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Die Zeit, die auf diese Nacht folgte, war für Roland gebrochene Zeit, Zeit, die überhaupt nicht als Zeit existierte. Er erinnerte sich lediglich an eine Reihe von Bildern, Augenblicken, Unterhaltungen ohne Zusammenhang; Bilder flogen vorüber wie Asse und Dreier und Neuner und die verdammte Schwarze Hurenkönigin der Spinnen, wie beim raschen Mischen eines Kartenspiels.
Später fragte er Eddie, wie lange diese Zeit gedauert hatte, aber Eddie wußte es auch nicht. Die Zeit war für sie beide vernichtet gewesen.
In der Hölle gibt es keine Zeit, und jeder war in seiner privaten Hölle gewesen: Roland in der Hölle des Fiebers und der Infektion, Eddie in der Hölle des Entzugs.
»Weniger als eine Woche«, sagte Eddie. »Mehr weiß ich nicht mit Bestimmtheit.«
»Woher weißt du das?«
»Ich konnte dir nur eine Wochenration Tabletten geben. Danach mußtest du aus eigenem Antrieb das eine oder andere machen.«
»Genesen oder sterben.«
»Richtig.«
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Ein Schuß, während sich die Dämmerung dem Dunkel nähert, ein trockener Knall über dem unausweichlichen und unentrinnbaren Klang der Brecher, die am einsamen Strand starben: KA-BUMM! Er riecht einen Hauch Schießpulver. Ärger, denkt der Revolvermann schwach und tastet nach Revolvern, die nicht da sind. O nein, es ist das Ende, es ist… Aber da ist nichts mehr. Etwas fängt an,
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im Dunkeln gut zu riechen. Nach der ganzen langen, dunklen, trockenen Zeit kocht etwas. Es ist nicht nur der Geruch. Er kann das Knacken von Zweigen hören, kann das leichte orangefarbene Flackern eines Lagerfeuers sehen. Wenn der Wind vom Meer zu einer Bö anschwillt, kann er manchmal neben dem Geruch, der ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen läßt, einen anderen wahrnehmen. Essen, denkt er. Mein Gott, bin ich hungrig? Wenn ich hungrig bin, geht es mir vielleicht besser.
Eddie, versucht er zu sagen, aber er hat keine Stimme mehr. Sein Hals schmerzt, schmerzt schlimm. Wir hätten auch etwas Astin mitbringen sollen, denkt er, und dann versucht er zu lachen: alle Drogen für ihn, keine für Eddie.
Eddie erscheint. Er hat einen Blechteller, den der Revolvermann überall erkennen würde; schließlich stammt er aus seiner eigenen Tasche. Dampfende Stücke Fleisch liegen darauf.
Was? versucht er zu fragen, aber es kommt nichts weiter als ein krächzender leiser Furzlaut dabei heraus.
Eddie liest es ihm von den Lippen ab. »Ich weiß es nicht«, sagt er schroff. »Ich weiß nur, daß es mich nicht umgebracht hat. Iß, verdammt.«
Er sieht, Eddie ist sehr blaß, Eddie zittert, und er riecht etwas an Eddie, das entweder Scheiße oder Tod ist, und er weiß, um Eddie ist es schlimm bestellt. Er streckt eine tastende Hand aus, will Trost spenden. Eddie schlägt sie weg.
»Ich füttere dich«, sagt er böse. »Der Teufel soll mich holen, wenn ich weiß, warum. Ich sollte dich umbringen. Würde ich auch, wenn ich nicht denken würde, daß du wieder in meine Welt eindringen könntest, nachdem du es schon einmal getan hast.«
Eddie sieht sich um.
»Und wenn das nicht, so weil ich allein wäre. Abgesehen von ihnen.«
Er sieht Roland wieder an, und ein Zittern durchläuft ihn – so heftig, daß er fast die Fleischstücke vom Blechteller schüttet. Schließlich geht es vorbei.
»Iß, gottverdammt.«
Der Revolvermann ißt. Das Fleisch ist mehr als nur eßbar; es ist köstlich. Es gelingt ihm, drei Stücke zu essen, dann verschwimmt alles zu einem neuen
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Bemühen zu sprechen; aber er kann nur flüstern. Eddies Ohr ist an seinen Mund gepreßt, nur ab und zu entfernt es sich, wenn Eddie einen seiner Anfälle hat. Er wiederholt es. »Norden. Am… am Strand entlang.«
»Woher weißt du das?«
»Weiß es einfach«, flüstert er.
Eddie sieht ihn an. »Du bist verrückt«, sagt er.
Der Revolvermann lächelt und versucht, ohnmächtig zu werden, aber Eddie schlägt ihn, schlägt ihn fest. Roland reißt die blauen Augen auf, und die sind einen Moment so elektrisierend, so lebhaft, daß Eddie unbehaglich dreinschaut. Dann verzieht er die Lippen zu einem Lächeln, das fast ein Fauchen ist.
»Ja, du kannst abdröhnen«, sagt er. »Aber zuerst mußt du dein Dope nehmen. Es ist Zeit. Sagt die Sonne jedenfalls. Ich war nie Pfadfinder, daher weiß ich es nicht sicher. Aber ich glaube, für Regierungsarbeit ist es gut genug. Mach den Mund weit auf, Roland. Mach den Mund auf für Dr. Eddie, du verdammter Entführer.«
Der Revolvermann macht den Mund auf wie ein Baby für die Brust. Eddie legt ihm zwei Tabletten auf die Zunge, dann spült er achtlos frisches Wasser in Rolands Mund. Roland vermutet, daß es von einem Gebirgsbach irgendwo im Osten stammen muß. Es könnte vergiftet sein; Eddie würde frisches Wasser nicht von schlechtem unterscheiden können. Andererseits scheint es Eddie ganz gut zu gehen; und außerdem hat er keine andere Wahl, oder? Nein.
Er schluckt, hustet und erstickt beinahe, während Eddie ihn gleichgültig ansieht.
Roland greift nach ihm.
Eddie versucht auszuweichen.
Die herrischen Augen Rolands befehlen ihm.
Roland zieht ihn dicht an sich, so dicht, daß er den Gestank von Eddies Krankheit riechen kann, und Eddie den von seiner; die Mischung stößt sie beide gleichzeitig ab und zieht sie an.
»Hier gibt es nur zwei Möglichkeiten«, flüstert Roland. »Weiß nicht, wie es in deiner Welt ist, aber hier gibt es nur zwei Möglichkeiten. Aufrecht stehen und möglicherweise überleben, oder auf den Knien sterben, mit gesenktem Kopf und dem Gestank der eigenen Achselhöhlen in der Nase. Nichts…« Er würgt ein Husten heraus. »Nichts für mich.«
»Wer bist du?« schreit Eddie ihn an.
»Dein Schicksal, Eddie«, flüstert der Revolvermann.
»Warum frißt du nicht einfach Scheiße und krepierst?« fragt Eddie Dean ihn. Der Revolvermann versucht zu sprechen, aber bevor er es kann, schwebt er davon, während die Karten
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KA-BUMM!
Roland macht die Augen auf und sieht eine Milliarde Sterne durch die Dunkelheit wirbeln, dann macht er sie wieder zu.
Er weiß nicht, was vor sich geht, aber er glaubt, daß alles in Ordnung ist. Das Blatt ist noch in Bewegung, die Karten sind immer noch am
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Weitere köstliche, wohlschmeckende Fleischstücke. Es geht ihm besser. Eddie sieht auch besser aus. Aber er sieht auch besorgt aus.
»Sie kommen näher«, sagt er. »Sie sind vielleicht häßlich, aber nicht völlig dumm. Sie wissen, was ich getan habe. Sie wissen es irgendwie, und sie kapieren es nicht. Sie kommen jede Nacht ein bißchen näher. Es wird klug sein, bei Tagesanbruch weiterzuziehen, wenn du kannst. Sonst könnte es der letzte Tagesanbruch sein, den wir erleben.«
»Was?« Nicht gerade ein Flüstern, aber ein heiseres Krächzen irgendwo zwischen Flüstern und richtigem Sprechen.
»Sie«, sagt Eddie und deutet zum Stand. »Dad-a-chack, duma-chum, und diese ganze Scheiße. Ich glaube, sie sind wie wir, Roland – sehr fürs Fressen, aber nicht scharf aufs Gefressenwerden.«
Mit einem Anflug vollkommenen Entsetzens wird Roland mit einem Mal klar, was die weißlich-rosa Fleischstücke waren, mit denen Eddie ihn gefüttert hat. Er kann nicht sprechen; der Ekel raubt ihm das bißchen Stimme, das er wiedererlangt hat. Aber Eddie liest ihm alles, was er sagen will, vom Gesicht ab.
»Was hast du gedacht, hätte ich getan?« faucht er beinahe. »Angerufen und Hummer zum Mitnehmen bestellt?«
»Sie sind giftig«, flüstert Roland. »Darum bin ich…«
»Darum bist du horse de combat. Und ich versuche zu verhindern, mein Freund Roland, daß du auch zum hors d’oeuvre wirst. Was das Gift anbelangt – auch Klapperschlangen sind giftig, aber die Leute essen sie. Klapperschlange schmeckt wirklich gut. Wie Hähnchen. Das habe ich irgendwo gelesen. Ich fand, sie sehen wie Hummer aus, daher beschloß ich, es zu versuchen. Was sollten wir sonst essen? Dreck? Ich habe einen der Wichser erschossen und die Scheiße aus ihm rausgekocht. Es gab nichts anderes. Und außerdem schmecken sie ziemlich gut. Ich habe einen pro Nacht geschossen, jedesmal wenn die Sonne kurz vor dem Untergehen war. Sie werden erst richtig lebhaft, wenn es vollkommen dunkel geworden ist. Ich habe nicht gesehen, daß du das Fleisch abgelehnt hättest.«
Eddie lächelt.
»Ich stelle mir gerne vor, ich hätte eins von denen erwischt, die Jack gefressen haben. Der Gedanke, daß ich diesen Pisser esse, gefällt mir. Weißt du, es beruhigt mich irgendwie.«
»Eines von ihnen hat auch Teile von mir gegessen«, krächzt der Revolvermann. »Zwei Finger, einen Zeh.«
»Das ist auch cool«, sagt Eddie und lächelt weiter. Sein Gesicht ist bleich, haifischähnlich… aber das kranke Aussehen ist teilweise verschwunden, und der Geruch von Scheiße und Tod, der ihn wie ein Leichentuch eingehüllt hat, scheint sich zu verziehen.
»Scheiß auf dich«, krächzt der Revolvermann.
»Roland zeigt gute Laune!« ruft Eddie. »Vielleicht wirst du doch nicht sterben! Liiiiebling! Ich finde, das ist wunnebar!«
»Leben«, sagt Roland. Das Krächzen ist wieder zum Flüstern geworden. Die Angelhaken sind wieder in seinem Hals.
»Ja?« Eddie sieht ihn an, nickt und beantwortet dann seine eigene Frage. »Ja, ich glaube, es ist dein Ernst. Einmal habe ich gedacht, du stirbst, und einmal, du wärst schon gestorben. Jetzt sieht es so aus, als würde es besser werden. Die Antibiotika helfen wohl, schätze ich, aber ich finde, du richtest dich weitgehend selbst auf. Wozu? Warum bemühst du dich verdammt noch mal so sehr, an diesem gottverlassenen Strand am Leben zu bleiben?«
Turm, formt er mit dem Mund, denn jetzt kann er nicht einmal mehr krächzen.
»Du und dein Scheißturm«, sagt Eddie und will sich abwenden, aber dann dreht er sich überrascht wieder um, als Rolands Hand seinen Arm wie einen Schraubstock umklammert.
Sie sehen einander in die Augen, und Eddie sagt: »Schon gut! Schon gut!«
Norden, formt der Revolvermann. Norden, ich habe es dir gesagt. Hat er ihm das gesagt? Er glaubt es, aber es ist verschüttet. Beim Mischen verschüttet.
»Woher weißt du das?« schreit Eddie ihn in plötzlicher Frustration an. Er hebt die Fäuste, als wolle er Roland schlagen, dann senkt er sie wieder.
Ich weiß es einfach – warum also vergeudest du meine Zeit und Energie mit albernen Fragen? will er antworten, aber bevor er das kann, sind die Karten wieder am
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wird fortgeschleppt, poltert und holpert, sein Kopf rollt hilflos von einer Seite auf die andere, er ist mit seinen eigenen Revolvergurten auf eine unheimliche Art von travois geschnallt, und er kann Eddie Dean ein Lied singen hören, das ihm so unheimlich bekannt ist, daß er zuerst denkt, es muß ein Traum im Delirium sein.
»Heyy Jude… don’t make it bad… take a saaad song… and make it better…«
Wo hast du das gehört? will er fragen. Hast du gehört, wie ich es gesungen habe, Eddie? Und wo sind wir?
Aber bevor er etwas fragen kann
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Cort würde dem Jungen den Schädel einschlagen, wenn er diese Tragbahre sehen könnte, denkt Roland und betrachtet die travois, auf der er den Tag verbracht hat, und er lacht. Kein besonderes Lachen. Es hört sich an wie eine der Wellen, die ihre Kieselsteinlast am Strand ablädt. Er weiß nicht, wie weit sie gekommen sind, auf jeden Fall so weit, daß Eddie vollkommen ausgepumpt ist. Er sitzt im Licht der Dämmerung auf einem Felsen und hat einen Revolver des Revolvermanns im Schoß und einen halbvollen Wasserschlauch an der Seite. Seine Hemdentasche ist leicht gewölbt. Das sind die Patronen aus dem Rückenteil der Gurte, der schwindende Vorrat ›guter‹ Patronen. Diese hat Eddie in ein Stück seines eigenen Hemdes eingewickelt. Der Hauptgrund, weshalb der Vorrat an ›guten‹ Patronen so schnell schwindet, ist der, daß sich auch davon jede vierte oder fünfte als Lusche erwiesen hat.
Eddie, der beinahe eingenickt ist, sieht auf. »Worüber lachst du?« fragt er.
Der Revolvermann winkt abwehrend mit der Hand und schüttelt den Kopf. Ihm ist klar geworden, daß er sich geirrt hat. Cort hätte Eddie wegen dieser travois nicht den Kopf eingeschlagen, auch wenn sie ein komisches, erbärmlich aussehendes Ding war. Roland hielt es sogar für möglich, daß Cort ein Wort der Anerkennung gegrunzt haben würde – was so selten vorkam, daß der Junge, dem es galt, meist nicht wußte, wie er darauf reagieren sollte; er stand mit offenem Mund da, wie ein Fisch, der gerade aus dem Topf des Kochs gezogen worden ist.
Die Hauptstreben waren zwei Pappeläste von ungefähr gleicher Länge und Stärke. Vom Sturm abgerissen, vermutet der Revolvermann. Er hatte kleinere Zweige als Stützen verwendet und sie mit einem aberwitzigen Sammelsurium von Materialien befestigt: Revolvergurten, dem Klebeband, mit dem er das Teufelspulver an der Brust befestigt gehabt hatte, sogar der Lederschnur vom Hut des Revolvermanns und den Schnürsenkeln von Eddies Schuhen. Über dieses Gerüst hatte er den Schlafsack des Revolvermanns gelegt.
Cort hätte ihn nicht geschlagen, weil Eddie trotz seiner Krankheit nicht einfach niedergekauert war und sein Los beklagt hatte. Er hatte etwas getan. Hatte es versucht.
Und Cort hätte vielleicht eines seiner unerwarteten, brummigen Komplimente gemacht, weil das Ding, so verrückt es auch aussah, funktionierte. Die langen Spuren, die sich am Strand entlang erstreckten, bis sie am Rand des Horizonts zusammenzulaufen schienen, bewiesen das.
»Siehst du welche?« fragt Eddie. Die Sonne geht unter und hämmert einen orangefarbenen Pfad über das Wasser, und daher schätzt der Revolvermann, daß er dieses Mal länger als sechs Stunden weg gewesen ist. Er fühlt sich kräftiger. Er setzt sich auf und sieht zum Wasser hinunter. Weder der Strand noch das Land, das sich bis zum westlichen Massiv erstreckt, haben sich sehr verändert; er kann winzige Unterschiede der Landschaft und des Schutts erkennen (zum Beispiel eine tote Möwe, die in einem kleinen Haufen verwehender Federn etwa zwanzig Meter links von ihm liegt), aber davon abgesehen, könnten sie ebensogut noch dort sein, wo sie angefangen haben.
»Nein«, sagt der Revolvermann. Dann: »Doch. Da ist einer.«
Er deutet. Eddie blinzelt, dann nickt er. Als die Sonne tiefer sinkt und der orangefarbene Streifen immer mehr wie Blut aussieht, kommen die ersten Monsterhummer aus dem Wasser und fangen an, den Strand emporzukriechen.
Zwei rasen unbeholfen auf die tote Möwe zu. Der Sieger wirft sich darauf, reißt sie auf und stopft sich die verwesenden Überreste ins Maul. »Did-a-chick?« fragt er.
»Dum-a-chum?« antwortet der Verlierer. »Dod-a…«
KA-BUMM!
Rolands Revolver macht den Fragen des zweiten ein Ende. Eddie geht hinunter und packt ihn am Rücken, während er seinen Gefährten argwöhnisch im Auge behält. Der andere macht jedoch keine Schwierigkeiten. Er ist emsig mit der Möwe beschäftigt. Eddie bringt seine Beute mit. Die Kreatur zuckt noch und hebt und senkt die Scheren, aber sie hört bald auf, sich zu bewegen. Der Schwanz krümmt sich ein letztes Mal, dann fällt er einfach herunter, statt sich nach unten zu krümmen. Die Boxerscheren hängen schlaff herab.
»Ässän wird bal zerviert, Maihstah«, sagt Eddie. »Ihr habt die Wahl: Filet vom Grusligkriecher oder Filet vom Grusligkriecher. Was macht Euch an, Maihstah?«
»Ich verstehe dich nicht«, sagt der Revolvermann.
»Aber klar doch«, sagt Eddie. »Du hast nur keinen Sinn für Humor mehr. Was ist denn daraus geworden?«
»Wurde wohl beim einen oder anderen Krieg weggeschossen, schätze ich.«
Darüber lächelt Eddie. »Heute siehst du ein wenig lebhafter aus und hörst dich auch lebhafter an, Roland.«
»Bin ich auch, glaube ich.«
»Nun, vielleicht kannst du morgen sogar ein Stück gehen. Ich will dir ganz ehrlich sagen, mein Freund, dich zu ziehen, ist die beschissene Pest im Arsch.«
»Ich versuche es.«
»Tu das.«
»Du siehst auch etwas besser aus«, schweift Roland ab. Bei den beiden letzten Worten bricht seine Stimme wie die eines kleinen Jungen. Wenn ich nicht bald zu reden aufhöre, denkt er, werde ich überhaupt nicht mehr reden können.
»Ich schätze, ich werde überleben.« Er sieht Roland ausdruckslos an. »Aber du wirst nie erfahren, wie knapp es manchmal war. Einmal habe ich einen deiner Revolver genommen und an den Kopf gehalten. Gespannt, eine Weile dort gelassen und dann wieder weggenommen. Den Hahn entspannt und ihn wieder in deinen Gurt gesteckt. In einer anderen Nacht hatte ich einen Krampf. Ich glaube, es war in der zweiten Nacht, aber sicher bin ich nicht.« Er schüttelt den Kopf und sagt etwas, das der Revolvermann versteht und doch auch wieder nicht versteht. »Michigan kommt mir heute wie ein Traum vor.«
Seine Stimme hat wieder das heisere Krächzen angenommen, und obwohl er weiß, er soll überhaupt nicht sprechen, muß der Revolvermann eines wissen. »Was hat dich davon abgehalten abzudrücken?«
»Nun, ich habe nur dieses eine Paar Hosen«, sagt Eddie. »Ich habe mir in der letzten Sekunde gedacht, wenn ich abdrücke und es ist eine Lusche, werde ich nie wieder den Mut aufbringen, es noch einmal zu tun… und wenn man sich in die Hose geschissen hat, muß man sie entweder gleich waschen oder ein Leben lang mit dem Gestank leben. Das hat mir Henry gesagt. Er sagte, er hat das in Nam gelernt. Und weil es Nacht war und Lester, der Hummer, unterwegs, ganz zu schweigen von seinen Freunden…«
Aber der Revolvermann lacht, lacht sogar sehr, wenngleich nur ein gelegentlicher Krächzlaut über seine Lippen kommt. Eddie, der selbst ein wenig lächelt, sagt: »Ich glaube, dein Sinn für Humor wurde im Krieg nur bis zum Ellbogen weggeschossen.« Er steht auf, um den Hang emporzugehen, bis er Holz fürs Feuer findet, vermutet Roland.
»Warte«, flüstert er, und Eddie sieht ihn an. »Warum wirklich?«
»Ich schätze, weil du mich brauchst. Hätte ich mich umgebracht, wärst du auch gestorben. Später, wenn du wieder auf den Beinen bist, denke ich meine Möglichkeiten vielleicht noch einmal durch.« Er dreht sich um und seufzt tief.
»Es mag irgendwo auf deiner Welt ein Disneyland oder ein Coney Island geben, Roland, aber was ich bisher davon gesehen habe, interessiert mich nicht besonders.«
Er entfernt sich, bleibt stehen und sieht noch einmal zu Roland. Sein Gesicht ist ernst, doch die kranke Färbung ist weitgehend daraus verschwunden. Das Schlottern ist zu gelegentlichen Anfällen von Zittern geworden.
»Manchmal verstehst du mich wirklich nicht, was?«
»Nein«, flüstert der Revolvermann. »Manchmal nicht.«
»Dann werde ich es dir erklären. Es gibt Menschen, die es brauchen, daß andere Menschen sie brauchen. Der Grund, weshalb du nicht verstehst, ist der, daß du nicht zu denen gehörst. Du würdest mich benützen und dann wie eine Papiertüte wegwerfen, sollte es darauf hinauslaufen. Gott hat dich versaut, mein Freund. Du bist gerade schlau genug, daß dir das wehtun würde, aber gerade hart genug, daß du es trotzdem tun würdest. Du könntest nicht anders. Wenn ich an diesem verfluchten Strand liegen und um Hilfe schreien würde, würdest du über mich hinwegtrampeln, wenn ich zwischen dir und deinem verdammten Turm wäre. Kommt das der Wahrheit nicht ziemlich nahe?«
Roland sagt nichts, er sieht Eddie nur an.
»Aber nicht alle sind so. Es gibt Menschen, die es brauchen, daß andere Menschen sie brauchen. Wie in dem Lied von Barbra Streisand. Kitschig, aber wahr. Das ist nur eine andere Form von An-der-Nadel-Hängen.«
Eddie schaut ihn an.
»Aber diesbezüglich bist du clean, nicht?«
Roland beobachtet ihn.
»Abgesehen von deinem Turm.« Eddie stößt ein kurzes Lachen aus. »Du bist ein Turm-Junkie, Roland.«
»Welcher Krieg war es?« flüstert Roland.
»Was?«
»Derjenige, in dem dein Sinn für Edelmut und Zielstrebigkeit weggeschossen wurde?«
Eddie zuckt zurück, als hätte Roland die Hände ausgestreckt und ihn geschlagen.
»Ich werde Wasser holen«, sagt er knapp. »Behalte die Gruselkriecher im Auge. Wir sind heute weit gekommen, aber ich weiß immer noch nicht, ob sie miteinander reden oder nicht.«
Danach wendet er sich ab; aber zuvor sieht Roland noch die letzten roten Sonnenstrahlen, die sich auf seinen feuchten Wangen spiegeln.
Roland wendet sich wieder zum Strand und wartet. Die Monsterhummer kriechen und fragen, fragen und kriechen, aber beide Aktivitäten scheinen ziellos zu sein; sie besitzen eine gewisse Intelligenz, aber nicht genug, um anderen ihrer Art Informationen weiterzugeben.
Gott sagt es dir nicht immer ins Gesicht, denkt Roland. Meistens, aber nicht immer.
Eddie kehrt mit Holz zurück.
»Nun?« fragt er. »Was denkst du?«
»Mit uns ist alles in Ordnung«, krächzt der Revolvermann, und Eddie will etwas sagen, aber der Revolvermann ist jetzt müde und legt sich zurück und betrachtet die ersten Sterne, die durch den violetten Baldachin des Himmels funkeln und
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In den drei darauffolgenden Tagen schritt die Genesung des Revolvermanns immer weiter voran. Die roten Linien, die seine Arme hochgekrochen waren, kehrten ihre Richtung zuerst um, verblaßten dann und verschwanden. Am nächsten Tag ging er manchmal, manchmal ließ er sich von Eddie ziehen. Am darauffolgenden Tag mußte er überhaupt nicht mehr gezogen werden; sie setzten sich einfach alle ein bis zwei Stunden eine gewisse Zeit hin, bis das wäßrige Gefühl aus seinen Beinen verschwunden war. Während einer dieser Ruhepausen und in der Zeit, nachdem das Essen verschlungen, das Feuer aber noch nicht ganz niedergebrannt und sie schlafen gegangen waren, erfuhr der Revolvermann von Henry und Eddie. Er erinnerte sich, er hatte sich gefragt, was geschehen war, daß ihr Bruderverhältnis so schwierig gewesen war, aber nachdem Eddie stockend und von jenem beleidigten Zorn erfüllt, welcher aus tiefem Schmerz entsteht, zu sprechen angefangen hatte, hätte der Revolvermann ihm Schweigen gebieten und zu ihm sagen können: Spar dir die Mühe, Eddie. Ich verstehe alles.
Aber das hätte Eddie nicht geholfen. Eddie redete nicht, um Henry zu helfen, weil Henry tot war. Er redete, um Henry für immer zu begraben. Und um sich daran zu erinnern, daß Henry zwar tot war, aber er, Eddie, nicht.
Daher hörte der Revolvermann zu und sagte nichts.
Der Kernpunkt war einfach: Eddie glaubte, daß er seinem Bruder das Leben gestohlen hatte. Das glaubte Henry auch. Henry war vielleicht von alleine zu dieser Überzeugung gekommen, oder er war dazu gekommen, weil er ihre Mutter so häufig mit Eddie sprechen hörte, wieviel sie und Henry für ihn geopfert hatten, damit Eddie in diesem Dschungel von einer Stadt so sicher wie nur irgend jemand sein konnte, damit er glücklich sein konnte, so glücklich jemand in diesem Dschungel von einer Stadt nur sein konnte, damit er nicht dasselbe Schicksal erlitt wie seine arme Schwester, an die er sich kaum noch erinnern konnte, aber sie war so wunderschön gewesen, Gott schütze sie. Sie war bei den Engeln, und das war zweifellos ein wunderbarer Aufenthaltsort, aber sie wollte noch nicht, daß Eddie auch zu den Engeln ging, daß er auf der Straße von einem verrückten betrunkenen Fahrer überfahren wurde, wie seine Schwester, oder daß er von einem wahnsinnigen Junkie wegen der fünfundzwanzig Cents in seiner Tasche aufgeschlitzt wurde und seine Eingeweide auf dem Gehweg lagen, und weil sie glaubte, daß Eddie auch nicht bei den Engeln sein wollte, sollte er besser darauf hören, was ihm sein großer Bruder sagte und tun, was ihm sein großer Bruder sagte, und niemals vergessen, daß Henry ein Opfer aus Liebe brachte.
Eddie sagte dem Revolvermann, er bezweifelte, daß seine Mutter vieles von dem wußte, was sie getan hatten – im Süßwarenladen in der Rincon Avenue Comics gestohlen, hinter der Bonded Electroplate Factory in der Cohoes Street geraucht.
Einmal hatten sie einen Chevrolet mit steckendem Schlüssel gesehen, und obwohl Henry kaum gewußt hatte, wie man fährt – er war sechzehn gewesen, Eddie acht –, hatte er seinen Bruder hineingedrängt und gesagt, sie würden nach New York City fahren. Eddie hatte Angst gehabt und geweint, Henry hatte auch Angst gehabt und war wütend auf Eddie gewesen, hatte ihm gesagt, er solle still sein, er solle aufhören, so ein verdammtes Baby zu sein, er hatte zehn Piepen und Eddie drei oder vier, sie konnten den ganzen verdammten Tag ins Kino gehen, mit dem Bus von Pelham zurückfahren und wieder zu Hause sein, bevor ihre Mutter Zeit gehabt hatte, das Essen auf den Tisch zu stellen und sich zu fragen, wo sie steckten. Aber Eddie weinte weiter, und in der Nähe der Queensboro Bridge sahen sie ein Polizeiauto in einer Seitenstraße, und obwohl Eddie ziemlich sicher war, daß der Polizist darin nicht einmal in ihre Richtung gesehen hatte, sagte er Ja, als Henry ihn mit schroffer, zitternder Stimme fragte, ob Eddie meinte, der Bulle hätte sie gesehen. Eddie wurde weiß und fuhr so unvermittelt an den Straßenrand, daß er beinahe einen Hydranten amputiert hätte. Er rannte den Block hinunter, während Eddie, mittlerweile selbst in Panik, sich immer noch mit dem unvertrauten Türgriff abmühte. Henry blieb stehen, kam zurück und zerrte Eddie aus dem Auto. Außerdem schlug er ihn zweimal. Dann waren sie den ganzen Weg nach Brooklyn zurückgegangen – besser gesagt, geschlichen. Sie hatten fast den ganzen Tag dazu gebraucht, und als ihre Mutter sie gefragt hatte, warum sie so heiß und müde aus sahen, hatte Henry gesagt, weil sie den ganzen Tag damit verbracht hatten, Eddie auf dem Basketballfeld des Spielplatzes am nächsten Block Unterricht zu erteilen. Dann waren größere Kinder gekommen und sie hatten weglaufen müssen. Ihre Mutter küßte Henry und strahlte Eddie an. Sie fragte ihn, ob er nicht den besten großen Bruder auf der ganzen Welt hatte. Eddie stimmte ihr zu. Und es war eine ehrliche Zustimmung. Er glaubte es wirklich.
»An diesem Tag hatte er so große Angst wie ich«, sagte Eddie zu Roland, während sie da saßen und zusahen, wie das letzte Licht vom Wasser verschwand, in dem das einzige Licht bald die Spiegelungen der Sterne sein würden. »Noch mehr, weil er glaubte, der Bulle hätte uns gesehen, und ich wußte, er hatte es nicht. Darum ist er weggelaufen. Aber er ist zurückgekommen. Das ist das Wichtige. Er ist zurückgekommen.«
Roland sagte nichts.
»Das verstehst du doch, nicht?« Eddie sah Roland mit glitzernden, fragenden Augen an.
»Ich verstehe.«
»Er hatte immer Angst, aber er kam immer zurück.«
Roland dachte, es wäre für Eddie besser gewesen, auf lange Sicht wahrscheinlich für beide, wenn Henry an diesem Tag einfach weiter Fersengeld gegeben hätte… oder an einem der anderen. Aber das machten Menschen wie Henry nie. Menschen wie Henry kamen immer zurück, weil Menschen wie Henry wußten, wie man Vertrauen ausnützt. Und das war das einzige, was Menschen wie Henry verstanden. Zuerst machten sie aus Vertrauen ein Bedürfnis, dann aus dem Bedürfnis eine Droge, und wenn sie das getan hatten, fingen sie an zu – wie lautete Eddies Wort dafür? – pressen. Ja. Sie preßten.
»Ich glaube, ich gehe schlafen«, sagte der Revolvermann.
Am nächsten Tag fuhr Eddie fort, aber Roland wußte schon alles. Henry hatte an der High-School keinen Sport getrieben, weil Henry nach der Schule nicht zum Trainieren bleiben konnte. Henry mußte auf Eddie aufpassen. Natürlich hatte die Tatsache, daß Henry hager und schlaksig war und sowieso nicht viel für Sport übrig hatte, nichts damit zu tun; Henry hätte ein großartiger Baseballwerfer oder ein Basketballspringer werden können, wie ihnen ihre Mutter immer wieder versicherte. Henrys Noten waren schlecht, und er mußte einige Fächer wiederholen – aber das lag nicht daran, daß Henry dumm war; Eddie und Mrs. Dean wußten beide, daß Henry schlau wie ein Fuchs war. Aber in der Zeit, die Henry zum Lernen oder für seine Hausaufgaben hätte aufwenden können, mußte er auf Eddie aufpassen (die Tatsache, daß das meistens im Wohnzimmer der Deans geschah, wo sie beide vor dem Fernseher lagen oder miteinander rangelten, schien irgendwie nicht von Bedeutung zu sein). Die schlechten Noten hatten zur Folge, daß Henry lediglich von der NYU angenommen wurde, und das konnten sie sich nicht leisten, weil es wegen der schlechten Noten kein Stipendium gab. Und dann wurde Henry eingezogen, und dann kam Vietnam, wo Henry fast das ganze Knie weggeschossen wurde, und die Schmerzen waren schlimm, und die Droge, die sie ihm gaben, war auf Morphiumbasis, und als es ihm besser ging, entwöhnten sie ihn von der Droge, aber das machten sie anscheinend nicht so gut, denn als Henry nach New York zurückkam, hatte er immer noch den Affen auf dem Rücken, einen hungrigen Affen, der darauf wartete, daß er gefüttert wurde, und nach einem oder zwei Monaten war er zu einem Dealer gegangen, und vier Monate später, weniger als einen Monat nach dem Tod ihrer Mutter, sah Eddie seinen Bruder zum erstenmal ein weißes Pulver von einem Spiegel schnupfen. Eddie vermutete, daß es Koks war. Wie sich herausstellte, war es Heroin. Und wenn man es bis ganz zurück verfolgte, wessen Schuld war es?
Roland sagte nichts, aber er hörte die Stimme von Cort in seinem Kopf: Die Schuld liegt immer am selben Ort, meine feinen Kinderchen: bei dem, der schwach genug ist, sie auf sich zu nehmen.
Als er die Wahrheit herausfand, war Eddie erst schockiert und dann wütend gewesen. Henry hatte darauf reagiert, indem er nicht versprochen hatte, damit aufzuhören, sondern indem er Eddie sagte, er mache ihm keinen Vorwurf daraus, daß er wütend war. Er wisse, Nam habe ihn in ein wertloses Miststück verwandelt, er wäre schwach, er würde weggehen, das wäre das beste; Eddie habe recht, einen dreckigen Junkie, der alles versaute, könne er als allerletztes im Haus brauchen. Er hoffe nur, Eddie würde ihm keine allzu großen Vorwürfe machen. Er war schwach geworden; er gab es zu; etwas in Nam hatte ihn schwach gemacht, hatte ihn so verdorben wie Feuchtigkeit Schnürsenkel und die Gummis in der Unterwäsche verdarb. In Nam war auch etwas, das offensichtlich das Herz verdarb, sagte ihm Henry unter Tränen. Er hoffte nur, Eddie würde sich an all die Jahre erinnern, die er sich bemüht hatte, stark zu sein.
Für Eddie.
Für Mama.
Henry versuchte also zu gehen, und Eddie konnte ihn natürlich nicht gehen lassen. Eddie war von Schuldgefühlen verzehrt. Eddie hatte das vernarbte Grauen gesehen, das einmal ein gesundes Bein gewesen war, ein Knie, das jetzt mehr Teflon als Knochen war. Sie brüllten sich im Flur an, Henry stand in einem alten Paar Khakihosen und mit gepacktem Seesack in einer Hand und purpurnen Ringen unter den Augen da; Eddie hatte nur ein paar gelbliche Unterhosen angehabt. Henry sagte, du brauchst mich hier nicht, Eddie, ich bin Gift für dich, und Eddie schrie zurück: Du gehst nicht fort, schlepp deinen Arsch wieder rein, und so ging das, bis Mrs. McGursky aus ihrer Wohnung kam und schrie Geh oder bleib, mir ist das egal, aber du solltest dich besser schnell für das eine oder andere entscheiden, sonst rufe ich die Polizei. Mrs. McGursky schien noch ein paar weitere Vorhaltungen hinzufügen zu wollen, als sie sah, daß Eddie nur eine Unterhose anhatte. Und du bist nicht angezogen, Eddie Dean! fügte sie hinzu und verschwand wieder im Inneren. Es war, als würde man einem umgekehrten Jack-in-the-Box zusehen. Eddie sah Henry an. Henry sah Eddie an. Sieht so aus, als hätte Angel-Baby ein paar Pfund draufgesetzt, sagte Henry mit leiser Stimme, und dann hatten sie vor Lachen gebrüllt, hatten einander umarmt und auf die Schultern geklopft, und Henry kam wieder herein, und etwa zwei Wochen später schnupfte Eddie den Stoff auch, und er konnte nicht verstehen, warum er so ein großes Aufhebens darum gemacht hatte, schließlich war es nur Schnupfen, Scheiße, man hob dabei ab, und wie Henry (den Eddie schließlich als den großen Weisen und bedeutenden Junkie bezeichnete) sagte, was war so schlimm daran, in einer Welt high zu werden, die so eindeutig Kopf voraus zum Teufel ging?
Zeit verging. Eddie sagte nicht, wieviel. Der Revolvermann fragte nicht. Er vermutete, Eddie wußte, daß es tausend Entschuldigungen dafür gab, high zu werden, aber keinen einzigen Grund, und daß er seine Gewohnheit ziemlich unter Kontrolle gehalten hatte. Und Henry war es ebenso gelungen, seine unter Kontrolle zu behalten. Nicht so gut wie Eddie, aber genügend, daß er nicht völlig aus der Bahn geriet. Denn ob Eddie die Wahrheit begriff oder nicht (und tief im Inneren glaubte Roland, daß er begriff), Henry mußte sie eingesehen haben: Ihre Positionen hatten sich umgekehrt. Jetzt hielt Eddie Henrys Hand, wenn sie über die Straße gingen.
Der Tag kam, als Eddie Henry dabei erwischte, wie er nicht schnupfte, sondern drückte. Darauf folgte ein erneuter hysterischer Streit; beinahe eine genaue Wiederholung des ersten, nur hatte der in Henrys Zimmer stattgefunden. Und er endete fast auf dieselbe Weise: Henry hatte geweint und diese unfehlbare, unwiderlegbare Entschuldigung vorgebracht, die in totaler Unterwerfung, totaler Kapitulation bestand: Eddie habe recht, er verdiene es nicht zu leben, verdiene es nicht, auch nur Abfall aus dem Rinnstein zu essen. Er würde gehen. Eddie dürfe ihn nie wiedersehen. Er hoffe nur, er würde sich an all die Jahre erinnern…
Es verblaßte zu einem Dröhnen, das sich nicht sehr vom kiesigen Geräusch der brechenden Wellen unterschied. Roland kannte die Geschichte und sagte nichts. Eddie war es, der die Geschichte nicht kannte, ein Eddie, der zum erstenmal seit etwa zehn Jahren einen klaren Kopf hatte. Eddie erzählte die Geschichte nicht Roland; Eddie erzählte die Geschichte endlich sich selbst.
Das war gut so. Soweit der Revolvermann sehen konnte, hatten sie Zeit im Überfluß. Mit Reden konnte man sie auf eine Weise ausfüllen.
Eddie sagte, Henrys Knie hätte ihn verfolgt, das Narbengewebe an seinem Bein (das war natürlich selbstverständlich inzwischen alles verheilt, Henry hinkte kaum noch… es sei denn, er und Eddie stritten; dann schien das Hinken immer schlimmer zu werden); alles, was Henry für ihn aufgegeben hatte, verfolgte ihn, und etwas ungleich Pragmatischeres verfolgte ihn auch: Henry hätte keine Chance auf der Straße. Er wäre wie ein Kaninchen, das man in einem Dschungel voller Tiger aussetzt. Auf sich allein gestellt, würde Henry vor Ablauf einer Woche im Gefängnis oder im Bellevue landen.
Daher flehte er ihn an, und schließlich tat Henry ihm den Gefallen, sich zurückzuhalten, und sechs Monate später hatte Eddie auch einen goldenen Arm. Von diesem Augenblick an ging es stetig und unausweichlich bergab, bis Eddie auf die Bahamas geflogen war und Roland so unvermutet in sein Leben eingegriffen hatte.
Ein anderer Mann, der weniger pragmatisch und introspektiver als Roland gewesen wäre, hätte sich vielleicht gefragt (sich selbst, wenn nicht direkt laut): Warum dieser? Warum dieser Mann als erster? Warum ein Mann, der Schwäche oder Seltsamkeit oder regelrechten Untergang zu versprechen scheint?
Der Revolvermann stellte diese Frage nicht nur nie; sie formulierte sich überhaupt nie in seinem Denken. Cuthbert würde gefragt haben; Cuthbert hatte immer und alles gefragt, Cuthbert war von Fragen vergiftet gewesen, war mit einer auf den Lippen gestorben. Jetzt waren sie dahin, allesamt dahin. Corts letzte Revolvermänner, die dreizehn Überlebenden einer Anfängerklasse, die sechsundfünfzig gezählt hatte, waren alle tot. Alle tot, außer Roland. Er war der letzte Revolvermann, der in einer Welt, die schal und steril und leer geworden war, unablässig weitermachte.
Dreizehn, erinnerte er sich, hatte Cort am Tag vor der Einweihungszeremonie gesagt. Das ist eine böse Zahl. Und am nächsten Tag war Cort zum erstenmal seit dreißig Jahren nicht bei den Feierlichkeiten dabeigewesen. Seine letzten Schüler waren zu seiner Hütte gegangen, um vor ihm niederzuknien und ihm die schutzlosen Hälse darzubieten und dann aufzustehen und den beglückwünschenden Kuß entgegenzunehmen und ihm zu gestatten, ihre Waffen das erstemal eigenhändig zu laden. Neun Wochen später war Cort tot gewesen. Gift, sagten manche. Zwei Jahre nach seinem Tod hatte der letzte blutige Bürgerkrieg angefangen. Das rote Gemetzel hatte die letzte Bastion von Zivilisation, Licht und Vernunft erreicht und alles, was sie für stark gehalten hatten, mit der Beiläufigkeit einer Welle fortgespült, die die Sandburg eines Kindes vernichtet.
Er war der letzte, und vielleicht hatte er überlebt, weil die dunkle Romantik in seiner Natur von seinem praktischen Wesen und seiner Schlichtheit übertroffen wurde. Ihm war klar, daß nur drei Dinge zählten: Sterblichkeit, Ka und der Turm.
Es war ausreichend, darüber nachzudenken.
Gegen vier Uhr am dritten Tag ihrer Reise nach Norden den konturlosen Strand entlang beendete Eddie seine Geschichte. Das Ufer selbst schien sich nie zu verändern. Wollte man sich vergewissern, daß man überhaupt voran kam, konnte man nur nach links sehen, nach Osten. Dort waren die scharfen Klüfte der Berge weicher und versunkener geworden. Wenn sie weit genug nach Norden gingen, würden die Berge vielleicht zu flachen Hügeln werden.
Nachdem er seine Geschichte erzählt hatte, verfiel Eddie in Schweigen, und sie gingen eine halbe Stunde oder länger, ohne zu sprechen, weiter. Eddie warf ihm verstohlene Blicke zu. Roland wußte, Eddie merkte nicht, daß er diese Blicke mitbekam; er war zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Roland wußte auch, worauf Eddie wartete: eine Antwort. Irgendeine Art Antwort. Irgendeine Antwort. Zweimal machte Eddie den Mund auf, um ihn wieder zuzumachen. Schließlich stellte er die Frage, die der Revolvermann erwartet hatte.
»Und? Was meinst du?«
»Ich denke, du bist hier.«
Eddie blieb stehen und drückte die geballten Fäuste gegen die Hüften. »Das ist alles? Mehr nicht?«
»Mehr weiß ich nicht«, antwortete der Revolvermann. Die fehlenden Finger und Zehen pulsierten und juckten. Er wünschte sich etwas von dem Astin aus Eddies Welt.
»Hast du eine Meinung, was das alles, zum Teufel, zu bedeuten hat?«
Der Revolvermann hätte seine verstümmelte rechte Hand heben und sagen können: Denk doch selbst darüber nach, was es bedeutet, du dummer Idiot! Aber das zu sagen, kam ihm ebensowenig in den Sinn wie zu fragen, warum es in allen Universen, die existieren mochten, ausgerechnet Eddie sein mußte. »Das ist Ka«, sagte er und sah Eddie geduldig an.
»Was ist Ka?« Eddies Stimme war trotzig. »Davon habe ich noch nie gehört. Nur wenn du es zweimal hintereinander sagst, ist es das Babywort für Scheiße.«
»Davon weiß ich nichts«, sagte der Revolvermann. »Hier bedeutet es Pflicht oder Schicksal oder, umgangssprachlich, einen Ort, zu dem man gehen muß.«
Es gelang Eddie, mißfällig, angewidert und amüsiert zugleich auszusehen. »Dann sag es zweimal, Roland, denn Worte wie dieses hören sich für diesen Jungen hier wie Scheiße an.«
Der Revolvermann zuckte die Achseln. »Ich unterhalte mich nicht über Philosophie. Ich studiere die Geschichte nicht. Ich weiß nur, die Vergangenheit ist Vergangenheit, und was vor uns liegt das liegt vor uns. Das zweite ist Ka, und das kümmert sich um sich selbst.«
»Ja?« Eddie sah nach Norden. »Nun, ich sehe vor uns etwa neun Milliarden Meilen desselben verdammten Strandes. Wenn das vor uns liegt, dann sind Ka und Kaka wirklich dasselbe. Wir haben vielleicht noch genügend gute Patronen, um fünf oder sechs dieser Hummerattrappen zu erlegen, aber dann werden wir sie mit Steinen erschlagen müssen. Also, wohin gehen wir?«
Roland fragte sich, ob das eine Frage war, die er seinem Bruder je gestellt hatte, aber eine solche Frage zu stellen, hätte lediglich zu einer Menge sinnloser Streitigkeiten geführt. Daher deutete er nur mit dem Daumen nach Norden und sagte: »Dorthin. Für den Anfang.«
Eddie sah hin, erblickte aber nur den einförmigen, grauen, muschelübersäten Strand. Er drehte sich wieder zu Roland um, um zu nörgeln, sah die gelassene Gewißheit in dessen Gesicht und sah wieder weg. Er blinzelte. Er schirmte die rechte Seite seines Gesichts mit der rechten Hand vor der Sonne im Westen ab. Er wollte verzweifelt etwas sehen, irgend etwas, Scheiße – sogar eine Fata Morgana hätte ihm genügt, aber da war nichts.
»Scheiß mich an, soviel du willst«, sagte Eddie langsam, »aber ich finde, es ist ein verdammt übler Trick. Ich habe bei Balazar mein Leben für dich riskiert.«
»Das weiß ich.« Der Revolvermann lächelte – eine Seltenheit, die sein Gesicht erhellte wie ein vorübergehender Sonnenstrahl einen regnerischen, trüben Tag. »Darum habe ich nichts anderes gemacht, als dich in Ruhe zu lassen, Eddie. Sie ist da. Ich habe sie gesehen. Anfangs dachte ich, es wäre lediglich eine Fata Morgana oder Wunschdenken, aber sie ist tatsächlich da.«
Eddie sah noch einmal hin, bis ihm Tränen aus den Augenwinkeln rannen. Schließlich sagte er: »Ich sehe da vorne nur Strand. Und meine Sehfähigkeit ist zwanzig-zwanzig.«
»Ich weiß nicht, was das bedeutet.«
»Es bedeutet: Wenn es etwas zu sehen gäbe, würde ich es sehen!« Aber Eddie überlegte. Überlegte, wieviel weiter die blauen Schützenaugen des Revolvermannes sehen konnten als seine eigenen. Vielleicht ein wenig.
Vielleicht viel weiter.
»Du wirst sie sehen«, sagte der Revolvermann.
»Was sehen?«
»Wir werden sie heute nicht mehr erreichen, aber wenn du wirklich so gut siehst, wie du sagst, wirst du sie sehen, bevor die Sonne im Wasser versinkt. Das heißt, wenn du nicht einfach hier stehenbleiben und Maulaffen feilhalten willst.«
»Ka«, sagte Eddie mit belustigter Stimme.
Roland nickte. »Ka.«
»Kaka«, sagte Eddie und lachte. »Komm schon, Roland, gehen wir weiter. Und wenn ich nichts sehe, bis die Sonne untergeht, schuldest du mir ein Hähnchenessen. Oder einen Big Mac. Oder irgend etwas, bloß keinen Hummer.«
»Komm weiter.«
Sie setzten sich wieder in Bewegung, und es dauerte mindestens eine volle Stunde, bis der untere Rand der Sonne den Horizont berührte, als Eddie Dean den Umriß in der Ferne zu sehen begann – vage, schimmernd, undefinierbar, aber eindeutig etwas. Etwas Neues.
»Okay«, sagte er. »Ich sehe es. Du mußt Augen wie Superman haben.«
»Wer?«
»Vergiß es. Du hast wirklich einen unglaublichen kulturellen Nachholbedarf, weißt du das?«
»Was?«
Eddie lachte. »Vergiß es. Was ist es denn?«
»Wirst schon sehen.« Der Revolvermann schritt weiter, bevor Eddie noch etwas fragen konnte.
Zwanzig Minuten später dachte Eddie, daß er es sah. Fünfzehn Minuten später war er sicher. Der Gegenstand am Strand war immer noch zwei, vielleicht drei Meilen entfernt, aber er wußte, was es war. Natürlich eine Tür. Eine weitere Tür.
In dieser Nacht schlief keiner von ihnen gut, und sie waren schon eine Stunde, bevor die Sonne über die zerklüfteten Bergspitzen stieg, wieder auf den Beinen. Sie erreichten die Tür gerade, als die ersten schwachen Strahlen der Morgensonne auf sie fielen. Diese Strahlen erhellten ihre stoppligen Kinne wie Lampen. Sie machten den Revolvermann wieder vierzig Jahre alt, und Eddie nicht älter, als Roland gewesen war, als er sich Cort mit seinem Falken David als Waffe zum Kampf gestellt hatte.
Diese Tür war genau wie die erste, abgesehen davon, was darauf geschrieben stand:
DIE HERRIN DER SCHATTEN
»Also«, sagte Eddie leise und betrachtete die Tür, die einfach dastand und deren Scharniere an einem unsichtbaren Rahmen zwischen einer Welt und einer anderen verankert waren, zwischen einem Universum und einem anderen. Sie stand mit ihrer nüchternen Botschaft so wirklich wie der Fels und so seltsam wie das Licht der Sterne da.
»Also«, stimmte der Revolvermann zu.
»Ka.«
»Ka.«
»Hier erwählst du also den zweiten deiner Drei?«
»Sieht so aus.«
Der Revolvermann wußte, was in Eddies Verstand vor sich ging, bevor dieser selbst es wußte. Er sah Eddie seinen Zug machen, bevor Eddie wußte, daß er ihn machen würde. Er hätte sich umdrehen und Eddies Arm an zwei Stellen brechen können, bevor Eddie gewußt hätte, wie ihm geschah, aber er bewegte sich nicht. Er ließ Eddie den Revolver aus seinem rechten Halfter ziehen. Er hatte zum erstenmal in seinem Leben zugelassen, daß ihm eine seiner Waffen weggenommen wurde, ohne daß er sie zuvor angeboten hätte. Dennoch schritt er nicht ein. Er drehte sich um und sah Eddie gelassen, sogar sanft an.
Eddies Gesicht war lebhaft, angestrengt. Seine Augäpfel um die Pupillen waren schlohweiß. Er hielt den schweren Revolver mit beiden Händen, und dennoch schwankte der Lauf von einer Seite zur anderen, zielte, schwankte, zielte wieder, schwang wieder weg.
»Aufmachen«, sagte er.
»Du bist ein Narr«, sagte der Revolvermann mit derselben sanften Stimme. »Keiner von uns hat eine Ahnung, wohin diese Tür führt. Sie muß sich nicht in dein Universum öffnen, geschweige denn in deine Welt. Soviel ich weiß, könnte die Herrin der Schatten acht Augen und neun Arme haben, wie Suvia. Und selbst wenn sie sich in deine Welt öffnet, könnte es in eine Zeit lange vor deiner Geburt oder lange nach deinem Tod sein.«
Eddie lächelte gepreßt. »Ich will dir was sagen, Monty: Ich bin mehr als bereit, die Gummiadler und die beschissenen Ferien am Strand gegen das einzutauschen, was sich hinter Tür Numero zwei befindet.«
»Ich verstehe dich…«
»Das weiß ich. Spielt auch keine Rolle. Mach das Miststück einfach auf.«
Der Revolvermann schüttelte den Kopf.
Sie standen in der Dämmerung, die Tür warf ihren schrägen Schatten in Richtung des zurückgehenden Meeres.
»Mach sie auf!« schrie Eddie. »Ich komme mit dir. Kapierst du nicht? Ich komme mit dir! Das heißt nicht, daß ich nicht wieder mit hierherkomme. Vielleicht komme ich. Ich meine, wahrscheinlich komme ich. Ich schätze, soviel bin ich dir schuldig. Du warst die ganze Zeit grundehrlich zu mir; glaub nicht, ich hätte das nicht mitbekommen. Aber während du dir dieses Vögelchen holst, wer immer sie ist, werde ich das nächstbeste Chicken delight suchen und mir was mitnehmen. Ich glaube, die dreißigteilige Familienpackung dürfte für den Anfang genügen.«
»Du bleibst hier.«
»Glaubst du, es ist mir nicht ernst?« Jetzt war Eddie schrill, dicht am Zusammenbruch. Der Revolvermann konnte ihn beinahe sehen, wie er in die verhangenen Tiefen seiner eigenen Verdammnis hinabsah. Eddie zog mit dem Daumen den uralten Hahn des Revolvers zurück. Bei Tagesanbruch und mit der Ebbe hatte der Wind nachgelassen, das Klicken des Hahns, als Eddie spannte, war deutlich zu hören. »Führe mich nicht in Versuchung.«
»Ich glaube doch«, sagte der Revolvermann.
»Ich werde dich erschießen!« schrie Eddie.
»Ka«, antwortete der Revolvermann stoisch und wandte sich zu der Tür. Er griff nach dem Knauf, aber sein Herz wartete: Wartete, ob er leben oder sterben würde.
Ka.