ZWEITES KAPITEL

Eddie Dean


1

 

Wie um seine Vorstellung, so verrückt sie auch war, zu bestätigen, erhob sich das, was der Revolvermann durch die Tür sah, plötzlich und glitt seitwärts. Der Anblick machte kehrt (wieder das Gefühl des Schwindels, das Gefühl, auf einer Scheibe mit Rädern zu stehen, einer Scheibe, die Hände, welche er nicht sehen konnte, hierhin und dorthin bewegten), und dann schwebte der Korridor an den Rändern der Tür vorbei. Er kam an einem Ort vorbei, wo mehrere Frauen, alle in denselben roten Uniformen, beisammenstanden. Es war ein Ort von Gegenständen aus Stahl, und er hätte trotz seiner Schmerzen und der Erschöpfung den in Bewegung befindlichen Blick gerne zum Stillstand gebracht, damit er sehen konnte, was die Gegenstände aus Stahl waren – eine Art Maschinen. Eine sah einem Ofen ähnlich. Die Armeefrau, die er schon gesehen hatte, schenkte den Gin ein, den die Stimme verlangt hatte. Sie schenkte aus einer sehr kleinen Flasche ein. Sie war aus Glas. Das Gefäß, in das sie einschenkte, sah wie Glas aus, aber der Revolvermann glaubte nicht, daß es tatsächlich Glas war.

Was die Tür zeigte, hatte sich weiterbewegt, bevor er mehr sehen konnte. Es folgte eine weitere dieser schwindelerregenden Wendungen, dann stand er vor einer Metalltür. Ein erleuchtetes Schild befand sich in einem schmalen Kästchen. Dieses Wort konnte der Revolvermann lesen. FREI, stand da.

Der Blick glitt ein wenig abwärts. Eine Hand stieß rechts von der Tür herein, durch die der Revolvermann sah, und ergriff den Knauf der Tür, die der Revolvermann vor sich hatte. Er sah die Manschette eines blauen Hemds, die etwas zurückgezogen war und störrische schwarze Härchen entblößte. Lange Finger. An einem ein Ring, in den ein Edelstein eingelassen war, bei dem es sich um einen Rubin oder einen Granat oder ein Stück billigen Tand handeln konnte.

Der Revolvermann dachte an die letzte Möglichkeit – es war zu groß und vulgär, um echt zu sein.

Die Metalltür schwang auf, und der Revolvermann sah in die seltsamste Kammer, die er je gesehen hatte. Sie bestand ganz aus Metall.

Die Ränder der Metalltür schwebten an den Rändern der Tür auf dem Strand vorbei. Der Revolvermann hörte, wie sie zugemacht und verriegelt wurde. Eine weitere dieser schwindelerregenden Drehungen blieb ihm erspart, daher vermutete er, der Mann, durch dessen Augen er sah, mußte hinter sich gegriffen haben, um sich einzuschließen.

Dann aber drehte sich der Blick – nicht ganz herum, nur halb –, und er sah in einen Spiegel und erblickte ein Gesicht, das er schon einmal gesehen hatte… auf einer Tarotkarte.

Dieselben dunklen Augen und der dunkle Haarschopf. Das Gesicht war ruhig, aber blaß, und in den Augen – Augen, durch die er jetzt eine Reflexion sah – erblickte Roland etwas von dem Grauen und Entsetzen jener vom Pavian besessenen Kreatur der Tarotkarte.

Der Mann zitterte.

Obendrein ist er krank.

Dann erinnerte er sich an Nort, den Grasesser aus Tull.

Er dachte an das Orakel.

Ein Dämon hat von ihm Besitz ergriffen.

Plötzlich dachte der Revolvermann, daß er vielleicht doch wußte, was HEROIN war: etwas Ähnliches wie Teufelsgras.

Etwas beunruhigend, nicht?

Ohne nachzudenken, allein durch die schlichte Willenskraft, die ihn zum letzten von allen gemacht hatte, zum letzten, der weitermarschierte, nachdem Cuthbert und alle anderen gestorben waren oder aufgegeben hatten, Selbstmord oder Verrat begangen oder die Suche nach dem Turm einfach gelassen hatten; von der engstirnigen und desinteressierten Entschlossenheit getrieben, die ihn dem Mann in Schwarz durch die Wüste und vor der Wüste viele Jahre hatte folgen lassen, trat der Revolvermann durch die Tür.

 

 


2

 

Eddie bestellte einen Gin Tonic; es war wahrscheinlich keine gute Idee, betrunken durch den New Yorker Zoll zu gehen, und er wußte, wenn er anfing, würde er einfach weitertrinken – aber er brauchte etwas.

Wenn man runter muß und die Rolltreppe nicht finden kann, hatte Henry einmal zu ihm gesagt, dann muß man es eben so machen, wie man kann. Und sei es mit einer Schaufel.

Nachdem er seine Bestellung aufgegeben und die Stewardeß sich entfernt hatte, war ihm zumute, als müßte er sich gleich übergeben. Nicht sicher übergeben, nur vielleicht, aber es war besser, auf Nummer Sicher zu gehen. Mit zwei Pfund reinem Kokain und mit Gin im Atem durch den New Yorker Zoll zu gehen, mochte keine so gute Idee sein; aber zitternd und dazu mit trocknender Kotze auf den Hosen durch den Zoll zu gehen, wäre eine Katastrophe. Also besser auf Nummer Sicher gehen. Das Gefühl würde wahrscheinlich vorbeigehen, wie immer, aber lieber auf Nummer Sicher gehen.

Das Problem war, er war auf cool turkey. Cool, nicht cold. Weise Worte vom großen Weisen und bedeutenden Junkie Henry Dean.

Sie saßen auf dem Penthousebalkon des Regency Tower, noch nicht drauf, aber kurz davor, die Sonne schien ihnen warm in die Gesichter, sie waren so abgedröhnt… in den guten alten Zeiten, als Eddie gerade angefangen hatte, den Stoff zu schnupfen, und Henry selbst noch nicht zu seiner ersten Nadel gegriffen hatte.

Alle sprechen davon, daß sie auf cold turkey kommen, hatte Henry gesagt, aber bevor man das bekommt, bekommt man erst einmal cool turkey.

Und Eddie, der sich das Hirn zugedröhnt gehabt hatte, hatte wild angefangen zu kichern, weil er ganz genau wußte, wovon Henry sprach. Henry dagegen hatte nicht den Hauch eines Lächelns erkennen lassen.

In gewisser Weise ist cool turkey schlimmer als cold turkey, hatte Henry gesagt. Wenn man es bis cold turkey schafft, dann WEISS man, daß man kotzen wird, dann WEISS man, daß man das Zittern kriegt, dann WEISS man, daß man schwitzt, bis man meint, man ertrinkt darin. Cool turkey ist dagegen wie der Fluch der Vorfreude.

Eddie erinnerte sich, er hatte Henry gefragt, wie man es nannte, wenn ein Nadel-Freak (in jenen vagen Zeiten, die gerade erst sechzehn Monate her sein mochten, hatten sie sich beide feierlich geschworen, daß sie das selbst niemals werden würden) einen heißen Schuß bekam.

Das nennt man baked turkey, hatte Henry prompt geantwortet, und dann hatte er überrascht dreingeschaut, wie jemand schaut, wenn er etwas gesagt hat, das viel komischer ist, als es eigentlich beabsichtigt war, und sie sahen einander an und heulten dann vor Lachen und umklammerten einander. Baked turkey, damals ziemlich komisch, heute nicht mehr.

Eddie schritt den Mittelgang entlang, an der Kombüse vorbei in den vorderen Teil, überprüfte das Schild – FREI – und trat ein.

He, Henry, o großer Weiser und bedeutender Junkie, Großer Bruder, während wir noch beim Thema gefiederte Freunde sind, möchtest du meine Definition einer abgekochten Gans hören? Das ist, wenn der Zollbeamte am Kennedy zu der Überzeugung kommt, dein Aussehen ist ein wenig komisch, oder wenn es einer der Tage ist, wenn sie die Hunde mit den akademischen Spürnasen draußen haben, statt Port Authority, und die fangen an zu bellen und pissen auf den Boden, und sie erwürgen sich allesamt fast selbst an ihren Halsbändern, weil sie zu dir wollen, und wenn die Jungs vom Zoll dein ganzes Gepäck durchsucht haben, bitten sie dich in ein kleines Zimmer und fragen dich, ob es dir etwas ausmachen würde, dein Hemd auszuziehen, und du sagst, doch, das würde mir etwas ausmachen, weil ich mir auf den Bahamas eine Erkältung geholt habe, und die Klimaanlage hier drinnen ist so verdammt hoch eingestellt, daß ich fürchte, es könnte eine Grippe daraus werden, und sie sagen, ach ja, ist das so, und schwitzen Sie immer so, wenn die Klimaanlage zu hoch eingestellt ist, Mr. Dean, so, das machen Sie, wir bitten vielmals um Entschuldigung, aber machen Sie jetzt, und du gehorchst, und sie sagen, vielleicht sollten Sie besser auch noch Ihr T-Shirt ausziehen, weil es so aussieht, als hätten Sie vielleicht ein medizinisches Problem, Kumpel, diese Beulen unter ihren Achseln sehen aus, als könnten sie Lymphtumore sein oder so etwas, und du machst dir nicht einmal die Mühe, etwas anderes zu behaupten, wie ein Centerfield, der sich nicht einmal die Mühe macht, nach dem Ball zu jagen, wenn er auf eine bestimmte Weise geschlagen wurde, er dreht sich einfach um und sieht ihm zu, wie er in die Ehrentribüne fliegt, denn wenn er weg ist, ist er weg, und du nimmst also das T-Shirt ab, und schau her, haben Sie aber ein Glück, es sind gar keine Tumore, es sei denn, man würde sie Tumore am corpus der Gesellschaft nennen, gacker-gacker-gacker, sehen mehr wie Beutel aus, die mit Tesaband dort festgemacht wurden, und machen Sie sich übrigens keine Gedanken wegen des Geruchs, Junge, das ist nur Gans. Sie ist abgekocht.

Er griff hinter sich und schob den Riegel vor. Die Lichter in der Kabine wurden heller. Das Motorengeräusch war ein leises Dröhnen. Er drehte sich zum Spiegel um, weil er sehen wollte, wie er aussah, und plötzlich überkam ihn ein schreckliches, überzeugendes Gefühl: das Gefühl, daß er beobachtet wurde.

He, komm schon, hör auf, dachte er unbehaglich. Du bist doch angeblich der coolste Kerl der Welt. Darum haben sie dich geschickt. Darum haben sie…

Aber plötzlich schien es, als wären das nicht seine eigenen Augen da im Spiegel, nicht Eddie Deans mandelbraune, fast grüne Augen, die im letzten Drittel seiner einundzwanzig Lebensjahre so viele Herzen geschmolzen und es ihm ermöglicht hatten, so viele Schenkel zu spreizen, nicht seine Augen, sondern die eines Fremden. Nicht Mandelbraun, sondern ein Blau von der Tönung verwaschener Levis. Augen, die kalt und präzise waren, unerwartete Wunder des Zielens. Kanoniersaugen.

Er sah – ganz deutlich – die Spiegelung einer Möwe in ihnen, die auf eine brechende Welle herabstieß und etwas daraus schnappte.

Er hatte noch Zeit zu denken: Was in Gottes Namen soll diese Scheiße? und dann wußte er, daß es nicht vorbeigehen würde; er würde sich doch übergeben müssen.

In der halben Sekunde, bevor er das tat, in der halben Sekunde, die er weiter in den Spiegel sah, sah er diese blauen Augen verschwinden… aber bevor das geschah, hatte er plötzlich das Gefühl, zwei Menschen zu sein… besessen zu sein, so wie das kleine Mädchen in Der Exorzist.

Er spürte deutlich einen neuen Verstand in seinem eigenen, und er hörte einen Gedanken, der nicht sein eigener Gedanke war, sondern mehr wie eine vom Funkgerät übermittelte Stimme: Ich bin durchgekommen. Ich bin in der Himmelskutsche.

Da war noch etwas, aber das hörte Eddie nicht. Er war zu sehr damit beschäftigt, so leise er konnte in die Kloschüssel zu kotzen.

Als er fertig war, noch ehe er sich auch nur den Mund abgewischt hatte, geschah etwas mit ihm, was ihm vorher noch niemals passiert war. Einen furchteinflößenden Augenblick lang war nichts nur ein leeres Intervall. Als wäre eine einzige Zeile in einer gedruckten Spalte fein säuberlich ausgelöscht worden.

Was ist das? dachte Eddie hilflos. Was, zum Teufel, ist diese Scheiße?

Dann mußte er wieder kotzen, und das war wahrscheinlich gut so; was immer man dagegen anführen mochte, das Erbrechen hatte wenigstens eines für sich: Solange man damit beschäftigt war, konnte man an nichts anderes denken.

 

 


3

 

Ich bin durchgekommen. Ich bin in der Himmelskutsche, dachte der Revolvermann. Und eine Sekunde später: Er sieht mich im Spiegel!

Roland wich zurück – er ging nicht, sondern wich zurück wie ein Kind, das sich in die fernste Ecke eines sehr langen Zimmers flüchtet. Er war in der Himmelskutsche; er war auch in einem Mann, der nicht er selbst war. Er war im Gefangenen. In jenem ersten Augenblick, als er ganz vorne gewesen war (anders konnte er es nicht beschreiben), war er mehr als im Inneren; er war beinahe der Mann gewesen. Er hatte die Krankheit des Mannes gespürt, was immer sie sein mochte, und hatte gemerkt, daß der Mann sich übergeben mußte. Roland begriff, daß er die Kontrolle über den Körper dieses Mannes erlangen konnte, sollte es nötig sein. Er würde seine Schmerzen erleiden, würde von dem Dämonen-Affen geplagt werden, der von ihm Besitz ergriffen hatte, aber wenn es nötig war, konnte er es.

Oder er konnte unbemerkt hierbleiben.

Als der Würgeanfall des Gefangenen vorbei war, schnellte der Revolvermann nach vorne – dieses Mal bis ganz vorne. Er begriff sehr wenig von dieser seltsamen Situation, und in einer Situation zu handeln, die man nicht versteht, heißt, die schrecklichsten Konsequenzen herausfordern, aber er mußte zweierlei wissen und zwar so verzweifelt, daß der Zwang zu wissen jedwede Konsequenzen, die sich ergeben mochten, überwand.

War die Tür, durch die er aus seiner eigenen Welt gekommen war, immer noch da?

Und wenn sie da war, war auch sein körperliches Selbst noch da, war es unbewohnt zusammengebrochen, starb es möglicherweise oder war es bereits tot, ohne seine Seele? Selbst wenn sein Körper noch lebte, er lebte vielleicht nur noch bis Einbruch der Nacht. Dann würden die Monsterhummer herauskommen, ihre Fragen stellen und am Strand nach Mahlzeiten suchen.

Er riß den Kopf, der einen Augenblick lang sein Kopf war, zu einem raschen Blick nach hinten herum.

Die Tür war noch da, war noch hinter ihm. Sie stand zu seiner eigenen Welt hin offen, ihre Angeln waren im Stahl dieser eigentümlichen Kabine verankert. Und ja, dort lag er, Roland, der letzte Revolvermann, auf der Seite, die verbundene rechte Hand auf dem Bauch.

Ich atme, dachte Roland. Ich muß zurückgehen und mich an eine andere Stelle bringen. Aber zuerst muß verschiedenes getan werden. Verschiedenes…

Er gab den Verstand des Gefangenen frei und zog sich zurück, beobachtete und wartete, ob der Gefangene von seiner Anwesenheit wußte oder nicht.

 

 


4

 

Nachdem das Erbrechen aufgehört hatte, blieb Eddie mit fest zugekniffenen Augen über das Becken gebeugt stehen.

Eine Sekunde lang weggetreten. Weiß nicht, was es war. Habe ich mich umgedreht?

Er tastete nach dem Hahn und ließ kaltes Wasser laufen. Er spritzte es sich über Wangen und Stirn, ohne die Augen aufzumachen.

Als es sich nicht mehr länger vermeiden ließ, sah er wieder in den Spiegel.

Seine eigenen Augen sahen ihn an.

In seinem Kopf war keine fremde Stimme.

Kein Gefühl, beobachtet zu werden.

Du hattest einen Augenblick einen Aussetzer, Eddie, sagte der große Weise und bedeutende Junkie zu ihm. Bei einem, der auf cool turkey ist, kein außergewöhnliches Phänomen.

Eddie sah auf die Uhr. Noch eineinhalb Stunden bis New York. Das Flugzeug sollte um 4.05 EDT landen, aber in Wirklichkeit würde es zwölf Uhr Mittag sein. Showdown-Zeit.

Er ging zu seinem Sitz zurück. Sein Drink stand auf dem Klapptisch. Er trank zwei Schluck, dann kam die Stew wieder und fragte, ob sie noch etwas für ihn tun konnte. Er machte den Mund auf, um nein zu sagen, und dann folgte wieder einer dieser seltsam weggetretenen Augenblicke.

 

 


5

 

»Ich hätte gerne etwas zu essen, bitte«, sagte der Revolvermann mit Eddie Deans Mund.

»Wir servieren gleich einen heißen Snack, in…«

»Ich bin wirklich am Verhungern«, sagte der Revolvermann in aller Aufrichtigkeit. »Irgend etwas, und sei es ein Belegter…«

»Belegter?« Die Armeefrau sah ihn stirnrunzelnd an, und der Revolvermann sah hastig in den Verstand des Gefangenen. Sandwich… das Wort war so fern wie das Rauschen in einer Muschel.

»Und sei es ein Sandwich«, sagte der Revolvermann.

Die Armeefrau sah ihn zweifelnd an. »Nun… ich habe etwas Thunfisch…«

»Das wäre herrlich«, sagte der Revolvermann, obwohl er in seinem ganzen Leben noch nichts von einem Tun-Fisch gehört hatte. Er konnte es sich nicht leisten, wählerisch zu sein.

»Sie sehen etwas blaß aus«, sagte die Armeefrau. »Ich dachte, es wäre vielleicht Luftkrankheit.«

»Nur Hunger.«

Sie schenkte ihm ein geschäftsmäßiges Lächeln. »Mal sehen, was ich zusammenpanschen kann.«

Pandschen? dachte der Revolvermann verwirrt. In seiner eigenen Welt war pandschen ein umgangssprachlicher Ausdruck, der bedeutete, eine Frau mit Gewalt zu nehmen. Egal. Er würde etwas zu essen bekommen. Er hatte keine Ahnung, ob er es durch die Tür zu dem Körper bringen konnte, der es so dringend brauchte, aber eins nach dem anderen, eins nach dem anderen.

Pandschen, dachte er, und Eddie Dean schüttelte wie fassungslos den Kopf.

Dann zog sich der Revolvermann wieder zurück.

 

 


6

 

Die Nerven, versicherte ihm das große Orakel und der bedeutende Junkie. Nur die Nerven. Gehört alles zum cool turkey-Erlebnis, kleiner Bruder.

Aber wenn es die Nerven waren, wie kam es dann, daß er spürte, wie diese seltsame Schläfrigkeit über ihn kam – seltsam, weil er aufgekratzt, gereizt sein und diesen Drang, sich zu winden und zu kratzen verspüren sollte, der vor dem eigentlichen Zittern kam; selbst wenn er nicht in Henrys ›cool turkey‹-Stadium gewesen wäre, war da die Tatsache, daß er vorhatte, zwei Pfund Koks durch den US-Zoll zu schmuggeln, eine Straftat, auf die nicht weniger als zehn Jahre in einem Bundesgefängnis standen, und jetzt schien er plötzlich auch noch Aussetzer zu haben.

Trotzdem das Gefühl der Schläfrigkeit.

Er trank wieder von seinem Drink, dann ließ er die Augen zufallen.

Warum bist du umgekippt?

Bin ich nicht, sonst hätte sie sämtliches Notfallzeug geholt, das sie bei sich haben.

Also ausgerastet. So oder so, es ist nicht gut. Du bist in deinem ganzen Leben noch nie so ausgerastet. Eingenickt, ja, aber nicht ausgerastet.

Auch mit seiner rechten Hand war etwas seltsam. Sie schien zu pulsieren, als hätte er mit dem Hammer darauf geschlagen.

Er spannte sie, ohne die Augen aufzumachen. Kein Pulsieren. Keine blauen Kanoniersaugen. Und was die Aussetzer anbelangte, sie waren lediglich eine Kombination von cool turkey und einer gehörigen Dosis dessen, was das große Orakel und der bedeutende und so weiter zweifellos den Schmuggler-Blues nennen würde.

Aber ich werde trotzdem schlafen, dachte er. Was sagt man dazu?

Henrys Gesicht schwebte wie ein freigelassener Ballon an ihm vorbei. Keine Bange, sagte Henry. Alles wird gut, kleiner Bruder. Du wirst runter nach Nassau fliegen und dich im Aquinas einmieten, dort wird am Freitagabend ein Mann vorbeikommen. Einer der Guten. Er wird dir einen Schuß und genügend Stoff verschaffen, damit du übers Wochenende kommst. Sonntag nacht bringt er das Koks, und du gibst ihm den Schlüssel zum Schließfach. Montag machst du morgens die Routine, wie Balazar es gesagt hat. Der Bursche wird mitspielen; er weiß, wie es ablaufen soll. Nachmittags fliegst du zurück, und mit einem so ehrlichen Gesicht wie deinem, kommst du in Windeseile durch den Zoll, und wir werden noch vor Sonnenuntergang Steaks im Sparks essen. Es wird ein Spaziergang werden, kleiner Bruder, nichts weiter als ein Spaziergang.

Aber irgendwie war es dann doch mehr ein Gewaltmarsch geworden.

Das Problem bei ihm und Henry war, sie waren wie Charlie Brown und Lucy. Der einzige Unterschied war, ab und zu hielt Henry einmal den Football fest, damit Eddie ihn treffen konnte – nicht oft, aber manchmal. Einmal, im Heroinrausch, hatte Eddie sogar daran gedacht, er sollte Charles Schultz einen Brief schreiben. Lieber Mr. Schultz, würde er schreiben. Ihnen entgeht etwas, weil Sie Lucy IMMER in letzter Sekunde den Football wegziehen lassen. Sie sollte ihn ab und zu einmal wirklich festhalten. Nicht, daß Charlie Brown es jemals vorhersehen könnte, wissen Sie. Manchmal sollte sie ihn drei- bis viermal hintereinander festhalten, dann einen Monat lang gar nicht, dann einmal, dann wieder drei oder vier Tage nicht, und dann, Sie wissen schon, Sie werden verstehen. Das würde den Burschen ECHT fertigmachen, oder?

Eddie wußte, daß es den Burschen echt fertigmachen würde.

Er wußte es aus Erfahrung.

Einer der Guten, hatte Henry gesagt, aber der Mann, der gekommen war, war ein Ding mit teigiger Haut, einem britischen Akzent und einem Oberlippenbärtchen gewesen, das aus einem film noire der vierziger Jahre zu stammen schien, dazu gelbe Zähne, die nach innen gebogen waren wie die Zähne einer sehr alten Tierfalle.

»Haben Sie den Schlüssel, Senor?« fragte er, aber in seinem britischen Grundschulakzent hörte es sich mehr wie Seior an.

»Der Schlüssel ist in Sicherheit«, sagte Eddie, »falls Sie das meinen.«

»Dann geben Sie ihn mir.«

»So läuft das nicht. Sie sollen etwas haben, das mich übers Wochenende bringt. Sonntag nacht sollen Sie mir etwas bringen. Dann gebe ich Ihnen den Schlüssel. Sie gehen am Montag in die Stadt und holen etwas anderes damit. Ich weiß nicht was, weil mich das nichts angeht.«

Plötzlich hatte das Ding eine flache blaue Automatik in der teigigen Hand. »Warum geben Sie ihn mir nicht einfach, Senor? Ich spare Zeit und Mühe, Sie retten Ihr Leben.«

Junkie oder nicht, Eddie Dean war hart wie Stahl. Das wußte Henry; und noch wichtiger, Balazar wußte es. Darum war er geschickt worden. Die meisten glaubten, er wäre gegangen, weil er wieder bis über beide Ohren an der Nadel hing. Er wußte es, Henry wußte es, und Balazar auch. Aber nur er und Henry wußten, daß er auch gegangen wäre, wäre er clean wie frische Wäsche gewesen. Für Henry. Darauf war Balazar bei seinen Überlegungen noch nicht gekommen, aber scheiß auf Balazar.

»Warum stecken Sie das Ding nicht einfach weg, Sie kleiner Scheißer?« fragte Eddie. »Oder wollen Sie, daß Balazar jemanden herschickt, der Ihnen mit einem Messer die Augen herausschneidet?«

Das teigige Ding lächelte. Die Pistole war wie weggezaubert; an ihrer Stelle befand sich ein kleiner Umschlag. Er reicht ihn Eddie. »Kleiner Scherz, Sie verstehen.«

»Wenn Sie das sagen.«

»Ich sehe Sie Sonntag nacht.«

Er wandte sich zur Tür.

»Ich glaube, Sie warten besser.«

Das teigige Ding drehte sich mit hochgezogenen Brauen zu ihm herum. »Sie glauben, ich gehe nicht, wenn ich gehen will?«

»Ich glaube, wenn Sie gehen und dies ist schlechter Stoff, dann fliege ich morgen zurück. Dann stecken Sie echt in der Scheiße.«

Das teigige Ding drehte sich mürrisch herum. Es setzte sich auf den einzigen Sessel des Zimmers, während Eddie den Umschlag aufriß und eine kleine Menge brauner Substanz herausschüttete. Sah böse aus. Er sah das teigige Ding an.

»Ich weiß, wie es aussieht; sieht wie Scheiße aus, aber das ist nur der Verschnitt«, sagte das teigige Ding. »Ist gut.«

Eddie riß ein Blatt Papier vom Notizblock auf dem Tisch und trennte eine winzige Menge des braunen Pulvers von dem Häufchen ab. Er tauchte den Finger hinein und rieb ihn dann an der Zungenspitze. Eine Sekunde später spie er ins Waschbecken.

»Möchten Sie sterben? Ist es das? Verspüren Sie einen Todeswunsch?«

»Mehr ist nicht.« Das teigige Ding sah mürrischer denn je aus.

»Ich habe eine Reservierung für morgen«, sagte Eddie. Das war eine Lüge, aber er glaubte nicht, daß das teigige Ding über die Mittel verfügte, es nachzuprüfen. »TWA. Habe ich selbst gemacht, falls sich der Kontaktmann als Scheißer, wie Sie einer sind, erweisen sollte. Mir ist es egal. Eigentlich bin ich sogar erleichtert. Ich bin nicht für solche Unternehmen geschaffen.«

Das teigige Ding saß da und überlegte. Eddie saß da und konzentrierte sich darauf, sich nicht zu bewegen. Er wollte sich bewegen; er wollte ruckein und juckeln, zippeln und zappeln, hoppeln und flippen, er wollte seine Kratzer kratzen und seine Knöchel knöcheln lassen. Er spürte sogar, daß seine Augen zu dem Häufchen braunen Pulvers sehen wollten, obwohl er wußte, daß es Gift war. Er hatte sich morgens um zehn einen Schuß gesetzt; seither waren ebenso viele Stunden verstrichen. Aber wenn er etwas davon tat, würde sich die Situation ändern. Das teigige Ding tat mehr als nachdenken; es beobachtete ihn und versuchte, ihn einzuschätzen.

»Ich könnte vielleicht etwas auftreiben«, sagte es schließlich.

»Warum versuchen Sie es dann nicht?« sagte Eddie. »Aber um elf werde ich das Licht ausmachen und das BITTE NICHT STÖREN-Schild vor die Tür hängen, und wenn danach noch jemand klopft, werde ich den Portier anrufen und ihm sagen, daß mich jemand belästigt und er den Wächter schicken soll.«

»Sie sind ein Pisser«, sagte das Ding.

»Nein«, sagte Eddie. »Sie hatten einen Pisser erwartet. Ich bin aber mit zugeknöpftem Reißverschluß gekommen. Sie sind vor elf wieder da, und zwar mit etwas, das ich nehmen kann – muß nichts Besonderes sein –, sonst werden Sie ein toter Scheißer sein.«

 

 


7

 

Das teigige Ding war lange vor elf wieder da; er war um halb zehn zurück. Eddie vermutete, daß er den anderen Stoff die ganze Zeit im Auto gehabt hatte.

Dieses Mal etwas mehr Pulver. Nicht weiß, aber immerhin blaß elfenbeinfarben, was Anlaß zu gelinder Hoffnung gab.

Eddie kostete. Schien in Ordnung zu sein. Sogar besser als in Ordnung. Ziemlich gut sogar. Er rollte einen Geldschein und schnupfte.

»Also dann, bis Sonntag«, sagte das teigige Ding unwirsch und stand auf.

»Warten Sie«, sagte Eddie, als wäre er derjenige mit der Waffe. In gewisser Weise war er das auch. Balazar war die Waffe. Emilio Balazar war ein großkalibriges Schießeisen in New Yorks wunderbarer Welt der Drogen.

»Warten?« Das teigige Ding drehte sich um und sah Eddie an, als wäre es der Meinung, Eddie müsse verrückt sein. »Worauf?«

»Nun, ich habe gerade über Sie nachgedacht«, sagte Eddie. »Wenn ich von dem, was ich mir gerade eingepfiffen habe, echt krank werde, ist es aus. Wenn ich sterbe, ist es selbstverständlich aus. Ich habe nur gerade gedacht, wenn mir nur ein wenig übel wird, gebe ich Ihnen vielleicht eine zweite Chance. Sie wissen schon, wie in der Geschichte, in der der Junge die Lampe reibt und ihm drei Wünsche gewährt werden.«

»Es wird Sie nicht krank machen. Das ist China White.«

»Wenn das China White ist«, sagte Eddie, »dann bin ich Dwight Gooden.«

»Wer?«

»Vergessen Sie’s.«

Das teigige Ding setzte sich. Eddie saß mit einem kleinen Häufchen weißen Pulvers neben sich am Tisch des Hotelzimmers (das D-Con oder was immer es gewesen war, war schon längst das Klo runtergespült worden). Im Fernsehen wurden die Braves von den Mets zu Hackfleisch gemacht, dank WTBS und der großen Parabolantenne auf dem Dach des Hotels Aquinas. Eddie verspürte ein schwaches Gefühl der Ruhe, das aus seinem Hinterkopf zu kommen schien… aber in Wirklichkeit, das hatte er in medizinischen Fachzeitschriften gelesen, kam es aus einem Bündel Nervenfasern am Rückenmarksansatz, der Stelle, wo die Heroinsucht anfängt und eine unnatürliche Verdickung des Nervenstammes bewirkt.

Möchtest du eine rasche Heilung? hatte er Henry einmal gefragt. Brich dir das Rückgrat, Henry. Deine Beine werden nicht mehr funktionieren und dein Schwanz auch nicht, aber du wirst auf der Stelle keine Nadel mehr brauchen.

Henry hatte das überhaupt nicht komisch gefunden.

In Wahrheit hatte auch Eddie selbst es gar nicht so komisch gefunden. Wenn die schnellste Möglichkeit, den Affen auf dem Rücken loszuwerden, die war, sich die Wirbelsäule oberhalb dieser Nervenverdickung zu brechen, dann hatte man es mit einem verdammt gewichtigen Affen zu tun. Das war kein Kapuzineraffe, kein Maskottchen eines alten Abenteurers; das war ein böser alter Pavian.

Eddie fing an zu schnupfen.

»Okay«, sagte er schließlich. »Das wird gehen. Sie dürfen die Bühne verlassen, Scheißer.«

Das teigige Ding stand auf. »Ich habe Freunde«, sagte es. »Sie könnten hierherkommen und Sie in die Mangel nehmen. Sie würden flehen, mir zu sagen, wo der Schlüssel ist.«

»Ich nicht, Kumpel«, sagte Eddie. »Nicht dieser Junge.« Und lächelte. Er wußte nicht, wie das Lächeln aussah, aber es schien nicht sehr fröhlich gewesen zu sein, denn das teigige Ding verließ die Bühne, verließ sie schnell und drehte sich nicht noch einmal um.

Als Eddie Dean sicher war, daß er fort war, drückte er.

Fixte.

Schlief.

 

 


8

 

Wie er jetzt auch schlief.

Der Revolvermann, der irgendwo im Verstand dieses Mannes war (eines Mannes, dessen Namen er immer noch nicht wußte; der Kurier, den der Gefangene als ›das teigige Ding‹ bezeichnet hatte, hatte ihn nicht gewußt und daher nie ausgesprochen), betrachtete das alles, wie er einst als Kind Schauspiele betrachtet hatte, bevor die Welt sich weitergedreht hatte… jedenfalls dachte er, daß er so betrachtete, denn etwas anderes als Schauspiele hatte er nie gesehen. Hätte er jemals einen Film gesehen, hätte er zuerst daran gedacht. Was er nicht direkt sehen konnte, konnte er aus dem Verstand des Gefangenen herausholen, denn die Assoziationen waren nahe. Aber das mit dem Namen war komisch. Er kannte den Namen des Bruders des Gefangenen, aber nicht den des Mannes selbst. Aber Namen waren etwas Geheimes, voller Macht.

Und der Name des Mannes gehörte auch nicht zu den Dingen, die wichtig waren. Eines war die Schwäche der Sucht. Das andere war der in dieser Schwäche verborgene stählerne Charakter, wie ein guter Revolver, der in Treibsand versunken war.

Dieser Mann erinnerte den Revolvermann auf schmerzhafte Weise an Cuthbert.

Jemand kam näher. Der Gefangene, der schlief, hörte es nicht. Aber der Revolvermann, der nicht schlief, hörte es und kam wieder in den Vordergrund.

 

 


9

 

Großartig, dachte Jane. Da erzählt er mir, wie hungrig er ist, und ich mache ihm etwas zu essen, weil er irgendwie niedlich ist, und dann schläft er mir ein.

Doch dann machte der Passagier – etwa zwanzig, groß, mit sauberen, leicht verwaschenen Bluejeans und Paisleyhemd – die Augen auf und lächelte sie an.

»Dhanki sähr«, sagte er – jedenfalls hörte es sich so an. Beinahe archaisch… oder ausländisch. Schlaftrunkenes Sprechen, mehr nicht, dachte Jane.

»Gern geschehen.« Sie lächelte ihr bestes Stewardessenlächeln und war sicher, er würde gleich wieder einschlafen und das Sandwich noch nicht aufgegessen sein, wenn es die eigentliche Mahlzeit gab.

Nun, schließlich brachten sie einem bei, mit so etwas zu rechnen, nicht?

Sie ging wieder in die Kombüse, um zu rauchen.

Sie zündete das Streichholz an, hob es halb bis zur Zigarette, und dort verharrte es vergessen, weil sie einem nicht nur beibrachten, mit so etwas zu rechnen.

Ich fand ihn irgendwie niedlich. Hauptsächlich wegen seinen Augen. Seinen mandelbraunen Augen.

Aber als der Mann auf 3A vor einem Augenblick die Augen aufgemacht hatte, waren sie nicht mandelbraun gewesen; sie waren blau. Kein süßes Sexy-Blau wie Paul Newmans Augen, sondern die Farbe von Eisbergen. Sie…

»Au!«

Das Streichholz war bis zu ihren Fingern abgebrannt. Sie schüttelte es aus.

»Jane?« fragte Paula. »Alles klar?«

»Bestens. Tagträume.«

Sie zündete ein neues Streichholz an und machte die Sache dieses Mal richtig. Sie hatte erst einen Zug getan, als ihr eine vollkommen vernünftige Erklärung einfiel. Er trug Kontaktlinsen. Natürlich. Mit denen man seine Augenfarbe verändern konnte. Er war auf der Toilette gewesen. So lange, daß sie sich schon Sorgen gemacht hatte, er könnte luftkrank sein – er hatte eine blasse Gesichtsfarbe, den Ausdruck eines Mannes, dem nicht gut ist. Aber er hatte nur die Kontaktlinsen herausgenommen, damit er angenehmer schlafen konnte. Vollkommen logisch.

Sie spüren vielleicht etwas, sagte plötzlich eine Stimme aus ihrer eigenen, nicht so feinen Vergangenheit. Ein leichtes Kribbeln. Sie könnten etwas sehen, das nicht ganz in Ordnung ist.

Farbige Kontaktlinsen.

Jane Dorning kannte mehr als zwei Dutzend Menschen, die Kontaktlinsen trugen. Die meisten arbeiteten für die Fluggesellschaft. Niemand sprach je darüber, aber sie vermutete, einer der Gründe mochte sein, daß die Passagiere nicht gerne Flugpersonal mit Brille sahen – das machte sie nervös.

Von diesen allen kannte sie vielleicht vier, die farbige Kontaktlinsen hatten. Normale Kontaktlinsen waren teuer, farbige kosteten die Welt. Die Leute aus Janes Bekanntenkreis, die dieses Geld ausgaben, waren allesamt Frauen und alle überaus eitel.

Na und? Männer können auch eitel sein. Warum nicht? Er sieht gut aus.

Nein. Sah er nicht. Niedlich vielleicht, aber mehr auch nicht, und mit seiner blassen Haut schaffte er es auch nur eine Nasenlänge bis niedlich. Warum also farbige Kontaktlinsen? Flugpassagiere haben häufig Angst vor dem Fliegen.

In einer Welt, in der Entführungen und Drogenschmuggel zu etwas Alltäglichem geworden waren, hatte das Flugpersonal häufig Angst vor den Passagieren.

Die Stimme, welche diesen Gedankengang ausgelöst hatte, war die einer Lehrerin an der Stewardessenschule gewesen, einer zähen alten Veteranin, die ausgesehen hatte, als hätte sie schon für Wiley Post Briefe geflogen; sie hatte gesagt: Ignorieren Sie Ihre Verdachtsmomente nicht. Und wenn Sie alles vergessen, was Sie über den Umgang mit potentiellen oder tatsächlichen Terroristen gelernt haben, vergessen Sie eines nicht: Ignorieren Sie Ihre Verdachtsmomente nicht. In einigen Fällen wird die Besatzung beim Verhör aussagen, daß sie keine Ahnung hatten, bis der Mann eine Granate herauszog und sagte, biegen Sie links ab nach Kuba, sonst werden sich alle an Bord zum Kondensstreifen gesellen. Aber in den meisten Fällen gibt es zwei oder drei verschiedene Personen – hauptsächlich Stewardessen, wie Sie es in weniger als einem Monat sein werden –, die sagen, sie haben etwas gespürt. Ein leichtes Kribbeln. Das Gefühl, daß mit dem Mann auf 91C oder der jungen Frau auf 5A etwas nicht stimmt. Sie haben etwas gespürt, aber sie haben nichts getan. Wurden sie deswegen entlassen? Herrgott, nein! Man kann einen Menschen nicht verhaften lassen, weil einem nicht gefällt, wie er seine Pickel kratzt. Das wahre Problem ist, sie haben etwas gespürt… und es dann vergessen.

Die alte Veteranin hatte einen dicken Finger erhoben. Jane Dorning und ihre Klassenkameradinnen hatten gebannt zugehört, als sie sagte: Wenn Sie dieses leichte Kribbeln spüren, tun Sie nichts… aber das heißt nicht, daß Sie es vergessen sollen. Denn es besteht immer die winzige Möglichkeit, daß sie etwas verhindern können, ehe es angefangen hat… zum Beispiel einen nicht eingeplanten zwölftägigen Aufenthalt auf der Landebahn des Pißpot-Flughafens eines arabischen Landes.

Nur farbige Kontaktlinsen, aber…

Dhanki sähr.

Schlaftrunkenes Sprechen? Oder ein Ausrutscher in eine andere Sprache?

Sie würde ihn im Auge behalten, beschloß Jane.

Und sie würde es nicht vergessen.

 

 


10

 

Jetzt, dachte der Revolvermann. Jetzt werden wir es sehen, nicht?

Es war ihm gelungen, durch die Tür am Strand aus seiner Welt in diesen Körper zu gelangen. Jetzt mußte er herausfinden, ob er Gegenstände mit hinübernehmen konnte. Oh, nicht sich selbst; er war davon überzeugt, daß er selbst jederzeit durch die Tür in seinen eigenen vergifteten, kranken Körper zurückkehren konnte, sollte er den Wunsch verspüren. Aber andere Gegenstände? Stoffliche Gegenstände? Hier, vor ihm, befand sich zum Beispiel Essen; die Frau in der Uniform hatte es ein Tun-Fisch-Sandwich genannt. Der Revolvermann hatte keine Ahnung, was Tun-Fisch war, aber er erkannte einen Belegten, wenn er einen sah; auch wenn dieser hier seltsam ungebraten aussah.

Sein Körper brauchte Essen, und sein Körper brauchte Trinken, aber mehr als das alles brauchte sein Körper eine Art Medizin. Ohne sie würde er am Biß des Monsterhummers sterben. In dieser Welt mochte es so eine Medizin geben; in einer Welt, in der Gefährte höher als jeder Adler durch die Lüfte zogen, war alles möglich. Aber es wäre einerlei, wie gut die Medizin hier war, wenn es ihm nicht gelang, etwas Stoffliches durch die Tür zu transportieren.

Du könntest in diesem Körper leben, Revolvermann, flüsterte die Stimme des Mannes in Schwarz tief in seinem Kopf. Überlaß dieses Stück atmende Fleisch hier den Hummerwesen. Es ist sowieso nur ein Behältnis.

Das würde er nicht tun. Zunächst einmal wäre es der mörderischste Diebstahl, denn er würde sich nicht lange damit zufriedengeben, nur Passagier zu sein und durch die Augen dieses Mannes zu sehen, wie ein Reisender sich die Landschaft aus dem Fenster einer Kutsche heraus ansieht.

Zum anderen war er Roland. Sollte das Sterben erforderlich sein, so hatte er die Absicht, als Roland zu sterben. Er würde dabei sterben, wie er auf den Turm zukroch, sollte das erforderlich sein.

Dann meldete sich wieder der seltsam schroffe Pragmatiker zu Wort, der neben seiner romantischen Natur hauste wie ein Tiger neben einem Reh. Er mußte nicht ans Sterben denken, solange er sein Experiment nicht gemacht hatte.

Er nahm den Belegten. Er war in zwei Hälften geschnitten worden. Er nahm in jede Hand eine. Er machte die Augen des Gefangenen auf und sah durch sie hinaus. Niemand sah ihn an (aber in der Kombüse dachte Jane Dorning an ihn, und zwar sehr angestrengt).

Roland wandte sich zur Tür und trat mit den beiden Hälften des Belegten hindurch.

 

 


11

 

Zuerst hörte er das knirschende Dröhnen der heranbrandenden Welle; als nächstes hörte er den Protest zahlreicher Meeresvögel, die sich von den nächstgelegenen Felsen aufschwangen, während er sich mühsam in eine sitzende Haltung aufrichtete. (Die feigen Mistviecher haben sich angeschlichen, dachte er, und sie hätten bald Stücke aus mir herausgepickt, ob ich noch atme oder nicht – sie sind lediglich farbig angemalte Geier.) Dann stellte er fest, daß eine Hälfte des Belegten – die in seiner rechten Hand – auf den grauen Sand gefallen war, weil er sie mit einer gesunden Hand gehalten hatte, als er durch die Tür gekommen war, und jetzt hielt er sie in einer Hand – hatte sie gehalten –, die zum Teil amputiert worden war.

Er hob sie ungeschickt auf und hielt sie zwischen Daumen und Ringfinger, wischte soviel Sand wie möglich ab, dann biß er zögernd hinein. Einen Augenblick später schlang er es hinunter, ohne auf die Sandkörner zu achten, die zwischen seinen Zähnen knirschten. Sekunden später wandte er seine Aufmerksamkeit der anderen Hälfte zu. Sie war mit drei Bissen verschwunden.

Der Revolvermann hatte keine Ahnung, was Tun-Fisch war – er wußte nur, daß er köstlich schmeckte. Das schien ausreichend.

 

 


12

 

Im Flugzeug sah niemand das Thunfischsandwich verschwinden. Niemand sah, wie Eddie Deans Hände die beiden Hälften so fest hielten, daß Daumenabdrücke auf dem Weißbrot blieben.

Niemand sah das Sandwich transparent werden und dann verschwinden, so daß nur ein paar Krümel übrigblieben.

Etwa zwanzig Minuten nachdem das geschehen war, drückte Jane Dorning ihre Zigarette aus und durchquerte die Kabine. Sie holte ihr Buch aus der Handtasche, aber in Wirklichkeit wollte sie nur 3A noch einmal ansehen.

Er schien fest zu schlafen… aber das Sandwich war verschwunden.

Großer Gott, dachte Jane. Er hat es nicht gegessen; er hat es in einem Stück verschluckt. Und jetzt schläft er wieder? Soll das ein Witz sein?

Was immer das Kribbeln wegen 3 A in ihr verursachte, Mr. Jetzt-sind-sie-mandelbraun-jetzt-sind-sie-blau, kribbelte unaufhörlich weiter. Etwas an ihm stimmte nicht.

Etwas.