6
Nach und nach, dachte ich. Mein Herz war von solcher Trauer erfüllt, dass es in tausend Teile hätte zerspringen müssen. Nach und nach.
Nach und nach? Nein, das war nicht richtig.
»Ich habe Hi gesagt. Hallo? Wie geht’s? Hallo? Hi hi hi?«
Ich blinzelte. Der Nebel löste sich langsam auf, und ich spürte wieder die Rückenlehne der Bank unter meiner Hand. Vor mir saß ein großer, zotteliger schwarzer Hund. Er hechelte in der warmen Sonne, und von seinen Lefzen tropften lange Speichelfäden. Ich blickte mich nach dem Besitzer des Hundes um, sah aber niemanden.
»Da bist du ja wieder. Ysolde, nicht wahr?«
Ich zog die Augenbrauen hoch und blickte auf den Hund. Die Stimme kam von ihm.
Er legte den Kopf schräg, und ich hätte schwören können, dass er mir zuzwinkerte. »Wow, du siehst ja schrecklich aus. Wie geht es dir nach diesem Kopfsprung auf Ashs Marmorcouchtisch?«
»Äh …« Mein Unterkiefer fiel ein wenig herunter. »Kenne ich dich?«
»Ja. Wir sind uns in Aislings und Drakes Haus während des großen Geburtsbrimboriums begegnet. Ich bin Jim. Effrijim eigentlich, aber das klingt viel zu weibisch für einen Kerl wie mich. Du siehst irgendwie komisch aus. Du hast mich nicht gesehen, als May mich in menschliche Gestalt befohlen hat, oder? Denn das würde erklären, warum du ein Gesicht machst, als sähest du einen Alien mit drei Köpfen in A Chorus Line tanzen.«
»Menschliche Gestalt«, wiederholte ich dumpf. »Nein, ich war …«
Ich träumte. Aber mitten am Tag? Panik griff mit klammen Fingern nach mir. Kamen die Träume jetzt schon, während ich hellwach war? »Du lieber Gott, demnächst muss ich mit Elektroschocks behandelt werden, wenn mein Verstand in diesem Tempo schwindet!«
»Meinst du?«
Ich starrte den Hund an. Meine Gedanken überschlugen sich.
»Du siehst so aus, als ob du gleich in Ohnmacht fallen oder dich übergeben wolltest. Falls du an Letzteres denkst, kannst du dich dann in die andere Richtung beugen? Nach einem Bad braucht mein Fell immer eine Ewigkeit, bis es wieder trocken ist.«
»Nein, es geht mir gut«, versicherte ich und riss mich zusammen. »Du bist ein Hund, kannst aber menschliche Gestalt annehmen?«
»Ich bin ein Dämon. Sechsten Grades, es ist also okay. Ich werde dir nicht die Eingeweide herausreißen und sie über einen Baum drapieren oder so. Außerdem würde Aisling mir die Eier abreißen, wenn ich das täte. Sie droht mir immer damit. Ich glaube, insgeheim ist sie ein Genitalien-Fetischist, aber ansonsten ist sie eine sehr nette Dämonenfürstin, deshalb rege ich mich nicht so darüber auf. Bist du sicher, dass alles okay ist? Hey, beug mal den Kopf zwischen die Knie oder so – du bist so weiß wie das Fell an Ceciles Bauch.«
Ich tat, wie der Hund – der Dämon – geheißen, wobei ich mich fragte, woher ich ihn kannte. »Du hast gesagt, ich kenne dich?«, fragte ich nach ein paar Minuten, als ich wieder Blut im Kopf hatte.
»Jetzt bist du ganz rot«, stellte er fest und leckte sich an der Schulter. »Erinnerst du dich nicht an mich?«
»Ich kann mich an gar nichts erinnern«, erwiderte ich.
»Ach ja?« Er kniff die Augen zusammen. »Das sieht aus, als ob du mit einem Verbotsfluch belegt wärst. Hat Kostich dich aus dem Magierlager geworfen?«
Ich blickte auf meine Brust, wo ein blaues, wirbeliges Muster schwach glühte. »Ich werde dich nicht fragen, woher du das weißt, denn ehrlich gesagt, wenn ich mir heute noch etwas Bizarres anhören muss, dann rolle ich mich wie ein Igel zusammen, und was soll dann aus Brom werden?«
»Wer ist Brom?«
»Mein Sohn.«
»Oh, Mann! Du hast einen Sohn? Weiß Baltic davon? Wenn nicht, musst du mir versprechen, dass ich dabei sein darf, wenn du es ihm sagst. Er dreht bestimmt durch. Obwohl, noch mehr geht eigentlich nicht, er ist ja sowieso schon ziemlich durchgeknallt.«
Ich atmete tief die nach Gras duftende Luft ein. »Um meiner geistigen Gesundheit und meines Sohnes willen tue ich jetzt so, als ob du nichts gesagt hättest. Du bist noch nicht einmal hier. Ich bin ganz alleine. Und jetzt gehe ich nach Hause.«
»Wo ist dein Zuhause?«, fragte der Dämon und erhob sich, als ich meine Tasche ergriff und mich in Richtung – wie ich hoffte – Straße wandte. Meine Kommentare schienen ihn nicht im Mindesten zu beleidigen, aber er schien auch nicht gewillt, mich allein zu lassen.
»Barcelona.«
»Das wird aber ein langer Marsch.«
»Ich wohne bei Leuten in der Stadt.«
»Bei May und Gabriel, ja. Ich habe gehört, wie Ash dich ihnen aufs Auge gedrückt hat, weil du Baltics lange verlorene Liebe bist. Wie ist es denn so, was mit einem verrückten Drachen zu haben?«
Ich blickte auf ihn herunter. »Du bist der merkwürdigste Dämon, dem ich je begegnet bin.«
»Du kannst es ruhig sagen, Babe – ich bin der Beste, oder?«, fragte er und schaute mich mit hochgezogener Augenbraue an. Plötzlich sah er jemanden und schrie: »Hey, Suzanne! Guck mal, wen ich gefunden habe!«
Eine kleine blonde Frau kam herbeigeeilt, eine Leine und eine Plastiktüte in der Hand. »Jim! Da bist du ja! Ich dachte schon, ich hätte dich verloren. Oh, du bist Ysolde, nicht wahr? Hallo.«
»Mein Name ist Tully«, sagte ich. »Obwohl ich ehrlich gesagt drauf und dran bin, den Namen aufzugeben. Mir hört ja sowieso keiner zu.«
»Ysolde fühlt sich nicht gut«, sagte Jim zu ihr. »Ich glaube, wir sollten sie mit nach Hause nehmen. Nicht dass sie am Ende noch überfahren wird.«
Suzanne blickte auf ihre Uhr und stimmte ihm zu.
»Das ist nicht nötig. Ich komme ganz gut alleine zurecht. Ich bin nur ein bisschen verrückt, aber nicht so schlimm, dass ich mich ausziehen und nackt auf der Nelson-Säule tanzen würde.«
»Schade.« Jim verzog enttäuscht das Gesicht.
»Wir sollten dich besser begleiten«, sagte Suzanne und musterte mich scharf. »Du scheinst ein bisschen durcheinander zu sein.«
»Durcheinander … verrückt … das spielt mittlerweile wirklich keine Rolle mehr.«
Sie gingen mit mir zu Gabriels Haus. Jim plapperte unentwegt. Er bestand darauf, mich hineinzubegleiten.
»Wenn du mich für meine Ritterlichkeit gerne am Bauch kraulen möchtest, nur zu«, forderte er mich auf und rollte sich zu meinen Füßen auf den Rücken, als ich erschöpft auf der Ledercouch im Arbeitszimmer, das in Grün- und Brauntönen gehalten war, zusammenbrach.
Stumm tat ich ihm den Gefallen. Meine Gedanken überschlugen sich. Die Vision, Gareths Grausamkeit und die neu erworbene Mitgliedschaft im Klub der Geistesgestörten waren zu viel für mich.
»Suzanne sagt, du fühlst dich nicht wohl?«, sagte May, die gefolgt von Gabriel in die Bibliothek kam. »Jim, wirklich! Müssen wir uns das anschauen?«
»Mein Bauch kann nicht gekrault werden, ohne dass ich Jupiter, Mars und den echt großen Wagen entblöße«, antwortete Jim. Er zuckte mit den Hinterläufen, als ich eine besonders kitzlige Stelle auf seinem Bauch streichelte. »Oh ja, Baby! Ich stehe auf Mädels mit langen Fingernägeln.«
»Zeit zu gehen«, befand May und stieß den Dämon mit der Schuhspitze an. »Danke, dass du Ysolde zurückgebracht hast, Suzanne. Wir übernehmen jetzt wieder.«
»Aber ich will hierbleiben«, beschwerte sich Jim, als er Suzanne aus dem Raum folgte. »Ich habe überhaupt keine Abwechslung mehr, seit Drake niemanden mehr ins Haus lässt, wenn er nicht mindestens fünf Referenzen vorweisen kann und ein polizeiliches Führungszeugnis …«
Die Tür schloss sich hinter ihnen. Gabriel kniete sich neben mich und hob mein Kinn an, um mir in die Augen zu blicken. Ich wehrte mich nicht dagegen. »Was ist los mit dir?«
Ich zögerte einen Moment lang, weil mir Gareths Worte einfielen. »Sie werden dich töten«, hatte er mich gewarnt, aber das ergab keinen Sinn, weder auf verstandesmäßiger noch auf emotionaler Ebene. Ich spürte nur das Mitgefühl und die Sorge, die mir von May und Gabriel entgegenschlugen.
»Baltic«, sagte ich und leckte mir über die Lippen. Endlich war ich in der Lage, einen konkreten Gedanken zu fassen. Meine Stimme war rau, meine Lippen trocken, als ob ich lange den Elementen ausgesetzt gewesen wäre.
May murmelte etwas und trat ans Sideboard, um mir etwas zu trinken einzuschenken. Es war ein würziges Gebräu aus Nelken, Ingwer und Zimt, das brennend meine Kehle hinunterfloss, aber es war ein gutes Brennen. Es erfüllte mich mit neuer Energie, und ich konnte mich endlich wieder konzentrieren.
»Was ist mit ihm?«, fragte Gabriel.
Ich trank noch einen Schluck und genoss das Brennen. »Ist Baltic hier? Hier in London?«
Gabriel und May wechselten einen Blick, und Gabriel sagte: »Er war hier an dem Tag, an dem du zusammengebrochen bist. Danach ist er wohl wieder nach Russland zurückgekehrt.«
»Wahrscheinlich, um seine Wunden zu lecken«, fügte May hinzu. »Er hatte durch Gabriel, Kostya und Drake eine schwere Niederlage erlitten. Drei seiner Wachen sind ums Leben gekommen, und wir haben seinen Stellvertreter gefangen genommen, eine Frau namens Thala.«
»Nun, wenn ich nicht wirklich dabei bin, den Verstand zu verlieren, dann ist er wohl zurückgekommen. Ich glaube, ich habe ihn im Green Park gesehen.« Ich erzählte ihnen von den beiden Männern, die ich gesehen hatte, und der Vision, die ich anschließend gehabt hatte, wobei ich spezifische Details jedoch außen vor ließ. »Nur eines verwirrt mich – der Mann, den ich im Park gesehen habe, sieht nicht aus wie der Mann in meinen Träumen. Wenn es wirklich Baltic ist, von dem ich geträumt habe, dann kann er unmöglich der Mann im Park gewesen sein.«
»Doch, das könnte er schon«, sagte Gabriel nachdenklich und erhob sich. »Ich glaube, als Baltic wiedergeboren wurde, ist etwas mit ihm geschehen. Er hat sein Äußeres verändert, und zwar als Mensch wie als Drache.«
»Er ist wiedergeboren worden?«, fragte ich.
»Natürlich – das weißt du ja gar nicht. Oder vielmehr, du erinnerst dich nicht«, sagte Gabriel. »Baltic wurde vor dreihundert Jahren getötet.«
Oh, das haute mich um. »Wer hat ihn denn getötet?«
»Sein engster Vertrauter, Kostya Fekete.«
»Kostya?« Ich schnappte nach Luft. »Groß, schwarze Haare und Augen, ein Grübchen im Kinn – dieser Kostya?«
»Ja. Hast du ihn gesehen?«
»In meinen Träumen, ja, aber er ist Baltics Freund.«
»War. Er war Baltics Freund«, sagte Gabriel. »Irgendwann wurde Kostya klar, dass Baltics wahnsinniger Plan, die Macht über die Sippen an sich zu reißen, die schwarzen Drachen vernichten würde, und er hat dem Ganzen ein Ende gemacht, indem er Baltic tötete. Allerdings war da das Kind schon in den Brunnen gefallen, und die schwarzen Drachen waren so gut wie ausgerottet.«
»Von wem?«, flüsterte ich.
»Von Constantine von Norka, dem Wyvern der silbernen Drachen.«
Ich sank auf dem Sofa zurück. Mir schwirrte der Kopf. Es war einfach alles zu viel, vor allem weil mich allmählich der Verdacht überkam, dass, so sehr ich mich auch an den Gedanken klammerte, verrückt zu sein, sie doch alle recht haben könnten. Vielleicht war ich tatsächlich eine Laune der Natur, ein Drache, der in einem menschlichen Körper gefangen war.
Ich hätte es vorgezogen, verrückt zu sein. Wie erbärmlich ist das denn?
Drei Stunden später war ich von Drachen nur so umgeben. Offensichtlich war ein sárkány eine große Sache. Er fand im Konferenzsaal eines sehr eleganten Hotels statt, und es nahmen zahlreiche Personen teil, die ganz normal aussahen. Ein langer Tisch mit etwa zwanzig Plätzen stand in der Mitte des Saals, und an den Wänden waren weitere Stühle aufgereiht. An einem Ende des Raums befand sich ein Podium, und am anderen Ende war eine große, weiße Leinwand heruntergelassen worden, was darauf hindeutete, dass es auch etwas zu sehen gab.
Ich ließ den Blick über die etwa dreißig Anwesenden gleiten, die in Gruppen zusammenstanden und plauderten. Die Gesichter, die sich mir zuwandten, waren ausnahmslos feindselig. Ich war es langsam leid. »Wie lange dauert so etwas für gewöhnlich?«, fragte ich meinen Nachbarn zur Rechten.
»Kommt darauf an«, sagte Jim.
»Auf was?«
»Ob dein Freund hier alles niedermäht wie in Paris oder nicht.«
Ich schüttelte entsetzt den Kopf.
»Baltic hat versucht, Leute bei einem sárkány umzubringen?«, fragte ich. Ich musste mich sehr zusammenreißen, aber ich hatte beschlossen, nicht durchzudrehen. Brom brauchte mich, vor allem jetzt, wo ich wusste, was für ein Bastard sein Vater war. Wenn ich weggesperrt würde, konnte ich nicht für ihn sorgen.
»Ja, das ist schon eine Weile her. Aisling stand damals kurz vor der Niederkunft, aber ich habe gehört, es war wie im Wilden Westen. Bis May die Drachenscherbe hat explodieren lassen und das gesamte obere Stockwerk des Hotels in die Luft geflogen ist.«
Fassungslos ließ ich diese Neuigkeit an mir abgleiten. Eigentlich hätte ich mich am liebsten zurückgelehnt, die Augen geschlossen und alles an mir abprallen lassen, aber in diesem Moment kam eine Frau mit funkelnden Augen auf uns zu.
»Jim, wenn du die arme Ysolde belästigst …« Die Frau blieb vor uns stehen und stemmte die Hände in die Hüften.
»Hey! Ich sitze doch nur hier und mache höfliche Konversation. Stimmt’s, Soldy?«
»Mein Name ist Ysolde«, sagte ich steif, aber dann wurde mir klar, was ich gerade von mir gegeben hatte. »Nein, ich heiße Tully! Tully! Mein Name ist Tully, nicht Ysolde. Du liebe Güte, jetzt habt ihr es tatsächlich geschafft!«
»Das ist Aisling, meine Dämonenfürstin. Sie hat an dem Tag Zwillinge bekommen, als du in ihrem Haus umgefallen bist«, erklärte Jim. Aisling blickte mich voller Mitgefühl an und schnalzte mit der Zunge.
»Du bist eine Dämonenfürstin?«, fragte ich. Es fiel mir schwer, mir die hübsche Frau mit den lockigen braunen Haaren und den haselnussbraunen Augen als Wesen vorzustellen, das Dämonen Befehle gab.
»Ja. May sagt, du kannst dich an nichts erinnern. Das muss ja echt übel sein. Ich bin mit Drake verheiratet. Er ist der Wyvern der grünen Drachen. Da drüben, der gut aussehende Mann, das ist er.«
Ich blickte in die Richtung, in die sie zeigte. Am hinteren Ende des Saals standen ein paar Männer zusammen. Ich wollte nichts sagen, weil ich fand, dass sie alle verdammt gut aussahen, aber als mein Blick auf einen großen Mann mit dunklen Haaren fiel, regte sich leise eine Erinnerung in meinem Hinterkopf. »Und bist du auch ein Drache?«, fragte ich Aisling.
Aisling lachte. »Ach, du lieber Himmel, nein. Ich war ein Mensch, bevor ich Drake kennengelernt habe. Ich habe als Kurier gearbeitet, und wir sind uns begegnet, als er das Aquamanile gestohlen hat, das ich nach Paris gebracht hatte. Es war sehr romantisch.«
Jim verschluckte sich und begann zu husten. »Romantisch!«, sagte er schließlich. »Mann, wenn du wüsstest, was wir durchgemacht haben, als sie beschlossen hatte, mit Drake zusammenzubleiben …«
»Schweig, haariger Dämon.« May, die gerade hereingekommen war, trat zu uns, und Aisling lächelte sie an. »Es war beinahe so romantisch wie bei May und Gabriel.«
May verdrehte die Augen. »Das wüsste ich. In der einen Minute war ich noch ganz ich selbst, und in der nächsten war Gabriel da und verlangte von mir, ich solle seine Gefährtin werden. Nicht, dass es mir etwas ausgemacht hätte, aber trotzdem. Oh, das ist Cy. Das bedeutet, dass Kostya auch ganz in der Nähe sein muss. Entschuldigt mich mal eben.«
»Ich habe einen Moment lang ganz vergessen, dass sie ein Doppelgänger ist«, sagte ich, als May durch den Saal auf die Frau zuging, die gerade hereingekommen war. Sie waren zwar unterschiedlich angezogen, und die andere Frau hatte längere Haare, aber ansonsten sahen sie aus wie eineiige Zwillinge.
»Cyrene ist mehr oder weniger die Gefährtin von Kostya«, sagte Aisling. »Es ist wirklich ein bisschen verwirrend, aber im Grunde hat er sie als Gefährtin akzeptiert, obwohl sie theoretisch nicht die Gefährtin eines Wyvern ist, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Nun, es bedeutet, dass sie zwar in den Augen des Weyr seine Gefährtin ist, aber nicht von einem anderen Wyvern weggenommen werden kann.«
»Du meinst gekidnappt?«, fragte ich verwirrt. Ich begriff nicht ganz, wieso das eine Bedeutung haben sollte.
»Nein, weggenommen im Sinne einer Herausforderung. Sagen wir mal, Bastian – das ist der gut aussehende Blonde rechts – möchte Cy als Gefährtin. Er kann jedoch Kostya nicht um sie herausfordern, weil sie theoretisch gar nicht die Gefährtin eines Wyvern ist. Er könnte aber ohne Weiteres Drake wegen mir oder Gabriel wegen May herausfordern, weil wir echte Gefährtinnen sind. Verstehst du?«
»Ich verstehe nur, dass es offensichtlich eine bizarre Regel auf dieser Welt gibt, die besagt, dass ein Mann einem anderen die Frau, äh … die Gefährtin stehlen kann.«
»Archaisch, was?« Aisling zuckte mit den Schultern. »So sind Drachen eben – sie sehen hip und modern aus, interessieren sich für neueste Technologien, wie Drake zum Beispiel, aber tief im Inneren leben sie immer noch im vierzehnten Jahrhundert.«
»Ihr Gefährtinnen solltet euch gewerkschaftlich organisieren«, schlug Jim vor und belegte den leeren Stuhl neben sich mit einem Speichelfaden. »Dann könntet ihr ein neues Gesetz durchbringen, das den Gefährtinnen-Tausch verbietet. Wenn sie sich weigern zu verhandeln, geht ihr einfach in Sex-Streik.«
Aisling blickte ihren Dämon verblüfft an. »Das ist gar keine so schlechte Idee«, befand sie.
»Wirklich?« Jim straffte sich. »Darf ich zugucken, wenn du Drake sagst, dass du dich von ihm nicht mehr nackt durchs Haus jagen lässt?«
»Du solltest doch eigentlich schlafen!« Aisling beugte sich über mich, um den Dämon in die Schulter zu zwicken. »Du kannst uns doch gar nicht gesehen haben!«
»Den Anblick stillender Titten, die auf und ab hüpfen, während du durchs Haus rennst, werde ich so schnell nicht vergessen«, erklärte Jim, wobei er zurückwich, damit Aisling nicht mehr an ihn herankam.
»Von jetzt an werde ich dich nachts ins Badezimmer sperren!«
»Du hattest Glück, dass Drake dir kein Auge ausgestochen hat mit seinem gigantischen …«
»Schweig!«, donnerte Aisling. Alle Anwesenden drehten sich nach ihr um.
Sie lächelte sie an, warf dann aber Jim einen Blick zu, der mir das Blut in den Adern hätte gefrieren lassen. »Achte nicht auf Jim, bitte«, sagte sie zu mir. »Er ist manchmal nicht ganz bei sich. Oh, sieh mal, da sind Chuan Ren und Jian. Chuan Ren ist der rote Wyvern. Sie hat ihre Leibwächter bei sich, aber ihren Gefährten Li sehe ich nicht. Jian ist ihr Adoptivsohn. Komm, ich stelle dich ihnen vor. Sie hasst mich, deshalb macht es immer Spaß, ihr Hallo zu sagen.«
Aislings Tonfall war fröhlich, als wir zu den Neuankömmlingen gingen, einer Gruppe von vier Asiaten, drei Männern und einer Frau. Die Frau hatte lange, glatte schwarze Haare und eine Figur wie ein Model. Zwei der Männer waren zwar relativ klein, aber kompakt gebaut; der dritte war groß und hätte ebenfalls als Model durchgehen können.
»Hallo, Chuan Ren. Hi, Jian, schön, dich wiederzusehen. Hi, Sying und Shing. Das ist …«
»Ysolde de Bouchier«, fiel die Frau namens Chuan Ren ihr ins Wort und blickte mich an. »Du bist also nicht tot, wie es geheißen hat. Zu schade.«
Sie drehte sich auf dem Absatz um und marschierte davon, gefolgt von ihren beiden Wachen.
»Ich sehe, sie hat mal wieder blendende Laune«, sagte Aisling zu dem roten Drachen, der stehen geblieben war.
Er verzog das Gesicht. »Chuan Ren hatte es nicht leicht in den letzten Wochen. Ihr Gefährte, Li, ist verschwunden.«
»Oh nein! Das tut mir aber leid! Tot kann er allerdings nicht sein«, sagte Aisling und blickte Chuan Ren hinterher, »das wüssten wir doch.«
»Woher denn?«, fragte ich.
»Wyvern können nach dem Verlust ihrer Gefährten nicht weiterleben«, sagte sie. Sie winkte dem Blonden, den sie Bastian genannt hatte. »Ich höre mir schnell mal den neuesten Klatsch über Fiat an, bevor es losgeht. Ysolde, es war mir ein Vergnügen, dich endlich kennenzulernen. Sag mir Bescheid, wenn du Hilfe brauchst. Ich weiß, wie schwer es manchmal sein kann, mit der Drachensippe klarzukommen.«
Sie ließ uns allein. Ich plauderte noch einen Moment höflich mit Jian und wollte gerade wieder zu meinem Stuhl zurückkehren, als ich plötzlich einen Mann in der Tür stehen sah, der mich aus seinen glühenden schwarzen Augen ansah.
»Kostya«, flüsterte ich.
Er nickte langsam und kam auf mich zu. »Es ist also wahr. Sie haben es gesagt, aber ich habe es nicht für möglich gehalten. Ich habe deine Leiche gesehen. Ich habe deinen abgetrennten Kopf gesehen.«
Ich fasste mir unwillkürlich an den Hals. Seine Worte machten mir eine Gänsehaut.
»Ich … ich weiß wirklich nicht, was ich zu jemandem sagen soll, der mir erklärt, er habe meinen abgetrennten Kopf gesehen«, gab ich zu. »›Hi‹ kommt mir ein bisschen unpassend vor.«
Ich hatte das Gefühl, er wollte mir die Zähne zeigen, aber er hielt sich im letzten Moment noch zurück. »Ein Wunder ist geschehen, Ysolde de Bouchier.«
»Tully Sullivan. Ich sollte es mir am besten auf die Stirn tätowieren lassen.«
»Ein Wunder ist geschehen, und jetzt ist die Zeit für dich gekommen, für alle Tode, für alles Leid zu bezahlen.«
»Punky! Da bist du ja!« Mays Zwilling tauchte neben Kostya auf und musterte mich. »Hi! Ich bin Cyrene. Du musst Ysolde sein. May hat mir alles über dich erzählt. Ich kann gut verstehen, dass du dein Gedächtnis verloren hast. Das hätte ich bestimmt auch, wenn ich mit Baltic zusammen gewesen wäre.«
»Freut mich, dich kennenzulernen«, sagte ich, ohne den Blick von Kostya zu wenden.
Er beugte sich vor und sagte leise: »Wenn es Gerechtigkeit auf der Welt gibt, dann wirst du so lange leiden, wie die schwarzen Drachen gelitten haben.«
»Kostya, ich dachte, Drake hätte dir gesagt, dass du Ysolde keine Angst einjagen sollst«, schalt Cyrene ihn. Sie ergriff ihn am Arm und zog ihn zum Tisch. »Ignoriere ihn einfach«, riet sie mir. »Er ist schlecht gelaunt, weil er heute Morgen seine Lieblingsfrühstücksflocken nicht bekommen hat.«
Er warf ihr einen bösen Blick zu. »Das hast du jetzt nicht wirklich gesagt! Allmächtiger, ich bin ein Wyvern! Du kannst doch den Leuten nicht erzählen, ich hätte schlechte Laune wegen meiner Frühstücksflocken!«
»Das musst du aushalten können, wenn du so einen Aufstand machst, nur weil wir kein Cap’n Crunch mehr haben«, erwiderte sie unbeeindruckt. Sein wütender Blick schien ihr nichts auszumachen. »Komm, ich glaube, sie warten auf uns.«
Kostya drehte sich ohne ein weiteres Wort um und stampfte zum Tisch. Cyrene begleitete ihn. Ich kehrte zu meinem Stuhl zurück und schaute interessiert zu, als sich die Wyvern am Tisch niederließen. Es standen nur noch fünf Stühle dort, und Gabriel, Drake und Kostya stellten betont einen weiteren Stuhl neben ihren, bevor sie sich setzten. Die Leibwächter und die anderen Drachen in ihrem Gefolge setzten sich auf die Stühle an der Wand.
Jim warf mir einen Blick zu, aber da er zum Schweigen verdonnert war, sagte er nichts. Ich war dankbar dafür, denn so konnte ich Ordnung in meinen geistigen Aufruhr bringen, während die Drachen mit ihrer Sitzung begannen.
»Kostya Fekete«, sagte der blaue Wyvern namens Bastian. »Du hast diesen sárkány einberufen wegen der schwarzen Drachen. Erkläre dein Anliegen.«
Ich blickte auf.
Kostya erhob sich von seinem Platz und wandte sich an alle anwesenden Wyvern. »Ich möchte Wiedergutmachung. Die Gefährtin von Baltic ist wieder aufgetaucht, und die schwarzen Drachen verlangen, dass sie für die Verbrechen, die gegen den Weyr begangen wurden, zur Verantwortung gezogen wird.«
»Was?«, fragte ich und stand auf. Kostyas Forderung machte mich so fassungslos, dass ich vergaß, dass May mir eingeschärft hatte, erst dann das Wort zu ergreifen, wenn ich dazu aufgefordert wurde. »Das ist doch lächerlich!«
Bastian blickte mich stirnrunzelnd an. »Du bist vom Weyr noch nicht anerkannt worden. Bitte bleib …«
»Ich werde nicht schweigen!« Wütend stürmte ich zum Tisch. »Vor allem nicht, wenn ihr mir etwas vorwerft, was ich nicht getan habe.«
»Du bist Baltics Gefährtin«, knurrte Kostya. »Nach den Gesetzen des Weyr bist du für seine Handlungen genauso verantwortlich wie er selbst.«
»Ich bin nicht seine Gefährtin. Ich bin noch nicht einmal ein Drache! Ich bin ein Mensch! Das müsst ihr doch wohl erkennen!«
Die Wyvern wechselten Blicke.
»Siehst du? Niemand streitet es ab, weil es wahr ist. Ich bin ein Mensch.«
»Du scheinst menschlich zu sein, ja«, sagte Drake. Er hatte einen osteuropäischen Akzent. »Aber Gabriels Mutter hat uns versichert, dass das Drachenwesen in dir nur darauf wartet, von dir erweckt zu werden.«
»Selbst wenn das stimmen sollte, so gibt euch das noch lange nicht das Recht, mich wegen eines Verbrechens anzuklagen, das ich nicht begangen habe! Seht ihr denn alle kein CSI? Das ist absolut illegal!«
Kostyas Miene wurde noch finsterer. »Du bist seine Gefährtin. Und solange du ihn nicht vor dieses Gericht bringst, wirst du für seine Verbrechen bezahlen.«
»Was für Verbrechen eigentlich? Der Krieg mit den silbernen Drachen, bei dem deine Sippe ausgelöscht wurde, wie Gabriel gesagt hat?« Ich schnaubte verächtlich. »Wenn meine Träume tatsächlich die Vergangenheit widerspiegeln, dann warst du ein Teil dieser Sippe, was bedeutet, dass du auch an dem Krieg beteiligt warst. Wie viele silbernen Drachen hast du denn auf dem Gewissen, Kostya?«
Er stieß leise einen äußerst ungehörigen Fluch aus. »Hier geht es nicht um das, was ich getan habe. Ich habe meinen Frieden mit dem Weyr gemacht.«
»Ach ja?« Ich war so wütend, dass ich etwas tat, was ich sonst nie tat – ich machte eine Szene. Ich sprang auf den Konferenztisch und stampfte ihn entlang, bis ich vor Kostya stand. »Du hast doch Baltic in allem unterstützt! In allem! Jeder Furz von ihm wurde von dir hochgejubelt!«
Kostya sprang grollend auf. »Das ist nicht wahr!«
»Wissen deine Freunde hier eigentlich, was du für ein Arschkriecher warst? Wissen sie, dass du wie ein Hündchen hinter ihm hergerannt bist und alles getan hast, was er verlangte?«
»Meine Vergangenheit hat nichts mit …«
»Wissen sie, dass du zugelassen hast, dass Baltic mir ein Schwert an die Kehle gehalten und gedroht hat, mich zu töten, weil ich als silberner Drache geboren wurde?« Meine Stimme hallte durch den Saal.
Es war totenstill.
»Äh …« Ich räusperte mich, als mir klar wurde, was ich gerade gesagt hatte. »Vorausgesetzt natürlich, dass ich tatsächlich die bin, für die alle mich halten, was ich ja immer noch für äußerst unwahrscheinlich halte.«
Kostya schrie wütend: »Ich bin für Baltics Handlungen nicht verantwortlich! Ich konnte ihn in Schach halten, bis er dich rettete. Damals war er nur unausgeglichen, aber als du dich mit Constantine von Norka gegen ihn verbündet hast, lief er völlig aus dem Ruder.«
»Was habe ich getan?«, fragte ich verwirrt.
»Ich hätte ihn vielleicht noch zur Vernunft bringen können, wenn du nicht gewesen wärst!«, beschuldigte Kostya mich. »Er begehrte dich. Er wollte dich, obwohl du ein silberner Drache warst.«
»Darf Kostya uns so beleidigen?«, fragte May Gabriel. »Ich habe meinen Dolch dabei. Ich könnte ihn ein bisschen damit piksen.«
Cyrene warf ihrem Zwilling einen empörten Blick zu.
»Später vielleicht«, sagte Gabriel zu May.
»Aber du hast ihn abgewiesen und dich stattdessen an Constantine von Norka gebunden!« Kostyas Gesicht war rot vor Zorn. »Baltic war außer sich, und sein Wahnsinn kannte keine Grenzen mehr.«
»Ich weiß wirklich nicht, wovon du redest«, sagte ich. Mein Zorn verrauchte. Ich blickte auf die Drachen, die um den Tisch versammelt waren, und plötzlich war mir mein Auftritt peinlich. »Entschuldigung, kann ich … danke«, sagte ich, als Bastian aufstand und mir eine Hand reichte, um mir vom Tisch zu helfen.
»Du kannst nicht leugnen, was in der Vergangenheit passiert ist«, sagte Kostya trotzig.
»Das würde mir auch im Traum nicht einfallen. Aber ich bin in meinen Visionen noch nicht bis zu diesem Verrat gelangt. Irgendwann wird das wahrscheinlich der Fall sein, aber ich muss zugeben, dass es mir schwerfällt, das zu glauben.«
»Kostya, lass doch die alte Geschichte«, sagte Drake. »Die Schuld für den Endlosen Krieg ist schon vor langer Zeit festgestellt worden. Dieses Verbrechen kannst du Ysolde nicht zur Last legen.«
»Wenn sie nicht gewesen wäre, hätte es auch keinen Endlosen Krieg gegeben!«, erklärte Kostya.
»Ich dachte, Chuan Ren hätte den Krieg begonnen?«, fragte Aisling ihren Mann.
Chuan Ren kniff die Augen zusammen und bewegte stumm die Lippen, als spräche sie einen Fluch aus.
Rasch zog Aisling Schutzzauber um sich und Drake.
»Kaawa hat gesagt, Ysolde habe versucht den Krieg zu beenden, indem sie die Drachenscherben wieder zum Drachenherz zusammengesetzt hat«, warf May in die Debatte. »Das hätte sie wohl kaum getan, wenn sie für den Krieg verantwortlich gewesen wäre.«
»Das war erst später, nachdem ihr klar geworden war, was sie angerichtet hatte«, sagte Kostya eigensinnig.
»Weißt du, nicht einmal ich finde, dass deine Aussagen einen Sinn ergeben«, befand Cyrene und sah ihn an. »Ernsthaft, Punky, ich glaube, wir müssen mal ein paar Kurse in Wut-Management belegen. Du musst lernen loszulassen und weiterzugehen.«
»Die schwarzen Drachen …«, setzte er an.
»Sind nicht der Grund, warum Ysolde vor den sárkány gerufen wurde«, unterbrach Drake ihn mit fester Stimme.
»Was für ein Verbrechen hat Baltic eigentlich begangen? Und warum seid ihr alle so wild darauf, mich dafür zu bestrafen?«, fragte ich. Plötzlich fühlte ich mich müde und leer.
Drake blickte mich an. In seinen Augen stand unendliche Trauer. »Baltic ist für den Tod von achtundsechzig blauen Drachen vor zwei Monaten verantwortlich.«