1
Als der Revolvermann in Eddie eingedrungen war, hatte Eddie einen Augenblick der Übelkeit verspürt und das Gefühl gehabt, als würde er beobachtet werden (das hatte Roland nicht gespürt; Eddie hatte es ihm später gesagt). Er hatte, mit anderen Worten, eine unbestimmte Ahnung von der Präsenz des Revolvermanns gehabt. Bei Detta Walker war Roland gezwungen gewesen, sofort nach vorne zu kommen, ob es ihm gefiel oder nicht. Sie hatte ihn nicht nur gespürt, es war auf unheimliche Weise gewesen, als hätte sie auf ihn gewartet – ihn oder eine andere, häufigere Besucherin. Wie dem auch sei, sie war sich seiner Anwesenheit vom ersten Augenblick, als er in ihr erschienen war, bewußt gewesen.
Jack Mort spürte überhaupt nichts.
Er konzentrierte sich zu sehr auf den Jungen.
Er beobachtete den Jungen schon seit zwei Wochen. Heute würde er ihn stoßen.
2
Obwohl der Junge den Augen, durch die der Revolvermann jetzt sah, den Rücken zugekehrt hatte, erkannte Roland den Jungen. Es war der Junge, den er im Rasthaus in der Wüste getroffen hatte, der Junge, den er vor dem Orakel in den Bergen gerettet hatte, der Junge, dessen Leben er geopfert hatte, als er vor der Wahl stand, ihn zu retten oder den Mann in Schwarz endlich einzuholen; der Junge, der gesagt hatte: Dann geh – es gibt andere Welten als diese, bevor er in den Abgrund gestürzt war. Und der Junge hatte ganz eindeutig recht gehabt. Der Junge war Jake.
Er hielt eine schmucklose braune Papiertüte in der einen und einen blauen Leinenranzen am Deckelgriff in der anderen Hand. An den Kanten, die gegen die Seiten des Ranzens drückten, konnte der Revolvermann sehen, daß er Bücher enthielt.
Verkehr floß auf der Straße, die der Junge überqueren wollte – eine Straße in derselben Stadt, aus der er den Gefangenen und die Herrin geholt hatte, wurde ihm klar, aber vorerst war das alles unwichtig. Es war nur wichtig, was in den nächsten Sekunden geschehen oder nicht geschehen würde.
Jake war nicht durch eine magische Tür in der Welt des Revolvermanns gebracht worden; er war durch eine gewöhnlichere, weitaus verständlichere Pforte gekommen: Er war in Rolands Welt hineingeboren worden, weil er in seiner eigenen gestorben war.
Er war ermordet worden.
Genauer, er war gestoßen worden.
Er war auf die Straße gestoßen worden; auf dem Weg zur Schule, mit einem Vesperpaket in der einen und seinen Büchern in der anderen Hand, hatte ihn ein Auto überfahren.
Der Mann in Schwarz hatte ihn gestoßen.
Er wird es tun! Er wird es gleich jetzt tun! Das ist meine Strafe dafür, daß ich ihn in meiner Welt habe sterben lassen – ich muß zusehen, wie er in dieser Welt sterben muß, bevor ich es verhindern kann!
Doch die Beeinflussung eines gleichgültigen Schicksals war zeit seines Lebens Sache des Revolvermanns gewesen – sein Ka, wenn man so wollte –, und daher kam er, ohne nachzudenken, nach vorne und handelte mit fest verwurzelten Reflexen, die schon fast zu Instinkten geworden waren.
Und während er das tat, blitzte in seinem Kopf ein gleichermaßen ironischer wie gräßlicher Gedanke auf: Was war, wenn der Körper, in den er gekommen war, der des Mannes in Schwarz selbst war? Was war, wenn er dem Jungen zu Hilfe eilen wollte und seine eigenen Hände sah, die ihn stießen? Was war, wenn dieses Gefühl der Kontrolle nur eine Illusion war – und Walters letzter garstiger Scherz, daß Roland selbst den Jungen ermorden würde?
3
Einen einzigen Augenblick verlor Jack Mort den dünnen, kräftigen Pfeil seiner Konzentration. Als er kurz davor war, nach vorne zu schnellen und den Jungen in den Verkehr zu stoßen, spürte er etwas, das sein Verstand falsch übermittelte, so wie der Körper Schmerzen an einer Stelle fälschlich einer anderen zuschreiben kann.
Als der Revolvermann nach vorne kam, glaubte Jack, ein Insekt wäre in seinem Nacken gelandet. Keine Wespe oder Biene, nichts tatsächlich Stechendes, aber etwas, das biß und juckte. Möglicherweise ein Moskito. Darauf führte er seine mangelnde Konzentration im entscheidenden Augenblick zurück. Er schlug danach und wandte sich wieder dem Jungen zu.
Er glaubte, das alles wäre binnen eines winzigen Augenblicks geschehen; tatsächlich waren sieben Sekunden verstrichen. Er spürte weder das rasche Vordringen des Revolvermanns noch seinen gleichermaßen schnellen Rückzug, und keiner der umstehenden Passanten (die zur Arbeit gingen; die meisten kamen aus der U-Bahn-Station am nächsten Block, und ihre Gesichter waren noch vom Schlaf aufgedunsen, die Blicke verinnerlicht) bemerkte, daß sich die Farbe von Jacks Augen hinter der Nickelbrille vorübergehend von ihrem dunkelblauen Farbton zu einem helleren verfärbte. Niemand bemerkte auch, wie die Augen ihre normale kobaltblaue Farbe wieder annahmen, aber als das geschehen war und er sich wieder auf den Jungen konzentrierte, sah er voll ohnmächtigen Zorns, so stechend wie ein Dorn, daß seine Chance dahin war. Die Ampel hatte umgeschaltet.
Er sah zu, wie der Junge zusammen mit dar anderen Hammelherde die Straße überquerte, dann drehte Jack selbst sich in die Richtung um, aus der er gekommen war, und schob sich drängend gegen den Strom der Passanten.
»He, Mister! Passen Sie doch auf…«
Ein milchgesichtiges Teenagermädchen, das er kaum sah. Jack stieß sie grob beiseite und sah nicht einmal zurück, als sie zu keifen anfing, weil ihre Armladung Schulbücher heruntergefallen war. Er ging die Fifth Avenue hinunter, weg von der Dreiundvierzigsten, wo der Junge heute hatte sterben sollen. Er hatte den Kopf geneigt und die Lippen so fest zusammengepreßt, daß es schien, als hätte er überhaupt keinen Mund, sondern nur die Narbe einer längst verheilten Verletzung über dem Kinn. Nachdem er den Engpaß an der Ecke hinter sich gelassen hatte, wurde er nicht langsamer, sondern schritt noch schneller, überquerte die Zweiundvierzigste, Einundvierzigste, Vierzigste. Irgendwo in der Mitte des nächsten Blocks kam er an dem Haus vorbei, in dem der Junge wohnte. Er sah es kaum an, obwohl er dem Jungen seit mindestens drei Wochen an jedem Schultag von dort aus gefolgt war, von dem Gebäude bis zur Ecke der Fifth, dreieinhalb Blocks weiter, der Ecke, die er schlicht und einfach als Stoß-Ecke betrachtete.
Das Mädchen, das er angerempelt hatte, schrie hinter ihm her, aber Jack Mort bemerkte es gar nicht. Ein Amateurschmetterlingssammler hätte einem gewöhnlichen Schmetterling ebensowenig Aufmerksamkeit geschenkt.
Auf seine Weise war Jack ein Amateurschmetterlingssammler.
Er war erfolgreicher Wirtschaftsprüfer von Beruf.
Stoßen war nur sein Hobby.
4
Der Revolvermann kehrte in den hinteren Teil des Verstandes dieses Mannes zurück, und dort wurde er ohnmächtig. Wenn es eine Erleichterung gab, dann schlicht und einfach die, daß dieser Mann nicht der Mann in Schwarz war, nicht Walter.
Der Rest war völliges Entsetzen… und völlige Erkenntnis.
Von seinem Körper getrennt, war sein Verstand – sein Ka – gesund wie eh und je, aber das plötzliche Wissen traf ihn wie ein Hammerschlag auf die Schläfe.
Nicht, als er nach vorne kam, sondern als er sicher war, daß der Junge gerettet war, und sich wieder zurückzog. Er sah die Verbindung zwischen diesem Mann und Odetta, die zu fantastisch und dennoch zu gräßlich passend war, als daß sie ein Zufall hätte sein können, und er begriff endlich, was das wirkliche Auserwählen der Drei sein könnte, und wer sie sein mochten.
Der dritte war nicht dieser Mann, dieser Mörder; der dritte, den Walter genannt hatte, war der Tod gewesen.
Der Tod… aber nicht für dich. Das hatte Walter gesagt, selbst am Ende noch schlau wie der Satan. Eine Anwaltsantwort… so nahe an der Wahrheit, daß sich die Wahrheit in ihrem Schatten verstecken konnte. Nicht Tod für ihn; er wurde zum Tod.
Der Gefangene, die Herrin.
Der dritte war der Tod.
Plötzlich war er von der Gewißheit erfüllt, daß er selbst der dritte war.
5
Roland kam wie ein Projektil nach vorne, als hirnloses Geschoß, das darauf programmiert war, den Körper, in dem er sich befand, in dem Augenblick auf den Mann in Schwarz zu werfen, als er ihn sah.
Gedanken daran, was geschehen könnte, wenn er den Mann in Schwarz daran hinderte, Jake zu töten, kamen ihm erst viel später – das mögliche Paradoxon, der Bruch in Zeit und Raum, der alles auslöschen konnte, was geschehen war, nachdem er in dem Rasthaus eingetroffen war… denn wenn er Jake in dieser Welt rettete, konnte in der anderen sicherlich kein Jake auf ihn warten, und alles, was danach geschehen war, würde sich verändern.
Welche Veränderungen? Es war unmöglich, auch nur Spekulationen darüber anzustellen. Daß eine davon das Ende seiner Suche sein konnte, daran dachte der Revolvermann überhaupt nie. Und solche verspäteten Spekulationen waren sicherlich auch müßig; wenn er den Mann in Schwarz gesehen hätte, hätte ihn nichts, weder Paradoxon noch vorherbestimmter Lauf des Schicksals, daran hindern können, einfach den Kopf dieses Körpers, in dem er sich befand, zu senken und Walters Brust damit zu rammen. Roland hätte ebensowenig etwas daran ändern können, wie eine Kugel den Finger beeinflussen kann, der abdrückt und sie auf ihren Kurs bringt.
Wenn er alles zum Teufel schickte, dann zum Teufel damit.
Er sondierte hastig die Leute, die an der Kreuzung standen, und betrachtete jedes Gesicht (auch die Gesichter der Frauen, um sicherzugehen, daß keine dabei war, die nur so tat, als wäre sie eine Frau).
Walter war nicht da.
Er entspannte sich allmählich, wie ein um den Abzug gekrümmter Finger sich im letzten Augenblick entspannen mochte. Nein, Walter war nicht in der Nähe des Jungen, und der Revolvermann war irgendwie sicher, daß dies nicht die richtige Zeit war. Nicht ganz. Diese Zeit war nahe – zwei Wochen entfernt, eine, vielleicht nur einen einzigen Tag –, aber noch nicht gekommen.
Also ging er nach hinten.
Und unterwegs sah er…
6
… und wurde besinnungslos vor Schock: Dieser Mann, in dessen Verstand sich die dritte Tür geöffnet hatte, hatte einstmals am Fenster einer leerstehenden Mietwohnung in einem Gebäude voller leerstehender Wohnungen – leerstehend, abgesehen von den Pennern und Spinnern, die manchmal ihre Nächte darin verbrachten – gesessen. Man kannte die Penner, weil man ihren verzweifelten Schweiß und ihre wütende Pisse riechen konnte. Man erkannte die Spinner, weil man den Gestank ihrer irregeleiteten Gedanken riechen konnte. Die einzigen Möbelstücke in diesem Zimmer waren zwei Stühle. Jack Mort verwendete sie beide: auf einem saß er, mit dem anderen hatte er die Tür zum Flur versperrt. Er rechnete nicht mit plötzlichen Störungen, aber es war besser, kein Risiko einzugehen. Er war nahe genug am Fenster, daß er hinaussehen konnte, aber so weit davon entfernt, daß er von einem beiläufigen Betrachter unten nicht gesehen werden konnte.
Er hatte einen verwitterten roten Backstein in der Hand.
Er hatte ihn direkt unterhalb des Fensters weggebrochen, wo eine ganze Menge locker waren. Er war alt und an den Kanten abgebröckelt, aber schwer. Klumpen alten Mörtels klebten wie Muscheln daran.
Der Mann wollte den Backstein auf jemanden fallen lassen.
Es war ihm einerlei, auf wen; wenn es um Mord ging, ging Jack Mort nach dem Prinzip vor: Gleiches Recht für alle.
Nach kurzer Wartezeit kam eine dreiköpfige Familie den Gehweg unten entlang: Mann, Frau, kleines Mädchen. Das Mädchen ging innen, wahrscheinlich, damit sie vor dem Verkehr sicher war. So nahe am Bahnhof herrschte eine Menge Verkehr, aber Jack Mort lag überhaupt nichts an den Autos. Ihm war wichtig, daß sich direkt gegenüber keine Häuser befanden; diese waren bereits abgerissen worden, zurück blieb eine Wüstenlandschaft mit abgebrochenen Brettern, Mauerresten, glitzernden Scherben.
Er würde sich nur ein paar Sekunden hinauslehnen, und er hatte eine Sonnenbrille vor den Augen und eine für die Jahreszeit unpassende Strickmütze über dem blonden Haar. Das war wie mit dem Stuhl unter dem Türgriff. Selbst wenn man vor erwarteten Risiken sicher war, konnte es nicht schaden, wenn man auch die unerwarteten ausschloß.
Außerdem hatte er ein Sweatshirt an, das ihm viel zu groß war – es reichte ihm bis weit über die Schenkel. Dieses Kleidungsstück würde dazu beitragen, seine tatsächliche Körpergröße zu verbergen (er war ziemlich mager), sollte er gesehen werden. Es diente auch noch einem anderen Zweck: jedesmal, wenn er jemanden ›tiefenbehandelte‹ (denn so nannte er es immer, ›tiefenbehandeln‹), ergoß er sich in seine Hose. Das weite Shirt verbarg den nassen Fleck, der sich unweigerlich auf seinen Jeans abzeichnete.
Jetzt kamen sie näher.
Nicht übermütig werden, warten, einfach abwarten…
Er erschauerte am Rand des Fensters, hob den Backstein hoch, führte ihn zum Magen, streckte ihn wieder nach vorne, zog ihn wieder zurück (aber dieses Mal nur halb) und beugte sich dann vollkommen kalt hinaus. Er kannte immer den entscheidenden Augenblick.
Er warf den Backstein und sah ihm beim Fallen nach.
Er fiel, sich überschlagend, nach unten. Jack sah die daran haftenden Mörtelreste deutlich im Sonnenlicht. In solchen Augenblicken war immer alles klarer als in allen anderen, alles hob sich exakt und geometrisch perfekt ab; hier war etwas, das er in die Welt gestoßen hatte, so wie ein Bildhauer mit dem Hammer auf einen Meißel schlägt und dadurch eine neue Substanz aus dem rohen caldera erschafft; hier war die bemerkenswerteste Sache der Welt: Logik, die gleichzeitig Ekstase war.
Manchmal verfehlte er oder traf schräg, so wie ein Bildhauer schlecht oder vergeblich schnitzen konnte, aber dies war ein perfekter Schuß. Der Backstein traf das Mädchen im hellen Baumwollkleid direkt am Kopf. Er sah Blut – es war heller als der Backstein, würde aber bald denselben kastanienbraunen Farbton annehmen – aufspritzen. Er hörte, wie die Mutter zu schreien anfing. Dann setzte er sich in Bewegung.
Jack hastete durch das Zimmer und kickte den Stuhl unter dem Türknauf in die gegenüberliegende Ecke (den anderen – auf dem er gesessen hatte – hatte er schon beim Aufspringen weggekickt). Er zog das Sweatshirt hoch und holte ein Taschentuch aus der Tasche. Damit drehte er den Knauf.
Keine Fingerabdrücke hinterlassen.
Nur faule Bienen hinterließen Fingerabdrücke.
Noch während die Tür aufschwang, steckte er das Tuch wieder ein. Als er den Flur hinabschritt, ahmte er den Gang eines Betrunkenen nach. Er drehte sich nicht um.
Auch das Umdrehen war nur etwas für faule Bienen.
Fleißige Bienen wußten: Wenn man sich umsah, ob man jemandem auffiel, erreichte man damit genau das. Wenn man sich umsah, konnte sich ein Zeuge nach einem Unfall daran erinnern. Und dann konnte ein klugscheißerischer Bulle auf die Idee kommen, daß es ein verdächtiger Unfall war, worauf es zu einer Untersuchung kommen würde. Und das alles wegen einem einzigen nervösen Umsehen. Jack glaubte nicht, jemand könne ihn mit dem Verbrechen in Verbindung bringen, selbst wenn jemand dachte, daß der ›Unfall‹ verdächtig war und es zu einer Untersuchung kam, aber…
Nur akzeptable Risiken eingehen. Die verbleibenden so gering wie möglich halten.
Mit anderen Worten, immer Stühle unter den Türknauf schieben.
Daher wankte er den staubigen Flur entlang, wo sich das Gitterwerk unter herabgefallenem Verputz zeigte, und er wankte mit gesenktem Kopf und murmelte vor sich hin wie die Saufbrüder, die man auf der Straße sah. Er konnte die Frau – die Mutter des kleinen Mädchens, vermutete er – immer noch schreien hören, aber dieser Laut kam von der Vorderseite des Gebäudes; er war leise und unwichtig. Alles, was danach geschah – die Schreie, die Verwirrung, das Wimmern der Verletzten (sofern die Verletzten noch wimmern konnten) – spielte keine Rolle für Jack. Was zählte, war das Ding, welches Veränderungen in den gewöhnlichen Lauf der Dinge zwängte und neue Linien im Strom eines Lebens erschuf… und möglicherweise nicht nur im Schicksal der Getroffenen, sondern in einem sich ausdehnenden Kreis um sie herum, wie die Wellen eines Steins, den man in einen Teich geworfen hatte.
Wer konnte sagen, ob er heute nicht den Kosmos beeinflußt hatte, oder es an einem zukünftigen Tag tun würde?
Herrgott, kein Wunder, daß er sich in die Jeans spritzte!
Er begegnete niemandem, als er die beiden Treppenfluchten hinunterging, aber er behielt das Schauspielern dennoch bei, wankte ein wenig beim Gehen, torkelte aber nicht. An einen Schwankenden würde man sich nicht erinnern. An einen übertrieben Torkelnden vielleicht schon. Er murmelte, sagte aber nichts, das jemand verstehen konnte. Überhaupt nichts zu tun, wäre in jedem Fall besser als übertreiben.
Er trat durch die zerschmetterte Hintertür in einen Hinterhof hinaus, der von Abfall und zerbrochenen Flaschen, die Galaxien Sonnenfünkchen reflektierten, übersät war.
Er hatte seine Flucht vorausgeplant, wie er alles vorausplante (nur akzeptable Risiken eingehen, die verbleibenden so gering wie möglich halten, in jeder Beziehung eine fleißige Biene sein); dieses Planen war der Grund dafür, daß er von seinen Kollegen als jemand geschätzt wurde, der es weit bringen würde (und er hatte auch vor, es weit zu bringen, aber eines wollte er ganz sicher nicht, er wollte sich nicht selbst ins Gefängnis oder auf den elektrischen Stuhl bringen).
Ein paar Leute liefen auf die Straße, in die der Hinterhof mündete, aber sie wollten alle sehen, was es mit dem Schreien auf sich hatte, und keiner sah Jack Mort an, der die unangemessene Strickmütze abgenommen hatte, aber nicht die dunkle Brille (die an einem so strahlenden Morgen nicht unpassend wirkte).
Er bog in einen anderen Hinterhof ein.
Kam an einer anderen Straße heraus.
Danach ging er durch einen Hinterhof, der nicht ganz so schmutzig war wie bisher – fast schon ein Durchgang. Dieser mündete in eine andere Straße, und ein Block weiter befand sich eine Bushaltestelle. Weniger als eine Minute später kam der Bus, was ebenfalls zum Plan gehörte. Jack stieg ein, nachdem die Ziehharmonikatür aufgegangen war, und warf seine fünfzehn Cents in den Schlitz des Fahrkartenautomaten. Der Fahrer sah ihn nicht einmal an. Das war gut, aber selbst wenn er es getan haben würde, hätte er nur einen unauffälligen Mann in Jeans gesehen, einen Mann, der vielleicht arbeitslos war – das Sweatshirt, das er anhatte, sah wie aus einer Wühlkiste der Heilsarmee aus.
Sei bereit, sei vorbereitet, sei eine fleißige Biene.
Jack Morts Geheimnis des Erfolges beim Arbeiten und beim Spielen.
Neun Blocks entfernt war ein Parkplatz. Jack stieg aus dem Bus aus, betrat den Parkplatz, schloß sein Auto auf (einen unauffälligen Chevrolet, ein älteres Baujahr, der noch gut in Schuß war) und fuhr nach New York City zurück.
Er war frei und fein raus.
7
Das alles sah der Revolvermann in einem einzigen Augenblick. Bevor sein schockierter Verstand die anderen Bilder aussperren konnte, indem er einfach abschaltete, sah er noch mehr. Nicht alles, aber genug. Genug.
8
Er sah Mort, wie er mit einem Exacto-Messer einen Artikel aus dem New York Daily Mirror ausschnitt, wobei er pingelig darauf achtete, daß er genau am Rand der Spalte entlangschnitt. NEGERMÄDCHEN NACH TRAGISCHEM UNFALL IM KOMA, lautete die Schlagzeile. Er sah, wie Mort mit einem Pinsel, der im Leimtopf steckte, Kleber auf der Rückseite des Ausschnitts auftrug. Sah, wie Mort ihn in die Mitte einer leeren Seite in einem Notizbuch klebte, in dem sich, wie man den ungleichmäßig aufgeblähten Seiten davor entnehmen konnte, schon viele ähnliche Zeitungsausschnitte befinden mußten. Er sah die erste Zeile des Artikels: ›Die fünf Jahre alte Odetta Holmes, die nach Elizabethtown, N. J. gekommen war, um an einem freudigen Anlaß teilzunehmen, wurde jetzt das Opfer eines grausamen Unfalls. Nach der Hochzeit ihrer Tante vor zwei Tagen ging das Mädchen mit seiner Familie zum Bahnhof, als ein lockerer Backstein…‹
Aber das war nicht das einzige Mal, daß er mit ihr zu tun gehabt hatte, nicht? Nein. Ihr Götter, nein. In den Jahren zwischen jenem Morgen und der Nacht, als Odetta ihre Beine verloren hatte, hatte Jack Mort eine Menge Sachen fallenlassen und eine Menge Leute gestoßen.
Und dann war er Odetta wieder begegnet.
Beim erstenmal hatte er etwas auf sie gestoßen.
Beim zweitenmal stieß er sie vor etwas.
Was ist das für ein Mensch, den ich zu Hilfe holen soll? Was für ein Mensch…
Aber dann dachte er an Jake, dachte an den Stoß, der Jake in diese Welt gebracht hatte, und er glaubte, das Lachen des Mannes in Schwarz zu hören, und das gab ihm den Rest.
Roland verlor das Bewußtsein.
9
Als er wieder zu sich kam, betrachtete er fein säuberliche Zahlenreihen auf einem Streifen grünen Papiers. Das Papier wies beidseitig Spalten auf, so daß jede einzelne Zahl wie ein Gefangener in einer Zelle aussah.
Er dachte: Noch etwas.
Nicht nur Walters Lachen. Etwas – ein Plan?
Nein, ihr Götter, nein – nichts so Komplexes oder Hoffnungsvolles.
Aber wenigstens eine Idee. Ein Kribbeln.
Wie lange war ich weggetreten? dachte er plötzlich erschrocken. Es war gegen neun, als ich durch die Tür gekommen bin, vielleicht etwas früher. Wie lange…?
Er kam nach vorne.
Jack Mort – der jetzt lediglich eine vom Revolvermann kontrollierte menschliche Marionette war – sah ein wenig auf und stellte fest, daß die Zeiger der teuren Quartzuhr auf seinem Schreibtisch auf Viertel nach eins standen.
Ihr Götter, so spät? So spät? Aber Eddie… er war so müde, er kann unmöglich so lange wach geblieben s…
Der Revolvermann drehte Jacks Kopf. Die Tür war noch da, aber was er durch sie sah, war viel schlimmer, als er zu träumen gewagt hätte.
An der Seite der Tür standen zwei Schatten; einer war der des Rollstuhls, der andere der eines menschlichen Wesens… aber das menschliche Wesen war unvollständig und stützte sich auf die Arme, weil der untere Teil seiner Beine mit derselben Brutalität abgetrennt worden war wie Rolands Finger und der Zeh.
Der Schatten bewegte sich.
Roland riß Jack Morts Kopf mit der Schnelligkeit einer zubeißenden Schlange herum.
Sie darf nicht hereinsehen. Erst wenn ich bereit bin. Bis dahin sieht sie nichts anderes als den Hinterkopf dieses Mannes.
Detta Walker konnte Jack Mort ohnehin nicht sehen, denn die Person, die zu der offenen Tür hereinsah, sah nur das, was der Gastkörper sah. Sie konnte Morts Gesicht nur sehen, wenn dieser in einen Spiegel blickte (doch das mochte ebenfalls zu schrecklichen Konsequenzen von Paradoxon und Wiederholung führen), und selbst dann würde es keiner Herrin etwas sagen; und auch das Gesicht der Herrin würde Jack Mort nichts sagen. Sie waren einander zweimal tödlich nahe gewesen, hatten aber niemals ihre Gesichter gesehen.
Der Revolvermann wollte nicht, daß die Herrin die Herrin sah.
Jedenfalls noch nicht.
Der Funke der Eingebung wuchs zu einer Art Plan.
Aber dort drüben war es spät – das Licht sagte ihm, daß es drei Uhr nachmittags sein mußte, möglicherweise vier.
Wie lange würde es dauern, bis der Sonnenuntergang die Monsterhummer hervorlockte und damit Eddies Leben ein Ende setzte?
Drei Stunden?
Zwei?
Er konnte zurückkehren und versuchen, Eddie zu retten… aber genau das wollte Detta. Sie hatte eine Falle gestellt, so wie Dorfbewohner, die einen tödlichen Wolf fürchteten, ein Opferlamm auslegen mochten, um ihn in Reichweite ihrer Bogen zu locken. Er würde in seinen kranken Körper zurückkehren… aber nicht so schnell. Der Grund, weshalb er nur ihren Schatten gesehen hatte, war der, daß sie mit einem seiner Revolver in der Faust neben der Tür lag. In dem Augenblick, wenn sich Rolands Körper bewegte, würde sie auf ihn schießen und ihn töten.
Und weil sie Angst vor ihm hatte, würde sein Ende immerhin barmherzig sein.
Eddies Tod würde kreischendes Entsetzen sein.
Er schien Detta Walkers garstige Kicherstimme hören zu können: Willste an mich ran, Blaßfleisch? Klaro willste an mich ran! Hast keene Angst vor ner verkrüppelten altn Dame, nich?
»Nur ein Weg«, murmelte Jacks Mund. »Nur einer.«
Die Bürotür ging auf, und ein kahler Mann mit Gläsern vor den Augen sah herein.
»Wie kommen Sie mit der Dorfman-Bilanz voran?« fragte der kahle Mann.
»Mir ist schlecht. Ich glaube, es war das Essen. Ich sollte besser nach Hause gehen.«
Der kahle Mann sah besorgt drein. »Wahrscheinlich ein Virus. Ich habe gehört, daß ein ziemlich übler umgehen soll.«
»Möglich.«
»Nun… solange Sie die Dorfman-Sachen bis morgen abend fünf Uhr fertig haben…«
»Ja.«
»Sie wissen ja, wie ungemütlich er werden kann…«
»Ja.«
Der kahle Mann, der jetzt ein wenig unbehaglich dreinsah, nickte. »Ja, gehen Sie heim. Sie scheinen gar nicht Sie selbst zu sein.«
»Bin ich nicht.«
Der kahle Mann ging eiligst zur Tür hinaus.
Er hat mich gespürt, dachte der Revolvermann. Das war ein Teil davon. Ein Teil, aber nicht alles. Sie haben Angst vor ihm. Sie wissen nicht, warum, aber sie haben Angst vor ihm. Und sie haben guten Grund, Angst zu haben.
Jack Morts Körper stand auf, fand den Aktenkoffer, den er bei sich hatte, als der Revolvermann in ihn eingedrungen war, und schob sämtliche Papiere auf dem Schreibtisch hinein.
Er verspürte den Drang, zu der Tür zurückzuschauen, widerstand ihm aber. Er würde erst wieder hineinsehen, wenn er bereit war, alles zu riskieren, und zurückkehrte.
Bis dahin blieb wenig Zeit, und es mußte viel getan werden.