Judas zählte die dreißig Silberlinge nach, die man ihm beinahe achtlos vor die Füße geworfen hatte. Er kam auf neunundzwanzig.
Irgendetwas lief hier aus dem Ruder.
»Moment!« Er sprang auf die Füße und wollte dem Mann hinterher rennen, der bereits um die Ecke einer Hauswand verschwunden war, doch dann erinnerte er sich daran, dass es nicht ratsam war, in der Öffentlichkeit aufzufallen. Der Überbringer der Silberlinge war nur ein Bote gewesen, der nach Anweisungen handelte. Aus ihm würde er nichts herausbekommen. Er musste sich direkt an seinen Auftraggeber wenden.
Seufzend ließ Judas Kane die Silberlinge in den Beutel zurückgleiten und wandte sich in die andere Richtung um. Er beeilte sich, die schmale und dunkle Gasse, in der die Übergabe stattgefunden hatte, zu verlassen. Am Ende parkte sein Wagen in der Einfahrt. Judas blickte sich an der Tür um. Niemand war zu sehen. Er ließ sich in den Fahrersitz fallen, verriegelte den Dodge Avenger von innen.
»Bastarde!« Er griff zu seinem Mobiltelefon. Ein schwarzes iPhone, das ihm in seiner Nervosität aus der feuchten Hand zwischen die Beine auf den Sitz rutschte. Er fluchte leise, doch statt nach dem Telefon zu greifen, sah er sich den Samtbeutel in seinen Händen an. Er stülpte ihn kopfüber und ließ die Silberlinge auf den Beifahrersitz gleiten.
Sie funkelten im Licht der Innenbeleuchtung wie Diamanten. Doch sie waren größer als Diamanten und ihre Herkunft rührte aus etwas ganz Banalem. Sand. Genauer gesagt, Silizium. Judas strich mit den Fingerspitzen über die kleinen Halbleiterelemente und zählte gedanklich noch einmal nach. Es blieb dabei. Neunundzwanzig statt der vereinbarten dreißig.
Er atmete tief aus und lehnte sich mit dem Kopf gegen die Kopfstütze. Nach drei weiteren Atemzügen griff er zu dem iPhone, entriegelte den Bildschirm und drückte das Icon für das Telefonmenü. Die Nummer war nicht gespeichert und wurde automatisch nach jedem Gespräch aus der Anruferliste gelöscht. Doch Judas kannte sie in- und auswendig. Mit dem Daumen tippte er sie in das Display und berührte anschließend das VERBINDEN-Symbol.
»Die gewählte Rufnummer ist nicht vergeben«, drang es aus dem Lautsprecher.
Judas fluchte und verglich die eingegebene Nummer mit der aus seinem Gedächtnis. Er hatte sich nicht vertan. Manchmal wurden Verbindungen fehlgeleitet, also versuchte er es noch einmal – mit dem gleichen Ergebnis.
Die Nummer existierte nicht mehr.
Auch wenn er nicht damit gerechnet hatte, verraten zu werden, so hatte er die Situation zumindest in Betracht gezogen und sich einen Notfallplan zurechtgelegt.
»Na schön. Ihr wollt es nicht anders.« Er wählte eine andere Rufnummer aus dem Speicher des Telefons.
Arlington. Virginia. Die Zentrale des Pentagons.
»Verteidigungsministerium, Sie sprechen mit Eric Dessler. Was kann ich für Sie tun?«
Judas lächelte. »Mein Name ist Dr. Judas Kane, bitte verbinden Sie mich mit Candice Ormond.«
»Welche Abteilung, Doktor?«
»Verteidigungsausschuss, Sektor 3.«
Judas hörte, wie eine Tastatur klackerte. Dann ein leises Summen des Mannes am Empfang.
»Es tut mir Leid, Sir, aber Mrs. Ormond arbeitet nicht mehr für den Verteidigungsausschuss.«
»Hat sie gekündigt?«
»Diese Information darf ich Ihnen nicht geben.«
»Wo ist sie jetzt tätig?«, hakte Judas nach.
»Bedaure«, die Stimme des Empfangsmannes klang jetzt genervt. »Auch diese Information darf ich Ihnen nicht geben.«
Judas schürzte die Lippen. Er hatte noch ein Eisen im Feuer. »Verbinden Sie mich bitte mit Jason Coolridge.«
»Dem Chief of Staff?« Deutlicher Unglaube war aus der Stimme des anderen herauszuhören.
Judas' Lächeln wurde breiter. Er gönnte sich den Spaß, andere mit seinen Verbindungen aufzuziehen, auch wenn ihm im Moment alles andere als nach Jux zumute war.
»Genau den«, antwortete er.
Dessler murmelte eine Entschuldigung. Eine Wartemelodie erklang. Kurz darauf war die Stimme der Vorzimmerdame des Chief of Staff, dem Stabschef des Weißen Hauses zu hören. Nachdem er sich vorgestellt hatte, erfuhr er, dass Coolridge nicht in seinem Büro war.
Judas Kane interessierte das nicht. Er konnte seine Nachricht auch bei der Sekretärin loswerden, die sicher dafür Sorge tragen würde, dass sie an der richtigen Adresse landete.
»Sagen Sie Mr. Coolridge, dass nicht wie vereinbart geliefert wurde. Und sagen Sie ihm, dass wir jetzt nach meinen Regeln spielen. Haben Sie das?«
»Sir?«
Judas hörte ein Tippen und wusste, dass die Gute jetzt versuchte, den Sicherheitsdienst zu alarmieren, die seinen Anruf über eine Ortung zurückverfolgen sollten. Zwar hatte er Maßnahmen getroffen, die eine Lokalisierung seines Aufenthaltsortes unmöglich machten, dennoch legte er auf, entfernte die SIM-Karte aus dem Telefon und zerbrach sie. Beides warf er aus dem Wagenfenster direkt in eine Mülltonne unweit seines Parkplatzes.
Judas startete den Motor und fuhr los. Er fädelte sich auf der Hauptstraße in den fließenden Verkehr ein, doch statt sich auf ihn zu konzentrieren, brütete er bereits über einen Plan nach, wie er seinen ehemaligen Geschäftspartnern den Betrug heimzahlen konnte. Ihm fiel zwei Blocks weiter auch schon etwas Passendes ein.
*
Sonne. Sand. Meer.
Das Kreischen zweier Möwen, die am strahlend blauen Himmel um die Wette flogen, weckte für einen Augenblick Mark Jedediah Vigilantes Interesse. Er legte den Kopf in den Nacken und verfolgte das Turtelspiel der beiden Möwen, bis der goldgelbe Feuerball in sein Sichtfeld rückte und ihn trotz Sonnenbrille blendete.
Vigilante sog an dem Strohhalm und spürte den würzig-sauren Geschmack des Mojitos auf seiner Zunge und unter seinem Gaumen. Eine warme Brise strich durch sein Haar und er fühlte sich geneigt, ob des unbeschwerten Lebens zu seufzen. Unbeschwert zumindest für den Moment. Das konnte sich jederzeit ändern, wie er aus Erfahrung wusste.
Sein Blick wanderte zu dem Rand des Pools und blieb an den endlos langen Beinen einer Schönheit hängen, die sich direkt vor ihm in der Sonne räkelte. Ihr braungebrannter Körper glänzte vom aufgetragenen Sonnenöl und dem Wasser. Das kurze, rote Haar war noch feucht. Gerade als er sie ansah, drehte sie sich auf die Seite, schaute ihm direkt in die Augen und lächelte. Vigilante merkte, wie ihm warm wurde, und daran war weiß Gott nicht die Sonne Schuld. Er schlürfte das Mojito-Glas leer und stellte es zurück auf das Tablett neben seiner Liege. Doch so sehr er sich durch die Geste auch abzulenken versuchte, der lockende Blick und die roten Schmolllippen gingen ihm nicht aus dem Sinn.
Ihr Name war Zabette. Sie gehörte zu Madame Dunoire, die sowohl einen Begleitservice als auch das luxuriöseste und teuerste Bordell der Welt unterhielt. Er hatte sie massiert, mit Öl eingerieben. Sie hatten die letzten vier Tage Seite an Seite verbracht. Am Strand. Im Restaurant. In den Clubs und Bars. Mojito und Bacardi Cola bis zum Abwinken. Tanzen bis zur Erschöpfung. Sie hatten nebeneinander im Bett gelegen und sich gegenseitig Arm in Arm gewärmt, als die klimatisierte Luft des Hotelzimmers nachts zu kühl wurde und niemand einen Gedanken daran verschwendete, aufzustehen, um die Klimaanlage herunterzudrehen.
Ein flüchtiger Kuss auf die Stirn. Die Wange. Einmal hatten sich ihre Lippen berührt.
Mehr nicht.
Sie hatten nicht miteinander geschlafen. Vigilante war sich nicht sicher, ob er Zabette damit enttäuschte. Ihr Beruf brachte Intimitäten mit sich. Sie waren Bestandteil einer Vereinbarung, Vertragsgegenstand sozusagen. Sicherlich war es für sie ungewöhnlich, wenn ein Mann, mit dem sie zusammen war, keinen Sex mit ihr haben wollte. Dass sie ihn wollte bemerkte Vigilante in ihrem Blick. Wäre er nicht bereits bis auf die Shorts nackt, hätte sie ihn vermutlich mit ihren Augen ausgezogen, ohne dass er es verhindern konnte. Aber sie ließ ihm die Freiheit, zu tun, was er wollte und wonach er verlangte. Selbst wenn sie seine Schultern massierte, wurde sie nie drängend oder fordernd. Offenbar akzeptierte sie, dass er sich von anderen Männern, mit denen sie bisher zu tun gehabt hatte, unterschied.
Dabei wäre er das ein oder andere Mal fast schwach geworden und hätte sich fallen lassen, sich ihr ergeben, wie ein hilfloses Lamm in den Klauen eines Wolfs. Einer Wölfin. Vigilante lachte innerlich bei dem Gedanken. Er wusste ja nicht einmal, ob Zabette nicht vielleicht das Lamm in seinen Händen sein würde.
»Willst du schwimmen?«, fragte sie. Ihr Englisch war nahezu perfekt, wenn auch noch der Hauch eines französischen Akzents herausklang.
Vigilante bemerkte, dass er Zabette wohl zu lange angesehen hatte. Er seufzte und wollte sich gerade aus der Liege schwingen, als ihn das Läuten seines Telefons vor Dingen rettete, die er nach all seiner Zurückhaltung vielleicht doch noch mit der Escortdame angestellt hätte. Er griff nach dem Galaxy S2 neben dem Mojito-Glas und blickte auf das Display.
Madame Dunoire. Ihr Anruf war beinahe überfällig, denn seine Zeit mit Zabette war im Grunde genommen bereits um.
Vigilante wischte mit dem Daumen über das Display, um das Gespräch anzunehmen. »Ja?
»Jed, mein Lieber. Genießen Sie Ihren Urlaub?« Der französische Akzent der Stimme am anderen Ende der Verbindung klang stärker, als der Zabettes, doch er wirkte auch aufgesetzt. Vigilante war nicht mal sicher, ob Madame Dunoire gebürtige Französin war oder es nur vorgab. Auf den britischen Inseln und in den Staaten war sie unter dem Namen Sister Black bekannt, im germanischen Raum nannte man sie oft Die Schwarze Dame.
»Ich könnte mich daran gewöhnen, Madame«, sagte Vigilante und überlegte, ob er dem Kellner mit dem leeren Mojito-Glas zuwinken sollte, um für Nachschub zu sorgen.
»Entspricht Zabette Ihren Vorstellungen?«
Sein Blick wanderte wieder zu der Frau am Poolrand, die sich nach Eingang des Telefonats auf die andere Seite gedreht hatte und scheinbar abwesend mit dem Wasser im Becken plantschte. Diskretion gehörte zu ihrem Job. Auch wenn Vigilante der festen Überzeugung war, dass ihr Desinteresse nur gespielt war und sie jedes Wort aufschnappte und behielt, das in ihrer Gegenwart fiel.
»Sie ist … bezaubernd. Wirklich. Ich könnte mich noch ein Weilchen an den Gedanken gewöhnen, sie um mich zu haben.« Vielleicht hatte er mit dem letzten Satz zu dick aufgetragen. Noch zwei oder drei Tage mit Zabette und sie landeten letzten Endes doch noch im Bett oder die Frau würde sich zu Tode langweilen. Letzteres war indiskutabel. Ersteres nicht in seinem Interesse, da er befürchtete, sich verlieben zu können.
»Das ließe sich arrangieren, Jed«, sagte Madame Dunoire am anderen Ende.
Vigilante runzelte die Stirn. »Oh, ich bitte Sie. Ich bin zwar gut situiert, aber Ihre Dienste übersteigen doch ein wenig mein Budget.« Für eine Nacht mit Zabette konnte er fünf Monatsmieten in einem Penthouse in Manhattan mit Blick auf den Hudson investieren. Oder einen neuen Wagen anzahlen. Sicherlich war sie jeden Dollar wert, doch sie überschritt ganz klar die Preiskategorien, in denen er sich normalerweise bewegte, wenn es um Amüsement ging.
»Wir könnten unsere Vereinbarung verlängern«, schlug Madame Dunoire vor. »Zuzüglich aller Spesen versteht sich. Und noch einem Extrabonus.«
Vigilante setzte sich aufrecht hin und rückte die Sonnenbrille über die Stirn. Er drehte sich so, dass Zabette seine Worte schlechter verstehen konnte und senkte gleichzeitig seine Stimme. »Wenn Sie so mit Boni um sich werfen, scheinen Sie ja einen außerordentlich wichtigen Auftrag angenommen zu haben.«
»Wichtig und delikat genug, um nichts weiter darüber am Telefon zu erzählen. Wenn Sie interessiert sind ...«
»Bleibt mir denn eine Wahl?«
Ein Zungenschnalzen klang aus dem Hörer. »Die Frage sollten Sie sich selbst stellen, Jed. Sie haben sich zum Schlichter ernannt. Sie sind derjenige, der seinen Nachnamen zum Beruf gemacht hat. Nicht wahr, Vigilante?«
Er seufzte. Sie hatte Recht. Er hieß nicht nur so, er war auch ein Vigilante, ein Hüter und Verfechter des Gesetzes. Je nachdem, wie man das Gesetz auslegte.
»Ich bin interessiert.«
»Habe ich mir gedacht.« Madame Dunoires Akzent war plötzlich verschwunden. Der Klang ihrer Stimme kam einem Säuseln gleich. »Ich habe vorsorglich zwei Flugtickets gebucht. »Zabette wird Sie bis Dubai begleiten. Von dort nehmen Sie einen Flug via London nach Washington. Wir sehen uns dort in drei Tagen. Alle weiteren Instruktionen erhalten Sie auf dem Flug.«
»Wir sehen uns?«, fragte Vigilante. »Das heißt, wir lernen uns endlich einmal persönlich kennen.«
»Das Vergnügen wird ganz auf meiner Seite sein, Jed. Und Sie können sich auf einen Flug mit der Belle Aire 1 freuen.«
Vigilante pfiff durch die Zähne. Sie verabschiedeten sich, und er unterbrach die Verbindung. Dann winkte er doch dem Kellner und bestellte für sich einen weiteren Mojito. Während er auf den Drink wartete, ging er zum Pool hinüber, ließ sich an den Beckenrand nieder und steckte die Füße ins Wasser. Zabette drehte sich zu ihm um.
»Ich schätze unser Urlaub ist zu Ende?«
Vigilante legte den Kopf schief. »Sagen wir … unterbrochen. Deine Chefin hat mir angeboten, unser Arrangement zu verlängern.«
Zabette richtete sich auf und hockte sich neben ihn. Ihre Schulter berührte seine, und sie legte einen Arm um seinen Hals und hauchte ihm einen Kuss auf das Ohr. Die Berührung war so flüchtig, dass er sie nicht einmal bewusst wahrnahm.
»Und wirst du das Angebot annehmen?« Ihre Worte waren voller Zweifel.
Er hasste es, sie enttäuschen zu müssen. Langsam drehte er den Kopf in ihre Richtung. »Ich fürchte … nein. Es tut mir Leid, Zabette, aber ...«
»Ich verstehe«, sagte sie, ohne ihn ausreden zu lassen.
Er bezweifelte, dass sie wirklich verstand, was in ihm vorging und warum er einfach nicht mit ihr intim werden wollte. Aber er nahm ihre Worte so hin und schwieg. Stattdessen zog er sie zu sich heran und nahm sie in die Arme. So saßen sie ein Weilchen dort und betrachteten den Sonnenuntergang über dem Horizont, bis der Kellner den bestellten Drink brachte.
*
Die Belle Aire 1 war ein umgebauter Airbus 319, der ursprünglich für Geschäftsreisen konstruiert worden war. Angeblich war er durch einen glücklichen Zufall vor einigen Jahren in Madame Dunoires Hände geraten. Die Renovierung und Neukonstruktion des Passagierbereichs verschlang noch einmal die Hälfte des Listenpreises der Maschine. Statt der eigentlich elf Passagiere, für die die Maschine ausgelegt war, bot sie jetzt Platz für sechs zahlungswillige Gäste nebst deren weiblicher Begleitung aus dem Ensemble Dunoires. Die plumpen Ledersitze waren gegen kleinere, nicht minder bequeme ausgetauscht und anders arrangiert worden, sodass das Interieur des Flugzeugs um Seitenwände erweitert werden konnte, die sechs Separées bildeten. Die Belle Aire 1 flog nur, wenn sie ausgebucht war. Fünfzehntausend Dollar kostete der Flug, inklusive einem warmen Buffet, teuren Schampus und alkoholfreien Getränken, so lange der Vorrat reichte. Die Begleitung war im Service und Preis ebenso mit inbegriffen wie Intimitäten, die jede Dame vorher festlegte. Hatte der Kunde spezielle Wünsche, waren Bonuszahlungen direkt an die Frauen fällig.
Vigilante hatte das erste Mal von dem fliegenden Bordell gehört, als er noch beim Secret Service tätig war und den damals amtierenden Präsidenten Brian Matthew Wallace beschützte. Eine Aktion, bei der er nicht nur den Präsidenten, sondern auch seinen Job im Staatsdienst verlor. Er war mit Madame Dunoires Etablissement bei einer Geldwäschegeschichte in Kontakt gekommen und hatte zwei ihrer Escortdamen durch seine Aussage vor einem Untersuchungsausschuss entlastet. Als Dunoire dann vor einem Jahr erfuhr, dass Vigilante von Uncle Sam an die frische Luft gesetzt worden war, nahm sie sich seiner an und vermittelte ihm Jobs für die sich niemand sonst fand.
Vigilante stand auf dem Rollfeld des Ronald Reagan Washington National Airports, zog sich den Kragen seines Trenchcoats höher. Der Wind blies von Westen und brachte kühle Zugluft mit. Vereinzelt kamen Tropfen aus dem bewölkten Himmel. Nicht gerade das beste Wetter für eine Fahrt ins Blaue. Der Vorhersage nach war mit heftigen Schauern und vereinzelten Gewittern zu rechnen. Da Vigilante jedoch nicht wusste, wohin ihr Flug ging oder ob sie überhaupt aufstiegen, war jede Spekulation darüber, ob sie in Turbulenzen geraten konnten, müßig.
Die beiden Wachen vor der Gangway verrieten Vigilante, dass der Besuch an Bord der Belle Aire 1 alles andere als eine Vergnügungstour wurde. Seit er draußen wartete hatte er auch noch keine der Damen aus Madame Dunoires Belegschaft gesehen. Eines aber verrieten ihm die beiden Wachmänner. Nicht nur die Art, wie sie sich kleideten, sondern auch die Weise, wie sie sich bewegten und verhielten, wie sie das Umfeld im Auge behielten, wie sie Ihre Hände hielten, sagten Vigilante eindeutig, dass ihr Arbeitgeber der United States Secret Service war. Oder gewesen war. Wie bei ihm.
Er hatte bereits versucht, an Bord zu gelangen, doch die Bodyguards ließen ihn nicht, bevor das Reiseteam komplett war. Vigilante hoffte, dass dies bald geschah, denn so langsam bekam er kalte Füße, im tatsächlichen Sinn des Spruchs.
Eine Böe zerrte an seinem Mantel. Während er fluchend versuchte, sich aus dem Wind zu drehen, bemerkte er die Limousine, die von zwei schwarzen SUVs begleitet auf das Rollfeld fuhr.
Secret Service, dachte Vigilante. Was war das für eine Nummer? Sein Ex-Arbeitgeber wollte sicherlich nicht, dass er einen Job für ihn erledigte oder ihn gar wieder einstellen.
Die SUVs hielten vor und hinter dem Flugzeug. Jeweils zwei Männer in dunklen Einreihern stiegen aus, die Sakkos geöffnet, eine Hand in der Nähe des Pistolenholsters. Genau zwischen den beiden Fahrzeugen und der Belle Aire 1 stoppte die Limousine. Fahrer und Beifahrer stiegen aus, ihre Augen von Sonnenbrillen beschirmt, beide suchten die Umgebung ab, ehe sich der Fahrer der Tür hinter ihm zuwandte und sie öffnete, während sein Partner es auf der anderen Seite des Wagens ihm gleichtat.
Das ist also Madame Dunoire, dachte Vigilante.
Die Frau war groß und schlank. Ihr Haar so schwarz, wie ihr Name bereits andeutete. Sie trug es kurz und leicht gewellt. Sie wirkte auf Vigilante durchaus attraktiv, doch ein Makel zerstörte den Ausdruck, der aus Attraktivität eine echte Schönheit hätte machen können. Ihre Augen standen zu weit voneinander ab. Und ihr Lächeln war eine Spur zu breit.
Vigilante vermochte Dunoires Alter nicht zu schätzen. Sie konnte als Mittvierzigerin durchgehen, aber auch eine sehr gut erhaltene Dame Anfang Sechzig sein. Wer ihr ein Kompliment machen wollte, würde sie wohl auf Anfang Vierzig schätzen, falls er es wagte ein Wort über ihr Alter zu verlieren.
Als Dunoire ihn erblickte, winkte sie Vigilante zu sich, doch der interessierte sich plötzlich für den anderen Fahrgast der Limousine. Sister Black mochte einigen Einfluss haben, aber sie ließ sich gewiss nicht vom Secret Service beschützen. Der Herr, der die Limousine auf der Fahrerseite verließ, indes doch.
»Da laust mich doch ...« Vigilante ging auf Madame Dunoire zu, machte sich jedoch keine Mühe, sich zu beeilen, sondern behielt den Schützling der Agenten im Auge. Er hatte richtig gesehen. Der Stabschef des Weißen Hauses persönlich.
»Ich hoffe, Sie hatten einen guten Flug, Jed«, sagte Madame Dunoire und hielt ihm zur Begrüßung eine Hand hin. Vigilantes Blick wanderte zu der Frau, ergriff die Hand und deutete einen Kuss auf ihrem Rücken an.
»Aber sicher doch. Die Tickets waren erster Klasse und bis Dubai hatte ich sehr angenehme Begleitung.«
»Und Sie wollen es sich mit Zabette nicht noch überlegen?«
Vigilante zog eine Braue hoch. »Nein.«
»Schade. Das Mädel mag Sie, mein Lieber. Aber auf der anderen Seite ist es natürlich gut für mich. So verliere ich keine meiner Top-Angestellten.«
»Verstehe.« Vigilante nickte mit dem Kinn zur anderen Wagenseite. »Was will er hier?«
»Er ist Teil des Auftrags.« Dunoires Hand entglitt seiner. Sie drehte sich um und ging um die Limousine herum. Vigilante blieb nichts übrig, als ihr zu folgen.
»Jason, darf ich vorstellen? Mr. Vigilante. Jed, das ist Jason Coolridge, Chief of Staff.«
Noch während Vigilante zögerte und sich fragte, ob es ratsam war, dem Stabschef die Hand zur Begrüßung hinzustrecken, hatte Cooldrige seine bereits ergriffen und schüttelte sie.
»Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mr. Vigilante.«
»Ganz meinerseits«, hörte Vigilante sich selbst sagen. Die Worte nahm er nicht einmal wahr. Seine Gedanken kreisten um die Frage, warum er ausgerechnet den Stabschef des Weißen Hauses treffen musste, dazu noch in einem fliegenden Etablissement, in dem normalerweise Transaktionen der horizontalen Natur abgewickelt wurden. Vigilante war nicht befangen, dem Chief of Staff gegenüberzustehen und ihm die Hand zu schütteln, als wären sie Nachbarn oder alte Schulkameraden. Im Gegenteil. Während seiner Zeit als Personenschützer des Präsidenten, hatten ihn sämtliche Berater des Präsidenten und einige Minister mit Vornamen begrüßt.
»Vielleicht sollten wir an Bord gehen«, schlug Madame Dunoire vor.
Keine fünfzehn Minuten später hob die Belle Aire 1 vom Ronald Reagan National Airport mit unbekanntem Ziel ab.
*
Die Bordbar gab alles her, was das Trinkerherz begehrte. Mark Jedediah Vigilante begnügte sich mit einem Glas Wasser. In Gegenwart des Stabschefs und dreien seiner Bodyguards, vermochte er sich nicht zu entspannen.
Während die Secret Service Agenten in der Nähe des Eingangs saßen, hatten es sich Madame Dunoire, Jason Coolridge und Vigilante in der Vierergruppe aus Ledersesseln bequem gemacht, an die direkt das erste Separée angrenzte. Die Flugbegleiterin trug ein eng geschnittenes Kostüm und Nahtstrümpfe, jedoch keine Uniform. Offenbar gehörte die Dame, die sich als Lydie vorgestellt hatte, zu Madame Dunoires Personal und verdiente ihren Unterhalt normalerweise eher in einem der abgeteilten Bereiche nebenan, anstatt Snacks und Getränke an Bord zu servieren. Doch auch die langen Beine und perfekten Formen beruhigten Vigilante nicht. Er wusste, dass irgendetwas geschehen sein musste, dessen Tragweite er nicht einschätzen konnte. Sonst hätten sie ihn nicht gerufen.
Das Anschnallzeichen erlosch und Coolridge entschuldigte sich, um ein paar Worte mit dem Leiter der Secret Service Leute zu wechseln. Lydie beugte sich zu Vigilante herab. Zwei gelockte Strähnen ihres mittelblonden Haares fielen ihr ins Gesicht, und sie strich sie rasch zurück.
»Darf ich Ihnen noch etwas bringen, Sir?«
Das Sir klang rauchig, wie geschnurrt. Es klang in Vigilantes Ohren eher nach Süßer.
Er schüttelte den Kopf und blickte aus dem Fenster. Lydie brachte ihrer Chefin einen Cocktail. Als Coolridge zum Sessel zurückkehrte, zog er sein Jackett aus, lockerte den Sitz der Krawatte und krempelte sich die Ärmel seines Gucci-Hemdes bis fast zu den Ellbogen hoch. Ein tiefer Seufzer kündigte an, dass er jetzt zum geschäftlichen Teil übergehen wollte.
»Ich weiß, dass Sie viel für unser Land getan haben, Mr. Vigilante«, sagte Coolridge. »Und dass wir Sie dafür bezahlen ließen.«
Vigilante beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Sparen Sie sich irgendwelche Entschuldigungen oder Einleitungsgeplänkel, Sir. Sagen Sie mir ganz einfach worum es geht.«
Coolridge runzelte die Stirn und warf Madame Dunoire einen Blick zu. Dann nickte er und winkte Lydie, die von einem Bartresen eine Aktentasche an sich nahm, hinein griff und eine Mappe zutage förderte. Ohne den Blick von Vigilante zu nehmen, kam sie zu Coolridge herüber und reichte ihm das Dossier.
Geschickt, dachte Vigilante. Sie ist keine von Madame Dunoires Damen, sondern eine Agentin im Staatsdienst.
Der Stabschef warf die Mappe auf den Tisch. Vigilante verstand die Aufforderung und nahm sie an sich. Er klappte den Pappdeckel auf. Ein Foto stach ihm ins Auge. Es zeigte einen Mann mit dunklem, lockigen Haar und einem Spitzbart. Das Gesicht sagte ihm nichts.
»Das ist Dr. Judas Kane«, erklärte Lydie, nun mit sachlicher und gar nicht mehr so samtweicher Stimme.
Vigilante sah auf. »Und Sie sind?«
»Sie arbeitet für mich«, sagte Coolridge.
Vigilante lachte leise und klappte den Deckel des Dossiers wieder zu. Er lehnte sich zurück, schlug ein Bein über das andere und ließ seinen Blick abwechselnd von Coolridge zu Lydie schweifen. »Wenn Sie Lust auf Geheimdienstspielchen haben, bitte sehr. Suchen Sie sich jemanden, der bei Ihrem Spiel mitspielt. Wenn Sie mich engagieren wollen, sollten Sie mit offenen Karten spielen.«
Ehe Coolridge oder die vermeintliche Lydie etwas erwidern konnten, mischte sich Madame Dunoire in das Gespräch ein. Plötzlich war ihr künstlicher französischer Akzent wie weggeblasen. Ihre Stimme klang leise und ruhig, enthielt jedoch die Spur von Schärfe.
»Vigilante hat recht. Sie haben ein Problem. Er kann es lösen.«
Ihm war nicht entgangen, dass sie das Mr. vor seinem Namen weggelassen hatte.
»Nur er kann es lösen«, setzte Madame Dunoire hinzu.
Coolridge fuhr sich mit einer Hand über das Kinn und presste die Lippen zusammen. Er nickte Lydie zu. Diese hockte sich auf die Lehne des Sessels, in dem der Stabschef saß, beugte sich über den Tisch und schlug den Aktendeckel wieder auf.
»Ich bin Lydia Robertson, Mitarbeiterin der NSA. Dieser Mann auf dem Foto hat Uncle Sam großen Schaden zugefügt. Und er ist noch nicht fertig, sondern erpresst uns nun.«
Vigilante schob das Kinn vor. »Inwiefern?«
»Er ist Computerexperte und hat für das Verteidigungsministerium gearbeitet. Er sollte einen Wurm schreiben, der es uns ermöglicht, in andere Spionagenetzwerke über ein Satellitenuplink einzudringen. Nun will er diesen Wurm gegen uns wenden.«
Vigilante blickte die Mitarbeiterin der National Security Agency fragend an. Er traute ihr nicht. Dafür hatte er zu lange in einem ähnlichen Verein wie dem ihren gearbeitet. »Sie sprachen von Erpressung, Mrs. Robertson.«
»Miss. Und nennen Sie mich Lydie.«
Coolridge räusperte sich, wandte jedoch nichts dagegen ein.
»Zu einer Erpressung gehört immer eine Forderung, Lydie«, sagte Vigilante.
Die Frau nickte, doch der Stabschef antwortete an ihrer Stelle.
»Als wir weitere Mittel für das Projekt locker machen wollten, hat uns der Kongress einen Strich durch die Rechnung gemacht. Es wurde eingestampft.«
»Moment.« Viglante lehnte sich vor. »Sie wollen mir erzählen, Sie hätten vor dem Kongress mit offenen Karten gespielt und denen gesagt, was Sie mit diesem Virus …«
»Wurm«, verbesserte Lydie.
»Wurm. Virus. Sie haben denen gesagt, dass Sie in andere Geheimdienstnetzwerke eindringen wollen? Wie schlecht ist das denn?«
Lydie verzog die Mundwinkel, während Coolridge im selben Atemzug die Augen verdrehte.
»Ein nicht wieder gut zu machender Fauxpas«, sagte er. »Der Präsident und der Verteidigungsminister haben diesen Entwurf abgesegnet und waren sicher, ihn so durchbringen zu können. Als er abgelehnt wurde, vernichteten wir sämtliche Unterlagen und setzten Dr. Kane mit einer Abfindung an die Luft.«
Vernichten. Ja, sicher. Wem willst du das erzählen?
»Lassen Sie mich raten? Kane hat Kopien seines Programms angefertigt. Und was will er? Geld?«
Lydie schüttelte den Kopf. Eine Haarsträhne blieb in ihrem Gesicht hängen. Sie pustete sie beiseite. »Er hat eine Reihe Chips entwendet, auf denen der Quellcode gespeichert ist. Die Mikrochips waren Prototypen, die in einen NSA-Spionagesatelliten eingesetzt werden sollten, um den Wurm zu testen. Kane verlangt eine Milliarde Dollar und ein Arrangement, das ihm den Nobelpreis für Physik einbringt sowie eine Verzichtserklärung des Präsidenten der Vereinigten Staaten, dass Kane jemals juristisch für irgendeine Tat auf amerikanischem Boden belangt werden kann. Sollten wir uns weigern, seinen Forderungen nachzukommen, wird er die Chips auf dem Schwarzmarkt anbieten. Mir fallen ad hoc zwei Dutzend Nationen ein, die Interesse an diesem Wurm haben könnten, um ihn gegen uns zu verwenden.«
»Nobelpreis der Physik, ich dachte der Mann wäre Programmierer.«
»Er ist Doktor der Physik.«
Vigilante faltete die Finger ineinander. »An welcher Stelle komme ich ins Spiel? Was könnte ich tun, das nicht das FBI, der Heimatschutz oder der Secret Service erledigen kann?«
Coolridge lächelte. Es wirkte jedoch nicht ehrlich, eher wie eine Geste der Verlegenheit. »Uns gehen die legalen Mittel aus, um Kane dingfest zu machen, Mr. Vigilante.«
»Beschaffen Sie uns die Chips und liquidieren Sie das Problem Kane.« Lydies Stimme klang dabei so sachlich, als würde sie den Wetterbericht in den Abendnachrichten vorlesen. War Sie sich wirklich bewusst, was sie da von sich gegeben hatte oder gab sie Tötungsbefehle jeden Tag an Untergebene heraus?
»Über die Modalitäten werden wir uns sicher einig«, sagte Coolridge. Er zog einen Stift aus seiner Hemdtasche und kritzelte eine Zahl auf die Innenseite des Aktendeckels. Eine Eins mit sechs Nullen.
Vigilante beherrschte sich, um nicht zu lachen. Schön, er sollte die Drecksarbeit erledigen. Aber irgendetwas verheimlichten ihm die beiden, das spürte er. Sein Instinkt sagte ihm, dass etwas an der Sache gewaltig zum Himmel stank. Er winkte Coolridge zu sich heran, nahm ihm den Stift aus der Hand und malte eine weitere Null hinter die Zahl. Sowohl der Stabschef als auch Lydie sogen scharf die Luft ein, während Madame Dunoire ein amüsiertes Glucksen von sich gab.
»Das ist unverschämt.« Coolridge schnappte regelrecht nach Luft bei jedem Wort.
»Fein, dann rufen Sie das FBI an und geben ihm den Fall«, sagte Vigilante mit einem Lächeln.
Ein Räuspern. Alle Köpfe wandten sich zu Madame Dunoire um. »Ich bin zwar nur Vermittlerin, aber ich denke, der Preis ist angemessen.«
»Ich werde Ihnen die Kontodaten später übermitteln.« Vigilantes Lächeln wurde zu einem Grinsen. »Gesetzt den Fall, Sie wollen das FBI aus der Sache raushalten.«
Coolridge stöhnte leise, und Lydie warf Vigilante einen kalten Blick zu, der ihn vermutlich auf der Stelle in eine Eissäule verwandelt hätte, wenn sie die Macht dazu gehabt hätte.
*
Die Belle Aire 1 landete auf einem kleinen Flughafen in der Nähe der Stadt Danville im Süden Virginias. Auf dem Rollfeld wartete bereits eine Limousine, die Coolridge und Lydie abholte. Die Rückfahrt nach Washington D.C. mochte gut viereinhalb Stunden dauern – offenbar hatte sich der Stabschef für den Rest des Tages frei genommen, um seine Abwesenheit im Weißen Haus zu rechtfertigen.
Vor der Gangway blieb Vigilante mit Madame Dunoire stehen. Die Dame hakte sich bei ihm ein und starrte der davonfahrenden Limousine nach.
»Und wie kommen wir jetzt zurück?«, fragte Vigilante.
»Ich bleibe hier«, sagte Dunoire. »Die Belle Aire 1 wird gewartet und anschließend verkauft. Seit ich die Belle Aire 2 in Betrieb genommen habe, lohnt sich der Aufwand in Sachen Unterhalt und Wartung für die kleine Maschine nicht mehr.«
»Etwas Größeres?«
Dunoire nickte. »Dreißig Separées. Jedes doppelt so groß, wie an Bord dieses Flugzeugs hier. Wir fliegen nur bei voller Besetzung. Mit dreißigtausend Dollar können Sie ein Ticket buchen, Jed. Wenn Sie die zehn Millionen bekommen, können Sie es sich leisten.«
»Falls ich die zehn Millionen bekomme«, sagte Vigilante und sah die Frau an. »Ich traue dem Braten nicht.«
Sie nickte. »Ich weiß. Sie haben nicht die ganze Wahrheit erzählt. Aber keine Sorge, ich habe mächtige Kontakte, nicht nur im Weißen Haus und nicht nur in dieser Regierung. Man wird Sie für den Job bezahlen. Sie müssen ihn nur noch erledigen. Aber diesmal ist kein kostenloses Arrangement mit Zabette enthalten. Nicht bei diesem Preisgeld, mein Lieber.«
Vigilante fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Gut, ich werde mir einen Leihwagen nehmen und nach D.C. zurückfahren. Ich muss ein paar Telefonate führen und Recherchen betreiben. Haben Sie vertrauenswürdige Leute beim Verteidigungsministerium? Bei einem Nachrichtendienst? Und einen Computerspezialisten, am besten einen Hacker.«
Madame Dunoire lächelte. Sie stellte sich auf Zehenspitzen und hauchte Vigilante einen Kuss auf die Wange. »Ich denke, ich habe die entsprechenden Kontakte, mein Lieber.«
Er befreite sich aus ihrem Arm und gab ihr einen Handkuss. Nur mit einem langen Blick statt mit Worten verabschiedete er sich von ihr und ging über das Rollfeld zum Terminal des Flughafens. Trotz Dunoires Zuversicht und Beteuerungen hatte er ein mieses Gefühl bei dem Job.
Er sollte recht behalten.
*
Die Mikrochips besaßen keine herkömmliche Seriennummer, doch sie waren auf eine besondere Art und Weise durchnummeriert worden. Judas Kane hatte jeden einzelnen von ihnen unter dem Mikroskop in Augenschein genommen und alle Nummern notiert. Wie er befürchtet hatte, befand sich der Alpha-Chip mit dem Startcode nicht unter ihnen.
Ermüdet lehnte er sich zurück und fuhr sich mit beiden Händen durchs Gesicht.
Ormond, dachte er. Die Schlampe hat mich reingelegt.
Da er bisher weder vom Stabschef des Weißen Hauses, noch einem Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums etwas gehört hatte, beschloss er, dass es Zeit war, Phase Zwei einzuleiten.
»Also schön, Leute. Wenn ihr mich nicht ernst nehmen wollt.«
Er griff nach der Dose Mountain Dew und setzte sie an die Lippen, nur um festzustellen, dass sie leer war. Umso besser. Er hatte ohnehin mit dem Gedanken gespielt, sich Brandy einzuschenken, auch wenn er bei seinem Vorhaben besser einen kühlen Kopf behielt.
Judas Kane beugte sich über eine der drei Tastaturen, die sich vor ihm auf dem Schreibtisch befanden. An der Wand vor dem Tisch hingen vier LCD-Displays unterschiedlicher Größe. Eines zeigte das Bild einer Überwachungskamera vor seiner Haustür. Ein anderes eine Satellitenaufnahme aus einem geostationären Orbit. Das dritte Aktienkurse und ein geöffnetes E-Mail Fenster. Der vierte Schirm wurde von der Login-Maske einer US-Behörde verziert. Kane widmete sich diesem Display, faltete die Finger ineinander und bog sie kräftig durch, worauf ein hartes Knacken erklang. Dann jagten seine Finger über die Tasten. Binnen einer Sekunde befand er sich in der behördlichen Datenbank.
Wer bisher nach einem Dr. Judas Kane googelte oder versuchte Strafregisterauszüge oder Führerscheinmeldungen zu beschaffen, wurde bitter enttäuscht. Für die öffentliche Welt existierte er nicht. Kane grinste. Bis heute.
»Dann wollen wir mal schauen.«
Kalifornien. Fahrlizenz. Kane, Judas.
Er tippte wie ein Besessener auf der Tastatur und hämmerte die Daten ein. Zum Schluss fügte er ein Foto eines wahllos ausgesuchten Facebook-Profils hinzu.
»Perfekt.«
Texas. Fahrlizenz. Kane, Judas. Doktor.
Die gleiche Prozedur.
New York.
Illinois.
Oklahoma.
Nach knapp zwei Stunden existierten innerhalb der Vereinigten Staaten achtzehn Personen mit dem Namen Judas Kane mit unterschiedlichen, aber ähnlichen Geburtsdaten und Körpergrößen. Die Passbilder für die Führerscheinlizenzen wählte Kane weiterhin aus öffentlichen Profilen sozialer Netzwerke aus oder über die Suchmaschinenbildersuche.
Als er fertig war, schenkte er sich einen Brandy ein und genoss das rauchige Aroma auf seinem Gaumen, während er die nächsten Schritte überlegte. Als nur noch ein Rest auf dem Boden des Glases schimmerte, hatte Kane einige Profile mit seinem Namen und wiederum falscher Fotos in soziale Netzwerke integriert. Er strickte aus einem Baukasten zwei Webseiten, eine, die sich mit EDV im Allgemeinen beschäftigte, eine, in die er Informationen von der Internetpräsenz eines Pharmakonzerns kopierte. Er meldete sich bei Twitter und drei Blogdiensten an und fütterte die Seiten wiederum von anderen Onlinetagebüchern mit Inhalt.
Vor einigen Stunden war Judas Kane ein Name gewesen, der in geheimen US-Regierungskreisen nur hinter vorgehaltener Hand geflüstert wurde. Jetzt waren Dutzende Namensvettern im Web zu finden.
»Phase zwei abgeschlossen«, sagte er und leerte das Brandyglas. Wer immer nach ihm suchte, würde es jetzt verdammt schwer haben.
*
Wenn er an einem Auftrag arbeitete, hielt sich Mark J. Vigilante hauptsächlich in seinem Washingtoner Apartment auf. Die Wohnung war spartanisch eingerichtet, versorgte ihn jedoch mit allem, was er zum Leben und Schlafen und für seine Arbeit benötigte. Er traute nicht einmal Madame Dunoire zu, dass sie unter Folter seinen Hauptwohnsitz in den Bergen Montanas für sich behalten würde, daher wusste auch sie nichts von der Hütte, die er dort sein Heim nannte.
Eine Stunde nach seiner Rückkehr nach Washington hatte er bereits ein halbes Dutzend Telefonate geführt und von seinen alten Kontakten beim FBI und dem NCIS erfahren, dass ein gewisser Dr. Judas Kane in keinem Eintrag ihrer Datenbanken erwähnt wurde. Die Informationen bekam er etwa eine Viertelstunde bevor Kane seine Scheinidentitäten bei den Fahrlizenzbehörden platzierte.
Vigilante saß beim dritten Bud Light und schob die Reste einer Thunfischpizza beiseite, die ihm von Calderone's Pizza und Pasta zwischendurch geliefert worden war, beiseite. Er wartete noch auf eine Rückmeldung aus dem Pentagon. Den Kontakt hatte er allerdings nicht selbst hergestellt, sondern er lief über Madame Dunoires Beziehungen.
Sein Telefon klingelte. Er blickte auf das Display und sah die Nummer von Special Agent Cole Snipes vom NCIS. Vigilante hatte ihn während Ermittlungen beim Secret Service kennengelernt. Seinerzeit war ein US-Marine in ein potenzielles Attentat auf den Präsidenten verwickelt gewesen. Seither trafen sie sich sporadisch auf ein Bier. Allerdings war der Kontakt nach Vigilantes Entlassung aus dem Staatsdienst eher eingeschlafen.
»Cole, vielleicht hätte ich fragen sollen, ob ich mich für deine Auskunft mit einem Bier revanchieren kann.«
»So viel war die Auskunft nicht wert, Kumpel.« Ein Schmatzen klang aus dem Telefon. »Aber jetzt halt dich fest. Aus reiner Gewohnheit habe ich den Namen deiner Suche in den Beobachtungsmodus versetzt, falls er doch mal irgendwann auftaucht. Du errätst nicht, was gerade eben passiert ist.«
»Du hast einen Treffer.«
»Einen? Fast zwei Dutzend! Innerhalb von wenigen Stunden.«
»Internet?«, fragte Vigilante und rang der Bierflasche den letzten Tropfen ab, während er überlegte, ob er sich noch eine vierte aus dem Kühlschrank genehmigen sollte. Er entschied sich dagegen und klappte den Deckel des Pizzakartons zu.
»Nein. Zulassungsstellen. In verschiedenen Staaten taucht der Name bei Zulassungsstellen auf. Ganz plötzlich. Das kann doch kein Zufall sein.«
Vigilante rieb sich über das Kinn. »Sicherlich nicht. Nur, wenn der Typ nirgendwo auf der Bildfläche erscheint, warum sollte er jetzt Spuren legen, wo vorher keine waren? Wenn es auch falsche sind?«
»Vorsorglich?«
»Gut möglich. Kannst du mir die Auszüge mailen, Cole?«
»Das kostet allerdings zwei Bier, aber auch nur wegen der alten Freundschaft Willen und weil ich weiß, dass du weiterhin für Uncle Sam im Geschäft bist.«
»Zwei Bier«, sagte Vigilante. »Und danke.«
Nur eine Minute nachdem er aufgelegt hatte und gerade Snipes E-Mail lesen wollte, läutete erneut sein Telefon. Diesmal war es Madame Dunoire mit gleich drei Nachrichten.
Sie hatte einen Kontakt beim Pentagon für ihn.
Sie würde ihm einen Computerspezialisten vorbeischicken.
Und es gab einen Toten.
*
Die nächste Phase wurde etwas kniffeliger als das Anlegen von Scheinidentitäten, auf die vermutlich niemand hereinfallen würde, die aber eine nette Ablenkung darstellten. Zunächst musste Judas Kane einen unliebsamen Zeugen loswerden. Er machte den Fehler, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, statt einen Profi zu beauftragen. Mit einem Taxi ließ er sich zur U-Bahn bringen, nahm einen Zug nach Arlington und fuhr mit einem anderen Taxi drei Blocks, ehe er den Fahrer anwies, anzuhalten. Zu Fuß legte er den Weg zu der Straße zurück, in der sein Opfer der Datenbankrecherche nach wohnte.
Kane sah auf die Uhr. Es musste schnell gehen. Nicht gründlich. Nur schnell.
Als die Zielperson den Hausflur betrat, wartete Kane bereits auf ihn, trat aus den Schatten und stieß ihm eine Messerklinge in den Hals. Zweimal. Noch während der Mann röchelnd zu Boden ging, eilte Kane aus dem Haus, warf das Messer in die Büsche und ging mit strammen Schritten in die entgegen gesetzte Richtung, aus der er gekommen war. Drei Blocks darauf, rief er ein Taxi, ließ sich wieder nur bis zur nächsten U-Bahn Station fahren und nahm einen Zug in den Norden der Stadt.
Phase Drei war, eine Drohung wahrzumachen. Sein Wurm war bereits aktiv und arbeitete für ihn. In einem Internetcafé loggte er sich in einen fernen Server ein und wertete die bisher gesammelten Ergebnisse aus. Er bekam eine Liste mit Namen, die er über eine anonyme E-Mailadresse an zwei Empfänger weiter leitete. Der erste saß in Nordkorea und würde vermutlich aus Dankbarkeit vor ihm auf die Knie fallen. Der zweite saß in Washington und würde sich gleich nach dem Lesen der E-Mail an den Kragen fassen, die Krawatte lockern und nach Luft schnappen, während ihm der kalte Schweiß ausbrach.
Nur wenige Stunden darauf sollte die CIA den Kontakt zu ihren Agenten in Nordkorea verlieren.
Kane lächelte und kehrte nach Hause zurück.
*
»Der Tote heißt Dessler«, sagte der Detective der Mordkommission und warf einen prüfenden Blick auf Vigilantes Marke und ID, die ihn als Bundesagenten einer Behörde auswiesen, von der der Polizist noch nie in seinem Leben gehört hatte, geschweige denn je wieder hören würde. WLEC. Washington Law Enforcement Command. Eine Briefkastenbehörde, die der Stabschef des Weißen Hauses für Vigilante abgesegnet hatte, um ungehindert in seinem Fall recherchieren zu können.
»Eric Dessler. Achtundzwanzig. Ledig. Studiert an der American University und jobbt nebenbei in der Telefonzentrale des Pentagon.«
Vigilante nahm den Ausweis zurück und sah zu dem Toten zu seinen Füßen hinab. Der Mann war am Fuß der Treppe gestorben, der Menge getrockneten Blutes und der hässlichen Stichwunde im Hals nach zu urteilen, war ihm sprichwörtlich der Saft ausgegangen. Der Gerichtsmediziner beugte sich über ihn. Leute der Crime Scene Unit begannen mit der Spurensuche. Noch während Vigilante ihnen zusah, rief jemand seinem Supervisor zu, dass sie wahrscheinlich die Tatwaffe gefunden hatten. Ein blutverschmiertes Messer, das in den Beeten neben dem Hauseingang lag.
»Fingerabdrücke?«, fragte der Detective.
»Keine sichtbaren«, sagte ein Mann in Regenjacke, auf deren Rücken die gelben Buchstaben C.S.U. prangten. »Vielleicht bekommen wir im Labor was heraus. Ich mache mich sofort auf den Weg.«
Der Detective räusperte sich. »Sind Sie deswegen hier? Weil Dessler im Pentagon gejobbt hat?«
Vigilante blickte von der Leiche hoch zu dem Polizisten und schüttelte den Kopf. Wortlos ließ er den Mann stehen und verließ das Haus. Er wusste, dass die Spurensicherung keine brauchbaren Hinweise liefern würde. Tatsächlich war die einzige Verbindung zu dem Toten die Tatsache, dass ein Anruf Kanes an den Stabschef von Dessler durchgestellt worden war.
Vigilante bestellte den von Madame Dunoire ausfindig gemachten Hacker per SMS in ein Café in der Center Street, Ecke Maple Avenue im Stadtteil Vienna. Zuvor wollte er Dunoires Kontaktmann zum Pentagon treffen und verabredete sich telefonisch mit dem Mann im Town Park, ebenfalls in Vienna. Als Vigilante dort eintraf, saß sein Kontakt bereits mit einer Tüte Brotkrumen auf einer Bank nahe eines Teiches und fütterte ein paar Enten. Er setzte sich zu ihm.
»Wir haben telefoniert.«
»Ja, ich weiß. Madame hat Sie mir gut genug beschrieben, Mister.«
»Vigilante.«
»Oh, Ihren Namen wollte ich jetzt nicht hören. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass ich Ihnen meinen nicht nenne.«
Vigilante sah den Mann an. Er mochte Mitte fünfzig sein, hatte schütteres Haar und einen Vollbart. Eine Narbe verlief von seinem rechten Mundwinkel bis zur Wange hinauf und wurde nur teilweise durch die Barthaare versteckt. Die Augen waren wässrig und die Nase gerötet, was auf Alkohol- oder Drogenkonsum schließen ließ.
Oder auf eine Erkältung oder eine Allergie, dachte Vigilante. Werd’ jetzt nicht paranoid.
»Wie soll ich Sie anreden, Sir?«, fragte er.
»Wie klingt Mister X?«
Vigilante lachte. »Zu klischeehaft.«
»Nennen Sie mich Gilmore. So hieß mein Hund.«
Der Mann sah alles andere als nach Happy Gilmore aus, aber Vigilante würde ihm den Gefallen tun. Er beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Knie und faltete die Finger ineinander. »Madame sagte, Sie könnten mir Informationen aus dem Fünfeck besorgen. Arbeiten Sie dort?«
Gilmore hustete und warf die letzten Krumen den Enten zu. »Ich … habe Kontakte. Was müssen Sie wissen?«
»Die NSA ist dem Verteidigungsministerium unterstellt. Ich brauche Daten über ein Projekt, bei dem es um Spionageprogramme, sagen wir einen Virus oder einen Computerwurm geht, der sich über Mobilfunknetzwerke ausbreitet und gegnerische Netze infiltriert.«
Vigilante entging nicht, dass Gilmore bei seinen Worten merklich zusammenzuckte. Der Mann blickte ihn von der Seite an, als hätte er ein Gespenst gesehen oder würde an seinem Verstand zweifeln.
»Des Weiteren muss ich wissen, ob das Pentagon über Aufzeichnungen eines Dr. Judas Kane verfügt.«
»Ich wäre froh, wenn wir den ersten Teil weglassen könnten,« sagte Gilmore und hustete erneut.
»Wäre ich auch. Kommen Sie da dran?«
»Werd’s versuchen. Sonst noch etwas?«
»In der Telefonzentrale arbeitete ein Eric Dessler.« Vigilante wartete auf eine Reaktion, doch sein Sitznachbar sah ihn nur an. »Ich brauche eine Liste sämtlicher Telefonate, die er vor drei Tagen entgegengenommen und geführt hat. Die Gespräche werden doch aufgezeichnet, oder?«
Der Mann nickte. »Werden sie.«
»Das wäre es für’s erste.«
»Nicht ganz«, sagte Gilmore. »Wir müssten uns noch über das Finanzielle einig werden.«
Vigilante griff in seine Jackeninnentasche und förderte einen Briefumschlag zu Tage, den er dem Mann hinstreckte. Als dieser ihn ergriff, öffnete und einen Blick hinein warf, sog er scharf die Luft zwischen die Zähne ein.
»Ich beeile mich«, versprach er und setzte sich mit einem Ruck auf.
Vigilante sah ihm hinterher und wartete, bis er außer Sichtweite war. Dann blickte er auf seine Uhr. Es wurde höchste Zeit für das Treffen mit dem Computerspezialisten.
Nur knapp neun Minuten darauf betrat Vigilante das Café und schaute sich von der Eingangstür aus um. Der Laden war halbvoll, dennoch entdeckte er seinen Kontaktmann im hinteren Teil nahe des Tresens. Schulterlanges, fettiges Haar. Eine Jeansjacke. Dreitagebart. Streuner oder Hacker. Vigilante steuerte zielstrebig auf ihn zu und ließ sich auf den Platz ihm gegenüber fallen.
»Und, wie ist der Punktestand in Counter Strike?« Er versuchte es mit einem Scherz im Jargon des Jugendlichen, um das Eis zu brechen, doch der Typ sah ihn nur zweifelnd an.
»Sie sind echt nicht auf dem Laufenden, oder? Counter Strike ist schon so Asbach wie ein Pentium III.«
»Was trinkst du?«
»Coke.«
Vigilante bestellte noch ein Glas und für sich einen Kaffee. »Ich bin Jed. Wie soll ich dich nennen?«
»Wolverine.«
»Ist das so ein … Hackername?«
»Nein, das ist eine Marvel-Comicfigur, aber der erste Name, der mir in den Sinn kam, weil ich gerne meine Krallen ausfahren würde und ich den Teufel tun werde, Ihnen irgendeinen Namen oder sonst ein verf…«
»Na, na, na.«
»… beschissenen Teil aus meinem Leben verraten werde.«
Vigilante schmunzelte. »Dein Jugendstrafregister scheint ziemlich lang zu sein, wenn du solchen Wert auf Diskretion legst.«
»Ich bin achtzehn.«
»Sicher. Woher kennst du Dunoire?«
Der Junge verzog die Mundwinkel und runzelte dabei die Stirn. »Wen?«
»Die Dame, die dich angeheuert hat?«
»Du…was? Sie meinen die Sis?«
»Sister Black, genau die.«
Wolverine machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach … weiß nicht, meine Schwester arbeitet für sie.«
Ein Callgirl, folgerte Vigilante, behielt seine Vermutung jedoch für sich, um den Jungen nicht vor den Kopf zu stoßen.
Inzwischen kam die Bedienung mit dem Kaffee und der Cola. Vigilante zahlte sofort, rührte Zucker und Milch in das schwarze Gebräu, rührte es jedoch nicht an.
»Wenn Mad... Sister Black Dich empfiehlt, gehe ich davon aus, dass du verschwiegen und gut bist.«
»Mister ...« Wolverine trank die Cola zur Hälfte leer. »Ich bin einer der Besten. Und für ausreichend Scheinchen, vergesse ich sogar, jemals das Sprechen gelernt zu haben.«
Vigilante beugte sich vor und sah sich um. Die anderen Gäste des Cafés befanden sich weit genug entfernt, als dass einer von ihnen zufällig etwas von dem aufschnappen konnte, über das sie redeten. »Ich will, dass du dich in den Computer des Pentagons hackst.«
Wolverine verschluckte sich an der Cola und hatte Mühe, sie nicht quer über den Tisch zu spucken. Ein Teil ging zurück ins Glas, den Rest schluckte er, kleckerte sich dabei das Shirt voll und verschmierte Colareste um seinen Mund.
»Ich soll was?« Er hatte so laut gesprochen, dass sich am nächsten Tisch jemand umdrehte, sich jedoch sofort wieder seinem Kaffee widmete.
»Wie war das mit Diskretion?«, fragte Vigilante und hob die Tasse an seine Lippen.
Wolverine senkte die Stimme. »Ins Pentagon?«, fragte er wesentlich leiser, betonte aber jedes Wort.
Vigilante nickte. Er griff in seine Tasche und schob einen Umschlag über den Tisch. »Etwas Kleingeld und Anweisungen.«
Der Junge griff nach dem Briefumschlag, spähte hinein und zählte die Dollarscheine. »Dreihundert?«
»Ich lasse fünf Riesen springen, wenn du den Job ordentlich erledigst.«
»Alter, für fünf Riesen fahre ich meinen Rechner nicht einmal hoch.«
Vigilante seufzte. Er hoffte, dass das Bürschchen jetzt nicht frech und gierig wurde, sonst würde er ein ernstes Wörtchen mit Madame Dunoire sprechen.
»Also schön, wie viel?«
»Zehn. Und ich kenne Sie überhaupt nicht.«
Vigilante schürzte die Lippe. »Zehn. Und versuch jetzt nicht zu pokern oder mehr rauszuschlagen, sonst bekommst du nur neun. Millimeter. Zwischen die Augen. Wir haben uns verstanden?«
Wolverine hob abwehrend die Hände. »Schon gut, Mann. Ich weiß, wann ich aufhören muss.« Er zog das Blatt mit den Instruktionen hervor und warf einen Blick darauf. Im Prinzip enthielt es die gleichen Anweisungen, die Vigilante bereits Gilmore gegeben hatte. Es war besser, in dieser Sache zweigleisig zu fahren, denn das Gefühl, dass ihm wichtige Informationen vorenthalten wurden, blieb.
»Die Zeit drängt etwas, daher brauche ich morgen schon ein Zwischenergebnis«, sagte Vigilante. »Kriegst du das hin?«
Wolverine verdrehte die Augen. »Alter, morgen haben Sie entweder Ihre Ergebnisse, oder Sie können schon mal eine Kaution zusammenkratzen, um mich wieder aus dem Knast rauszuholen.«
Wenn der Knilch bloß wüsste, dachte Vigilante. Das Eindringen in staatliche Sicherheitsnetzwerke wurde als terroristischer Akt gewertet. Nach dem Patriot Act würden die ihn gleich in eine Hochsicherheitszelle einbuchten, ihm alle Rechte verwehren und ihn in irgendeinem Bunker so lange bearbeiten, bis er seine eigene Mutter verriet.
»Ich melde mich morgen«, sagte Wolverine, trank die Cola aus und schob den Umschlag in seine Jeansjacke. Dann stand er auf, zögerte jedoch kurz. »Sie holen mich doch raus, falls ich auffliege, oder?«
Vigilante schmunzelte. »Mach dir keine Sorgen.«
Der Bursche nickte, drehte sich um und ging.
Eine Zeit lang blieb Vigilante sitzen und dachte darüber nach, ob er für seine Untersuchung alles in der richtigen Reihenfolge arrangiert hatte. Dabei kam er zu dem Schluss, dass sein Auftraggeber die Schwachstelle blieb. Ob der Chief of Staff Informationen zurückhielt, oder es eher die Hexe von der NSA war, wusste er noch nicht. Was er aber definitiv wusste war, dass er verdammt vorsichtig bei jedem Schritt sein musste, den er tat. Bei genauerer Betrachtung war es vermutlich das Beste, den Auftrag zu stornieren. Dagegen sprachen zehn Millionen Dollar, die er Uncle Sam aus dem Kreuz geleiert hatte.
*
Sieben verpasste Anrufe. Mark Vigilante hätte das Samsung Smartphone am liebsten gegen die Wand geworfen, doch bevor er die Bewegung ausführen konnte, klingelte es bereits erneut. Ohne auf das Display zu schauen ging er diesmal ran und stützte sich auf einen Ellbogen. Die Matratze seines Bettes ächzte.
»Guten Morgen«, sagte er.
»Wo zur Hölle stecken Sie?« Es war die NSA-Hexe.
Vigilante war plötzlich hellwach und richtete sich im Bett auf. Wie beiläufig fiel sein Blick auf den Wecker. Es war halb zehn. Vielleicht hätte er gestern Abend den Wein weglassen sollen, als er nach drei Dosen Budweiser beim Spiel der Red Sox gegen die Cleveland Indians feststellen musste, dass ihm das Bier ausgegangen war. Am Boden der Flasche Merlot war nur noch ein Nüsel zu sehen. Vielleicht hatte er es ein wenig übertrieben.
»Ich bin zu Hause«, sagte er.
»Wissen Sie eigentlich, was da draußen los ist?«
Er wünschte sich, sie würde sich beruhigen. Ihr Stimme klang wie ein Presslufthammer, den man direkt an seinem Gehörgang angesetzt hatte.
»Nein, aber ich werde den Verdacht nicht los, dass Sie es mir gleich erzählen … Lydie, war richtig, oder?«
Ein Schnauben stob aus dem Lautsprecher. »Ist immer noch richtig. Ist die Leitung sicher?«
Vigilante seufzte, nahm das Telefon vom Ohr und berührte das Icon einer Anwendung auf dem Schirm. Er setzte einen Haken und gab ein Passwort ein, ehe er das Gerät wieder ans Ohr setzte. »Ich habe eine Verschlüsselung zugeschaltet.«
»Wir haben vier Agenten in Nordkorea verloren.« Lydie sprach jetzt mit ruhiger Stimme. Professioneller, nicht mehr so aufgebracht. »Und ich fürchte, unser Netzwerk in China ist das nächste Ziel.«
»Was hat das mit Kane zu tun?« Vigilante stand auf und fuhr sich mit einer Hand durch das Gesicht. Auf dem Weg ins Bad kam er am Garderobenspiegel vorbei und wünschte sich, er hätte nicht hinein geblickt. Sein Gesicht war zerknautscht, die Augen verquollen und die Haare standen ihm zu Berge. Nichts, was eine Dusche und starker Kaffee nicht wieder in Ordnung bringen konnten.
Während Lydie weiter redete, stellte sich Vigilante vor das Klo und urinierte.
Die NSA-Mitarbeiterin hielt inne. »Pinkeln Sie etwa, während wir telefonieren?«
»Sie sind ziemlich vorlaut, Herzchen«, gab er zurück und zog ab. Als das Rauschen des Wassers verklungen war, ging er zum Waschbecken. »Ich frage Sie ja auch nicht, ob Sie masturbieren, während wir telefonieren.«
»Sie …!«
Er drehte den Wasserhahn auf und legte das Telefon beiseite. Auf den Schwall ihrer Flüche und Beschimpfungen konnte er getrost verzichten. Er wusch sich lieber das Gesicht und tauchte seinen Kopf unter den kalten Wasserstrahl. Als er sich mit einem Handtuch trocken rieb und das Gezeter aus dem Telefon neben dem Waschbecken anschwoll, überlegte er, ob er nicht doch erst noch die Dusche nehmen sollte. Er seufzte und griff nach dem Galaxy.
»… ein chauvinistisches …. Scheusal!«, hörte er Lydies Worte noch aus dem Lautsprecher.
»Sind Sie jetzt fertig?«
»Ich …« Es schien, als wollte sie wieder loslegen, doch diesmal fuhr Vigilante dazwischen.
»Sie verhalten sich unprofessionell, meine Teuerste. Es wäre schön, wenn wir jetzt wieder zurück zum Thema kommen könnten.«
Er hörte ein Schnauben. Dann ein tiefes Durchatmen.
»Also gut, aber wir sind noch nicht fertig, Vigilante.«
»Wenn Sie glauben.«
»Kane.« Noch ein Einatmen, ehe sich Lydie wieder unter Kontrolle hatte. »Er hat seinen Wurm freigesetzt und ist an Geheimdienstinformationen gekommen.«
Soll vorkommen. Vigilante verkniff sich den Kommentar und ließ die NSA-Mitarbeiterin weiterreden.
»Er hat die Tarnidentitäten von vier CIA-Agenten in Nordkorea identifiziert und diese per E-Mail an die entsprechenden nordkoreanischen Nachrichtendienste weitergeleitet. Unsere Leute sind aufgeflogen.«
Vigilante fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Er wusste, was das bedeutete. Die Agenten wurden gefoltert. Entweder redeten sie, oder sie starben vorher. Wenn sie redeten, dann starben sie vermutlich danach. Es sei denn, der nordkoreanische Verhörspezialist kam auf die Idee, dass die Agenten zu Austauschzwecken noch nützlich sein könnten.
»Das sind keine guten Neuigkeiten«, sagte Vigilante lahm, nur um irgendetwas zu entgegnen, während sein Verstand fieberhaft arbeitete. Irgendetwas an Lydia Robertsons Worten hatte ihn gestört, er kam nur nicht sofort darauf, was es war.
»Was gedenken Sie jetzt zu tun?«
Ganz toll, jetzt versucht sie mir die Schuld in die Schuhe zu schieben. »Ich greife tief in die Trickkiste.«
»Und das bedeutet im Klartext?«
Vigilante bemühte sich, nicht loszulachen, als er sich in Gedanken eine Antwort zurechtlegte. »Ich habe eine Spur, die nach Europa führt. Offenbar hat sich Dr. Kane Rückendeckung von tschechischen Kartellen geholt, die seine Operation unterstützen und ihm augenscheinlich auch bei der Auswahl seiner Kontakte nach Nordkorea helfen.«
»Tschechien?« Lydies Stimme klang zweifelnd.
Vielleicht hatte Vigilante sich zu weit aus dem Fenster gelehnt und die Intelligenz der Frau unterschätzt. Immerhin arbeitete sie bei der NSA, die beschäftigten im Allgemeinen nur kluge Köpfe.
Autsch, Jed, autsch!
»Der Name des Kontaktmanns ist Radek Novák. Er ist Drogenhändler, Waffenschieber und Autohehler. Er hat im letzten Jahr Waffen im Wert von zweihundert Millionen Dollar an den Iran verkauft. Zweifelsohne besitzt er weitere Kontakte in den Irak, nach Afghanistan, Libyen, China … Nordkorea.« Vigilante fasste sich an die Stirn und schüttelte den Kopf über das, was er gerade gesagt hatte. Er kannte Radek, der würde ihm sicherlich krumm nehmen, dass er seinen Namen bei der NSA in den Schmutz zog.
»Das klingt … plausibel.«
Vigilante war das Zögern in Lydies Worten nicht entgangen. Dann fiel ihm auch ein, was ihn vorhin bei ihrer Schilderung gestört hatte.
»Ich gehe der Spur sofort nach und bin sicher, dass ich Dr. Kane spätestens morgen dingfest gemacht habe und Sie Ihre Chips wiederbekommen.«
»Ist es nicht etwas verfrüht schon Prognosen abzuliefern, wann Sie Kane in Ihre Hände bekommen?«, fragte Lydie.
»Überlassen Sie das mir. Es gibt schließlich einen Grund, warum der Stabschef des Weißen Hauses mich angeheuert hat.«
Ein Lachen klang aus dem Hörer. »Vielleicht werden Sie allgemein nur überschätzt, Mr. Vigilante. Ich hab mir Ihre Akte aus den Zeiten beim Secret Service angesehen.«
Ihn wunderte nicht, dass sie daran gekommen war. Allerdings waren die Einträge noch vor seiner Entlassung auf Weisung des Präsidenten der Vereinigten Staaten fingiert worden.
»Sie können dem Geschwätz einer Akte glauben, oder dem Stabschef vertrauen, Miss Robertson«, sagte Vigilante. »Wenn Sie keine weiteren Informationen für mich haben, betrachte ich das Gespräch als beendet. Ich habe zu tun.«
Er unterbrach die Verbindung, legte das Telefon neben das Waschbecken, stützte sich mit beiden Händen am Tischrand auf und starrte in den Spiegel.
»Wer lügt, sollte darin so gut sein, dass es niemand merkt«, murmelte er.
Die NSA-Mitarbeiterin hatte gelogen. Angeblich hatte Dr. Kane den Wurm freigesetzt und so Kenntnis der Tarnidentitäten der CIA-Agenten erhalten. Aber bei diesem Job ging es doch um den Wurm. Oder nicht? War dieser nicht auf dreißig Mikrochips verteilt, von denen Kane nur neunundzwanzig besaß?
Er rieb sich die Augen. Dann stieg er unter die Dusche und drehte den kalten Wasserhahn auf. Ein eisiger Strahl fegte auch das letzte Bisschen Müdigkeit fort, das noch in Vigilante steckte.
»Denk nach«, mahnte er sich, während das Wasser von einer erfrischenden Kühle zu einer entspannenden Wärme wechselte. Es ging also nicht um den Wurm. Den hatte Kane ohnehin. Aber die Chips schienen dennoch wichtig zu sein. Der Wurm war das Druckmittel, doch Kane wollte etwas ganz anderes. Er brauchte den dreißigsten Chip. Den letzten Silberling … Vigilante lachte kurz bei der Analogie zum biblischen Judas. Judas wurde für seinen Verrat bezahlt. Wenn Judas Kane ebenfalls bezahlt worden war …
… mit dreißig Mikrochips! Vigilante schnippte mit den Fingern. »Bingo!«
Er drehte das Wasser ab, wickelte sich in ein Badetuch und stieg aus der Dusche. Auf dem Weg ins Wohnzimmer griff er nach seinem Smartphone. Zuerst rief er Radek Novák an, um ihm die Situation zu erklären. Dann meldete er sich bei Gilmore, auch wenn er nicht allzu viele Hoffnungen in den alten Kontaktmann steckte. Wenn die NSA etwas verbarg, dann taten sie es gründlich. Vigilante glaubte nicht, dass Gilmores Verbindungen im Pentagon ausreichten, um etwas Nützliches ans Licht zu bringen. Vielmehr betrachtete Vigilante den Hacker Wolverine zugleich als Joker und Ass im Ärmel. Hoffentlich war er so gut, wie er glaubte.
Der Anruf bei Gilmore überraschte ihn dann aber doch.
»Ich habe in der Tat etwas für Sie«, sagte der Mann am Telefon. Vigilante hatte ihm versichert, dass sie frei sprechen konnten und der Anruf nicht zurückverfolgbar war. Zumindest besaß er sichere Kommunikationswege bevor er mit der NSA in Kontakt stand. Er nahm sich vor, alle Sicherheitsprotokolle seiner Telefone und E-Mailkonten neu einrichten zu lassen. Vorsicht ist besser als Nachsicht.
»Ich bin ganz Ohr«, sagte Vigilante.
Gilmore räusperte sich. »Über das Wurmprogramm konnte ich nichts in Erfahrung bringen. Jeder Versuch, darüber zu reden, wurde abgeblockt. Sie können sich sicherlich vorstellen, was das bedeutet.«
»Dass es existiert.« Vigilante nickte in sich hinein.
»Exakt. Über einen Dr. Judas Kane war nichts zu erfahren. Er erscheint in keiner offiziellen Datenbank und unter diesem Namen auch nicht in irgendwelchen schwarzen Registern. Entweder wurde er unter einem anderen Namen geführt oder er hat an verdeckten Projekten gearbeitet, die in keinen Notizen erscheinen.«
Eine Sackgasse. Aber das war zu erwarten gewesen. Wahrscheinlich wusste nicht einmal der Kongress, der das Wurmprogramm gestrichen hatte, wer der eigentliche Erfinder oder Programmierer war.
»Haben Sie etwas zu Eric Dessler?«
»Ja. Aber das wird Sie nicht freuen. Den Aufzeichnungen nach hatte er an besagtem Tag frei. Er hat sich morgens krank gemeldet und ist nicht zum Dienst erschienen. Die Sekretärin des Stabschefs bestätigt, dass sie kein Telefonat von Dessler entgegengenommen hat.«
Der letzte Satz machte Vigilante wütend. Nicht nur die NSA-Tussi hatte ihn belogen, sondern der Stabschef steckte auch dahinter und half dabei, etwas zu vertuschen. Schön, wenn sie ihm nicht vertrauten, gab es drei Möglichkeiten. Er konnte den Präsidenten informieren, doch das war nur eine Notlösung, die auch nicht lange vorhalten würde. Die Wahlen standen kurz bevor, und nach der zweiten Legislaturperiode stand ohnehin ein Mannschaftswechsel an. Was immer der Präsident jetzt noch erwirken konnte, hatte in den nächsten Wochen keinen Bestand mehr. Die zweite Möglichkeit war, die Brocken hinzuwerfen. Entweder mit großem Tamtam, indem er Coolridge und Lydie direkt ins Gesicht sagte, was er von Lügnern hielt und wohin sie sich ihren Job stecken konnten, oder er tauchte einfach unter und verzichtete auf die zehn Millionen.
Die dritte Alternative war jedoch jene, die eher nach Vigilantes Geschmack war: Er drehte den Spieß um, ließ seine Auftraggeber in der Annahme, er würde weiterhin nach ihrer Pfeife tanzen, doch er zog dabei sein eigenes Ding durch.
Na, laufen wir da gerade wieder zu alter Form auf?, dachte er und hockte sich auf die Armlehne seines Sofas.
»Das hilft Ihnen jetzt vermutlich nicht alles wirklich weiter, oder?«, fragte Gilmore.
Vigilante würde bei Gelegenheit Madame Dunoire fragen, wo sie den Komiker aufgetrieben hatte. Irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, dass er von diesem sogenannten Insider auf den Arm genommen wurde. Auch wenn er nicht mit überragenden Informationen gerechnet hatte, hätten sie etwas erschöpfender und tiefgründiger sein können. Gut, dass er zweigleisig fuhr.
»Es muss genügen. Ich danke Ihnen. Ihr Honorar lasse ich auf das vereinbarte Bankkonto überweisen.«
»Gerne«, sagte Gilmore. »Falls Sie wieder meine Dienste benötigen …«
»Schon gut, ich melde mich.«
Vigilante unterbrach die Verbindung und wählte im Anschluss die Nummer, die Wolverine ihm gegeben hatte. Der Hacker klang verschlafen.
»Oh Mann, Alter, wissen Sie, wie spät es ist?«
»Der Tag läuft bereits.« Vigilante überlegte kurz. »Wie schnell kannst du in der 3460 14th Northwest sein?«
Ein Brummen erklang im Telefon. Dann ein Gähnen. »Alter, wenn Sie mir jetzt noch sagen, in welchem Stadtteil das ist.«
»Columbia Heights.« Vigilante rechnete damit, dass der Kleine nicht motorisiert war. »Es gibt eine Metro Station hier in der Nähe. Vierhundert Meter Fußweg.«
»Moment.« Ein Schaben war zu hören. Offensichtlich machte sich Wolverine Notizen. »Ich hab’s. Geben Sie mir eine Stunde.«
»Eine Stunde? Und wenn dein Leben davon abhängen würde?«
»Wäre ich vermutlich jetzt tot. Eine Stunde, Alter.«
*
Phase Drei.
Dr. Judas Kane konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass man ihn im Weißen Haus nicht ernst nahm. Nach der Aktion in Nordkorea war man noch immer nicht gewillt, auf seine Forderungen einzugehen.
»Wer nicht hören will …«
Kane befand sich in Leopold’s Kafe, einem gemütlichen Lokal mit nettem Ambiente in Georgetown und gönnte sich das Leopold’s Frühstück für zehn Dollar. Zwei Eier auf Toast mit gegrilltem Schinken. Dazu einen Kaffee Latte. Neben der Washington Post lag ein Tablet-PC, der momentan eine Nachrichtenapplikation der New York Times zeigte, doch im Hintergrund lief ein Programm, das Kane selbst geschrieben hatte und das sich jederzeit mit dem bereits verbreiteten Wurm in Verbindung setzen konnte. Sein Wurm war im Grunde harmlos, nur mit der entsprechenden Zusatzsoftware, mutierte er zu einem bösartigen Gegner.
Judas Kane beugte sich über den Tisch und wechselte mit einem Fingertipp über den Taskmanager zu seiner App, die er liebevoll Judaskiss genannt hatte, schon lange bevor er überhaupt wusste, was er damit anstellen würde. Er rief die virtuelle Bildschirmtastatur auf und gab sein Passwort ein. Es folgte eine zweite Passwortabfrage, ehe ihn das Programm weiter ließ. Eine Übersichtskarte erschien. Kane wählte China, Pakistan und Indien aus. Das waren jetzt ein paar mehr Agenten, die er aufscheuchen würde. Wenn sie dann nicht reagierten, dann …
Ein dezenter Ton von einem Windspiel ließ ihn innehalten. Sein Telefon. Er deaktivierte die ausgewählten Icons und schaltete das Tablet aus. Bevor er nach seinem Telefon griff, schielte er über seine Brillenränder und beobachtete die anderen Gäste im Lokal. Niemand schien Notiz von ihm zu nehmen. Der Klang des Windspiels war leise genug, dass er selbst einem Sitznachbarn am Nebentisch nicht auffiel. Doch die beiden Tische in Kanes Nähe waren frei.
Er blickte auf das Display. Ein grüner Androide winkte ihm zu, darunter waren zwei Wörter zu lesen: Unbekannter Anrufer.
Kane wog ab, ob er rangehen sollte oder nicht. Diese Mobilfunknummer besaßen nur wenige, hauptsächlich die Leute, von denen er einen Anruf erwartete.
»Ja?«
»Kane, sind Sie das?«
Er kannte die Stimme. Candice Ormond. Kane hatte mit jedem gerechnet, vom Direktor des FBI bis hin zum Präsidenten höchst selbst. Aber nicht mit Ormond.
»Miss Ormond, ich bin … verblüfft. Als ich gestern Ihre Nummer im Pentagon wählte, sagte man mir, Sie arbeiten nicht mehr im Sektor 3.«
Ormond sog scharf die Luft ein und stieß den Atem sogleich wieder aus. Kane hörte ein weiteres Einatmen und das tiefe Ausblasen von Zigarettenrauch. Sie war nervös.
»Das ist … richtig. Hören Sie, Dr. Kane. Ich habe keine Zeit, Ihnen das zu erklären. Aber was immer Sie gerade tun, Sie müssen damit aufhören!«
Kane lachte, woraufhin sich zwei, drei der anderen Gäste zu ihm umdrehten. Einer schüttelte den Kopf und vertiefte sich in die Morgenausgabe der Post. Die anderen widmeten sich einfach wieder ihrem Snack oder dem Kaffee.
»Miss Ormond, Sie schulden mir einen Chip.«
»Sie wissen so gut wie ich, dass ich Ihnen den nicht aushändigen kann«, sagte die Frau am anderen Ende der Verbindung.
»So lautete aber unsere Abmachung. Sie bekommen den Cellworm und ich die dreißig Chips der Serie Xtreme. Sie haben mich hintergangen, Ormond. Das wird Sie, Ihre Regierung, Ihr Land teuer zu stehen kommen!«
»Dr. Kane!«, fuhr Ormond dazwischen. »Als es um diese Abmachung ging, sprachen wir über dreißig veraltete Mikrochips, die ursprünglich für Reagans SDI-Programm entwickelt wurden. Die Chips waren wertlos, da das Programm in dieser Form nie realisiert wurde. Uns war es gleichgültig, was Sie damit anfangen, bis …«
Kane nippte an seinem Kaffee Latte. »Ich verstehe. Sie haben sich die Chips näher angeschaut.«
»Nein. Das Ganze war Zufall, eher Glück im Unglück, nennen Sie es, wie Sie wollen.«
»Besorgen Sie mir den Chip.«
»Ich kann nicht!« Ormonds Stimme klang beinahe flehend. »Weil ich ihn nicht habe.«
Kane setzte die Tasse ab und lehnte sich zurück. Er bemerkte, wie die Finger seiner linken Hand begannen auf der Tischplatte zu trommeln. Rasch zog er sie zurück. Sein Blick wanderte durch das Café, während er fieberhaft überlegte, welchen Teil er Ormond glauben sollte und welcher ausgemachter Schwachsinn war.
»Das erklären Sie mir jetzt bitte.«
Wieder war das Ausblasen von Rauch zu vernehmen. »Ich habe alles zusammengepackt, das komplette Paket, in der Annahme es befinden sich alle dreißig Chips darin. Allerdings habe ich übersehen, dass es ursprünglich einunddreißig Chips der Serie Xtreme gab. Ein Klon des Starterchips, der aber nie vervollständigt wurde.«
Kane verschluckte sich am Kaffee und setzte mit zitternder Hand die Tasse ab. Der Klonchip. Er schnalzte mit der Zunge. »Was ist mit dem Duplikat?«
»Ich habe es hier«, sagte Ormond. »Sie hatten es, richtig? Sie haben angefangen daran zu programmieren, bis sie merkten, dass der Chip nicht die Leistung hatte, die er haben sollte.«
Kane nickte, auch wenn Ormond die Geste nicht sehen konnte. Das Nicken war eher für ihn selbst bestimmt. Ja, er hatte zuerst dieses Duplikat in den Fingern gehabt und beschlossen, es zu vernichten, sobald er die anderen dreißig Chips zu Ende programmiert hatte. Doch dann hatte der Kongress den Auftrag abgelehnt und Kane war auf die Straße gesetzt worden. Den Klonchip hatte er vergessen, er wäre auch völlig unwichtig gewesen, wenn Ormond ihm den kompletten Chipsatz ausgehändigt hätte.
»Also haben Sie den Chip herausgenommen und einen Blick drauf geworfen?«
»Nachdem ich die anderen bereits dem Boten übergeben habe, ja. Das Duplikat enthielt noch Programmfragmente, die es mir ermöglichten, eins und eins zusammenzuzählen. Sie haben für BDSO gearbeitet. Und wenn es Ihnen um alle dreißig Chips geht, dann musste ich davon ausgehen, dass Sie den Programmcode über die dreißig ICs verteilt haben. Aber warum ausgerechnet die Xtreme-Chips?«
Dr. Kane rieb sich die Schläfen. Die dumme Kuh war ihm auf die Schliche gekommen. Ja, warum die Xtreme-Chips, die als wertlos galten? Weil sie nach einem Erfassungsalgorithmus arbeiteten, der dem für BDSO entwickelten sehr ähnlich war. Und sie hatten die Leistung, die Vorrechenarbeit durchzuführen und andere CPUs damit zu entlasten.
»BDSO?«, fragte Kane, obwohl er genau wusste, dass er sich nicht herausreden konnte, doch er wollte durch die Frage einfach mehr Zeit gewinnen, um nachdenken zu können. Er nahm an, dass Ormond den Starterchip zurückgehalten hat, nachdem sie auf dem Duplikat erkannte, worum es Kane ging. Aber warum behauptete sie dann, er befände sich nicht mehr in ihrem Besitz?
»Vergessen Sie die Spielchen, Dr. Kane«, sagte Ormond. Ein Zischen erklang. Offenbar drückte sie die aufgerauchte Zigarette gerade im Ascher aus. »Das Projekt Biometric Detection of Suspicious Objects wurde genauso wenig vom Kongress genehmigt, wie das aktuelle Cellworm-Programm. Was also erhoffen Sie sich davon?«
Kane hätte stundenlang mit der Schläfenmassage weitermachen können, doch dadurch wäre er seine Kopfschmerzen auch nicht losgeworden. Er würde ihr natürlich nicht verraten, was er vorhatte. Denn dazu müsste er ihr den digitalen Einbruch in diverse DNA-Datenbanken gestehen, die vor einigen Monaten von verschiedenen Hackern gestartet wurden. CODIS beim FBI, die NDNAD in England, FNAEG in Frankreich. Die von Kane beauftragten Einbrecher sollten den Anschein erwecken, nur herumzustöbern und Sicherheitslecks aufzuzeigen. Sie ahnten jedoch nichts von den Trojanischen Pferden, die Kane dadurch einschleusen konnte und die in den letzten Monaten nahezu den kompletten DNA-Datenbestand der amerikanischen und europäischen Behörden heruntergeladen und an sichere Server übertragen hatten.
»Na schön«, sagte Dr. Kane. »Sie glauben also zu wissen, was sich auf den Chips befindet. Das erklärt aber noch immer nicht den Verbleib des Starterchips und Ihre Auskunft, dass Sie diesen Chip nicht mehr besitzen. Ich gebe Ihnen dreißig Sekunden, mir plausibel zu erklären, was damit geschehen ist. Nach Ablauf der Zeit, werde ich mit Hilfe von Cellworm Ihre nachrichtendienstlichen Tätigkeiten in China, dem Iran und Pakistan aufdecken. Das wird ein Feuerwerk. Dagegen war Nordkorea nur die Flamme eines Streichholzes.«
»Dr. Kane, tun Sie das bitte nicht!«
»Achtundzwanzig.«
»Also gut, der Bote, der Ihnen die Chips überbracht hat … er ist vor der Übergabe überfallen worden, und man hat ihm den Starterchip entwendet.«
Kane lachte. Er lachte so laut, dass sich ausnahmslos alle Gäste von Leopold's Kafe zu ihm umdrehten und ihn teils verwundert, teils verärgert anstarrten. Als er sich bewusst wurde, dass er die Aufmerksamkeit der anderen auf sich zog, hob Kane beschwichtigend eine Hand und redete leise weiter ins Telefon.
»Warum sind Sie nicht Schriftstellerin oder Drehbuchautorin geworden, Miss Ormond? Sie haben eine blühende Fantasie. Zugegeben, die können Sie auch im Nachrichtendienst gebrauchen, aber dann sollten Ihre Erklärungen nicht an den Haaren herbeigezogen wirken, sondern schon überzeugend sein.«
»Es ist die Wahrheit, Kane.«
Kane beherrschte sich, nicht einem neuerlichen Lachanfall zu erliegen. »Sie wollen mir also ernsthaft weismachen, jemand hat den Boten überfallen, ihm den Starterchip – ausgerechnet den Starterchip! - gestohlen und ihn mit den restlichen Prozessoren laufen lassen? Und der Dummkopf kommt mit nur neunundzwanzig Chips zum Treffpunkt und tut so, als sei nichts gewesen?«
Kane merkte, wie sich seine Stimme bei jedem Wort hob und er schon wieder im Zentrum der Aufmerksamkeit saß. Er leerte seinen Kaffee Latte und winkte der Bedienung, dass er zahlen wollte. Es war Zeit zu gehen, ehe jemand auf den Trichter kam, sein Gespräch zu belauschen und die Polizei rief.
Wie aufs Stichwort hörte Kane in diesem Moment das Auf- und Abschwellen von Sirenen, dem Klang nach keine Feuerwehr und kein Notarzt. Das konnte Zufall sein, doch er wollte es nicht darauf ankommen lassen. Statt auf die Bedienung zu warten, die noch mit einem anderen Gast beschäftigt war, klaubte er seinen Tablet-PC und die Washington Post zusammen und warf einen Bündel Dollarscheine auf den Tisch. Er wandte sich zum Gehen und bemerkte aus den Augenwinkeln den Mann, der vorhin den Kopf geschüttelt hatte, als Kane das erste Mal während des Telefonats lachen musste.
Irgendetwas stimmte hier nicht.
Die Sirenen kamen näher.
Der Mann legte die Zeitung beiseite und stand ebenfalls auf.
Kane war auf halbem Wege zur Tür, er nahm den anderen am Rande seines Gesichtsfelds wahr. Der Mann war mit ihm auf gleicher Höhe. Kane wandte den Kopf und blieb automatisch stehen. Ihre Blicke begegneten sich. Der andere sah ihn kurz an, nickte ihm zu und ging vorbei bis zur Tür.
Kane atmete auf und schalt sich einen Narren. Er sah bereits Gespenster und litt unter Verfolgungswahn.
»Sind Sie noch dran, Dr. Kane?«
Ormond. Er hatte sie ganz vergessen. »Also meinen Sie das ernst?«
»Ich habe Ihnen doch gerade gesagt …«
Das Szenario veränderte sich schlagartig. Der andere Gast war nicht durch die Tür nach draußen gegangen, sondern drehte sich jetzt um und versperrte Kane den Weg. Sein Sakko war geöffnet. Im Gürtelholster steckte eine Pistole in Reichweite der Hand des Mannes.
Stühle wurden gerückt. Ein weiterer Gast erhob sich, zog den Reißverschluss seines Windblousons auf und schob eine Hand hinter den Gürtel.
Kane drückte das Gespräch weg und steckte das Telefon in seine Jackentasche. Er starrte den Mann an der Tür an.
»Wir können das sanft erledigen oder auf die harte Tour, Dr. Kane.«
»Irgendwie hab ich erwartet, dass Sie das sagen würden. Kann ich Sie irgendwie überreden, Abstand von Ihrem Vorhaben zu nehmen?« Der Ausdruck im Gesicht des anderen verriet Entschlossenheit. Die Handbewegung zur Waffe, die noch im Holster steckte, war eindeutig.
»Also eher nicht«, folgerte Kane und riss plötzlich den Tablet-PC hoch, den er zusammen mit der Washington Post in seinen Händen hielt.
Der Mann an der Tür reagierte genauso schnell, wie sein Partner hinter Kane. Beide hielten ihre Waffen in den Händen, ehe Kane die Arme ganz ausgestreckt hatte.
»Keine Panik, Bundesagenten! Wir haben alles unter Kontrolle!«
Kane blickte nach hinten. Der Mann hielt neben der Pistole seine Dienstmarke hoch. Er schaute wieder nach vorn und schüttelte die Hände mit dem Tablet.
»Ich warne Sie!«, rief Kane. »Kommen Sie mir nicht zu nah. Cellworm ist aktiv. Wenn ich nicht gleich meinen Code eingebe, können Sie sich von Ihren Freunden in China und im Iran verabschieden. Pakistan und Indien folgen sogleich.«
Der Mann vor ihm zielte mit seiner Pistole direkt auf Kanes Brust. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden, aber Sie kommen jetzt unverzüglich mit uns. Lassen Sie das Gerät fallen.«
»Keine Ahnung?« Kane stieß ein abgehaktes Lachen aus. »Keine Ahnung? Von welcher Behörde seid ihr eigentlich?«
Er blickte wieder zurück und sah die Dienstmarke. Auf die Entfernung war nicht zu erkennen, welchem Verein die beiden angehörten.
Die Marke.
Kanes Blick fiel auf die Waffe. Ein Revolver. Er sah zu dem Mann an der Tür. Eine Halbautomatik. Klein. Handlich. Er hatte sie in unzähligen Bond-Filmen gesehen. Eine Walther PPK.
Die beiden Männer waren keine Bundesagenten.
*
Etwa zur selben Zeit öffnete Mark Vigilante die Tür seines Apartments, um den Hacker Wolverine hereinzulassen. Doch bevor der Junge einen Fuß über die Schwelle setzen konnte, läutete Vigilantes Handy und er ging ran. Mit der anderen Hand bedeutete er seinem Gast, zu warten.
»Jed? Ich bin es, Delvecchio vom zweiten Distrikt.«
»Hi, Del. Was verschafft mir die Ehre?«
»Du bist doch auf der Suche nach einer nicht ausgeschriebenen Fahndung.«
»Woher weißt du davon?«, fragte Vigilante und hinderte Wolverine daran, sich an ihm vorbei in die Wohnung zu schleichen. Er warnte den Hacker mit einem eindringlichen Blick.
»Mein Lieutenant hat einen Anruf vom FBI bekommen. Von einem Agent Ginsterberg.«
»Ah, der gute alte Temp.« Ginsterberg war Vigilante aus seiner Zeit beim Secret Service bekannt und offenbar stand er in Kontakt zu Madame Dunoire.
»Jedenfalls soll ich dich anrufen, wenn mir irgendetwas Ungewöhnliches gemeldet wird«, sagte Delvecchio.
»Schieß los.«
»Uns wurde eine verdächtige Person in Georgetown gemeldet. 3315 M Street Northwest. Ein Lokal namens Leopold's Kafe. Wir haben eine Streife hingeschickt, wurden aber vom Marshal Büro angerufen, dass man bereits alles unter Kontrolle hätte und zwei Deputy Marshals sich mit dem Verdächtigen befassen.«
»Hm«, machte Vigilante. »Vielleicht ein Undercovereinsatz.«
»Vielleicht.« Delvecchio machte eine Pause. »Du kennst mich, Jed. Wenn mich irgendwer anruft und sich für Gott weiß wen ausgibt, hake ich nach. Ich habe beim Büro des Marshals angerufen und wollte mir den Einsatz bestätigen lassen. Jetzt halt dich fest, die haben niemanden da draußen.«
»3315 M Street? Kafe Leopold?«
»Yep.«
»Bin unterwegs. Ich schulde dir was, Del.«
»Solange du dich daran erinnerst, Jed.«
Vigilante legte auf, griff nach den Apartmentschlüsseln auf einem Beistelltisch neben der Tür und packte mit der anderen Hand Wolverines Schulter. Er zog den Jungen mit sich und schleifte ihn bis zum Aufzug durch den Gang.
»Moment mal, Alter, was soll der Scheiß?«
»Wir müssen uns um was kümmern.«
»Wir?«
Die Kabinentür öffnete sich. Vigilante schubste den Burschen hinein und drückte die Taste für die Tiefgarage.
»Hey, Mister, ich rede mit Ihnen. Ich bin hier, weil Sie Informationen haben wollten, nicht weil ...«
»Wir fahren nach Georgetown«, unterbrach ihn Vigilante mit einem Grinsen. »Je nach Verkehr hast du weniger als fünfzehn Minuten Zeit, mir alles zu erzählen. Ich denke, wir schaffen es in zehn.«
*
Angesichts der Waffen und der Tatsache, dass die beiden vermeintlichen Bundesagenten keinen Schimmer hatten, womit sie es zu tun hatten, ergab sich Judas Kane. Er konnte ihnen mit Computerviren drohen wie er wollte, sie würden ihn und die Situation nicht Ernst nehmen und die Bedeutung für die U.S. Regierung nicht einmal erfassen. Selbst wenn, war es ihnen vermutlich egal, da sie gar nicht für Uncle Sam arbeiteten.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte der Mann mit dem Revolver und schwenkte die gefälschte Dienstmarke.
Der andere trat vor, legte eine Hand auf Kanes Schulter, platzierte sich hinter ihn und drückte ihm den Lauf der Pistole in den Rücken.
»Gehen Sie.«
Kane hielt die Hände mit dem Tablet und der Post immer noch hoch. Er bewegte sich auf die Tür zu und suchte nach einer Ablenkungsmöglichkeit.
Vergiss es, dachte er. Schlag es dir einfach aus dem Kopf.
Vor der Tür blieb er stehen.
»Öffnen«, sagte der Typ hinter ihm.
»Dazu müsste ich eine Hand ...«
»Öffnen!«
»Schon gut, schon gut.« Kane ließ die Post fallen und streckte den Arm nach der Klinke aus. Die Polizeisirenen wurden lauter. Er blickte aus dem Fenster und glaubte, die Streifenwagen mussten jeden Moment in die Straße einbiegen.
Was dann?
Kane öffnete die Tür und trat nach draußen. Es gab zwei Möglichkeiten, das Café zu verlassen. Entweder über Cady's Alley, einer kleinen Gasse mit mehreren Geschäften und Bars, über die man zur 33. Straße gelangte, oder durch eine Passage direkt auf die M Street. Der falsche Beamte hinter ihm bugsierte ihn durch die Passage direkt zu einem wartenden Van an der Straßenseite. Hinter dem Steuer saß ein dritter Kerl, der den Motor startete, als er sah, wie die anderen aus dem Lokal kamen.
Kane schluckte, während ihn noch etwa fünf Schritte von dem Van trennten. Er konnte auf keinen Fall in den Wagen steigen. Dann war er geliefert. Wer hatte Wind von seinen Aktivitäten bekommen? Herrgott, er hatte ja nicht einmal die Nordkoreaner informiert, wer er war und warum er ihnen bereitwillig und ohne Gegenleistung die Tarnidentitäten der CIA-Agenten aushändigte.
Drei Schritte vom Van entfernt.
Ein Verdacht keimte in ihm auf. Hatte diese bescheuerte Ormond etwa Profikiller engagiert, um ihn zu liquidieren?
Einen Schritt.
Der Typ mit dem Revolver überholte Kane und seinen Bewacher, steckte die Waffe weg und langte nach dem Griff der Seitentür des Vans.
Kane nutzte den Moment und wirbelte herum. Er schlug den Tablet-PC dem Bewacher direkt ins Gesicht. Ein Schuss löste sich und fegte in die Karosserie des Vans.
Der peitschende Knall war Auslöser für eine Panik auf dem Gehweg. Menschen schrien auf, stoben auseinander. Liefen über die Straße. Ein Hund bellte.
Kane rannte. Er verschwand hinter dem Van und entging einem zweiten Schuss. Ein Funken traf ihn heiß im Nacken, doch die Kugel war ins Wagenblech eingeschlagen. Er lief über die Straße, stieß gegen einen Fahrradfahrer und riss ihn mit sich zu Boden. Wagen hupten. Quietschende Bremsen. Schlingernde Fahrzeuge.
Für zwei, drei Sekunden lief Dr. Judas Kane durch seine persönliche Hölle und stellte auf der anderen Straßenseite fest, dass er wie durch ein Wunder ungeschoren davongekommen war. Die Straße war erfüllt vom Lärm des Verkehrschaos'. Hupkonzerte, schepperndes Blech von aufeinander auffahrenden Wagen. Kreischende Menschen. Aufgeregtes Gerufe und Schreie.
Die Polizeisirenen.
Am Rande nahm Kane wahr, dass zwei Streifenwagen der Metropolitan Police aus einer Seitenstraße bogen und genau in das Chaos platzten. Er starrte zu dem Van hinüber und sah den Kerl, der auf ihn geschossen hatte. Sein Blick verriet kühle Entschlossenheit.
Es war noch nicht vorbei.
Kane schwang herum und rannte weiter. Er tauchte in die aufgebrachte Menschenmenge und wusste, dass genau in diesem Moment, der falsche Bundesbeamte über die Straße hinter ihm herlief und erst stoppen würde, wenn er Kane zur Strecke gebracht hatte.
*
Südlich der Columbia Heights Metrostation überlegte Vigilante kurz, ob er über die Columbia Road abkürzen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Der Weg führte am Rabaut Park und später am Kalorama Park vorbei, bewährte Ziele der Cops um Verkehrskontrollen durchzuführen. Viel schneller kam er jedoch auch nicht über die 14. Straße vorwärts. Dichter Verkehr, in der ersten Reihe parkende Fahrzeuge, regelmäßige und große Ampelkreuzungen. Für die geschätzten eineinhalb Kilometer brauchte er knapp sechs Minuten, somit war seine Schätzung, es bis zum Kafe Leopold in zehn Minuten zu schaffen, bereits dahin.
Auf dem Beifahrersitz saß Wolverine, beide Beine so eng hochgezogen, als wollte er sie an die Brust drücken. Er hatte sich erst nach dreimaliger Aufforderung angeschnallt, und auch nur dann, weil von rechts ein Bus bei tiefgelb über eine Kreuzung rauschte und Vigilane gezwungen war, in die Eisen zu gehen. Beide Hände umklammerten eine Laptoptasche. Erst nach der halben Strecke, als sie die Florida Avenue passierten, bekam Vigilante einen Ton aus dem Hacker heraus.
»Nun schieß schon los!«
»F-f-f-fahren Sie doch mal langsamer!«, stieß Wolverine hervor.
Vigilante trat das Gaspedal durch, hämmerte auf die Hupe und überholte einen Lastwagen über die Gegenspur. Bevor ein Bus ihn rammen konnte, scherte er knapp vor dem LKW wieder in die Spur ein.
Wolverine starrte ihn von der Seite her an. Vigilante konnte seine Angst förmlich riechen.
»Hast du Stirb Langsam 4 gesehen, Kleiner? Die Szene, in der McLane den Hacker abholt?«
Der Bursche schnitt eine Grimasse, als zweifele er an Vigilantes Verstand. »Ja. Ja und?«
Vigilante lächelte. »Das hier ist so ähnlich.«
Das Schlucken des anderen war deutlich zu hören. »Ich … hören Sie, in dem Film sind die beiden am Ende doch ein gutes Team und Kumpels geworden.«
»Das wird hier nicht passieren«, sagte Vigilante und drückte das Gaspedal bis zum Anschlag durch, worauf der Wagen einen Satz nach vorn machte und Wolverine ein lautstarkes Keuchen vernehmen ließ.
»Wieso nicht?«, rief der Junge. Er stand kurz davor, die Schwelle zur Panik zu überschreiten.
»McLane war ein Cop. Und was ich bin, willst du nicht wissen. Also red jetzt endlich.«
Wolverine hob beschwichtigend die Hände. »Ja, schon gut, schon gut. Was … wo soll ich anfangen?«
Sie passierten die U Street. Eine echte Sehenswürdigkeit nicht nur für Touristen, auch für die Einheimischen. Der sogenannte U Street Corridor war gesäumt von etlichen Einzelhändlern, Nachtclubs und Restaurants, beherbergte Kunstgalerien und war Austragungsort regelmäßiger Konzerte und Gigs in Sälen, Hallen oder Pubs oder auch direkt an der Straße.
»Du hattest drei Aufgaben. Fang einfach an, sie der Reihe nach abzuarbeiten.«
Wolverine löste sich von der Laptoptasche, zog den Reißverschluss auf und klappte den Deckel des Notebooks auf. »Es war natürlich nicht einfach, in das Rechenzentrum des Pentagons einzudringen. Ich meine, für zehn Riesen habe ich echt einen ordentlichen Job gemacht. Wissen Sie eigentlich, wie viele Firewalls die einsetzen und welche multiplen Reproduktionsalgor…«
»Die Kurzfassung.«
»Sie haben mich erwischt.«
Vigilante bremste hart. Einmal, weil ein Idiot vor ihm plötzlich an den Straßenrand fuhr und zum anderen, weil ihn Wolverines Worte erschreckten. Beide wurden in die Gurte gepresst, was den Jungen wieder zu einem heftigen Keuchen veranlasste.
»Sind Sie geisteskrank?«
Vigilante hupte, setzte den Blinker und zog links an dem Wagen vor ihm vorbei. »Über den Zustand bin ich längst hinaus. Was heißt das, die haben dich erwischt?«
Wolverine atmete tief ein. Aus den Augenwinkeln bemerkte Vigilante, wie die Hände des Jungen zitterten.
»Wie ich schon sagte, man bricht nicht einfach so ins Pentagon ein, auch nicht virtuell. Ich habe etwa zwei Dutzend simulierter Hackattacken über verschiedene weltweite Server mit gefaketen Accounts gestartet und dann noch dreimal so viele echte Attacken mit realen Accounts. Bei denen müssen sämtliche Alarme geleuchtet haben, ein Weihnachtsbaum dürfte nichts dagegen sein.«
»Und das bedeutet?« Vigilante überholte zwei weitere Wagen, überfuhr eine rote Ampel und brachte damit Wolverine wieder zum Keuchen.
»Dass jetzt über siebzig Computernutzer weltweit ein Problem mit dem FBI haben werden«, sagte der Junge so trocken, als hätte er die Lottozahlen vorgelesen, ohne sich Hoffnung auf einen Gewinn zu machen.