Die Uhr tickte unerbittlich weiter.

01:47

01:46

01:45

So war Mark Jedediah Vigilante in die Situation geschlittert. Kane und der Chip. Deutschland. Washington Flughafen. Und nun stand er vor dieser vertrackten Falle. Die ersten dreißig Sekunden hatte er überstanden, doch von der dreiminütigen Galgenfrist waren kaum mehr als eineinhalb Minuten übrig. Er war seinem Peiniger keinen Schritt näher gekommen. Wer immer ihm diese Falle gestellt hatte, konnte nicht derjenige sein, den er zunächst vermutet hatte. Das war ein ganz mieser Stil, der nicht zu Madame Dunoire passte. Genau wie der Rest. Die Frau war keine Mörderin. Sie brachte sich selbst auf die Abschussliste, wenn sie anfing, im Geschäft aktiv mitzumischen, statt nur zu vermitteln. Außerdem gab es keinen Grund, Vigilante jetzt noch umzubringen. Er hatte dem Präsidenten von Dunoires Mitwirken berichtet, sie konnte sich denken, dass er sie auffliegen ließ, wenn er erst einmal den Chip abgeliefert hatte.

Er schloss die Augen. Im Hinterkopf zählte er den Countdown gedanklich mit, während er vordergründig angestrengt nachdachte.

01:31

01:30

Vergiss Dunoire, sie ist es nicht!

Er überlegte, ob er den Sicherheitsberater des Präsidenten anrufen sollte, um zumindest jemanden wissen zu lassen, dass Madame Dunoire unschuldig war. Verflucht, damit sollte er keine Zeit verschwenden. Aber wer steckte dann dahinter?

Simonis war ein Kandidat. Aber er hatte gedacht, dass er ihn in Europa abgehängt hätte. Vigilante glaubte auch nicht, dass Mrs. White ihn angelogen hatte. Das war merkwürdig, sie hatte angesichts der Situation keinen Grund gehabt, ihn zu belügen. Also musste er davon ausgehen, dass sie davon überzeugt war, für Madame Dunoire zu arbeiten.

Wer hätte das schlüssig rüberbringen können?

Simonis? Kaum.

Judas Kane? Der war sicherlich über alle Berge und froh, dass er entwischt war.

Jemand aus Madame Dunoires Umfeld.

Wolverine? Der hätte sicherlich nicht mehr die Polizei und das FBI am Flughafen informiert, wenn er Vigilante tot sehen wollte.

»Verdammt nochmal, wer bist du?«

Er erschrak über sich selbst, als er seine Stimme hörte. Er hatte nicht schreien wollen, doch er zuckte noch einmal zusammen, als seine Frage beantwortet wurde.

»Ist das nicht offensichtlich?«, sagte jemand hinter ihm. »Echt verwunderlich, dass du darauf noch nicht gekommen bist.«

Vigilante wandte den Kopf und sah seinem Peiniger direkt in die Augen.

0:59

 

*

 

Das.

Konnte.

Nicht.

Sein.

Mit einem Gefühl der Verzweiflung starrte er in ihre Augen. Ihr Blick war erkaltet. Keine Spur mehr von dem liebreizenden Geschöpf zu sehen, das er kennen gelernt hatte. Ihre Schönheit glich nunmehr einer Skulptur. Ohne Emotionen, ohne Leidenschaft. Das Feuer, so es denn je gebrannt haben mochte, war erloschen.

»Zabette.« Vigilante konnte es nicht glauben, aber so nach und nach fügten sich die Puzzleteile in seinem Kopf zusammen. Wenn er Madame Dunoire als Drahtzieherin in diesem Fall ausschloss und jemanden aus ihrem Umfeld als Hauptverdächtigen in Betracht zog, dann lag Zabette mehr als naheliegend. Sie kannte seine Wohnung, sie wusste wohin er geflogen war, hatte über die Gespräche mit Dunoire mitbekommen, worum es ging. Was fehlte, war das Motiv.

Beinahe schalt er sich selbst für den Gedanken, aber er führte ihn dennoch zu Ende. Sie war doch nur eine Edelprostituierte.

Oder nicht?

»Du siehst aber gar nicht glücklich aus. Freust du dich denn nicht, mich wiederzusehen?« Ihre Stimme klang ebenso unterkühlt, wie ihre Blicke erahnen ließen. Der Smalltalk stand ihr plötzlich nicht mehr. Sie hatte die Frage nur zur Überbrückung gestellt, um einfacher zur Tagesordnung überzugehen. Immerhin blieben nur noch zweiundvierzig Sekunden vom Timer übrig. Selbst wenn Zabette von ihrer Warte aus die Pistole nicht fürchten musste, so würde ihr die Explosion der Kofferbombe oder der Tretmine die gleichen Probleme bereiten, wie Vigilante.

»Wer bist du?«, fragte er und drehte sich soweit um, dass er seitwärts zum Koffer stand. Den Fuß behielt er auf dem Boden. Nur nicht den Auslöser der Mine reizen.

Zabette legte den Kopf schief und riss sich zu einem Lächeln hin. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und nickte mit dem Kinn in Richtung der Bombe. »Wir haben nicht mehr viel Zeit, also fasse ich mich kurz.«

0:37

»Mein Name ist nicht Zabette, sondern Elizabetta Simonis. Ich bin die Tochter von Carlos Enrique Simonis.«

Vigilante schnalzte mit der Zunge. »Das erklärt einiges.«

»Das glaube ich kaum. Wir haben knapp eine halbe Minute. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder tust du exakt das, was ich von dir verlange und überlebst. Oder ich spaziere beim Zeitindex Fünfzehn in aller Seelenruhe hier raus und genieße draußen auf der Straße das Feuerwerk. Auch wenn wir nicht den 4. Juli haben, wird es wohl für eine Bombenstimmung sorgen.«

0:20

Toll. Fünf Sekunden.

»Okay, was willst du?«

0:18

»Den Chip, den du dem Präsidenten gegeben hast.«

0:16

»Das geht nicht.«

0:15

»Au revoir, Jed.«

»Warte!«

Zabette drehte sich um und ging bis zur Türschwelle.

»Der Präsident lässt den Chip vernichten, ich komm da nicht mehr dran, selbst wenn ich dir den Gefallen tun wollte.«

0:13

Die Frau erwiderte nichts. Vigilante bemerkte ein leichtes Zucken ihres Mundwinkels. Dann verließ Zabette das Zimmer.

0:10

Er hörte wie sich draußen ihre Schritte entfernten. Vigilante drehte den Kopf zur Uhr. Tausend Gedanken rasten durch seinen Kopf, doch die Zeit reichte nicht, um überhaupt eine Handvoll davon zu greifen. Zabette hatte nicht bekommen, was sie wollte. Warum ließ sie ihn dann sterben? Aus Rache?

0:07

Die Schritte waren noch zu hören. Sie klangen jetzt schneller. Zabette versuchte, das Haus zu verlassen und aus dem Gefahrenbereich zu kommen. Ein makabrer Gedanke beherrschte Vigilante. Sollte er seinen Fuß von dem Tretminenauslöser nehmen und das ganze Haus in die Luft jagen, ehe Zabette in Sicherheit war?

Vergeltung war nicht sein Motto. War es nie gewesen.

0:05

Ein Poltern erklang. Schritte. Andere Schritte. Vigilante hörte Stimmen. Dann rief jemand etwas.

0:03

Im nächsten Augenblick flog die Tür zu dem Zimmer auf.

0:03

Vigilante schwang herum, den Fuß nicht von der Stelle hebend. Zwei, drei, dann vier Männer in S.W.A.T.-Team Kampfanzügen und M14 Gewehren mit aufgesetzten Infrarotsuchern stürmten in den Raum und umzingelten Vigilante.

Dieser blickte wieder zurück zur Uhr.

0:03

Er sah zurück. Zwei weitere Männer kamen in den Raum. Ihnen folgten zwei Personen, die er sehr gut kannte. Dahinter machte er Zabette aus, die von mehreren Polizisten in Schach gehalten wurde.

0:03

Die Uhr bewegte sich nicht mehr.

»Sie können jetzt von der Mine herunter treten, Alter«, sagte Wolverine, der in seinen Händen einen Tablet-PC hielt und mit dem Kinn in Vigilantes Richtung nickte. Neben ihm stand Madame Dunoire, die Stirn in Sorgenfalten gelegt, doch als sie Vigilante anblickte, löste sich die Anspannung in ihrer Miene und sie lächelte.

»Was zum Henker ist hier eigentlich los?« Vigilante machte einen Schritt zur Seite. Deutlich war das Knacken vom Auslöser unter seinem Fuß zu hören, doch die Bewegung blieb ohne Konsequenzen. Die Mine ging nicht hoch.

»Das sollten wir anderswo besprechen«, sagte Madame Dunoire. Sie trat an Vigilante heran, schlang ihre Arme um seinen Hals und drückte ihn kurz. »Freut mich, dass es Ihnen gut geht, Jed.«

 

*

 

Die Stretchlimousine rollte über den Interstate 95 zurück nach Washington. Vigilante saß auf der linken Seite hinter dem Fahrer, neben ihm hockte Wolverine, während sich Madame Dunoire den beiden gegenüber hingesetzt hatte und mit untergeschlagenen Beinen an einem Cocktail nippte. Auch Vigilante hielt ein Glas in den Händen. In dem Brandy klirrten Eiswürfel gegeneinander.

»Etwas mehr Text würde mich schon zufrieden stellen, Madame.«

Die Frau nickte in Wolverines Richtung. »Ricks Schwester Priscilla arbeitet für mich, genau wie Zabette es getan hat. Nachdem ich von Zabettes Entführung hörte, wies ich meine … Damen an, sich zurückzuhalten und keine neuen Aufträge anzunehmen. Natürlich erzählte ich ihnen, warum sie ihren Jobs nicht nachgehen konnten. Nachdem ich Sie angerufen hatte, Jed, meldete sich Priscilla bei mir und berichtete mir, dass sie Zabette in Anacostia gesehen hätte. Mit Ricks Hilfe ließen wir sie elektronisch überwachen und verfolgten sie bis hierher.«

»Moment.« Vigilante hob eine Hand. »Ihr wart die ganze Zeit draußen, während ich hier mit dem Zeitzünder Der letzte Countdown gespielt habe?«

Madame Dunoire runzelte die Stirn.

»Hey, Alter, nimm es uns nicht übel, aber wir konnten da nicht so einfach reinmarschieren.« Wolverine tippte auf das Display seines Tablets und hielt es dann Vigilante unter die Nase. »Ich hab mich in die Rechner der S.W.A.T.-Einheit eingehackt und konnte das Funksignal eines Senders ausmachen, den Zabette bei sich getragen hat. Der Sender hat offensichtlich die Fallen aktiviert.«

Vigilante nippte an dem Brandy und ließ ihn langsam die Kehle hinunter gleiten. »Das heißt, als ich das Haus betreten habe, war sie noch nicht scharf?«

»Richtig. Der erste Countdown begann, als Sie den Tretmechanismus auslösten, aber dieser hat den Timer nicht aktiviert, sondern Zabettes Sender. Deshalb war es auch ungefährlich, den Fuß von der Tretmine zu nehmen. Nachdem Zabette das Zimmer verließ, deaktivierte sie die Falle. Nur der Timer der Uhr lief noch, aber Mine und Bombe waren zu der Zeit bereits entschärft. Sehen Sie hier den Spannungsabfall beim Stromfluss?«

Vigilante sah gar nichts. Das Diagramm auf dem Display verschwamm vor seinen Augen. Er lehnte sich zurück und spülte den restlichen Brandy hinunter. Zabette hatte also nicht vorgehabt, ihn umzubringen. Wenigstens etwas.

»Als wir den Spannungsabfall bemerkten, sind die S.W.A.T.-Jungs sofort ins Haus gestürmt und haben Zabette überwältigt, Alter. Fast so, wie in ...«

Vigilante brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. »Komm mir jetzt nicht mit irgendeinem Film in dem ein gewisser McLane mitgespielt hat.«

»Schon gut, Mann.«

Madame Dunoire griff nach der Brandyflasche, doch Vigilante bedeutete ihr, es gut sein zu lassen. Er stellte das Glas auf einem Tisch ab und bat darum, auszusteigen.

Die Limousine verließ den Interstate Highway und hielt irgendwo in der Nähe von Silver Spring. Madame Dunoire erkundigte sich, ob sie etwas für Vigilante tun konnte, doch er winkte ab.

»Ich brauche ein Weilchen Ruhe, das ist alles.«

»Ist wirklich alles in Ordnung?« Die Sorge in ihrer Stimme war echt.

Vigilante nickte, auch wenn er am liebsten den Kopf geschüttelt hätte. »Passen Sie auf den Kleinen auf.«

»Werde ich.«

Er sah der Limousine nach, als sie wieder die Zufahrt zum Interstate nahm. Erst als sie außer Sicht war, schob Mark Jedediah seine Hände in die Jackentaschen und stapfte zu Fuß los. In Gedanken versunken vergaß er seine Umgebung völlig. Er ließ die letzten Tage vor seinem inneren Auge Revue passieren und fragte sich, was er wirklich erreicht hatte. Simonis auf freiem Fuß. Novák vermutlich tot. Judas Kane war untergetaucht. Neunundzwanzig Mikrochips mit einem gefährlichen Programm befanden sich in den Händen eines Waffenhehlers. Die Freundin entpuppte sich als Verräterin. Ein Black Ops Team wechselte die Seiten. Und es waren zu viele Menschen gestorben.

Vigilante blieb stehen und sah sich auf der Straße um. Er kannte die Gegend nicht. Offensichtlich war er von der Hauptstraße abgekommen und befand sich in einem Wohngebiet in dem sich Grundstücke mit Bungalows aneinander reihten. Er winkte einem Taxi. Es war Zeit, zu seiner Hütte nach Montana zurückzukehren. Er brauchte Ruhe.

Und er wollte vergessen.