Er hatte noch dreißig Sekunden zu leben. Die ersten fünf verschwendete er damit, in Panik zu geraten. Sein Körper stand unter Strom. Kalter Schweiß brach aus seinen Poren und lief ihm den Nacken hinab in den Hemdkragen. Der Stich in seinem Herzen fühlte sich an, als wäre er von einem glühenden Eisen verursacht worden. Ein einziges Wort hämmerte mit der Kraft eines Donners durch seinen Verstand.

Scheiße!

Mark Jedediah Vigilante war jedoch nicht der Typ Mensch, der auch in völlig ausweglosen Situationen sofort aufgab. Also gönnte er sich den Luxus, die Augen zu schließen und verwendete weitere fünf wertvolle Sekunden darauf, sich zu entspannen, um einen klaren Kopf zu bekommen.

Die Uhr tickte dabei unerbittlich. Vigilante atmete tief ein, hielt die Luft an und sammelte Kraft beim Ausatmen.

Er hob die Lider.

00:20

Direkt unter ihm befand sich die Bombe in einem geöffneten Metallkoffer. Eine digitale Anzeige ratterte in roten Leuchtziffern die Sekunden herunter. Keine drei Schritte entfernt hing eine Pistole in einer Wandhalterung über dem Tisch, auf dem sich der Koffer befand. Sie war am Abzug mit einem Draht verbunden, der an seinem anderen Ende an einem Zahnrad mit Elektromotor und Batterie angebracht worden war. Unnötig zu erwähnen, dass die Mündung der Pistole direkt auf Vigilantes Kopf zielte. Ebenso unnötig war es zu erwähnen, dass der Elektromotor, der das Zahnrad bewegte durch einen Timer gesteuert wurde, der exakt die gleiche Zeit anzeigte, wie jener im Koffer neben der Bombe.

00:18

Als wären zwei tödliche Fallen noch nicht genug, war sich Vigilante der Tatsache bewusst, dass das verräterische Klicken unter seinem linken Fuß nur vom Auslösemechanismus einer unter dem Teppich verborgenen Tretmine herrühren konnte, die er aktiviert hatte, als er sich an den Tisch mit dem Koffer und der Bombe stellte.

Bombe. Pistole. Mine.

Es würde in jedem Fall Bumm machen.

Sein Widersacher wollte offenbar im wahrsten Sinne des Wortes todsicher sein, dass es Vigilante erwischte.

00:15

Denk nach, denk verdammt noch mal nach!

Vigilante verbannte das Gefühl der sich in seinem Nacken, den Achselhöhlen und auf der Stirn sammelnden Schweißtropfen. Er starrte auf den digitalen Timer, doch er blendete die herunter laufenden Sekunden aus, nahm sie nicht einmal mehr wahr. Sein Denken war auf eine Lösung fixiert.

Lösungen sind Probleme in Verkleidung, hatte ein Philosoph einmal gesagt. Vigilante ermahnte sich, sich nicht auf die Lösung zu konzentrieren, sondern das Problem zu sehen.

Das war einfach.

Er würde gleich tot sein.

00:13

Also, dann stell dir vor, was du willst, sagte er sich.

Auch das war einfach zu beantworten. Er wollte leben.

Was war zu tun, um zu überleben? Eine Bombe entschärfen, eine Tretmine überlisten und einer Kugel ausweichen.

»Nichts einfacher als das.« Der Klang seiner Stimme ließ ihn kurz zusammenzucken. Fast hätte er dabei den Fuß gehoben und so den Kontakt zur Mine unter seinem Schuh verloren.

00:11

So kam er nicht weiter. Die Zeit rann wie Sand durch seine Finger. Es war unmöglich, sie aufzuhalten. Ihm kam eine Idee. Die Zeit aufhalten! Doch ehe er ihn greifen oder in einen Kontext bringen konnte, war der Gedanke schon verflogen.

Zurück blieb die Uhr.

00:10

Zehn Sekunden. Eine verdammt kurze Zeitspanne im Leben eines Menschen. Doch mit dem unmittelbaren Tod vor Augen dehnten sie sich für Vigilante zu einer Ewigkeit. Er wusste, dass er in der ihm verbleibenden Zeit nichts mehr erreichen konnte.

00:08

Er hatte mit hohem Einsatz gespielt und verloren. Es konnte nicht immer glatt laufen. Dieses Mal lag es an ihm, von der Bühne zu treten.

00:05

Der Vorhang fällt, dachte er.

Tick … Tack … Tick … Tack …

Vigilante schluckte hart. Seine Mundhöhle fühlte sich plötzlich trocken und wie ausgedörrt an. Es gab nichts, an das er glaubte oder zu dem er beten konnte. Wenn es vorbei war, war es vorbei.

Aus.

00:03

»Du mieser Dreckskerl, du hast gewonnen.«

00:00

Spielende.

Würde ihn die Explosion töten? Oder der Schuss? Explodierte zuerst die Mine, weil er durch die Kugel im Kopf den Kontakt zu ihrem Auslöser verlor, oder riss die Bombe mit dem Zeitzünder das ganze Zimmer in Stücke, bevor der Schlagbolzen überhaupt erst auf das Zündplättchen der Patrone treffen konnte?

In Erwartung seines Todes schien Vigilantes Herz stehenzubleiben.

Wie auch immer es ausgehen sollte, er würde sich keine Gedanken mehr darüber machen können, daher war es zwecklos mit sich selbst Wetten abzuschließen. Es gab in diesem Spiel nur einen Verlierer.

Ihn.

Für gefühlte fünf Sekunden starrte Mark Vigilante auf die digitalen Leuchtziffern.

Null.

Null, verdammt noch mal!

Es geschah nichts. Die Uhr war einfach bei 00:00 stehen geblieben. Kein Klicken vom Bolzen. Kein Blitz aus der Mündung der Pistole. Kein peitschender Knall. Keine Explosion der Bombe.

Beinahe hätte er aufgelacht. Doch er kannte seinen Gegner. Der war nicht so tolpatschig, als dass er keinen Zeitzünder korrekt platzieren und einstellen konnte. Die Sache musste einen anderen Hintergrund haben. Den erfuhr Vigilante nur einen Lidschlag später.

Die Uhr stellte sich neu.

03:00

Drei Minuten.

Der Countdown lief wieder an.

02:59

02:58

02:57

»Verfluchte Scheiße!«

Der Kerl spielte mit ihm. Genau so hatte er ihn auch eingeschätzt.

Vigilante stieß den Atem aus. So tief, dass es in seinem Zwerchfell schmerzte. Er hielt die Luft an, zählte in Gedanken bis Acht. Dann erst atmete er langsam und so tief ein, dass sich sein Bauch deutlich vorwölbte. Als er nicht weiter konnte, hielt er erneut die Luft an. Zählte bis Acht und stieß sie aus.

»Also schön. Es ist dein Spiel, dein Feld, deine Regeln. Aber in einem Spiel gibt es zwei mögliche Gewinner.«

Vigilante wusste, dass er zu keinem Ergebnis kommen würde, wenn er fieberhaft darüber nachdachte, wie er den drei tödlichen Fallen entkommen konnte. Er musste das Problem auf eine andere Art und Weise angehen, den Fall von hinten aufrollen. Er musste in weniger als zweieinhalb Minuten herausfinden, wer sein Widersacher war, wie er tickte, was er wollte. Und damit waren nicht nur die Oberflächlichkeiten gemeint, die Vigilante bereits aus Akten und gesammelter Erfahrung kannte. Er musste tief in seinen Feind eintauchen, dessen Psyche auf den Kopf stellen.

Was immer er dort finden mochte, er hoffte, dass es ihm half der Falle zu entkommen.

Na gut, wie hat dieser ganze Schlamassel überhaupt angefangen?

Vigilantes Gedanken wanderten zurück zu seinem ersten Auftrag.

Derweil tickte die Uhr unaufhörlich weiter.

02:27

Eine weitere Chance gab es diesmal nicht.