spürte den inzwischen strömenden Regen, spürte sein Gesicht dicht über ihrem, seine gierigen Augen, die jede Verzerrung ihres Gesichts in sich aufsogen.

Sie hob eine Hand wie zum Schlag… doch statt dessen schlang sie sie ihrem dämonischen Vergewaltiger um den Hals. Es war, als würde sie eine Handvoll soliden Rauch zu fassen bekommen. Und spürte sie nicht, wie er ob ihrer Zärtlichkeit überrascht zurückzuckte? Sie stemmte die Hüften hoch, wobei sie ihren Griff um den unsichtbaren Hals als Stütze benützte. Gleichzeitig spreizte sie die Beine noch mehr und riß dabei die verbliebenen Überreste ihres Kleids an den Nähten auf. Herrgott, er war riesig!

»Komm schon«, keuchte sie. »Mich wirst du nicht vergewaltigen. Du nicht. Mich willst du ficken? Ich werd’ dich ficken. Ich verpaß dir’n Fick, wiede noch kein’ erlebt hast! Ich fick dich zu Tode

Sie spürte die Manifestation in sich zittern; konnte fühlen, wie der Dämon zumindest vorübergehend versuchte, sich zurückzuziehen und neu zu gruppieren.

»Nn-nnn, Süßer«, krächzte sie. Sie drückte die Schenkel zusammen und klemmte ihn ein. »Der Spaß fängt doch grad erst an.« Sie kniff die Pobacken zusammen und rammte gegen das unsichtbare Wesen. Mit der freien Hand griff sie hoch, verschränkte alle zehn Finger ineinander und ließ sich mit hochgestemmten Hüften zurückfallen; ihre Arme schienen nichts zu umklammern. Sie warf das schweißnasse Haar aus dem Gesicht; die Lippen hatte sie zu einem Haifischgrinsen verzerrt.

Laß mich los! rief eine Stimme in ihrem Kopf. Aber gleichzeitig konnte sie spüren, wie der Dämon fast gegen seinen Willen auf sie ansprach.

»Auf gar kein’ Fall, Hübscher. Du hast’s gewollt… jetzt kriegstes.« Sie stieß nach oben, hielt sich fest, konzentrierte sich mit allen Sinnen auf die Eiseskälte in ihr. »Ich werde den Eiszapfen schmelzen, Süßer, und wenner wech is’, was machstn dann?« Sie hob und senkte, hob und senkte die Hüften. Sie kniff die Schenkel unbarmherzig zusammen, machte die Augen zu, umklammerte den unsichtbaren Hals noch fester und betete, daß Eddie sich beeilen würde.

Sie wußte nicht, wie lange sie das durchstehen konnte.

 

 

29

 

Das Problem, dachte Jake, war einfach. Irgendwo in diesem feuchten, gräßlichen Haus befand sich eine verschlossene Tür. Die richtige Tür. Er mußte sie nur finden. Aber das war schwer, denn er konnte spüren, wie sich die Präsenz im Haus sammelte. Das Geräusch dieser dissonanten, brabbelnden Stimmen verschmolz allmählich zu einem einzigen Laut – einem leisen, knirschenden Flüstern.

Und es kam näher.

Rechts stand eine Tür offen. Daneben war eine verblichene Daguerreotypie an die Wand getackert, die einen Gehängten zeigte, der wie eine Frucht von einem toten Baum baumelte. Dahinter lag ein Zimmer, das einmal eine Küche gewesen war. Der Kühlschrank war nicht mehr da, aber eine riesige Eisbox stand am gegenüberliegenden Ende des welligen, ausgetretenen Linoleums. Die Klappe stand offen. Eine schwarze, übelriechende Masse war drinnen getrocknet und bildete eine längst geronnene Pfütze auf dem Boden. Die Küchenschränke standen offen. In einem stand die wahrscheinlich älteste Dose Snow’s Fritierte Muscheln der Welt. Aus einem anderen ragte der Kopf einer toten Ratte heraus. Die Augen waren weiß und schienen sich zu bewegen, doch nach einem Augenblick wurde Jake klar, daß Maden in den leeren Augenhöhlen wuselten.

Etwas fiel ihm mit einem klatschenden Plumps aufs Haar. Jake schrie überrascht auf, griff danach und bekam etwas zu fassen, das sich wie ein weicher, pelziger Gummiball anfühlte. Er zog es weg und sah, daß es sich um eine Spinne handelte, deren aufgedunsener Leib die Farbe eines frischen Blutergusses hatte. Ihre Augen sahen ihn voll dumpfer Heimtücke an. Jake schleuderte sie gegen die Wand. Dort zerplatzte sie und blieb mit schwach zuckenden Beinen kleben.

Eine zweite ließ sich auf seinem Hals nieder. Jake spürte einen plötzlichen schmerzhaften Biß direkt unter der Stelle, wo sein Haar aufhörte. Er lief in die Diele zurück, stolperte über das heruntergefallene Treppengeländer, fiel hin und spürte die Spinne platzen. Ihre Innereien – naß, fiebrig und glitschig – flossen wie warmer Eidotter zwischen seinen Schulterblättern hinunter. Jetzt konnte er noch mehr Spinnen durch die Küchentür erkennen. Manche hingen wie obszöne Senkbleie an fast unsichtbaren Fäden; andere ließen sich einfach mit einer Reihe feuchter Plumpser auf den Boden fallen und kamen herübergewuselt, um ihn zu begrüßen.

Jake rappelte sich immer noch schreiend auf die Füße. Er spürte, wie etwas in seinem Verstand – das sich wie ein zerschlissenes Seil anfühlte – langsam nachgab. Er vermutete, daß das seine geistige Gesundheit war, und an dieser Erkenntnis zerbrach Jakes beachtlicher Mut schließlich. Er konnte es nicht mehr ertragen, was auch auf dem Spiel stehen mochte. Er warf sich herum und wollte fliehen, wenn er noch konnte, und stellte zu spät fest, daß er noch weiter in die Villa hineinlief, statt auf die Veranda zurück.

Er sprang in einen Raum, der zu groß für einen Salon oder ein Wohnzimmer war; es schien ein Ballsaal zu sein. Elfen mit seltsam verschlagenem Grinsen im Gesicht tummelten sich auf der Tapete und sahen Jake unter grünen Spitzhüten an. An einer Wand stand eine schimmlige Couch. In der Mitte auf dem Fußboden lag ein zerschellter Lüster, dessen rostige Kette verschlungen zwischen den verstreuten Glasperlen und staubigen -tränen lag. Jake wich den Trümmern aus und warf einen entsetzten Blick über die Schulter. Er sah keine Spinnen; wäre die eklige Masse nicht immer noch an seinem Rücken heruntergerutscht, hätte er glauben können, daß er sich alles nur eingebildet hatte.

Er sah wieder nach vorne und blieb unvermittelt schlitternd stehen. Vor ihm stand eine Schiebetür halb offen. Dahinter erstreckte sich ein weiterer Flur. Am Ende dieses zweiten Korridors befand sich eine geschlossene Tür mit einem goldenen Knauf. Auf diese Tür waren zwei Worte geschrieben – möglicherweise geschnitzt:

 

DER JUNGE

 

Unter diesem Türknauf befanden sich eine filigrane Silberplatte und ein Schlüsselloch.

Ich habe sie gefunden, dachte Jake jauchzend. Ich habe sie endlich gefunden! Das ist sie! Das ist die Tür!

Hinter ihm begann ein leises Fauchen, als würde sich das Haus selbst in Stücke reißen. Jake drehte sich um und sah durch den Ballsaal zurück. Die Wand an der gegenüberliegenden Seite wölbte sich nach außen und schob die alte schimmlige Couch fort. Die alte Tapete bebte; die Elfen fingen an zu wogen und zu tanzen. An manchen Stellen rollte sich die Tapete einfach nach oben wie eine Jalousie, die man zu schnell losgelassen hat. Der Verputz bauschte sich zu einer schwangeren Wölbung. Darunter konnte Jake trockenes Knacken hören, als das Lattenwerk brach und sich zu einer neuen, bis jetzt noch unbekannten Form arrangierte. Und das Geräusch wurde immer noch lauter. Aber jetzt war es kein Fauchen mehr; jetzt hörte es sich an wie ein Knurren.

Der Verputz brach nicht und prasselte dann in Trümmern herunter; er schien zu Plastik geworden zu sein, und während sich die Wand weiter aufblähte und eine Art weißer Kugel bildete, von der immer noch Schnipsel und Fetzen der Tapete baumelten, modellierte sich die Oberfläche zu Hügeln und Tälern und Kurven. Plötzlich wurde Jake klar, daß er ein riesiges Plastikgesicht vor sich sah, das sich aus der Wand drängte. Es war, als sähe man jemanden, der Kopf voraus in ein nasses Handtuch gelaufen war.

Ein lautes Knacken war zu hören, als ein Stück Latte aus der gewölbten Wand brach. Diese wurde zur unregelmäßigen Pupille eines Auges. Darunter verwandelte sich die Wand in einen höhnischen Mund mit schiefen Zähnen. Jake konnte sehen, daß Fetzen der Tapete an Lippen und Zahnfleisch klebten.

Eine Mörtelhand löste sich von der Wand und zog ein loses Armband alter Stromkabel hinter sich her. Sie packte das Sofa, warf es beiseite und hinterließ geisterhaft blasse Abdrücke auf dem dunklen Polster. Als sie die Mörtelfinger spreizte, brachen weitere Latten. Diese bildeten scharfe rissige Krallen. Inzwischen hatte sich das Gesicht ganz aus der Wand gelöst und starrte Jake mit einem Holzauge an. Über dem tanzte mitten auf der Stirn noch eine Elfe der Tapete. Sie sah wie eine unheimliche Tätowierung aus. Das Ding glitt mit einem schlurfenden Geräusch nach vorne. Die Tür zum Flur brach aus der Wand und bildete eine bucklige Schulter. Die eine Hand des Dings krallte über den Boden und verspritzte Glastropfen von dem heruntergestürzten Lüster.

Jake schüttelte seine Lähmung ab. Er drehte sich um, warf sich durch die Schiebetür und stürmte mit hüpfendem Ranzen den zweiten Flur entlang, während er mit der rechten Hand in der Hosentasche nach dem Schlüssel tastete. Sein Herz war eine amoklaufende Fabrikmaschine. Hinter ihm brüllte das Ding, das aus dem Mauerwerk der Villa kroch, und obwohl es keine Worte herausbrachte, wußte Jake, was es sagte; es sagte ihm, er solle stehenbleiben, es wäre vergeblich, einfach wegzulaufen, sagte ihm, daß es kein Entkommen gab. Jetzt schien das ganze Haus am Leben zu sein; das Splittern von Holz und Bersten von Balken erfüllten die Luft.

Jake schloß die Hand um den Schlüssel. Als er ihn herauszog, verfing sich einer der Zähne in der Tasche. Jakes schweißnasse Finger rutschten ab. Der Schlüssel fiel auf den Boden, prallte einmal ab, fiel in einen Spalt zwischen zwei verzogenen Brettern und verschwand.

 

 

30

 

»Er hat Schwierigkeiten!« hörte Susannah Eddie rufen, aber seine Stimme klang fern. Sie hatte selbst genügend Probleme… aber sie fand, daß sie sich dennoch ganz gut schlug.

Ich werd’ den Eiszapfen schmelzen. Süßer, hatte sie dem Dämon gesagt. Und wenn er wech is’, was machstn dann?

Sie hatte ihn nicht gerade geschmolzen, aber sie hatte ihn verändert. Das Ding in ihr bereitete ihr ganz bestimmt keine Lust, aber wenigstens hatten die schrecklichen Schmerzen nachgelassen, und es war nicht mehr kalt. Es war gefangen und konnte sich nicht befreien. Und sie hielt es nicht nur mit ihrem Körper fest. Roland hatte gesagt, Sex wäre seine Schwäche und seine Waffe, und Roland hatte wie üblich recht gehabt. Es hatte sie genommen, aber sie hatte auch es genommen, und jetzt war es, als hätten sie beide einen Finger in einer dieser teuflischen chinesischen Schlingen, in die man sich durch Ziehen nur noch fester verstrickt.

Sie klammerte sich an diesen Gedanken, als hinge ihr Leben davon ab; das mußte sie, weil alle anderen bewußten Gedanken aus ihr gewichen waren. Sie mußte dieses schluchzende, ängstliche, teuflische Ding in der Schlinge seiner eigenen hilflosen Lust festhalten. Es wand sich und zuckte und bohrte sich in sie hinein, schrie danach, befreit zu werden, und benützte ihren Körper gleichzeitig mit einem lüsternen, hilflosen Fieber, aber sie gab es nicht frei.

Und was passiert, wenn ich es schließlich freigebe? fragte sie sich verzweifelt. Was wird es tun, um es mir heimzuzahlen?

Sie wußte es nicht.

 

 

31

 

Es regnete in Strömen, und es sah aus, als würde der Kreis in den Steinen sich in ein Meer aus Schlamm verwandeln. »Halt etwas über die Tür!« schrie Eddie. »Laß nicht zu, daß der Regen sie fortspült!«

Roland riskierte einen Blick auf Susannah und stellte fest, daß diese immer noch mit dem Dämon rang. Sie hatte die Augen halb geschlossen und den Mund zu einer verbissenen Grimasse verzerrt. Er konnte den Dämon weder sehen noch hören, spürte aber seine wütenden, ängstlichen Bewegungen.

Eddie wandte ihm das tropfnasse Gesicht zu. »Hast du nicht gehört?« brüllte er. »Halt etwas über die verdammte Tür, aber SCHNELL!«

Roland riß eines ihrer Felle aus dem Rucksack und nahm eine Ecke in jede Hand. Dann streckte er die Arme aus, beugte sich über Eddie und bildete ein behelfsmäßiges Zelt. Die Spitze von Eddies selbstgemachtem Zeichenstift war schlammverklebt. Er wischte ihn am Ärmel ab und hinterließ dabei eine Schliere in der Farbe von Bitterschokolade, dann schloß er wieder die Faust um den Ast und beugte sich über seine Zeichnung. Sie war nicht so groß wie die Tür auf Jakes Seite – nur etwa drei Viertel so groß –, aber sie würde groß genug sein, daß Jake durchkommen konnte… wenn die Schlüssel funktionierten.

Wenn er überhaupt einen Schlüssel besitzt, hast du das nicht gemeint? fragte er sich. Wenn er ihn nun fallen gelassen hat… oder wenn das Haus ihn dazu gebracht hat, ihn fallen zu lassen?

Er malte ein Rechteck unter den Kreis, der den Türknopf darstellte, zögerte und zeichnete dann den vertrauten Umriß eines Schlüssellochs hinein.

 

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Er zögerte erneut. Da war noch etwas, aber was? Es fiel ihm schwer zu denken, weil ein Wirbelsturm durch seinen Kopf toste, ein Wirbelsturm, in dem wahllose Gedanken wirbelten statt abgedeckter Dächer und Scheunen und Hühnerhäuser.

»Komm schon, Süßah!« schrie Susannah hinter ihm. »Machste schlapp? Wassn los mit dir? Ich hab’ gedacht, du wärstn heißblütiger Hengst, Junge!«

Junge. Das war es.

Mit der Spitze des Astes schrieb er aufmerksam DER JUNGE ins obere Feld der Tür. In dem Augenblick, als er das E vollendet hatte, veränderte sich das Bild. Der Kreis, den er in die regennasse Erde gemalt hatte, wurde noch dunkler… bohrte sich aus dem Boden heraus und wurde zu einem dunklen, glänzenden Knauf. Und anstelle brauner, feuchter Erde in dem Schlüsselloch konnte er ein schwaches Licht erkennen.

Hinter ihm keifte Susannah erneut und feuerte den Dämon an, aber jetzt hörte sie sich an, als würde sie müde werden. Es mußte durchgezogen werden, und zwar schnell.

Eddie beugte sich in der Hüfte nach vorne wie ein Moslem, der Allah anbetet, und hielt das Auge über das Schlüsselloch, das er gezeichnet hatte. Er sah in seine eigene Welt, in das Haus, das er und Henry im Mai 1977 besucht hatten, ohne zu bemerken (nur hatte er, Eddie, es doch bemerkt; schon damals war er nicht völlig ahnungslos gewesen), daß ihnen ein Junge aus einem anderen Stadtteil gefolgt war.

Er sah einen Flur. Jake kauerte auf Händen und Knien und zerrte panisch an einem Dielenbrett. Etwas war hinter ihm her. Eddie konnte es sehen und doch wieder nicht – es war, als würde ein Teil seines Gehirns sich weigern zu sehen, als würde das Sehen zu Verstehen und das Verstehen zu Wahnsinn führen.

»Beeil dich, Jake!« rief er in das Schlüsselloch. »Beweg dich, um Gottes willen!«

Über dem sprechendem Ring grollte Donner am Himmel wie Kanonenfeuer, und der Regen wurde zu Hagel.

 

 

32

 

Nachdem der Schlüssel gefallen war, stand Jake einen Moment nur reglos da und betrachtete die schmale Fuge zwischen den Dielenbrettern.

Unglaublich, aber er war müde.

Das hätte nicht passieren dürfen, dachte er. Es war einfach zuviel. Ich kann nicht mehr, keine Minute, nicht einmal eine einzige Sekunde länger. Ich werde mich vor dieser Tür hinlegen. Ich werde sofort einschlafen, und wenn es mich packt und ins Maul schiebt, werde ich nicht einmal aufwachen.

Dann grunzte das Ding, das aus der Wand kam, und als Jake aufsah, verschwand sein Wunsch, alles aufzugeben, mit einem einzigen Anflug von Grauen. Inzwischen hatte es sich ganz aus der Wand befreit, ein riesiger Mörtelkopf mit einem Holzauge und einer greifenden Hand. Lattensplitter standen wahllos von dem Kopf ab, als hätte ein Kind Haare gemalt. Als er Jake sah, machte er den Mund auf und entblößte unebenmäßige Holzzähne. Er grunzte erneut. Mörtelstaub quoll aus dem klaffenden Maul wie Zigarrenrauch.

Jake ließ sich auf die Knie fallen und sah in den Riß. Der Schlüssel war ein schwaches silbernes Glimmern in der Dunkelheit da unten, aber die Fuge war so schmal, daß er unmöglich mit den Fingern hineingreifen konnte. Er packte eines der Dielenbretter und zerrte mit aller Kraft daran. Die Nägel ächzten… aber sie hielten.

Ein klirrendes Krachen war zu hören. Er sah den Flur entlang und erblickte die Hand, größer als sein ganzer Körper, die den heruntergestürzten Lüster ergriff und beiseite warf. Die rostige Kette, die ihn einst gehalten hatte, schnellte wie eine Peitsche in die Höhe und sank mit einem lauten Klirren wieder herunter. Eine Lampe über Jake rasselte an einer rostigen Kette, staubiges Glas klirrte gegen uraltes Messing.

Der Kopf des Torwächters, der lediglich mit der einen buckligen Schulter und dem Arm verbunden war, glitt auf dem Boden weiter. Hinter ihm stürzten die Überreste der Mauer in einer Staubwolke ein. Einen Augenblick später formierten sich die Bruchstücke und wurden zum mißgestalteten, knochigen Rücken der Kreatur.

Der Türwächter erblickte Jake, der ihn ansah, und schien zu grinsen. Dabei bohrten sich Holzsplitter durch seine runzligen Wangen. Er schleppte sich weiter durch den staubigen Ballsaal und machte dabei den Mund auf und zu. Die große Hand tastete in den Ruinen, suchte nach Halt und riß einen Flügel der Schiebetür am Ende des Flurs aus der Schiene.

Jake schrie atemlos und zerrte erneut an dem Brett. Es rührte sich nicht, aber da ertönte die Stimme des Revolvermanns:

Der andere, Jake! Versuch es mit dem anderen!

Er ließ das Brett los, an dem er gezogen hatte, und packte das auf der anderen Seite der Fuge. Als er das tat, erklang eine zweite Stimme. Diese hörte er nicht mit dem Kopf, sondern mit den Ohren, und begriff, daß sie von der anderen Seite der Tür kam – der Tür, nach der er seit dem Tag gesucht hatte, als er nicht auf der Straße überfahren worden war.

»Beeil dich, Jake! Um Gottes willen, beeil dich!«

Als er an dem anderen Brett zog, löste sich dieses so mühelos, daß Jake fast nach hinten gekippt wäre.

 

 

33

 

Zwei Frauen standen unter der Tür des Secondhandladens auf der anderen Straßenseite gegenüber der Villa. Die ältere war die Besitzerin, die jüngere war ihre einzige Kundin. Als der Lärm brechender Balken und einstürzender Wände einsetzte, schlang jede, ohne es zu bemerken, die Arme um die Hüften der anderen; so blieben sie stehen, zitternd wie Kinder, die ein Geräusch in der Dunkelheit hören.

Ein Stück weiter oben an der Straße starrten drei Jungs auf dem Weg zum Spielfeld der Jugendliga die Villa mit offenen Mündern an; den Red-Ball-Flyer-Wagen mit der Baseballausrüstung hinter sich hatten sie vergessen. Ein Lieferant parkte seinen Laster am Straßenrand und stieg staunend aus. Die Besitzer von Henry’s Corner Market und dem Dutch Hill Pub kamen auf die Straße gestürzt und sahen sich panisch um.

Jetzt fing der Boden an zu beben, und ein Netz feiner Risse schien sich über die Rhinehold Street zu ziehen.

»Ist es ein Erdbeben?« rief der Lieferant den beiden Frauen vor dem Secondhandladen zu, aber statt auf eine Antwort zu warten, sprang er wieder in den Wagen, fuhr rasch weiter und scherte sogar auf die Gegenfahrbahn aus, damit er der Villa nicht zu nahe kam, die das Epizentrum des Bebens zu sein schien.

Das ganze Haus wölbte sich nach innen. Bretter splitterten, schnellten von der Fassade weg und fielen in den Garten. Schmutzige, grauschwarze Wasserfälle von Schindeln regneten von den Erkern herab. Ein ohrenbetäubendes Krachen ertönte, dann bildete sich ein zickzack-förmiger Riß durch die gesamte Mitte der Villa. Die Tür verschwand darin, und dann wurde das ganze Haus von außen nach innen verschluckt.

Die jüngere Frau befreite sich plötzlich aus dem Griff der älteren. »Ich verschwinde von hier«, sagte sie und lief die Straße entlang, ohne sich noch einmal umzudrehen.

 

 

34

 

Ein heißer, merkwürdiger Wind wehte mit einemmal den Flur entlang und blies Jake das schweißnasse Haar aus der Stirn, während seine Finger sich um den silbernen Schlüssel verkrampften. Er begriff jetzt auf einer instinktiven Ebene, was dieses Haus war und was gerade stattfand. Der Torwächter war nicht einfach in dem Haus, er war das Haus: jedes Brett, jede Schindel, jeder Fenstersims, jeder Erker. Und jetzt drängte er vorwärts und wurde dabei zu einer irren, gehackstückelten Repräsentation seiner wahren Gestalt. Er wollte Jake packen, bevor dieser den Schlüssel benützen konnte. Hinter dem gigantischen weißen Kopf und der verkrümmten, buckligen Schulter flogen Bretter und Schindeln und Kabel und Glasscherben – sogar von der Eingangstür und dem eingestürzten Geländer – durch die Diele in den Ballsaal, vereinigten sich mit der Gestalt dort und schufen mehr und mehr von dem mißgestalteten Mörtelmann, der jetzt die ungeschlachte Hand nach Jake ausstreckte.

Jake zog seine Hand aus dem Spalt im Boden und sah, daß sie von großen, krabbelnden Käfern bedeckt war. Er schlug gegen die Wand, um sie abzuschütteln, und schrie auf, als sich die Wand auftat und dann versuchte, sich um sein Handgelenk zu schließen. Er konnte die Hand gerade noch rechtzeitig herausziehen, wirbelte herum und rammte den silbernen Schlüssel ins Schlüsselloch.

Der Mörtelmann brüllte wieder, aber sein Schrei wurde vorübergehend von einem harmonischen Ruf übertönt, den Jake kannte: Er hatte ihn auf dem Brachgrundstück gehört, doch damals war er leise gewesen, möglicherweise träumend. Jetzt war es ein schallender Triumphschrei. Das Gefühl der Sicherheit – überwältigend, unbestreitbar – erfüllte Jake wieder, und diesmal war er gewiß, er würde nicht enttäuscht werden. Er hörte die Ermutigung, die er brauchte, aus dieser Stimme heraus. Es war die Stimme der Rose.

Das düstere Licht im Flur wurde vollends verdunkelt, als die Mörtelhand die andere Schiebetür wegriß und sich in den Flur zwängte. Das Gesicht quetschte sich an die Öffnung über der Hand und betrachtete Jake. Die Mörtelfinger krabbelten auf ihn zu wie die Beine einer Riesenspinne.

Jake drehte den Schlüssel herum und spürte, wie ein Energiestrom seinen Arm entlangfloß. Er hörte ein schweres, gedämpftes Pochen, als der Riegel drinnen zurückschnappte. Er packte den Knauf und drehte und riß die Tür auf. Diese schwang zurück. Jake schrie verwirrt und entsetzt auf, als er sah, was dahinter lag.

Der Durchgang war mit Erde versperrt – von oben bis unten, von rechts bis links. Wurzeln ragten wie Kabel daraus hervor. Würmer, die ebenso verwirrt zu sein schienen wie Jake selbst, schlängelten sich auf der türförmigen, gestampften Erde hin und her. Manche bohrten sich wieder hinein, andere krabbelten einfach weiter herum, als würden sie sich fragen, wohin der Boden verschwunden war, den sie vor einem Augenblick noch unter sich gehabt hatten. Einer fiel auf Jakes Turnschuh.

Die Schlüssellochform blieb noch einen Moment erhalten und warf ein vages weißes Licht auf Jakes Hemd. Dahinter – so nahe, so unerreichbar! – konnte er Regen und gedämpftes Donnergrollen am offenen Himmel hören. Dann wurde auch das Schlüsselloch verdeckt, und riesige Mörtelfinger krümmten sich um Jakes Bein.

 

 

35

 

Eddie spürte das Prasseln des Hagels nicht, als Roland das Fell fallen ließ, aufsprang und zu der Stelle lief, wo Susannah lag.

Der Revolvermann packte sie unter den Achseln und zog sie – so sanft und behutsam er konnte – zum kauernden Eddie hinüber. »Laß ihn los, wenn ich es dir sage, Susannah!« brüllte Roland. »Hast du verstanden? Wenn ich es dir sage!«

Das alles sah und hörte Eddie nicht. Er hörte nur Jake, der gedämpft auf der anderen Seite der Tür schrie.

Die Zeit war gekommen, den Schlüssel zu benützen.

Er zog ihn aus dem Hemd und steckte ihn in das Schlüsselloch, das er gezeichnet hatte. Er versuchte, ihn zu drehen. Der Schlüssel drehte sich nicht. Keinen Millimeter. Eddie hob das Gesicht in den prasselnden Hagel, achtete nicht auf die Eiskörner, die ihm auf Stirn, Wangen, Lippen prasselten und Schwellungen und rote Flecken hinterließen.

»NEIN!« heulte er. »O GOTT, BITTE! NEIN!«

Aber er bekam keine Antwort von Gott; lediglich ein weiterer Donnerknall ertönte, und ein Blitz zuckte über einen Himmel, der jetzt von rasenden Wolken bedeckt wurde.

 

 

36

 

Jake schnellte in die Höhe, packte die Lampenschnur, die über ihm hing, und entzog sich den gekrümmten Fingern des Torwächters. Er schwang zurück, stieß sich von der gestampften Erde in der Tür ab und schwang wieder vorwärts wie Tarzan an einer Liane. Er zog die Beine an und kickte nach den Mörtelfingern, als er in ihre Nähe kam. Mörtel explodierte zu Trümmern und entblößte ein Skelett aus Latten darunter. Der Mörtelmann brüllte, eine Mischung aus Gier und Wut. Über diesen Schrei hinweg konnte Jake hören, wie das ganze Haus einstürzte – wie das in der Geschichte von Edgar Allan Poe.

Er schwang wie ein Pendel zurück, berührte die Wand gestampfter Erde, die die Tür versperrte, und schwang wieder nach vorne. Die Hand streckte sich ihm entgegen; er kickte panisch danach und spreizte die Beine. Er verspürte stechende Schmerzen im Bein, als die Holzfinger zupackten, und wie er das nächstemal zurückschwang, fehlte ihm ein Turnschuh.

Er versuchte, sich an der Lampenschnur hochzuziehen, was ihm gelang, und kletterte Richtung Decke. Über ihm erklang ein gedämpftes, berstendes Krachen. Feiner Mörtelstaub regnete ihm in das aufwärts gerichtete, schwitzende Gesicht. Die Decke gab nach, die Lampenschnur glitt Segmet für Segment daraus hervor. Vom Ende des Flurs erklang ein Knirschen, als es dem Mörtelmann endlich gelang, das gierige Gesicht durch die Öffnung zu zwängen.

Jake schwang hilflos schreiend zu diesem Gesicht zurück.

 

 

37

 

Eddies Panik und Entsetzen fielen mit einemmal von ihm ab. Der Mantel der Kälte senkte sich über ihn – ein Mantel, den Roland von Gilead viele Male getragen hatte. Er war die einzige Rüstung, die der wahre Revolvermann besaß… und die er brauchte. Gleichzeitig sprach eine Stimme in seinem Verstand. In den letzten drei Monaten hatten ihn solche Stimmen gequält; die Stimme seiner Mutter, Rolands Stimme und natürlich die von Henry. Aber diese, stellte er erleichtert fest, war seine eigene, und sie war endlich ruhig und vernünftig und tapfer.

Du hast die Form des Schlüssels im Feuer gesehen, du hast sie wieder in dem Holz gesehen, und du hast sie beide Male deutlich gesehen. Später hast du dir eine Binde der Angst über die Augen gelegt. Nimm sie ab. Nimm sie ab und sieh noch einmal hin. Es ist vielleicht noch nicht zu spät.

Er bekam am Rande mit, daß der Revolvermann ihn grimmig betrachtete; daß Susannah mit schwächerer, aber immer noch trotziger Stimme auf den Dämon einschrie; daß Jake auf der anderen Seite der Tür vor Entsetzen aufschrie – oder war es jetzt vor Schmerzen?

Eddie achtete auf gar nichts. Er zog den Holzschlüssel aus dem Schlüsselloch, das er gezeichnet hatte, aus der Tür, die jetzt echt war, und betrachtete ihn eindringlich, während er versuchte, die unschuldige Freude heraufzubeschwören, die er manchmal als Kind empfunden hatte – die Freude, eine verständliche Form im Sinnlosen zu sehen. Und da war sie, die Stelle, wo er den Fehler gemacht hatte, so überdeutlich, daß ihm unbegreiflich war, wie er sie überhaupt hatte übersehen können. Ich muß wirklich eine Augenbinde getragen haben, dachte er. Es lag selbstverständlich an der S-Form am Ende des Schlüssels. Die zweite Kurve war ein bißchen zu dick. Nur ein winziges bißchen.

»Messer«, sagte er und streckte die Hand aus wie ein Chirurg im Operationssaal. Roland drückte es ihm ohne ein Wort in die Hand.

Eddie nahm das Ende der Klinge zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand. Er beugte sich über den Schlüssel, achtete nicht auf den Hagel, der ihm auf den ungeschützten Nacken prasselte, und sah die S-Form im Holz, die jetzt deutlicher vorstand – mit ihrer eigenen lieblichen und unbestreitbaren Realität vorstand.

Er schnitzte.

Einmal.

Zaghaft.

Ein winziges Scheibchen Eschenholz, so dünn, daß es fast transparent war, schälte sich vom Bauch der S-Form am Ende des Schlüssels.

Auf der anderen Seite der Tür schrie Jake Chambers erneut.

 

 

38

 

Die Schnur riß mit einem Klirren. Jake stürzte ab wie ein Stein und landete auf den Knien. Der Torwächter schrie triumphierend. Die Mörtelhand packte Jake an der Taille und zog ihn langsam den Flur entlang. Er machte die Beine steif und stemmte die Fersen gegen den Sog, aber es war vergebens. Er spürte, wie sich Splitter und rostige Nägel in seine Haut bohrten, als die Hand fester zudrückte und ihn weiterzog.

Das Gesicht schien im Eingang zum Flur festzustecken wie ein Korken in der Flasche. Der Druck, den es aufgewendet hatte, um so weit zu kommt, hatte die rudimentären Gesichtszüge in eine neue Form gepreßt, die eines monströsen, mißgebildeten Trolls. Das Maul klaffte auf, um ihn aufzunehmen. Jake grapschte verzweifelt nach dem Schlüssel, den er als eine Art Talisman in der Not verwenden wollte, aber er hatte ihn natürlich in der Tür stecken lassen.

»Du Miststück!« schrie er und warf sich mit aller Gewalt nach hinten, wobei er den Rücken krümmte wie ein olympischer Taucher, ohne auf die abgebrochenen Latten zu achten, die sich wie ein Stachelhalsband in seinen Körper bohrten. Er spürte, wie seine Jeans an den Hüften hinabrutschten, und der Griff der Hand lockerte sich vorübergehend.

Jake warf sich noch einmal herum. Die Hand klammerte brutal, aber seine Jeans rutschten bis zu den Knien hinunter, und er fiel auf den Rücken, wo der Ranzen die Wucht des Sturzes dämpfte. Die Hand ließ locker, weil sie die Beute wahrscheinlich um so fester packen wollte. Es gelang Jake, die Knie ein Stück hochzuziehen, und als die Hand sich wieder schloß, rammte er die Beine vorwärts. Die Hand zog gleichzeitig, und worauf Jake gehofft hatte, trat ein: Seine Jeans (und der verbliebene Turnschuh) wurden ihm vom Leib gerissen, wodurch er zumindest momentan wieder frei war. Er sah, wie die Hand sich an ihrem Gelenk aus Lattenwerk und bröckelndem Mörtel drehte und seine Jeans in den Mund stopfte. Dann kroch er auf Händen und Knien zu der versperrten Tür zurück, ohne auf die Glasscherben der zerschmetterten Lampe zu achten, weil er nur zu seinem Schlüssel zurück wollte.

Er hatte die Tür fast erreicht, als sich die Hand um seine nackten Beine klammerte und ihn wieder Stück für Stück zurückzog.

 

 

39

 

Die Form war jetzt richtig, endlich richtig.

Eddie steckte den Schlüssel wieder ins Schlüsselloch und übte Druck aus. Einen Augenblick spürte er Widerstand… und dann drehte der Schlüssel sich unter seiner Hand. Er hörte, wie sich der Mechanismus des Schlosses drehte, hörte den Riegel zurückgleiten und spürte, wie der Schlüssel in dem Augenblick, als er seinen Zweck erfüllt hatte, entzweibrach. Er packte den dunklen, polierten Knauf mit beiden Händen und zog. Er hatte das Gefühl, als würde sich ein schweres Gewicht auf einer unsichtbaren Achse drehen. Ein Gefühl, als wäre seinem Arm unbändige Kraft geschenkt worden. Und das deutliche Wissen, daß zwei Welten plötzlich miteinander in Kontakt gekommen waren und sich eine Verbindung zwischen ihnen aufgetan hatte.

Er erlebte einen Augenblick des Schwindels und der Desorientierung, und als er durch die Tür sah, wurde ihm der Grund dafür klar: Obwohl er nach unten sah – vertikal –, sah er horizontal. Wie eine seltsame optische Täuschung, die mit Prismen und Spiegeln bewerkstelligt wurde. Dann sah er Jake, der den mit Glasscherben und Mörtel übersäten Flur entlanggezogen wurde – seine Ellbogen schleiften am Boden, und eine gigantische Hand drückte seine Knöchel zusammen. Und er sah das monströse Maul, das Jake erwartete und aus dem weißer Dunst quoll, bei dem es sich um Rauch oder Staub handeln konnte.

»Roland!« schrie Eddie. »Roland, es hat i…«

Dann wurde er zur Seite geschleudert.

 

 

40

 

Susannah merkte, daß sie emporgehoben und herumgewirbelt wurde. Die Welt verschwamm wie auf dem Karussell zu Schlieren; aufrechte Steine, grauer Himmel, hagelübersäter Boden… und ein rechteckiges Loch, das wie eine Falltür im Boden aussah. Schreie ertönten darin. Der Dämon in ihr stieß und zuckte; er wollte nur noch fort, konnte es aber nicht, solange sie ihn nicht ließ.

»Jetzt!« schrie Roland. »Laß ihn jetzt gehen, Susannah! Bei deinem Vater, laß ihn SOFORT gehen!«

Sie gehorchte.

Sie hatte (mit Dettas Hilfe) in ihrem Verstand eine Falle für ihn geschaffen, so etwas wie ein Netz aus geflochtenen Seilen, und jetzt schnitt sie diese Seile durch. Sie spürte, wie der Dämon sofort von ihr wich, und erlebte einen Augenblick schrecklicher Leere. Dieses Gefühl wurde freilich gleich darauf durch die grimmige Empfindung von Ekel und Besudelung verdrängt.

Als die unsichtbare Last von ihr abfiel, erblickte sie ihn kurz – eine nichtmenschliche Gestalt wie ein Mantarochen mit gewaltigen, angelegten Schwingen und etwas wie einem grausamen Angelhaken, der unten von ihm abstand. Sie sah/spürte, wie das Ding zu dem offenen Loch im Boden sauste. Sah Eddie mit aufgerissenen Augen aufschauen. Sah Roland die Arme ausbreiten, um den Dämon zu ergreifen.

Der Revolvermann taumelte rückwärts und wurde vom unsichtbaren Gewicht des Dämons fast von den Füßen gerissen. Dann beugte er sich mit einem Armvoll Nichts wieder nach vorne.

Er umklammerte dieses Nichts fest, sprang durch die Tür und verschwand.

 

 

41

 

Plötzlich strömte weißes Licht in den Flur der Villa; Hagelkörner prasselten gegen die Wände und auf die gesprungenen Bodendielen. Jake hörte wirre Schreie, dann sah er den Revolvermann durchkommen. Aber er schien zu springen, als käme er von oben. Die Arme hielt er vor sich, die Fingerspitzen ineinander verhakt.

Jake spürte, wie seine Füße ins Maul des Torwächters rutschten.

»Roland!« schrie er. »Roland, hilf mir!«

Der Revolvermann löste die Finger, und sofort wurden seine Arme auseinandergedrückt. Er taumelte rückwärts. Jake spürte, wie scharfkantige Zähne seine Beine berührten und bereit waren, Fleisch zu reißen und Knochen zu zermalmen, und dann sauste etwas Großes wie ein Windstoß über seinen Kopf hinweg. Einen Augenblick später waren die Zähne fort. Die Hand, die seine Füße zusammengepreßt hatte, ließ los. Er hörte, wie ein unirdischer Schrei der Überraschung und Qual aus dem staubigen Maul des Torwächters drang, dann wurde dieser gedämpft, erstickt.

Roland packte Jake und zerrte ihn auf die Füße.

»Du bist gekommen!« rief Jake. »Du bist wirklich gekommen!«

»Ja, ich bin gekommen. Durch die Barmherzigkeit der Götter und den Mut meiner Freunde ist es mir gelungen.«

Als der Torwächter wieder brüllte, brach Jake in Tränen der Erleichterung und Angst aus. Jetzt hörte sich das Haus wie ein Schiff an, das in schwerem Seegang schlingert. Bruchstücke von Holz und Mörtel regneten um sie herum herab. Roland riß Jake hoch und rannte mit ihm zur Tür. Die Mörtelhand, die wild um sich tastete, erwischte einen Stiefel von ihm und schleuderte ihn gegen die Wand, die wieder zu beißen versuchte. Roland warf sich vorwärts, drehte sich um und zog den Revolver. Er feuerte zweimal in die unablässig um sich schlagende Hand; einer der ungeschlachten Mörtelfinger verdampfte. Hinter ihnen war das Gesicht des Torwächters purpurn angelaufen, als würde er an etwas ersticken – etwas, das so schnell geflohen war, daß es ins Maul des Monsters geriet und, ehe es sich versah, dort steckenblieb.

Roland drehte sich wieder herum und sprang durch die Tür. Obwohl keine sichtbare Barriere da war, wurde er einen Moment aufgehalten, als wäre ein unsichtbares Netz vor die Tür gespannt worden.

Dann spürte er Eddies Hände in seinem Haar und wurde nicht nach vorne gezogen, sondern nach oben.

 

 

42

 

Sie kamen wie Babys bei der Geburt heraus, in einer feuchten Atmosphäre und bei nachlassendem Hagel. Eddie war die Hebamme, wie der Revolvermann es ihm gesagt hatte. Er lag flach auf Brust und Bauch, hatte die Hände durch die Tür geschoben und hielt Büschel von Rolands Haar gepackt.

»Suze! Hilf mir!«

Sie wand sich zu ihm, streckte die Hände durch und packte Roland unter dem Kinn. Er kam ihr mit zurückgeneigtem Kopf und vor Schmerzen und Anstrengung verzerrten Lippen entgegen.

Eddie spürte etwas reißen, eine seiner Hände schnellte aus dem Loch und hielt eine Strähne vom graumelierten Haar des Revolvermannes. »Er rutscht ab!«

»Dieser Dreckskerl… haut nicht… ab!« Susannah griff zu und zog heftig, als wollte sie dem Revolvermann das Genick brechen.

Zwei kleine Hände kamen aus der Tür in der Mitte des Kreises und umklammerten eine der Kanten. Als Jakes Gewicht von ihm genommen war, konnte Roland einen Ellbogen aufstützen und kam einen Moment später ganz durch. Währenddessen ergriff Eddie Jakes Handgelenke und zog ihn hoch.

Jake drehte sich auf den Rücken und blieb keuchend liegen.

Eddie drehte sich zu Susannah um, nahm sie in die Arme und drückte ihr Küsse auf Stirn, Wangen und Hals. Er lachte und weinte gleichzeitig. Sie klammerte sich schwer atmend an ihn… aber ein schwaches, zufriedenes Lächeln umspielte ihre Lippen, und sie streichelte mit einer Hand langsam und beschwichtigend Eddies nasses Haar.

Unter ihnen ertönte ein Hexenkessel schwarzer Geräusche: Kreischen, Grunzen, Poltern, Klirren.

Roland schleppte sich mit gesenktem Kopf von dem Loch fort. Das Haar stand ihm wirr vom Kopf ab. Blut floß ihm an den Wangen herunter. »Mach sie zu!« keuchte er zu Eddie. »Mach sie zu, bei deinem Vater!«

Eddie setzte die Tür in Bewegung, die gewaltigen, unsichtbaren Scharniere erledigten den Rest. Die Tür fiel mit einem hallenden, tonlosen Poltern zu und schnitt sämtliche Geräusche von unten ab. Vor Eddies Augen wurden ihre Kanten an den Rändern wieder zu verschmierten Strichen in der Erde. Der Türknauf sank in sich zusammen und wurde wieder zu einem Kreis, den Eddie gemalt hatte. Wo das Schlüsselloch gewesen war, befand sich nur noch eine unförmige Mulde, aus der ein Stück Holz ragte wie ein Schwert aus einem gespaltenen Stein.

Susannah robbte zu Jake und zog ihn behutsam in eine sitzende Haltung. »Alles in Ordnung, Süßer?«

Er sah sie benommen an. »Ja, ich glaube schon. Wo ist er? Der Revolvermann. Ich muß ihn etwas fragen.«

»Ich bin hier, Jake«, sagte Roland. Er stand auf, ging wie ein Betrunkener zu Jake und kauerte sich neben ihm nieder. Er berührte die glatte Wange des Jungen fast ungläubig.

»Wirst du mich diesmal wieder fallen lassen?«

»Nein«, sagte Roland. »Diesmal nicht, nie wieder.« Aber in der tiefsten Dunkelheit seines Herzens dachte er an den Turm und verzagte.

 

 

43

 

Der Hagel wurde zu heftigem, peitschendem Regen, aber Eddie konnte im Norden blaue Streifen zwischen den brausenden Wolken sehen. Der Sturm würde bald vorbei sein, aber bis dahin würden sie durchnäßt werden.

Er stellte fest, daß ihm das einerlei war. Er konnte sich nicht erinnern, wann er jemals so zufrieden mit sich gewesen war, so völlig erschöpft. Dieses verrückte Abenteuer war noch nicht zu Ende – er vermutete sogar, daß es gerade erst angefangen hatte –, aber heute hatten sie einen entscheidenden Sieg davongetragen.

»Suze?« Er strich ihr das Haar aus dem Gesicht und sah ihr in die dunklen Augen. »Alles in Ordnung? Hat er dir weh getan?«

»Ein bißchen weh, aber es geht mir gut. Ich glaube, das Flittchen Detta ist immer noch die unbesiegte Championesse der Raststätten, Dämon hin oder her.«

»Was soll das bedeuten?«

Sie grinste spitzbübisch. »Nicht viel, nicht mehr… Gott sei Dank. Was ist mit dir, Eddie? Alles klar?«

Eddie horchte nach Henrys Stimme und konnte sie nicht hören. Er hatte so eine Ahnung, als könnte Henrys Stimme endgültig verstummt sein.

»Mir geht es mehr als gut«, sagte er und nahm sie lachend wieder in die Arme. Über ihre Schulter hinweg konnte er die Überreste der Tür sehen: nur ein paar verwaschene Linien und Winkel. Bald würde der Regen auch sie weggespült haben.

 

 

44

 

»Wie heißt du?« fragte Jake die Frau, deren Beine oberhalb der Knie aufhörten. Er wurde sich plötzlich bewußt, daß er beim Kampf mit dem Torwächter seine Hose verloren hatte, und zog den Hemdenzipfel über die Unterwäsche. Von ihrem Kleid war auch nicht mehr viel übrig, was das anbetraf.

»Susannah Dean«, sagte sie. »Deinen Namen kenne ich bereits.«

»Susannah«, sagte Jake nachdenklich. »Deinem Vater gehört nicht zufällig eine Eisenbahngesellschaft, oder?«

Sie sah ihn einen Moment verblüfft an, dann warf sie den Kopf zurück und lachte. »Aber nein, Süßer! Er war ein Zahnarzt, der ein paar Kleinigkeiten erfunden hat und damit reich geworden ist. Wie kommst du denn auf so was?«

Jake antwortete nicht. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf Eddie. Die Angst war bereits aus seinem Gesicht gewichen, und seine Augen hatten den kalten, berechnenden Blick angenommen, an den Roland sich noch so gut vom Rasthaus erinnerte.

»Hi, Jake«, sagte Eddie. »Schön, dich zu sehen, Mann.«

»Hi«, sagte Jake. »Ich habe dich heute schon einmal gesehen, aber da warst du viel jünger.«

»Ich war vor zehn Minuten noch viel jünger. Alles in Ordnung mit dir?«

»Ja«, sagte Jake. »Ein paar Kratzer, das ist alles.« Er sah sich um. »Ihr habt den Zug noch nicht gefunden.« Das war keine Frage.

Eddie und Susannah wechselten einen verwirrten Blick, aber Roland schüttelte nur den Kopf. »Kein Zug.«

»Sind deine Stimmen fort?«

Roland nickte. »Vollkommen fort. Und deine?«

»Auch fort. Ich bin wieder heil. Und du auch.«

Sie sahen einander im selben Augenblick mit demselben Impuls an. Als Roland Jake in die Arme nahm, brach die unnatürliche Selbstbeherrschung des Jungen, und er fing an zu weinen – es war das erschöpfte, erleichterte Weinen eines Kindes, das lange verirrt war, viel gelitten hat und endlich wieder in Sicherheit ist. Als Roland ihm die Arme um die Taille schlang, legte Jake seine um den Hals des Revolvermanns und drückte sie zusammen wie Stahlklammern.

»Ich werde dich nie wieder allein lassen«, sagte Roland, der nun selbst zu weinen anfing. »Ich schwöre dir beim Namen aller meiner Väter: Ich werde dich nie wieder allein lassen.«

Doch sein Herz, der stumme, wachsame, lebenslängliche Gefangene des Ka, hörte die Worte dieses Versprechens nicht nur verzagend, sondern zweifelnd.