Zum Erntedankfest geht man in die Kirche. Das hatte Kluftinger immer so gehalten und daran würde auch sein gespanntes Verhältnis zum Pfarrer nichts ändern. Den Besuch der sterbenslangweiligen Zeremonien des Geistlichen betrachtete er als sein Opfer, das ihm später, »droben«, wie er sich ausdrückte, das eine oder andere Jahrtausend Fegefeuer ersparen würde. Heute war sein Opfer gleich doppelt groß, denn er besuchte die Frühmesse um sieben, weil der heilige Sonntag für ihn heute ein ganz normaler Arbeitstag war. Den Erntedankaltar hatte der Pfarrer aber doch ganz ordentlich hingekriegt, urteilte er während des Gottesdienstes gönnerhaft und freute sich gleichzeitig darüber, dass er trotz des Streits den Pfarrer so großherzig loben konnte. Das hätte der umgekehrt sicher nicht fertig gebracht.

***

Er hatte kaum die Bürotür geschlossen, da stürmte schon sein Chef Dietmar Lodenbacher hinter ihm herein. Kluftinger wunderte sich zunächst, dass der Direktionsleiter am Feiertag ebenfalls im Dienst zu sein schien, doch ein Blick auf seine Kleidung zeigte ihm, dass es nur ein kurzer Abstecher sein konnte: Lodenbachers Beine steckten in grobkarierten Knickerbocker-Hosen, dazu trug er Kniestrümpfe und weiße Lederslipper sowie ein farblich abgestimmtes Tweedsakko. Seinen Kopf zierte eine beige Schirmmütze. In dieser Aufmachung hätte er gut in einen Gangsterfilm über Al Capone gepasst, fand Kluftinger.

»Do deafan S’ ned so gnau hischaung«, begann Lodenbacher, als er den skeptischen Blick des Kommissars registrierte. »Mia homm heid a Nostalgie-Goifturnier. Motto: Gauner und Ganoven. Des passt – wos moanan S’?« Er lachte kurz und laut auf, dann wurde er schlagartig wieder ernst. »I bin bloß vorbeikemma, dass i Eahna sog, dass mia den Soock jetzt nacha zuamocha kenna.«

Kluftinger verstand, was Lodenbacher ihm mitteilen wollte, aber in der Aufmachung genoss er in seinen Augen nur wenig Autorität. Noch weniger als sonst jedenfalls.

Ein paar Minuten später, in denen Lodenbacher ihn darauf einschwor, jetzt endlich »Neegl mit Kepf z’mocha«, Brentano endlich ein Geständnis zu entlocken und damit die Sache endgültig zum Ende zu bringen, verließ er das Büro wieder, und Kluftinger verabschiedete ihn mit einem »Golf Heil«, weil er nicht wusste, was er seinem Chef sonst hätte wünschen sollen. Das heißt: Gewusst hätte er es schon, aber »Gute Besserung« hätte der wahrscheinlich nicht besonders komisch gefunden.

Nacheinander trudelten auch seine Kollegen ein, jeder mit dem gleichen ungläubigen Blick und Sätzen wie »Habt ihr g’rad den Lodenbacher gesehen?« auf den Lippen. Als Kluftinger ihnen mit dem Ausspruch »Wird ma fertig, kut ma hoim« signalisierte, dass sie um so mehr von ihrem Sonntag haben würden, je schneller sie heute fertig werden würden, wurden sie wieder ernst.

»Lies dir doch mal die Sage mit dem Dengelstein noch mal durch«, bat Maier seinen Chef. »Ich finde, da sind einige Parallelen drin zu dem Gedicht. Wegen der Sense. Ich hab auch ein paar interessante Fakten drumrum gefunden. Wusstest du zum Beispiel, dass der von den Germanen als Kult- und Gerichtsstätte benutzt worden ist?«

Kluftinger war sich zwar nicht sicher, ob sie das wirklich weiterbringen würde, aber er wollte zumindest einmal einen Blick riskieren.

»Wo steht die?«, fragte er.

»Vier, sieben, drittens, zwölf«, antwortete Maier.

Kluftinger verstand nur Bahnhof.

»Hä?«

»Vier, sieben, drittens, zwölf«, wiederholte Maier.

»Ja ja, gehört hab ich’s schon, nur kapiert hab ich’s nicht.«

»Ich hab doch so ein altes Sagenbuch in so schwierig lesbarer Frakturschrift … «

»So?«, fragte Kluftinger scheinheilig und ein wenig schuldbewusst.

» … und das ist so komisch unterteilt. Und die Sage, die ich meine, steht im vierten Buch, Kapitel sieben, dritte Sage auf Seite zwölf.«

»Das hättest ja auch … «

Kluftinger stockte mitten im Satz. Sein Mund blieb offen stehen und seine Augenlider schlossen sich. Ein paar Sekunden blieb er wie erstarrt stehen, dann begann er zu fluchen: »Himmelherrgott! Ja, Bluatsakrament, des gibt’s doch gar nicht!«

Ratlos sahen ihn seine drei Kollegen an. Maier blickte etwas ängstlich drein, denn ihn beschlich das ungute Gefühl, dass er Ursache für den plötzlichen Wutausbruch des Kommissars sein könnte.

Kluftinger lief um seinen Schreibtisch herum, riss eine Schublade auf, wühlte dutzende Zettel hervor, warf sie auf den Schreibtisch, legte sie wieder zurück, fluchte, riss die nächste Schublade auf, bis … »Ich hab’s!«

»Was hast du?«, fragte Strobl und sah seinen Chef gespannt an. Kluftinger wedelte mit einem Zettel vor ihren Gesichtern herum.

»Die Zahlen. Ich hab mir die doch extra nochmal notiert, damit ich sie schnell zur Hand habe. Die Kombination! Herrschaft, versteht ihr denn nicht?«

Langsam dämmerte es auch den anderen.

»Na klar, das sind … «

»Sagen!«, beendete Kluftinger Strobls Satz.

»Wir hatten es die ganze Zeit vor uns und haben es nicht gesehen. Herrschaft, wie vernagelt kann man eigentlich sein?«

»Richard, hol mal dein Sagenbuch, schnell.«

Während Maier in sein Büro rannte, überlegte der Kommissar, ob ihm dieser Zusammenhang aufgefallen wäre, wenn er das Büchlein, das er zuerst gehabt hatte, nicht gegen das von Maier eingetauscht hätte. Vielleicht war das auch eine Art ausgleichende, göttliche Gerechtigkeit.

»Hier!« Maier warf ihm das Buch von der Tür aus zu und Kluftinger vergaß sein schlechtes Gewissen sofort wieder.

»Also, jetzt lasst mal sehen: Bei der Heiligenfeld hab ich mir die Zahlenkombination III/2:4. (32) notiert. Also Buch drei, Kapitel zwei, vierte Sage auf Seite 32, das wäre in diesem Buch … «

Die anderen hielten den Atem an, während der Kommissar blätterte. Als das Rascheln aufhörte, hob er den Kopf, blickte sie an und sagte: »Die Zwölf Knaben. Treffer!«

Ein paar Sekunden war es still. Dann schlug Hefele vor: »Probier’s jetzt mal mit der vom Sutter.«

Kluftinger las wieder vor: »Also, das wäre dann fünftes Buch, siebtes Ka … « Er stockte.

»Was ist, wieder was gefunden?«, fragte Maier ungeduldig.

»Nein, nix. Diese Zusammenstellung hört bei Buch vier auf.« Die anderen ließen sich enttäuscht in die Sessel zurückfallen.

»Kruzinesen. Also nix?«

Der Kommissar schüttelte den Kopf. »Nicht ganz. Es geht eigentlich schon weiter. Aber die haben den ganzen Wälzer offenbar in mehrere Publikationen getrennt.«

»Dann besorgen wir uns eben die anderen«, sagte Maier voller Tatendrang.

»Am Sonntag?«, versetzte Strobl mit einem verächtlichen Grinsen.

»Auch wieder wahr.«

Die Männer schienen einen kurzen Augenblick ratlos zu sein, dann ergriff Kluftinger die Initiative: »Also, ich werd das jetzt mal den Kollegen mitteilen, die Brentano gerade verhören. Ihr bringt bitte in Erfahrung, ob die, die seine Wohnung durchsucht haben, ein Buch gefunden haben, das zu den Zahlen passt. Wär doch gelacht, wenn uns das nicht weiter bringt. In einer halben Stunde treffen wir uns hier wieder. Alles klar?«

***

Dreißig Minuten später fanden sich die Kollegen mit enttäuschten Gesichtern wieder im Büro ihres Chefs ein. Die Beamten beim Verhör hatten auch mit dieser Information nichts aus Heinz Brentano herausbekommen; ebenso wenig war in seiner Wohnung passende Literatur aufgetaucht. Der Kollege, der bei der Durchsuchung vor Ort gewesen war, hatte sogar gesagt: »So was ist mir noch nie unter gekommen. Der hat, vom Telefonbuch einmal abgesehen, nicht ein einziges Buch daheim stehen.«

»Schade eigentlich«, fand Maier. »Aber ist das denn so wichtig?«

Eine berechtigte Frage, dachte der Kommissar, er hatte sie sich ebenfalls gestellt und bereits bejaht.

»Solange Brentano schweigt«, sagte er, »müssen wir uns unsere Informationen eben selbst zusammensuchen. Und wenn der Mörder einen Zahlencode hinterlassen hat, den wir jetzt entschlüsseln können, dann sollten wir das auch tun. Wer weiß, wohin uns das noch führt.«

Maier nickte und auch die Umstehenden signalisierten Zustimmung.

»Also gut. Richard und Roland, ihr schaut mal, ob ihr jemand von der Stadtbücherei erreicht. Oder den Stadtarchivar. Eugen, wir fahren noch mal nach Kaisersmad, vielleicht hat die Urban da was auf Lager. Wer zuerst was findet, ruft die anderen an. Bis später, meine Herren.«

***

»Jetzt hab dich doch nicht so, der tut nix.« Ungeduldig sah Kluftinger auf seine Armbanduhr. Dann blätterte er geschäftig in einem kleinen Block, als ob er etwas suchen würde. »Wenn du vielleicht heute noch klingeln würdest? Oder möchtest du den Sonntag lieber im Auto verbringen?«

Als sie vor dem Haus von Frau Urban angekommen waren, hatte wie beim letzten Mal Tyras, der Dobermann, gleich neben der Türe gelegen und auch Strobl, der ihn zum ersten Mal sah, gehörigen Respekt eingejagt. Kluftinger hatte, schon bevor sie in den Hof eingebogen waren, seinem Kollegen aufgetragen, »gleich mal zu klingeln«, schließlich wolle man ja keine Zeit verlieren, heute am Feiertag. Strobl hatte erst genickt, war sich beim Anblick des riesigen Vierbeiners aber plötzlich nicht mehr ganz so sicher, ob er den Schutz des Wagens preisgeben wollte.

»Herrschaft, ich müsst’s doch wissen. Der tut wirklich nix«, drängte Kluftinger seinen Kollegen und sah ihm dann mit Spannung, in die sich ein bisschen Schadenfreude mischte, zu, wie er sich, den Hund immer im Blick, langsam auf die Haustür zu bewegte.

Kluftinger war beinahe enttäuscht, denn es passierte gar nichts. Es wäre bestimmt amüsant gewesen, zu sehen, was Strobl wohl getan hätte, hätte der Hund sich bewegt oder wäre gar auf ihn zugelaufen. Aber der machte keinen Mucks. Strobl zog an der Klingel und winkte dem Kommissar, doch endlich auch auszusteigen.

Just in dem Moment, in dem der Kommissar die Türe ins Schloss fallen ließ, stellten sich die Ohren des Dobermanns auf und er hob seinen Kopf. Als er auf die Haustür zuging, sprang das Tier plötzlich auf und stürzte mit gefährlich klingendem Gebell auf Kluftinger zu. Der blieb sofort wie angewurzelt stehen und wurde kreidebleich. Bis in die Zehenspitzen spürte er den Adrenalinstoß, der durch seinen Körper jagte. Doch etwa zwei Meter vor ihm machte der Hund plötzlich Halt, setzte sich hin und starrte den Kommissar wieder nur an. Schweißperlen bedeckten Kluftingers Stirn, seine Augen waren weit aufgerissen.

»Keine Angst, der tut nix«, rief ihm Strobl von der Haustür aus zu und konnte dabei nunmehr seine Schadenfreude nicht verbergen.

Dann hörten sie, wie im Innern die Dielen knarzten und jemand einen Schlüssel in der Türe drehte. Kluftinger wischte sich den Schweiß von der Stirn, stellte sich neben Strobl und versuchte zu lächeln. Als die Tür sich geöffnet hatte, erstarb dieses Lächeln gleich wieder: Vor ihnen stand Richter Günter Hartmann. Der Hartmann, der vorgestern erst bei ihnen gewesen war und sie auf Brentanos Spur gebracht hatte.

»Aber … wie?« Kluftinger war sprachlos. Die Gedanken in seinem Kopf überschlugen sich.

»Guten Tag, meine Herren. Na, selbst am heiligen Sonntag im Dienst? Haben Sie noch irgendwelche Fragen?«, begann der Richter, der im Gegensatz zu den Polizeibeamten über den Besuch nur wenig überrascht schien.

Kluftinger war noch immer sprachlos, deswegen ergriff Strobl das Wort.

»Was machen Sie denn hier?«

»Ich? Na: wohnen!«

Jetzt hatte auch Kluftinger seine Sprache wieder gefunden.

»Also, grüß Gott Herr Hartmann. Wir sind nur etwas überrascht. Wir wollten eigentlich gar nicht zu Ihnen … «

»Ach so, entschuldigen Sie. Dann wollten Sie zu meiner Frau? Bitte, kommen Sie doch herein.«

Hartmann trat einen Schritt zur Seite, um den Beamten Platz zu machen.

Hatte er gerade »meine Frau« gesagt?

»Ist Frau Urban etwa … ich meine … «, stammelte Kluftinger.

Jetzt verstand der Richter. »Ach so. Ja ja, das ist meine Frau. Hier.«

Er zeigte auf das kleine Schildchen, das unterhalb des Klingelgriffes angebracht war. Tatsächlich, da stand es: Hiltrud und Günter Urban-Hartmann.

Kluftinger wusste noch immer nicht, wie er diese Information bewerten sollte. Eine dumpfe Ahnung machte sich in ihm breit, allerdings noch so diffus, dass er mit dem Gefühl nichts anfangen konnte.

»Wissen Sie«, versuchte der Richter seine Verwirrung aufzulösen, »wir haben uns zwar seinerzeit für den Doppelnamen entschieden. Aber mal ehrlich: Urban-Hartmann, das klingt nicht gerade berauschend. Na, und so verwenden wir meist nur unsere Geburtsnamen. Außer, es wird ganz offiziell. Das machen viele so.«

Das stimmte. Kluftinger hatte sogar ein Beispiel dafür in seiner Abteilung: Hefele hieß eigentlich Hefele-Beitlich, aber so nannte ihn keiner, nicht einmal er sich selbst. Auch nicht vor seiner Scheidung. Dennoch irritierte ihn das Auftauchen des Richters unter diesen Umständen dermaßen, dass er sich immer noch nicht ganz gefangen hatte.

Hartmann war inzwischen vorausgegangen, hinter ihm die zwei Polizisten und zum Schluss trottete auch noch der Hund ins Haus.

»Was hältst du davon?«, zischte Kluftinger seinem Kollegen ins Ohr, als sie durch den dunklen Hausflur gingen.

»Von ihm?«, flüsterte Strobl. »Ich weiß auch nicht, irgendwie komisch. Ich meine, dass er letztes Mal nichts gesagt hat.«

»Ganz komisch. Ich … «

»Bitte, meine Herren«, unterbrach der Richter das Getuschel der Beamten und hielt die Tür zum Wohnzimmer auf. Dort saß Frau Urban am Tisch und sah sie an. Kluftinger fiel auf, dass sie kein Buch vor sich liegen hatte, keine Zeitschrift, kein Nähzeug oder dergleichen. Sie saß einfach nur da.

»Guten Tag, Frau Urban. Ich hoffe, wir stören Sie nicht allzu sehr am Sonntag.«

»Was gibt es denn?«, wollte sie wissen, ohne die eben geäußerte Befürchtung des Kommissars mit einer Höflichkeitsfloskel zu zerstreuen.

»Wir haben eine wichtige Frage.«

Der Richter stellte sich hinter seine Frau und legte ihr die Hände auf die Schultern. Neben ihnen nahm auch der Hund Platz. Alle drei starrten die Polizisten an. Sie wirkten wie ein Gemälde von Otto Dix.

»Es geht um Ihre Sagenbücher. Haben Sie zufällig eines, das nach diesem Muster aufgeteilt ist? Ein altes?«

Kluftinger kramte in seinen Taschen nach dem Zettel mit den Zahlenkombinationen, fand ihn schließlich reichlich zerknüllt in seiner Gesäßtasche, legte ihn vor ihr auf den Tisch und strich ihn etwas glatt.

»Nein«, kam es wie aus der Pistole geschossen von Hiltrud Urban.

Kluftinger hatte erwartet, dass sie etwas länger nachdenken, den Zettel vielleicht in die Hand nehmen würde oder dergleichen. Irritiert blickte er zu Strobl.

»Wollen Sie nicht einmal nachsehen?«, fragte der.

»Hören Sie, Herr Klöpferer … «

Kluftinger verzichtete darauf, sie erneut zu korrigieren.

»Ich kenne meine Bücher sehr genau. Ich habe sie jahrelang studiert. Ich habe kein solches Werk in meinem Haus.«

Kluftinger ließ nicht locker: »Können Sie uns vielleicht wenigstens sagen, aus welchem … «

In diesem Moment klingelte sein Handy. Sofort fletschte der Hund die Zähne und begann bedrohlich zu knurren. Kluftinger lief rot an. Er hatte vergessen, es auszuschalten, als sie ins Haus gegangen waren.

»Ich habe Sie doch schon das letzte Mal gebeten, Ihr Telefon abzustellen«, tadelte ihn Frau Urban und wieder kam er sich vor wie einst als Schüler, wenn seine Lehrerin Frau Höppner ihn wegen schludrig erledigter Hausaufgaben gemaßregelt hatte. Wie sie presste Frau Urban die Lippen so fest aufeinander, dass sie ganz weiß wurden.

»Es … tut mir Leid, ich … ich hab’s gleich«, stotterte der Kommissar und durchsuchte hektisch seine Taschen. Als er das Telefon schließlich in der Hand hielt und es gerade ausschalten wollte, stutzte er. Auf dem Display leuchtete die Nummer seines Chefs Dietmar Lodenbacher auf. Sollte der nicht eigentlich beim Golfturnier sein?

Auch wenn das die Stimmung nicht gerade verbessern würde, entschloss sich Kluftinger, das Gespräch entgegenzunehmen.

»Hallo?«

»Herr Kluftinger, Gott sei Dank. Bitte, Sie müssen sofort kommen.«

Er braucht einen Moment, um die Stimme zu identifizieren. Es war nicht die seines Vorgesetzten, wie er erwartet hatte. Außerdem klang sie seltsam gebrochen, irgendwie atemlos. Kein Zweifel: Es war die Stimme des Staatsanwalts Dieter Möbius.

»Herr Möbius, was ist los? Was gibt es?«

»Bitte Herr Kluftinger, kommen Sie sofort ins Büro. Es ist etwas … etwas Fürchterliches passiert.«

Kluftinger schluckte. Möbius kämpfte hörbar mit den Tränen.

»Ich bin sofort da«, antwortete er deshalb kurz entschlossen.

Als er das Handy wieder in seine Jacke gleiten ließ, blickte er in vier fragende Gesichter. Sogar der Hund schien das Gespräch aufmerksam verfolgt zu haben.

»Wir müssen leider sofort gehen. Entschuldigen Sie die Störung.«

Dann nickte er Strobl zu, machte auf dem Absatz kehrt und eilte zur Tür.

Als er den Wagen wendete, bemerkte der Kommissar, dass das Richterehepaar nicht an die Tür gekommen war, die noch immer offen stand. Dann gab er Gas.

»Vorsicht!«, schrie Strobl im selben Moment aus vollem Hals, aber Kluftinger hatte schon reagiert. Mit einem Knirschen fraßen sich die Reifen in den Kies.

»Kreuzkruzifix, des war knapp!«, keuchte Kluftinger.

Ein weißer Ford Escort Kastenwagen war in dem Moment auf den Hof eingebogen, in dem sie hinausfahren wollten. Die Autos waren nur wenige Meter voneinander entfernt zum Stehen gekommen. Trotzdem konnte Kluftinger den Fahrer des anderen PKW nicht identifizieren. Die Sonne schien direkt auf dessen Windschutzscheibe und blendete ihn. Dennoch meinte er, die schemenhafte Gestalt hinter dem Steuer zu kennen.

»Wer war jetzt des?«, fragte der Kommissar, als sie schließlich auf der Straße mit weit mehr als hundertfünfzig Sachen und einem Magnet-Blaulicht auf dem Dach in Richtung Kempten rasten.

»Vielleicht der Sohn. Vom Alter her könnt’s hinkommen«, vermutete Strobl.

»Irgendwoher kenn ich den. Ich … «

»Würdest du mir jetzt vielleicht mal sagen, warum wir hier so durch die Gegend rasen?«, unterbrach Strobl seinen Gedankengang.

»Wenn ich das bloß wüsste, Eugen. Wenn ich das bloß wüsste … «

***

In seinem Büro bot sich Kluftinger ein seltsames Bild: Staatsanwalt Möbius saß vor dem Schreibtisch, den Kopf hatte er in die Hände gestützt. Er schluchzte leise, während Sandra Henske, die hinter ihm stand, ihm tröstend über den Kopf strich. Lodenbacher stand in einer Ecke des Raumes und machte ein betroffenes Gesicht. Er schien sehr nervös. Als er Kluftinger und Strobl sah, lief er ihnen aufgeregt entgegen.

»Kluftinga, stoin S’ Eahna voar, da Bruada ist vaschwundn und jetzt hod sei Frau den Briaf gfundn. Jetzt miass ma wos dua. Homm S’ wos rausgfundn?«, sprudelte er in tiefstem Niederbayerisch hervor. Kluftinger wurde aus den spärlichen Informationen seines Chefs nicht schlau. Er bat ihn, den Sachverhalt in Ruhe darzulegen.

Lodenbacher atmete ein paar Mal tief durch und setzte dann erneut an: Herr Möbius habe heute Morgen einen Anruf von seiner Schwägerin bekommen. Sie sei in Sorge gewesen, weil ihr Mann nicht vom Joggen zurückgekommen war. Also habe sie ihren Schwager angerufen und zusammen hätten sie ihn gesucht – ohne Ergebnis.

»Dieter ist die ganze Strecke abgelaufen: nischt!«, schaltete sich nun Sandy ein. »Er hat aber das Fahrrad seines Bruders im Graben gefunden, stellen Sie sich vor!«

Lodenbacher überließ ihr kommentarlos das Wort. »Und zu Hause ham sie den Brief hier gefunden – is das nich schrecklisch?«

Sandy reichte Kluftinger ein Blatt Papier. Eine dunkle Ahnung stieg in dem Kommissar auf. Und tatsächlich, der Brief sah sehr vertraut aus: oben stand eine Zahlenkombination, darunter das Brentano-Gedicht, diesmal die ersten drei Strophen.

Er ging um seinen Schreibtisch herum und setzte sich.

»Damit hat sich Brentano als Täter wohl gerade eben erledigt«, sagte er leise.

»Sunst homm S’ koane Sorgn? Mia miassn den Vermisstn findn!«, warf Lodenbacher hysterisch ein. Auch Sandy sah ihn herausfordernd an. Nur Dr. Möbius saß noch immer teilnahmslos und zusammengesunken vor ihm.

»Ich weiß Herr Lodenbacher, ich weiß! Eins nach dem anderen!«, brummte Kluftinger zurück. Er wusste, dass für manche Menschen seine Gelassenheit in bestimmten Momenten geradezu als Provokation erschien, aber in verzwickten Situationen war es wichtig, die Ruhe zu bewahren. Er griff zum Telefon und wählte die Nummer von Hefeles Handy.

»Kluftinger. Du, habt ihr das Buch bekommen? … Ja? … Und die Nummern stimmen überein? … Bestens, wo seid ihr jetzt? … Fünf Minuten, ok, aber beeilt euch bitte!«

Kluftinger legte den Hörer auf und wandte sich an Möbius: »Herr … Herr Dr. Möbius, ich brauche jetzt Ihre Mithilfe, hören Sie? Es ist wichtig, dass Sie stark sind … für Ihren Bruder.«

Kluftinger tat sich mit derart emotional aufgeladenen Situationen immer schwer, aber er fand, dass er es diesmal ganz gut hingekriegt hatte.

Möbius hob zum ersten Mal, seit der Kommissar das Zimmer betreten hatte, den Kopf.

»In fünf Minuten werden wir wissen, auf welche Sage die Zahlen auf dem Brief an Ihren Bruder verweisen. Die Kollegen haben es gerade bekommen. Das bringt uns bestimmt weiter.«

»Ausgerechnet Horst … «, stammelte der Staatsanwalt, dessen Augen rot und geschwollen waren. Er hatte offensichtlich geweint.

Horst war offenbar der Name des Vermissten. Für ihn ging es nun ums blanke Überleben, das war Kluftinger klar. Wenn er nicht längst vom »Sensenmann« geholt worden war. Dem Kommissar wurde für einen Moment ganz schwummrig, als er sich das schlimmste aller möglichen Szenarien ausmalte.

»Herr Dr. Möbius, gibt es etwas in der Vergangenheit Ihres Bruders, das … das ein solches Verbrechen … verstehen Sie mich richtig … in der verqueren Sicht des Mörders … rechtfertigen könnte?«

Möbius schüttelte den Kopf.

»Wir wissen noch nicht, auf welche Sage der Brief hinweist, es ist aber sehr wahrscheinlich, dass es wieder darum geht, Rache zu üben oder einer vermeintlichen Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen. Versuchen Sie sich zu erinnern, Herr Möbius – auch eine Kleinigkeit kann wichtig sein.«

»Ich wüsste wirklich nichts.«

»Es muss aber etwas geben. Vielleicht sollten wir Ihre Schwägerin … «

»Bloß nicht … dazu ist sie im Moment nicht in der Lage«, wandte Möbius ein, der nun etwas an Fassung zurückgewonnen hatte.

»Zwoa Kollegn san scho drauss bei iahra, wenn se da Mörda … da Entfüahra doch no moidn daat«, flüsterte Lodenbacher dem Kommissar ins Ohr.

In diesem Moment wurde die Türe schwungvoll aufgestoßen und Maier und Hefele stürmten herein.

»Was gibt’s denn? Wir haben uns extra beeilt! Der Stadtarchivar war so nett und ist ge … «, sagte Maier und brach abrupt ab, als er sich der seltsamen Besetzung im Büro bewusst wurde. Hefele warf einen eifersüchtigen Blick auf Sandy und den Staatsanwalt, hielt sich aber mit einer Bemerkung zurück, als er dessen Verfassung sah.

Kluftinger ließ sich sofort die Bücher geben. Es waren kleine, dünne Heftchen, gut und gerne achtzig Jahre alt, schätzte Kluftinger. Die Umschläge zierte ein Holzschnitt, der zwei Kinder und eine Fee beim Beerenpflücken zeigte. Unter der Oberfläche aber, auf der sich diese idyllische Szene abspielte, lauerten drohend Hunde und Drachen. Ein Bild, das sehr gut zu diesem Fall passte, fand Kluftinger.

Er nahm den Brief, den Möbius’ Bruder bekommen hatte, und las flüsternd vor: »II/5:9.(57)«. Er suchte sich das zweite der acht Hefte heraus, schlug das fünfte Kapitel auf und fand auf Seite 57 die neunte Sage, die den Titel »Der Tuffstein zu Oberthingau« trug. Er stutzte kurz, weil die Sage in Frakturschrift geschrieben war, und begann dann in gedämpftem Ton zu lesen. Atemlos lauschten die Umstehenden seinen Worten:

»Im Jahr des Herrn 1654 geschah es, daß einmal des Nachts bei dem Bauern Johann Freh in Oberthingan ein fremder alter Pilgersmann Einkehr hielt und diesen aufforderte, im Vorzeichen der Pfarrkirche einen Ölberg zu errichten. Zu diesem Ende soll er zum Müller in der nahen Eschenau gehen und von demselben den Tuffstein, der am Hange oberhalb der Mühle sei, zu kaufen begehren. Der Bauer tat dem so; allein der Müller zeigte sich nicht willfährig und wies ihn, so oft jener auch während der nächsten drei Jahre sein Begehren wiederholten mochte, stets barsch ab, ja verhöhnte und verlachte ihn sogar wegen seines frommen Vorhabens. Er hülfe nicht und wolle den Stein zu seinem eigenen Zwecke, daß er ihm Ehr verschaffe. Da erklärte der stets vergeblich Bittende endlich dem Müller, wenn er auf seinem Eigentume weiterhin beharre, seine Hilfe versage und nur seinen eigenen ehrgeizigen Willen sehe, und so das Unternehmen hindere, so werde er nach der Aussage des fremden Pilgrims bald sterben. Allein der Müller lachte nur ob dieser Drohung und erwiderte, der Stein werde ihn doch wohl kaum erwürgen, und jetzt lasse er den Stein erst recht nicht her, und wenn ihm auch hundert Gulden dafür bezahlt würden. Es dauerte aber nicht lange, da wurde der Müller im Walde beim Holzfällen von einer Fichte zu Tode geschlagen, die auf ihn niederfuhr und ihm den Schädel spaltete.«

Kluftinger unterbrach kurz und schaute in die ratlosen Gesichter der Anwesenden, die gebannt zuhörten, dann fuhr er fort:

»Schließlich die Witwe des Müllers, die einen neuen Mann genommen und dem zwei stumme Buben gebar, war desgleichen eigensinnig und gab den Stein nicht her. Als der fremde Pilgrim wieder durch die Gegend von Thingau kam, versprach er die Heilung der kranken Buben, würden sie den Stein nun geben. Der Müller ging drauf ein, und der große Stein ließ sich ganz mühelos heben. Der Pilgrim zerschlug den Stein und in einem Hohlraum fand man säuberlich in Holz geschnitzt die Bildnisse unserer Gottesmutter und die Figur des gekreuzigten Gottessohnes. In kurzer Zeit war der Ölberg errichtet und die Bilder zur Verehrung aufgestellt. Des Müllers Buben aber konnten von da an, wie es der Pilger verheißen hatte, deutlich reden, also daß an ihnen, als den ersten, durch die Bilder Gottes Gnade und Wunder kund ward. Noch immer kann man die Gnadenbilder in der Pfarrkirche zu Oberthingau sehen.«

Als Kluftinger geendet hatte, sagte eine Weile keiner etwas. Maier, dem Strobl mittlerweile flüsternd umrissen hatte, warum sie alle hier waren, war der erste, der das Wort ergriff: »War Ihr Bruder vielleicht Müller? Oder Baustoffhändler – ich meine wegen des Steins?«

Alle Köpfe ruckten herum und schauten Maier mit einer Mischung aus Mitleid und Unverständnis an. Doch Möbius antwortete ohne Umschweife: »Sie haben Recht, zumindest ungefähr. Er ist Bauingenieur.«

Die restlichen Anwesenden waren erleichtert, dass Möbius die Vergangenheitsform in Maiers Frage überhört hatte.

»Meinen Sie, dass es etwas mit seinem Beruf zu tun haben könnte – gab es einen Vorfall, an den Sie sich erinnern?«, hakte Kluftinger nach.

Möbius schüttelte den Kopf: »Ganz sicher nicht. Horst und ich sind nicht nur Brüder, wir sind gute Freunde. Er erzählt mir alles.«

»Wenn Sie die Sage hören – fällt Ihnen eine Parallele zum Leben Ihres Bruders ein? Hat er etwas nicht hergegeben, das ein anderer dringend gebraucht hätte?«

Wieder schüttelte Möbius den Kopf.

»Irgendwas muss es sein. Etwas hier drin weist uns den Weg zu Ihrem Bruder. Bitte, denken Sie genau nach.«

Möbius gab sich sichtlich Mühe. Er legte die Stirn in Falten, schien in den hintersten Winkeln seiner Erinnerung nach einer Antwort zu suchen.

»Ich fürchte … nein. Da ist nichts. Mein Bruder ist nicht sehr wohlhabend. Ich denke nicht, dass er etwas besitzt, was ein anderer so dringend wollen könnte.«

»Na ja, wir dürfen uns vielleicht auch nicht so ganz genau an den Wortlaut halten. Gibt es im übertragenen Sinn etwas, was Ihr Bruder nicht hergeben wollte?«

Möbius schien auch mit dieser Fragestellung wenig anfangen zu können.

»Hat er vielleicht in irgendeiner Situation jemandem etwas verweigert. Nichts Materielles, meine ich. Eine Dienstleistung? Hilfe vielleicht?«

Beim letzten Satz zuckte Möbius zusammen. Es war eine kaum wahrnehmbare Bewegung, aber Kluftinger hatte sie bemerkt.

Der Staatsanwalt schien zu zögern. Kluftinger, der das Gespräch nun allein in der Hand hatte, bohrte nach.

»Herr Möbius, ist es das? Trifft das zu, was ich gerade gesagt habe?«

Möbius zögerte. Er schien etwas zu wissen, gleichzeitig aber innerlich mit sich zu kämpfen, ob er die Information preisgeben sollte.

»Herr Möbius, wir können auch unter vier Augen sprechen, wenn Ihnen das lieber ist. Sollen uns die Kollegen allein lassen?«, fragte Kluftinger, der dabei die anderen fixierte – kein Lachen, nicht einmal ein Grinsen auf ihren Gesichtern.

Möbius blickte in die Runde und nickte. »Ja, das wäre vielleicht besser. Entschuldigen Sie, meine Herren … «

Die Angesprochenen verließen den Raum, nur Kluftinger, Sandra Henske, der Hefele beim Hinausgehen einen wehmütigen Blick zuwarf, und Lodenbacher blieben zurück. Kluftinger sah ihn fragend an. Lodenbacher stand ungerührt da und machte keine Anstalten zu gehen.

»Entschuldigung, Herr Lodenbacher, wenn Sie auch … «, versuchte der Kommissar, ihn zum Verlassen des Raumes aufzufordern.

»Herr Kluftinga, da Herr Dr. Möbius legt gwiess Weart drauf, doss i weida bei dem Gspräch dabei bin, oder? Schliaßle bin i der … «

»Ich würde wirklich gern mit Herrn Kluftinger allein sprechen. Bitte haben Sie Verständnis, Herr Lodenbacher.«

Lodenbachers Mund blieb offen stehen, sein Gesicht nahm eine tiefrote Farbe an.

»Bitte«, sagte er beleidigt. »I woaß zwor net, wos de Hoamlichduarei soi, ober bittschön!«

Schmollend zog Lodenbacher die Tür hinter sich zu.

»Fahren wir also fort«, lenkte Kluftinger angesichts der Brisanz der Ereignisse das Gespräch wieder auf den Fall. »Sie können sich möglicherweise eine Parallele zwischen Ihrem Bruder und der Sage denken?«

»Wissen Sie, als Sie das mit der Hilfe gesagt haben … «

Wieder zögerte Möbius.

»Herr Möbius, sagen Sie mir, was Sie wissen. Es geht um das Leben Ihres Bruders.«

»Ich habe ihm geschworen, unter keinen Umständen jemandem von der Geschichte zu erzählen, aber … «

Er war sichtlich in einem Dilemma.

»Nun gut, ich mache es letztlich für ihn. Mein Bruder ist begeisterter Bergsteiger – und er liebt extreme Touren, auch im Himalaya. Es war vor vielleicht fünfzehn Jahren, da kam mein Bruder zu mir. Er war sehr bedrückt, seit er von einer seiner Reisen nach Nepal zurückgekommen ist. Er hatte eine Expedition hinter sich, bei der sein Bergkamerad verunglückt ist. Sie hatten zu zweit einen Siebentausender bestiegen. Ich sagte ihm immer wieder, er könne nichts dafür, dass der andere die Strapazen des Aufstiegs so schlecht verkraftet hatte, dass er tot zusammenbrach. Was hätte er denn auch tun sollen – allein auf siebentausend Metern, noch dazu ohne wirkliche medizinische Ausbildung?«

Kluftinger griff nicht ins Gespräch ein, er nickte nur. Er wusste, dass Möbius nun an einem Punkt angekommen war, an dem er von sich aus erzählte.

»Wie gesagt, eines Tages kam mein Bruder zu mir. Er habe etwas auf der Seele, sagte er, was er eigentlich niemandem erzählen könne. Und er nahm mir das Versprechen ab, mit niemandem darüber zu sprechen. Der Kamerad, von dem ich eben sprach, war körperlich weniger fit als mein Bruder und hatte bereits die Tage vor dem letzten Gipfelanstieg mit der Kondition zu kämpfen gehabt. Hinzu kamen starke Erfrierungen an den Füßen. Zwei Stunden vor dem Gipfel ist er mehrmals im Schnee zusammengebrochen, er war mit seinen Kräften am Ende. Mein Bruder wartete immer wieder und half ihm weiter, bis der andere im Schnee liegen blieb. Horst hatte damals nur eines im Sinn: den Gipfel. Und das, obwohl er auch schon ziemlich angeschlagen war. Wegen des Gipfels hatten sie all die Strapazen auf sich genommen, und jetzt war er noch knappe zwei Stunden entfernt. Er war zum Greifen nahe. Also ließ er seinen Kameraden zurück. Er packte ihn in eine Wärmedecke ein und versprach ihm, bald zurück zu sein.

Horst beeilte sich und schaffte den Anstieg in etwas mehr als einer Stunde. Oben angekommen, kehrte er sofort um. Nach zwei Sunden fand er seinen Freund. Sein Gesicht war blau, er war erfroren. Wenn er vorher bei ihm geblieben wäre – er hätte ihn vielleicht retten können. Wahrscheinlich nicht, ich weiß es nicht. Zumindest redete er sich das danach immer ein. Schließlich musste mein Bruder seinen Kameraden einfach im Schnee liegen lassen. Ihn hinunterzubringen, daran war gar nicht zu denken. Im Basislager kam er mit letzter Kraft an – und erzählte allen, dass der Kamerad einfach tot zusammengebrochen war. Er wusste immer, dass er Schuld auf sich geladen hatte. Ich riet ihm, er solle beichten, ihn vielleicht oben im Schnee zu bergen versuchen – das alles aber reichte ihm nicht. Er fragte mich um juristischen Rat. Er wollte wissen, was ihm im Falle einer Selbstanzeige passieren würde. Dabei habe ich damals gerade mit dem Referendariat begonnen – ich hatte keine Ahnung. Und letztendlich hat er dann auch nichts unternommen.«

Möbius wirkte erleichtert, nachdem er geendet hatte. Sandy Henske hatte während seiner ganzen Erzählung seine Hand gestreichelt.

»Wer außer Ihnen weiß von dieser Geschichte?«, fragte Kluftinger nach.

»Nur ich, Herr Kommissar, ich bin mir sicher, dass er es nicht einmal seiner Frau erzählt hat.«

»Und Sie haben niemandem gegenüber jemals etwas erwähnt?«

Möbius schüttelte energisch den Kopf. Für Kluftingers Gefühl etwas zu energisch.

»Überlegen Sie genau. Eine Andeutung vielleicht?«

Keine Antwort.

»Ich muss Ihnen nicht darlegen, wie wichtig nun das kleinste Detail sein kann.«

»Weißt du denn wirklich nischt? Es geht doch um Horst!«, hakte auch Sandy nach.

Mit starrem Blick saß der Staatsanwalt da. Ihm schien die Tragweite seiner nun folgenden Worte bewusst zu werden. Er schüttelte den Kopf. »Aber die Schlüsse, die Sie daraus ziehen werden … Ich meine, es kann nicht sein, dass … «

»Kümmern Sie sich nicht um die Schlüsse! Die werden wir später ziehen. Erst müssen Sie einmal erzählen.«

Zaghafter als zuvor, setzte der Staatsanwalt erneut an.

»Nun … es war ein Vertrauensbruch an meinem Bruder. Aber wie gesagt, er fragte mich um juristischen Rat. Also habe ich irgendwann auch jemanden um Rat gefragt. Was sollte ich denn tun? Auch mir ließ es keine Ruhe, verstehen Sie? Ich kannte ja so viele gute, erfahrene Juristen. Trotzdem gab es für mich nur eine Person, an die ich mich wenden konnte: meinen damaligen Mentor am Gericht. Er war der beschlagenste Jurist und gleichzeitig der Mensch mit dem ausgeprägtesten Gerechtigkeitssinn. Und ich darf sagen, er war für mich so etwas wie ein väterlicher Freund. Jedenfalls sagte er, dass sich Horst unbedingt stellen müsse. Nur so könne er mit der Sache abschließen. Auch für sich. Er legte aber auch völlig klar, dass ihm ohne eine Aussage bei der Polizei nie etwas passieren könnte. Dennoch bohrte er immer wieder nach. Eines Tages wollte er sogar selbst mit meinem Bruder sprechen, um ihn zu einer Selbstanzeige zu überreden.«

Kluftingers Mund war trocken geworden bei den letzten Sätzen. Er hatte eine furchtbare Ahnung. Aber konnte das wirklich sein? Er brauchte jetzt einen Namen.

»Der Name, Herr Möbius. Der Name!«

Noch einmal zögerte der Staatsanwalt. »Hören Sie, Herr Kluftinger. Ziehen Sie nicht die falschen Schlüsse daraus. Ich halte es für unmöglich, dass … «

»Herrgottnochmal, der Name!«, rief Kluftinger, sprang dabei auf und schlug mit seinen Handflächen auf den Tisch.

»Es war … Richter Hartmann.«

Kluftinger durchfuhr es wie ein Blitz: Obwohl er es geahnt hatte, wurde ihm für einen kurzen Moment ganz schlecht, und er setzte sich wieder. Das musste es sein. Alles passte zusammen. Hartmann kannte alle Opfer – und er kannte ihre Geschichten. Hatte er sich als Racheengel aufgespielt? Kluftinger sträubte sich dagegen, diese Tatsache zu akzeptieren. Er wollte nicht glauben, dass ein Richter, ein Mann der Gerechtigkeit, zu so etwas fähig war. Andererseits …

Doch die wichtigste Frage, die es nun zu klären galt, war, wo sich Möbius’ Bruder befand. Lebte er noch oder hatte ihn der Mörder, also vielleicht Hartmann, bereits auf dieselbe bestialische Weise gerichtet wie Sutter und Heiligenfeld? Immerhin – es gab noch eine kleine Chance, Horst Möbius lebend zu finden. Aber die Zeit drängte. Möglicherweise ging es um Sekunden. Der Kommissar sprang auf und ging zur Tür, die sich in diesem Moment öffnete. Beinahe hätte Kluftinger sie ins Gesicht bekommen, so schwungvoll hatte Willi Renn sie aufgestoßen. Der hatte einen roten Kopf. Er war völlig außer Atem. Kluftinger ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen.

»Willi, jetzt nicht, ich hab’s eilig. Es geht um Leben und Tod!«

»Bei mir auch, bei mir auch. Stell dir vor! Wir haben gute Chancen, euren Täter anhand der Faserspuren zu überführen.«

»Willi, wir haben ihn, glaub ich, schon gefunden.«

»Ach so!«

Willi klang beinahe enttäuscht.

»Jetzt hab ich gedacht, ich hab eine Sensation. Und? Arbeitet er bei der LVA oder ist er da nur Kunde?«

»Wer?«, fragte Kluftinger hastig.

»Na, der Mörder. Die Fasern, die ich gefunden habe, führen schnurstracks zur Landwirtschaftlichen Vertriebsgenossenschaft. Es handelt sich um Mikrofasern mit einem speziellen Kevlarkern und Teflonbeschichtung. Und die wiederum stammen von Arbeitsbekleidung einer kleinen Firma aus der Schweiz, die es in Deutschland bisher nur bei der LVA gibt. Exklusivvertrieb. Und die LVA hat Arbeitskleidung aus genau diesem Material. In Rot. Mir hat das keine Ruhe gelassen, mit der Faser. Das war echte Detektivarbeit, die hat mich ein paar Nächte gekostet, das kannst du mir glauben. Na, wie bin ich?«

»Sensationell, Willi. Du musst mir unbedingt einmal erzählen, wie du das herausgefunden hast. Aber er arbeitet nicht bei der LVA. Er ist Jurist.«

»Jurist? Aber wie gesagt, die Fasern … «

»Also die Leute, die ich bei der LVA kenne … warte … « Kluftingers Augen weiteten sich. Er schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. »Himmelarsch, ich Volldepp! Logisch! Der Heini im weißen Escort – der kam mir doch gleich so bekannt vor! Jetzt weiß ich wieder, wo ich den schon gesehen hab. Ich muss wie vernagelt gewesen sein.«

Kluftinger hastete durch die Tür, rempelte Willi Renn dabei mit dem Bauch an und eilte im Laufschritt zum Büro seiner Mitarbeiter.

Strobl, Maier und Hefele saßen still in ihrem Zimmer, als ihr Vorgesetzter hereinkam. Von Lodenbacher keine Spur – der schmollte wahrscheinlich in seinem eigenen Zimmer.

»Leut, wir haben’s! Großeinsatz zur Festnahme von Richter Hartmann in Kaisersmad! Erkennungsdienst, Streifenwagen, das ganze Programm. Ihr kommt mit. Zusätzlich Fahndung nach einem weißen Escort Kastenwagen, wahrscheinlich zugelassen auf Hartmann, seine Frau oder seinen Sohn!«

Ratlos, aber angestachelt von der Aufgeregtheit ihres Chefs sprangen die Polizisten auf und machten sich an die Arbeit.

***

Kluftinger saß mit schweißnassen Händen auf dem Beifahrersitz. Sein Fuß gehorchte ihm nicht mehr; unaufhörlich wippte er im Takt der Blaulichtsirenen. Immer wieder schüttelte er den Kopf.

»Geht das nicht schneller?«, schrie er Maier an, der am Steuer saß. Maier reagierte gar nicht, sondern fuhr konzentriert hinter den Polizeiwagen her, die durch die inzwischen dunklen Straßen Kemptens rasten.

Eine Hand legte sich von hinten auf Kluftingers Schulter. Sie gehörte Eugen Strobl.

»Komm, mach dich nicht verrückt. Ohne dich wären wir gar nicht so weit gekommen.«

»Ohne mich? Da hättet ihr ihn wahrscheinlich schon. Ich bin ein Riesendepp!«

»Das bringt doch jetzt nix.«

»Dass mir nicht gleich aufgefallen ist, dass dieser Typ im Kastenwagen der gleiche war, der mir damals die Sensen gezeigt hat … «

»Komm, dir ist es ja schließlich noch eingefallen, während … «

Der Kommissar ließ seinen Kollegen gar nicht erst ausreden: »Das ist verdammt noch mal mein Beruf, dass mir solche Sachen einfallen. Und ich? Sitz auf der Lösung und rühr meinen Arsch nicht weg. Ich könnt mich ohrfeigen. Wenn wir zu spät kommen … «

»Jetzt mal den Teufel nicht gleich an die Wand«, mischte sich nun auch Hefele in das Gespräch ein. »Der Eugen hat schon recht: Du hast die Sache mit den Sagen überhaupt erst aufgedeckt.«

Kluftinger entspannte sich etwas. Hefele hatte Recht. Die Sache mit den Sagen war ihm aufgefallen. Trotzdem: Der Gedanke, dass sie vielleicht zu spät kommen würden, um noch einen dritten Mord zu verhindern, ließ ihm das Herz bis zum Hals schlagen. Er hatte das Gefühl, dass sich der Wagen in Zeitlupe bewegte, obwohl sie den Ortsausgang inzwischen mit gut und gerne hundertfünfzig Stundenkilometern hinter sich gelassen hatten. Vor allem wollte er nicht wahrhaben, dass er die Hinweise, die ihm jetzt wie grelle Warnschilder vorkamen, nicht gesehen hatte. Die Tatsache, dass der Richter mit beiden Fällen zu tun gehabt hatte, hatte er als glücklichen und bequemen Zufall für die Ermittlungen gesehen, statt durch diesen »Zufall« alarmiert zu sein. Aber alles Lamentieren half nun nichts mehr. Für diese Selbstzerfleischung würde er später noch genügend Zeit haben. Jetzt galt es, ein Menschenleben zu retten – falls sie nicht schon zu spät kamen.

»Wer war denn eigentlich der Typ, den wir im Auto gesehen haben?«, wollte Strobl noch wissen.

»Das war der, der mir damals in der LVA die Sensen gezeigt hat. Schon komisch, wie … « Er beendete seinen Satz nicht, sondern schrie plötzlich: »Da!« Diesmal zuckte Maier doch etwas zusammen. Die versprengten Lichter des kleinen Weilers Kaisersmad tauchten am Horizont auf. Sekunden später quietschten Reifen, Dreck spritzte durch die Gegend, Staub wirbelte auf und legte einen Dunstschleier über das bäuerliche Anwesen, auf dessen Hof nun ein halbes Dutzend Polizeiwagen mit Blaulicht hielt. Türen wurden aufgerissen und uniformierte Beamte stürmten heraus, die Waffen im Anschlag. Auch Kluftinger sprang aus dem Auto, noch bevor Maier richtig angehalten hatte.

»He, Vorsicht … «, hörte er ihn noch rufen, dann war er draußen.

Das Erste, was er sah, war der Hund. Diesmal ganz und gar nicht ruhig, sprang er mit gefletschten Zähnen direkt auf Kluftinger zu. Geifer tropfte ihm von den Leftzen und immer, wenn ein Blaulicht auf seine Augen fiel, schimmerten sie tief und unheimlich. Der Kommissar rührte sich nicht, er stand wie angewurzelt da, als der Hund näher kam. Er hörte sein tiefes Knurren, sah die Atemwolken, die aus seiner Schnauze stoben, sah, wie er fünf Meter vor ihm zum Sprung ansetzte. Doch er blieb reglos stehen. Erst ein ohrenbetäubender Knall löste seine Erstarrung. Unwillkürlich riss er die Arme hoch und duckte sich. Als nichts passierte, richtete er sich wieder auf und sah den Hund: Hechelnd lag er vor ihm auf der Seite, ein Bein grotesk nach hinten ausgestreckt, mit einem leisen Wimmern seine Schnauze leckend. Kluftinger blickte mit weit aufgerissenen Augen nach rechts, in die Richtung, aus der das Pfeifen in seinem Ohr kam, die Nachwirkungen des Schusses.

Dünne Rauchschwaden drangen aus der Waffe, die Hefele in der Hand hielt und nun mit versteinertem Gesicht langsam sinken ließ. Kluftinger nickte ihm dankbar zu. Sie würden es nie erfahren, aber es war gut möglich, dass er ihm in diesem Moment das Leben gerettet hatte.

Ein, zwei Sekunden nach dem Schuss löste sich auch die Erstarrung der anderen Beamten, dann stürmten sie auf den Eingang des Bauernhauses zu. Noch bevor sie ihn erreicht hatten, wurde die Tür von innen geöffnet und der Richter tauchte als Schattenriss im Türrahmen auf.

»Stehen bleiben!«, schrie einer der Beamten, doch Hartmann sprintete los.

»Stehen bleiben oder wir schießen!«, schrie ein anderer Polizist, doch Hartmann schien sie gar nicht zu hören. Seine Augen waren starr auf den Hund gerichtet, der neben Kluftinger lag.

»Nicht schießen«, rief Kluftinger, der erkannte, dass es der Richter nicht auf ihn abgesehen hatte.

»Tyras! Um Gottes willen«, schrie Hartmann mit schriller, sich überschlagender Stimme. Er war nur noch wenige Meter vom Kommissar entfernt, dann lief er gegen eine Wand aus sechs Armen, die ihn mitten im Lauf stoppte. Wie ein Besessener tobte der Richter, strampelte, jaulte, versuchte sich dem Griff der Polizisten zu entziehen.

»Beruhigen Sie sich, verdammt«, schrie der Beamte, der ihn von hinten unter den Achseln gepackt hatte. Hartmann zappelte noch einige Sekunden im harten Griff der Polizisten, dann erschlaffte sein Körper und er begann zu weinen.

Kluftinger seufzte: Von weinenden Männern hatte er allmählich wirklich genug. Er ging einen Schritt auf den Richter zu und sagte: »Sie sind festgenommen wegen des Mordes an Gernot Sutter und Michaela Heiligenfeld.« Er sagte die Worte ohne Emotion, aber in seinem Inneren brodelte es. Er verachtete den Richter dafür, dass ausgerechnet er, ein Mann des Gesetzes, sich außerhalb des Rechtssystems gestellt hatte. Es waren diese Vorfälle, die dem Vertrauen der Öffentlichkeit in das Rechtssystem, an das Kluftinger glaubte, irreparable Schäden zufügten. Als er ganz nah beim Richter stand, fragte er mit einer Schärfe, die ihn selbst überraschte: »Wo ist Horst Möbius?« Noch einmal versuchte Hartmann, sich dem Griff der Beamten zu entziehen, doch als er einsah, dass es keinen Sinn hatte, brach er zusammen.

Die Polizisten lockerten ihren Griff und ließen ihn zu Boden gleiten. Was nun passierte, überraschte Kluftinger. Er hatte gedacht, dass ein Geständnis aus dem verzweifelten Mann herausbrechen würde, eine Art Beichte, wie er es nach solchen Zusammenbrüchen schon zur Genüge erlebt hatte. Das weinerliche Flehen um Verständnis, um Gerechtigkeit, die die Täter ihren Opfern verwehrt hatten, als sie sich noch stark und als Herr der Lage fühlten.

Doch der Richter tat nichts dergleichen. Stattdessen rutschte er auf den Knien zu seinem am Boden liegenden Hund, der sich inzwischen gar nicht mehr rührte. Als Hartmann begriff, dass er tot war, sah er Kluftinger mit stierem Blick an und schrie: »Mörder!«

Der Schrei ging dem Kommissar durch Mark und Bein. Ausgerechnet Hartmann hieß ihn einen Mörder. Er schluckte. »Bringt ihn rein«, brachte er mit belegter Stimme hervor und sah zu, wie ihm die Kollegen Handschellen anlegten. Dann ging auch er auf das Haus zu und blieb nach wenigen Schritten bereits wieder stehen. Im Licht des Flurs, das durch die geöffnete Tür nach draußen drang, stand ein Schatten. Die ausgemergelte Gestalt erkannte er als Hiltrud Urban. Was ihm eine Gänsehaut über den Rücken jagte, war die Art, wie sie dastand. Zwei Polizisten hatten sich links und rechts neben ihr postiert, wussten aber offenbar nicht so recht, wie sie weiter vorgehen sollten. Denn Frau Urban stand einfach nur da und starrte nach draußen. Völlig regungslos. In diesem Moment graute es dem Kommissar mehr vor ihr, als es ihm vor dem Hund gegruselt hatte.

Er versuchte, sich von seinem Gemütszustand nichts anmerken zu lassen, und machte ein paar Schritte auf die Frau zu. Als er vor ihr stand, setzte er zum gleichen Satz an, den er bereits ihrem Mann gesagt hatte: »Frau Urban, Sie sind verhaftet wegen … «

Weiter kam er nicht, denn ansatzlos ließ sie ihre Hand in Kluftinger Gesicht klatschen. Der Kommissar war wie betäubt von dem plötzlichen Schmerz. Mehr noch aber fuhr ihm der Schreck in die Glieder. Während er wie angewurzelt dastand, sprintete hinter ihm Maier vorbei und packte Hiltrud Urban unsanft an den Schultern. Innerhalb weniger Sekunden hatte er ihr Handschellen angelegt und stieß sie nun vor sich in Richtung Wohnzimmer.

»Wo ist Horst Möbius?«, stellte Kluftinger noch einmal seine Frage von eben, nachdem das Ehepaar unsanft in zwei Stühle am Tisch gestoßen worden war. Doch er erhielt keine Antwort. Bevor Kluftinger die Frage wiederholen konnte, tippte ihm Strobl von hinten auf die Schulter und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

»Kruzifix«, zischte Kluftinger. Dann wandte er sich wieder den beiden vor sich zu: »Wo ist Ihr Sohn? Ist er mit seinem Wagen weg? Hat er Möbius bei sich?«

Wieder gaben sie keine Antwort.

Die Verzweiflung über seine ohnmächtige Lage wuchs sich zur Panik aus. Unkontrolliert begann Kluftinger zu schreien:

»Zefixnoamal, wo ist Ihr Sohn? Machen Sie’s doch nicht schlimmer! Es ist vorbei! Vorbei, hören Sie?«

Jetzt mischten sich auch die anderen Polizisten ein. Von allen Seiten schrieen sie auf das Ehepaar ein, bellten mit hochroten Gesichtern immer wieder dieselben Fragen: »Wo ist Ihr Sohn? Wo ist Möbius?«

Sie hielten schlagartig inne, als die beiden ihre Münder öffneten und anfingen zu reden. Doch sie beantworteten nicht etwa die Fragen der Polizisten – sie beteten. Ganz leise begannen sie, im Chor das »Vater Unser« aufzusagen.

Kluftinger verlor erneut die Beherrschung: »Gerechtigkeit ist eine Sache Gottes, Herr Hartmann. Aber ganz bestimmt nicht Ihre«, sagte er und er war so in Rage, dass er dabei spuckte.

Als Kluftinger die höhere Gerechtigkeit ins Spiel brachte, sah der Richter zum ersten Mal auf.

»Gerechtigkeit?«, fragte er leise, »Sie haben keine Ahnung, was Gerechtigkeit ist. Fiat justitia!«

Kluftinger kamen die Worte bekannt vor. Es waren dieselben, die auf dem großen Gemälde im Foyer des Gerichtsgebäudes standen.

Es war mucksmäuschenstill in dem Zimmer. Die Beamten hielten den Atem an. Man hätte eine Sense über feuchtes Gras mähen hören können, dachte der Kommissar. Sein Sarkasmus funktionierte noch, was er für ein gutes Zeichen hielt.

»Schluss mit dem Geschwätz. Sie werden mir jetzt sagen, wo Möbius ist.«

Der Richter sah ihn lange an, dann antwortete er: »Sie werden Gottes Gerechtigkeit nicht aufhalten.«

Kluftinger hatte das dumpfe Gefühl, dass er Recht hatte. Doch er wollte sich nicht einfach so in sein Schicksal fügen.

»Bringt sie weg«, trug er den Kollegen auf, die das Ehepaar sofort packten und nach draußen schoben.

»Eugen, sei so gut und fahr mit. Vielleicht kriegst du sie auf der Fahrt weich. Wir müssen alles versuchen. Roland? Gib eine Fahndung nach dem Wagen und dem Sohn raus. Und die sollen das Haus noch mal auf den Kopf stellen. Außerdem sollen ein paar Kollegen nach Oberthingau fahren und sich dort bei der Kirche auf die Lauer legen. Wenn es nach dem gleichen Muster abläuft, taucht er dort wieder auf, wo die Sage spielt.« Und als wollte er sich selbst Mut machen, schob er noch nach: »Den finden wir schon.«

Als er nach draußen ging, stieg Hiltrud Urban gerade in den grün-weißen Bus ein. Kluftinger ging an ihnen vorbei und nickte Strobl noch einmal zu. Als er sah, dass der Richter ihn anstarrte, streckte er seinen Arm aus, zeigte mit dem Finger auf den Richter und sagte noch einmal: »Wir finden ihn, Hartmann!«

Hartmann schüttelte nur den Kopf. Sein letzter Satz, bevor er ebenfalls im Bus verschwand, ließ dem Kommissar das Blut in den Adern gefrieren: »Geben Sie sich keine Mühe. Seine Sense ist schon gedengelt.«

***

Kluftinger fühlte sich elend, als er hinter Maier und Hefele im Wagen Platz nahm. Zwar hatten sie den Fall soeben gelöst. Doch noch kam nicht einmal ein Anflug von Zufriedenheit auf. Nur ein Gedanke beherrschte die drei Kommissare im Auto: Der bevorstehende Mord musste verhindert werden. Um jeden Preis!

Wie ein Mantra wiederholte Kluftinger im Geiste den Satz, den Hartmann gesagt hatte: »Seine Sense ist schon gedengelt.« Hieß das, dass es noch nicht zu spät war? Dass Möbius noch am Leben war? Hoffnung flackerte kurz in ihm auf, die aber sofort wieder von heftigen Zweifeln verschüttet wurde: Wie nur sollten sie ihn jemals finden? Wo konnten sie den Bruder des Staatsanwaltes versteckt haben? Würden sie im Präsidium mehr aus dem Ehepaar herausbekommen?

Keiner sagte ein Wort. Doch plötzlich, als Maier den Wagen gerade auf die Betzigauer Kirche zusteuerte, brach Kluftinger das Schweigen: »Bieg links ab, Richard!«, rief er aufgeregt.

»Warum? Wir fahren doch nach … «

»Es klingt vielleicht verrückt, aber ich hab da so ein Gefühl. Bieg einfach links ab!« Den letzten Satz bellte der Kommissar wie einen Befehl. Sein Herz schlug ihm auf einmal bis zum Hals und seine Hände waren feucht. War das die Lösung? War der Gedanke, der ihn vor ein paar Sekunden wie ein Blitz durchzuckt hatte, der Schlüssel?

Maier wagte nicht, noch einmal nachzufragen, so scharf hatte sein Chef die Anweisung formuliert. Ratlos las er auf dem Wegweiser, der an der Abzweigung stand, dass sie nach Stein fuhren, einem Weiler am Rande des Kemptener Waldes.

»Gib Gas, Richard! Immer geradeaus!«, drängte Kluftinger. Er hatte sich nach vorn gebeugt und starrte zwischen den beiden Vordersitzen hindurch auf die kurvige Straße, die das Scheinwerferlicht aus der Dunkelheit herausschälte.

Mit über hundert Sachen rasten die Polizisten durch kleine Ansammlungen von Bauernhöfen, bis Maier den Wagen abrupt vor einem Verbotsschild abbremste.

»Fahr zu!«, schrie Kluftinger.

»Ja wohin denn überhaupt?«, fragte Maier verzweifelt.

»Wohin geht es denn hier wohl?«

»Nur noch zum Dengelstein und dann weiter in den Wald.«

»Also? Mensch, Richard, fahr jetzt endlich!«

»Du, das ist eine Forststraße, da können wir doch nicht einfach … «

»Fahr weiter, schnell!«, schrie jetzt auch Hefele. Dann drehte er sich zu seinem Chef um und fragte: »Meinst du wirklich, dass … «

Kluftinger war erleichtert, dass es Roland nun offenbar ebenfalls gedämmert hatte. Vielleicht war sein Gedanke doch nicht so abwegig gewesen.

»Ja, jetzt schreit’s halt nicht gleich so!«, wurde nun auch Maier laut, trat aber gleichzeitig das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Mit quietschenden Reifen schoss das Auto los und Kluftinger wurde heftig in den Sitz gedrückt. Statt sich darüber zu beklagen, sagte er lediglich: »Na also … «

Die enge Teerstraße verlief am Waldrand, rechts breiteten sich ausgedehnte Wiesen aus.

»Obacht!«, rief Kluftinger, als im Lichtkegel der Scheinwerfer ein Feldhase auftauchte, der die Straße kreuzte. Das Ruckeln des Autos zeigte, dass der Ruf zu spät gekommen war. Reflexartig bremste Maier den Wagen, worauf Kluftinger ihn anwies, sofort weiterzufahren.

»Aber wir können doch nicht einfach … «, sagte er geschockt.

»Willst du ihn wiederbeleben?«

Maier trat wieder aufs Gas.

Nach einer Minute, in der niemand etwas gesagt hatte, flüsterte Kluftinger seinem Kollegen plötzlich zu: »Fahr langsam, Richard.«

Im Licht der Scheinwerfer reflektierten die Rücklichter eines Wagens: Dort, nur wenige Meter vor ihnen, in einer Kurve, stand, halb im Graben, ein weißer Ford Escort.

Ein paar Sekunden blieb es still, dann sagte Hefele leise: »Respekt!«

Maiers Mund stand ein paar Sekunden offen, dann wagte er einen Vorstoß: »Würde mir vielleicht mal jemand erklären, woher ihr das wusstet?«

Da Kluftinger keine Anstalten machte, dieser Bitte zu entsprechen, setzte Hefele zu einem Erklärungsversuch an: »Also, wenn ich das Gleiche denke wie du … « Mit diesen Worten wandte er sich unsicher zu seinem Chef um, der ihn mit einem Kopfnicken ermunterte, weiterzusprechen. Er war sicher, dass sie die gleiche Idee gehabt hatten.

»Also, wir wussten es ja gar nicht. Es war nur so ein Gefühl, aber … «

» … es gab so viele Hinweise darauf, dass es stimmen musste«, schaltete sich Kluftinger ein. »Den Ausschlag hat Hartmann gegeben, als er gesagt hat, dass die letzte Sense schon gedengelt wird. Da hat bei mir irgendwas Klick gemacht. Dengeln, Dengelstein – das hab ich alles schon mal gehört. Und dann ist es mir wieder eingefallen: Eine der Sagen hat sich auch darum gedreht. Außerdem hat, ich glaube es war Eugen, davon erzählt, dass das früher mal ein Richtplatz war. Und dann war da noch dieser … «

Er blickte zu Hefele, um ihn die Schilderung des letzten Puzzleteilchens zu überlassen. Dankbar fuhr der fort: » … dieser Bauer aus Stein, der angerufen hat, dass er in einer Mordnacht diese komischen Geräusche gehört hat. Als würde jemand eine Sense dengeln.« Kluftinger nickte ihm zu.

Unter ungläubigem Kopfschütteln lenkte Maier das Auto an den Straßenrand. Dann räusperte er sich und sagte voller Bewunderung: »Ihr seid der Hammer!«

Doch Kluftinger wollte davon nichts hören: »Das kannst du sagen, falls wir noch nicht zu spät gekommen sind«, wandte er ein und lenkte damit die Aufmerksamkeit seiner Kollegen wieder auf das Auto vor ihnen.

Maier schaltete die Scheinwerfer aus und sie verließen langsam den Wagen.

»Ich hab schon gedacht, ich kann gar nix mehr!«, seufzte der Kommissar.

Wortlos zogen sie ihre Waffen und näherten sich dem Kombi. Die rechte hintere Klapptür war angelehnt, Kluftinger riss sie ruckartig auf, die Waffe in der rechten Hand. Während Hefele seinen Vorgesetzten mit entsicherter Pistole Deckung gab, leuchtete Maier mit einer großen Taschenlampe in den Laderaum. Wie sie erwartet hatten, war er leer, ebenso die Fahrerkabine. Lediglich ein paar schmutzige Decken lagen als Knäuel auf der Ladefläche. Kluftinger winkte Maier mit der Taschenlampe näher heran, hob eine der Decken auf und betrachtete sie. »Blut!«, war alles, was er sagte.

»Richard, bleib du hier beim Auto. Pass aber auf, vielleicht kommt er. Gib per Funk durch, dass sie mit ein paar Wagen kommen. Und sag, dass sie leise sein sollen. Zugriff erst, wenn wir das Kommando dafür geben.«

Kluftinger, dessen Herz bis zum Hals pochte, war absolut konzentriert. Seine Kollegen wussten, dass er in solchen Situationen funktionierte wie ein Schweizer Uhrwerk.

»Komm«, sagte er zu Hefele, der ihm mit gezogener Waffe folgte. Leise bewegten sie sich auf die Bäume zu, hinter denen sich auf einer kleinen Lichtung der Dengelstein befand, ein riesiger Findling, den die letzte Eiszeit hier zurückgelassen hatte. Die Taschenlampe ließen sie sicherheitshalber aus; das Mondlicht musste genügen. Keiner wusste, was sie in der Dunkelheit vor ihnen erwarten würde.

***

Als die Nacht seine Kollegen endgültig verschluckt hatte, setzte Maier den Funkspruch ab und bewegte sich mit wackeligen Knien wieder auf den weißen Lieferwagen zu. Er lauschte auf jedes Knacken im Wald. Dieser Platz war ihm ohnehin unheimlich, seit er wusste, dass hier keltische Blutopfer- und Gerichtsriten stattgefunden hatten. Nun, im Halbdunkel des Mondscheins, schien jeder Baum, jeder Busch ein frühzeitlicher Häscher zu sein, der jeden Moment auf ihn zustürzen konnte, um ihn oben auf dem Dengelstein zu schlachten. Maier versuchte sich zu beruhigen, indem er fast lautlos eine Melodie summte. Er entschied sich für »Moonriver« – etwas Besseres war ihm nicht eingefallen.

Plötzlich erstarrte er. Sein Mund wurde trocken und er bekam kaum noch Luft. Er riss seine Augen weit auf: Schritte! Er hörte eindeutig Schritte. Leise, aber deutlich nahm er das Knirschen von Schuhen auf dem Kiesweg wahr. Es waren keine hastigen, schnellen Schritte, eher bedächtige. Als schleiche sich jemand heran. Dann hielt er den Atem an: Es waren zwei Menschen, die da langsam durch den Wald schlichen, da war er sicher.

Was sollte er tun? Die beiden Kollegen sah er nicht mehr, Funkgeräte hatten sie keine mitgenommen. Sicher, er hatte Schulungen hinter sich, wo er das Verhalten in solchen Fällen theoretisch gelernt hatte. Aber hier, mitten in der Dunkelheit des Waldes

– würde er diese Kenntnisse anwenden können?

»Überblick verschaffen … «, murmelte er mechanisch vor sich hin. »Unbedingt Überblick verschaffen und Schrecksekunde nutzen.« Noch immer hörte er deutlich die langsamen Schritte, bildete sich ein, dass sie immer lauter wurden. Kamen sie auf ihn zu? Dann fällte Maier eine Entscheidung. Er hob seine Taschenlampe und richtete sie auf den Waldweg. Seinen Finger legte er auf den Einschaltknopf, die Waffe in der anderen Hand zielte in die gleiche Richtung. Vielleicht würde es ihm so gelingen, die Täter zu überraschen. Er schaltete das Licht ein.

***

Nur am Rande nahmen Kluftinger und Hefele den schwachen Lichtschein hinter sich wahr. Obwohl sie langsam gingen, atmeten sie schwer. Jeder ihrer Schritte, die sie mit Bedacht setzten, um nicht zu viel Lärm zu machen, brachte sie tiefer in das ungewisse Dunkel der Nacht – und damit näher zum Dengelstein. Sie waren nicht mehr weit von ihrem Ziel entfernt, als sie plötzlich ein Geräusch vernahmen: Es war ein Hämmern, wie von Metall auf Stein. Beide blickten sich für einen Moment in die Augen, dann rannten sie los.

Der Waldboden knackte unter ihren Schritten, Zweige peitschten in ihre Gesichter. Obwohl sie nicht sehen konnten, wohin sie traten, liefen sie, so schnell sie konnten. Immer näher kam das unheimliche Klopfen, immer heller wurde der silbrige Schein, der von der Lichtung in den Wald drang.

Dann hatten sie den Waldrand erreicht. Sie kniffen ihre Augen zusammen, doch sie sahen nur den riesigen Felsen, der im Mondlicht bläulich schimmerte. Das Geräusch war nun aber so klar, dass es keinen Zweifel mehr gab: Jemand dengelte eine Sense. Hier, mitten in der Nacht, mitten im Kemptener Wald.

Auch wenn das metallische Hämmern den beiden Kommissaren einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte: In Kluftinger keimte wieder Hoffnung auf. Da die Sense noch gedengelt wurde, standen die Chancen gut, Möbius doch noch lebend zu finden. Aber die Zeit drängte.

Gleichzeitig gaben sie ihre Deckung preis und rannten los.

***

»Polizei! Stehen bleiben!«, schrie Maier in die Nacht, doch seine Stimme zitterte dabei. Trotzdem hatte er bei seinem Gegenüber eine Schrecksekunde erzeugt. Ein dunkles, vom Schock des plötzlichen Lichtscheins geweitetes Augenpaar fixierte den Kommissar. Auch Maier erschrak, denn irgendwie hatte er gehofft, dass er sich die Geräusche nur eingebildet hatte. Auf den Anblick, der sich nun bot, war er nicht vorbereitet gewesen.

Sein Gegenüber hatte den Schock inzwischen überwunden und wandte sich um. Beinahe hätte er noch einmal seinen Ruf von eben wiederholt, doch er hatte sich wieder unter Kontrolle. Er senkte die Waffe und sah mit pochendem Herzen dem Reh dabei zu, wie es wieder im Wald verschwand.

***

Nun kam es auf jede Sekunde an. Sie liefen gebückt von der gekiesten Forststraße nach rechts auf einen kleinen Weg, vorbei an zwei Hinweistafeln, suchten Schutz im Schatten, den der Findling warf – und erstarrten. Zuerst sah es Kluftinger, kurz darauf Hefele. Vor ihnen tat sich ein grauenhaftes Szenario auf. Vor einer kleinen Nische in dem riesigen Felsblock stand im fahlen Mondlicht, mit dem Rücken zu ihnen, eine dunkle Gestalt, die mit einem kleinen Hämmerchen auf eine Sense einschlug. Kluftingers Atem gefror. Es sah aus, als ob der leibhaftige Tod hier seine Arbeit verrichtete. Links neben der Gestalt, am Boden, zeichneten sich schwach die Konturen eines Bündels ab, das Kluftinger erst auf den zweiten Blick als gefesselten Menschen erkannte. Wie hypnotisiert starrte der Kommissar darauf, wagte nicht, zu atmen, riss die Augen weit auf – und seufzte schließlich erleichtert: Er hatte eine Bewegung wahrgenommen. Sie waren also noch nicht zu spät.

Kluftinger atmete schwer. Jetzt erst konnte er seine Aufmerksamkeit auch auf die Geräusche richten. Neben dem Hämmern war eindeutig leiser Gesang zu vernehmen. Der Kommissar brauchte eine Weile, bis er das Lied, das der »Sensenmann« brummte, erkannte: Es war das schönste Kirchenlied, das er kannte: »Lobe den Herren«! Er sah zu Hefele. Bildete er sich das nur ein? Aber auch Hefele schien es zu hören.

Plötzlich fing das am Boden liegende Bündel an zu wimmern. Das musste Möbius sein. Die Gestalt mit der Sense raunte ihm etwas zu, Möbius aber jammerte weiter. Ohne sein Dengeln zu unterbrechen, versetzte ihm der andere einen Fußtritt und stimmte wieder seinen Gesang an: »Kommet pfuhauf, Pfalter und Harfe wacht auf, laffet den Lobgefang hören.« Es war ein näselnder, grotesker Gesang und der Kommissar erinnerte sich wieder an die Hasenscharte des jungen Mannes mit der Tonsur, den er zum ersten Mal in der LVA gesehen hatte.

Kluftinger konnte sich als erster aus der Erstarrung lösen. Vielleicht waren es die letzten Verse, die ihn endlich wieder zum Herrn der Lage machten. Sie würden zuhauf kommen, aber was diese Gestalt erwartete, war nicht der Lobgesang von Psaltern und Harfen.

»Geh du linksrum, an den Büschen vorbei. Kümmere dich um Möbius, ich nehm … «, er wollte »den Sensenmann« sagen, schreckte aber vor dem Wort zurück und fuhr fort, » … Hartmanns Sohn! Zugriff auf mein Zeichen.«

Leise pirschte er sich von hinten an die dunkle Gestalt heran. Ein Blick zu Hefele zeigte ihm, dass der bereits in Position war. Er selbst war ebenfalls nur noch zehn Meter von dem Felsen entfernt. Er schloss die Augen, atmete tief durch und stieß dann einen gellenden Pfiff aus.

»Halt, Polizei!«, schrien Kluftinger und Hefele gleichzeitig. Sie mussten versuchen, die Überraschung des Täters auszunutzen. Mit gezogener Waffe stürzte Kluftinger auf ihn zu. Doch der Mann zuckte nicht wie erwartet zusammen, er drehte ihm nur langsam sein Gesicht zu, was Kluftinger für einen kurzen Moment aus dem Konzept brachte. Er schaltete die Taschenlampe ein und richtete das gleißende Licht auf das Gesicht des Sensenmannes. Nur für einen Augenblick nahm der Kommissar die zur Fratze verzerrten Züge des jungen Mannes wahr, dann hatte er ihn erreicht und versuchte, ihn gegen den Fels zu drücken. Er konnte ihm gerade noch den Hammer aus der Hand schlagen, bevor er begann, wie wild um sich zu schlagen. Der erste Schlag traf Kluftingers linke Hand, worauf ihm die Taschenlampe entglitt, in hohem Bogen gegen den Felsen flog und klirrend zerbrach. Nur noch das Mondlicht beschien sie jetzt. Im Augenwinkel nahm der Kommissar das Flackern von Hefeles Taschenlampe wahr, der offenbar versuchte, Möbius vom Felsen wegzuziehen. Er hoffte, dass er ihm hier bald zu Hilfe kommen würde, denn der junge Hartmann setzte beinahe übermenschliche Kräfte frei. Kluftinger versuchte, seinen Kopf an den Fels zu drücken, doch Hartmann löste sich aus seinem Griff und sprang einen Schritt zur Seite. Mit Entsetzen sah Kluftinger, wie er die Sense packte und ausholte. Instinktiv ließ er sich fallen und hörte das Zischen, als das Mordgerät über seinen Schädel fegte.

Hartmann hatte offenbar nicht mit der schnellen Reaktion des Kommissars gerechnet, denn er geriet ob der Wucht seines Streiches ins Wanken. Diese Sekunden nutzte der Kommissar, um blitzschnell wieder auf die Beine zu kommen. Auch Hartmann hatte sich gefangen und holte erneut zum Schlag aus. Mit gefletschten Zähnen und einem markerschütterndem Schrei rannte er auf Kluftinger zu. Der Kommissar riss den Arm nach oben, um die Sense schon im Ansatz der Bewegung zu stoppen. Doch Hartmann war stärker, als er vermutet hatte. Der Stahl der Sense bohrte sich in seinen rechten Arm und hinterließ einen brennenden Schmerz. Er ließ die Waffe fallen. Ein Schuss löste sich und hallte durch die Nacht.

Kluftinger wich zurück und geriet ins Stolpern. Auf dem Boden liegend sah er mit schreckgeweiteten Augen, wie Hartmann erneut Schwung holte. Verzweifelt blickte er sich um. Wie konnte er ihn stoppen? Da nahm er rechts von sich eine Bewegung wahr. Ein Busch raschelte und Hefele trat hervor. Er hob die Waffe, doch er hatte kein freies Schussfeld.

»Schieß!«, schrie Kluftinger trotzdem, auch wenn die Gefahr bestand, dass er ihn treffen oder die Kugel am Felsen abprallen und zum tödlichen Querschläger werden würde. Doch Hefele folgte seiner Anweisung nicht, er steckte die Waffe in den Gürtel und rannte unkontrolliert brüllend auf Hartmann zu. Der war so überrascht, dass er nicht mehr dazu kam, seinen Schlag auszuführen. Zusammen krachten beide an den Felsen und Hartmann ließ die Sense fallen.

»Lieber Gott, steh mir bei!«, rief der Entwaffnete plötzlich mit schriller Stimme, was Kluftinger eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Dann rappelte er sich hoch und sah gerade noch, wie Hartmann Hefele gegen den Felsen schmetterte, dass dieser aufheulte. Fieberhaft suchte Kluftinger den Boden nach seiner Waffe ab, doch es war zu dunkel, um sie zu finden.

Hartmann wollte sich wieder nach seiner Sense bücken, da sprang Hefele ihm auf den Rücken und versuchte, ihm die Luft abzudrücken. Mit ihm taumelte der junge Mann rückwärts gegen den Felsen. Mehrmals stieß er mit dem Rücken dagegen, bis die Schmerzen für Hefele zu groß wurden und er loslassen musste. Langsam sank er an der Felswand entlang zu Boden. Hartmann kümmerte sich gar nicht um ihn und wankte angeschlagen nach vorn, um seine Sense wieder aufzunehmen. Nach ein paar Schritten blieb er erstarrt stehen: Vor ihm, im Schein des Mondlichts, stand Kluftinger. In seinen Händen lag die Sense, deren Stahl silbern blinkte. Ein paar Sekunden fixierten sich die beiden, dann lief Hartmann los. Kluftinger zögerte nicht: Mit einem langgezogenen »Neeeeeein!« holte er aus, ließ die Sense über den Boden zischen und mähte Hartmann von den Beinen. Im Fallen schlug er mit dem Hinterkopf gegen einen Stein und blieb reglos liegen.

Pfeifend sog Kluftinger den Atem ein. Er starrte ein paar Sekunden auf den am Boden liegenden Mann, dann war er sicher, dass er bewusstlos war. Erst jetzt wurde ihm klar, dass er noch immer die Sense in der Hand hielt. Angewidert warf er sie ins Gras. Es hatte sich ausgezahlt, dass er seinen Rasen noch auf die traditionelle Art mähte. Mit einem einzigen Hieb hatte er Hartmann von den Beinen geholt, wobei er peinlich darauf geachtet hatte, ihn nur mit dem Holzstiel, nicht mit der scharfen Klinge zu erwischen.

***

Maier war schockiert. Auf einmal hatte ein Schuss die Stille der Nacht zerrissen. Was war geschehen? Hatten sie ihn? Oder er sie? Sollte er die wenigen Meter zum Dengelstein rennen und seinen Kollegen zur Hilfe kommen? Oder hier warten, um dem Täter den Fluchtweg abzuschneiden?

In diese Gedanken hinein sah er die Blaulichter am Waldrand aufflackern. Mit Erleichterung nahm er das Eintreffen seiner Kollegen wahr, die – ganz und gar nicht leise – mit Festbeleuchtung heranpreschten. Maier wies ihnen den Weg zum Dengelstein, stieg in den letzten Wagen und kam nach weniger als einer Minute ebenfalls an dem Felsen an.

Sofort kümmerten sich die uniformierten Polizisten um die verletzten Kollegen und den noch immer gefesselten Möbius. Als einer Kluftingers Wunde verbinden wollte, entzog der abwehrend seinen Arm, hatte er im Moment doch Wichtigeres zu tun. Er lief zum Waldrand, drehte ihnen den Rücken zu und blieb stehen. Hefele und Maier sahen sich ungläubig an. Wie konnte er in so einer Situation …

»Seitdem wir in Kempten weggefahren sind, muss ich schon biseln!«, rief er ihnen zu.

***

»Wie konnten Sie das nur zulassen?«

Kluftinger war fassungslos. Jetzt erst, mit einer Stunde Abstand zu den dramatischen Ereignissen dieser Nacht, wurde ihm die volle Tragweite, die tragische Dimension des Ganzen bewusst. Der Richter hatte seinen eigenen Sohn zum tödlichen Werkzeug gemacht.

Er revidierte seine Frage, weil ihm klar wurde, dass Hartmann es nicht zugelassen hatte. Er hatte es angezettelt, geplant. Wie hatte Markus gesagt? »Wir suchen einen intelligenten Menschen.« Das war der Richter, im Gegensatz zu seinem leicht zurückgebliebenen Sohn, ohne Zweifel. Aber es war eine dunkle, diabolische Intelligenz. Eine Intelligenz, die Kluftinger anwiderte, vor der er sich fürchtete.

Übernächtigt und mit einem pulsierendem Schmerz in seinem rechten, blutenden Arm, gingen ihm diese Gedanken durch den Kopf, als er zusammen mit Strobl im kalten Licht der Neonlampen, die das fensterlose Verhörzimmer II erhellten, den Mann vor sich taxierte. Seine Kollegen bearbeiteten zur gleichen Zeit Hiltrud Urban in einem anderen Zimmer. Hartmann hatte es abgelehnt, einen Anwalt hinzuzuziehen. »Ich habe das Gesetz studiert«, war seine Antwort auf die Frage nach einem Rechtsbeistand gewesen.

Kluftinger setzte erneut an: »Warum haben Sie Ihren Sohn zum Mörder gemacht?«

Der Richter schwieg lange. Er schien genau abzuwägen, welche Information er preisgeben wollte und welche rechtlichen Folgen das nach sich ziehen würde. Dann starrte er Kluftinger in die Augen und sagte: »Ich habe keinen Sohn.«

Der Kommissar hielt dem Blick des Richters stand und versuchte, darin zu lesen: Wollte er jetzt seinem Sprössling alles in die Schuhe schieben? Ihn zu seiner Entlastung vor ihren Augen verstoßen? Aber er hatte doch praktisch schon alles zugegeben. So dumm konnte er nicht sein. Nicht nach allem, was er bis dahin ausgeheckt hatte.

Die Türe ging auf und Sandy kam herein. Sie war bis jetzt im Büro bei Möbius geblieben. Dann hatte sie Kaffee für alle gekocht. Sie war wirklich die gute Seele dieses Kommissariats.

Als sie die Türe leise geschlossen hatte, sah Kluftinger, dass sie ein braunes Fläschchen in der Hand hielt. In der anderen trug sie Verbandszeug. Sie nickte ihm zu und er wandte sich wieder um. Er musste kurz überlegen, wo er stehen geblieben war. »Sie wollen jetzt also alles auf Ihren Sohn abwälzen? Das wird Ihnen keiner abnehmen, Hartmann.« Das »Herr« sparte sich Kluftinger mittlerweile. Nicht zu glauben, dass er ihn noch vor ein paar Tagen ehrfurchtsvoll mit »Herr Richter« angesprochen hatte.

Während er dies sagte, machte sich Sandy an seinem Ärmel zu schaffen, krempelte das Hemd hoch und untersuchte die Wunde. Kluftinger zog seinen Arm weg, doch sie packte ihn und hielt ihn fest. Es passte ihm gar nicht, dass sie ausgerechnet jetzt, während er dieses so wichtige Verhör führte, seinen Arm verarzten wollte.

»Sie verstehen gar nichts«, fuhr Hartmann fort, während Sandy ein paar Tropfen aus der mitgebrachten Flasche auf ein Tuch träufelte. »Ich habe keinen Sohn. Unsere Ehe war kinderlos.«

»Aber … «, Kluftinger verstand nicht, was das zu bedeuten hatte, doch der plötzlich aufwallende, brennende Schmerz in seinem Arm ließ ihn ins Stocken geraten. Seine Haut fühlte sich an, als hätte jemand darauf ein Feuer angezündet. Ein kurzer Seitenblick zeigte ihm, dass Sandy die mit der Tinktur getränkte Binde auf die Wunde gepresst hatte. Mit hochrotem Kopf entzog er den Arm nun endgültig seiner Sekretärin und gab ihr durch Kopfnicken deutlich zu verstehen, dass sie sich entfernen solle. Da sie ihr Werk offenbar ohnehin als vollendet ansah, schlüpfte sie widerspruchslos durch die Tür.

Kluftinger besann sich auf den letzten Satz des Richters: Seine Ehe war kinderlos. Was sollte das nun wieder bedeuten? Sie hatten seinen Sohn doch erwischt. Auch Strobls Blick verriet, dass er keine Ahnung hatte, worauf Hartmann hinaus wollte. Der Richter schien sich über die Ratlosigkeit in den Augen der Polizisten regelrecht zu freuen. Mit einem süffisanten Lächeln sagte er schließlich: »Wenn Sie Ihre Arbeit etwas gründlicher gemacht hätten, meine Herren, dann hätten Sie das sicher herausgefunden. Aber die Unfähigkeit der Polizei, die ich als Richter ja aus nächster Nähe erfahren durfte, habe ich natürlich einkalkuliert.«

Die Adern auf Kluftingers Schläfen traten hervor. Er zählte innerlich bis drei, denn er wollte sich auf keinen Fall provozieren lassen.

»Tja, wir haben Sie, oder nicht?«, sagte er, als er sich wieder im Griff hatte.

Hartmann spannte seine Kiefermuskulatur an.

»Das schon, aber Ahnung haben Sie trotzdem keine.«

»Erleuchten Sie uns«, warf Eugen Strobl beleidigt ein.

»Meine Frau ist vergewaltigt worden, vor dreißig Jahren.«

Der Richter hatte den Satz geradezu ausgespuckt. Strobl und Kluftinger blickten sich an. Der Abend hielt noch immer Überraschungen bereit.

»Wir waren völlig verzweifelt damals, meine Frau hat den Schock nie überwunden. Unser Leben war zerstört. Unwiderruflich. Und wissen Sie, was das Schlimmste ist? Der Kerl läuft noch immer frei herum. Man hat ihn nie überführen können. Niemand weiß, wer es getan hat. Nicht einmal ich als Richter konnte dagegen etwas unternehmen.«

»Und Ihr Sohn … «

» … ist nicht mein Sohn, richtig. Wir wollten ihn nicht, aber er ist auch ein Geschöpf Gottes. Damals haben wir den göttlichen Plan, der hinter all dem stand, nicht durchschaut. Aber sehen Sie, wie sich jetzt alles gefügt hat?«

Kluftinger schauderte. Er schien tatsächlich zu glauben, dass ein höherer Ratschluss hinter all diesen schrecklichen Ereignissen steckte. »Dass Sie Ihr … dass Sie das Kind Ihrer Frau zum Mörder gemacht haben?«

»Nicht zum Mörder. Zum Richter!«

Langsam dämmerte es dem Kommissar. Er begann zu verstehen, was Hartmann mit seinem Feldzug bewirken wollte.

»Sie meinen, weil Ihre Frau einmal etwas Schreckliches erlitten hat, sollten auch andere leiden?«

»Nichts! Sie haben nichts begriffen«, schrie der Richter plötzlich. »Mir ging es nicht um Rache. Rache ist allein Gott vorbehalten. Mir ging es um Gerechtigkeit. Weil das menschliche Gesetz manchmal nicht ausreicht, Unrecht zu sühnen, deswegen musste ich handeln. Wir haben es am eigenen Leib erlebt. Aber letztlich war es uns wohl so bestimmt.«

»Meinen Sie … also«, Kluftinger wusste gar nicht, wie er die Frage formulieren sollte, »Sie meinen tatsächlich, Sie hätten einer höheren Gerechtigkeit gedient?«

Er nickte.

Kluftinger dachte nach. Vielleicht wollte er auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren. Ein Schachzug, der ihm angesichts der Absurdität seiner Taten durchaus gelingen könnte. Aber er wollte ihn nicht so einfach davonkommen lassen.

»Sie waren doch Richter, Sie haben das Gesetz vertreten … «

»Ja, aber eben dieses Gesetz hat mir auch Grenzen auferlegt. Grenzen, die ich immer schwerer akzeptieren konnte. Haben Sie denn noch nie das Gefühl gehabt, dass ein Verbrecher, den sie durch mühsame Ermittlungen ausfindig gemacht haben, wegen der Unzulänglichkeit unserer Gesetze viel zu gut davon kam? Vielleicht sogar als freier Mann den Gerichtssaal verlassen hat?« Er schaute den Kommissar durchdringend an. »Nehmen Sie mich: Mich kriegen Sie bestenfalls wegen Beihilfe, vielleicht sogar Anstiftung dran. Nach maximal fünfzehn Jahren bin ich wieder draußen. Dasselbe gilt für meine Frau. Und dem Jungen wird wegen seines Geisteszustands gar nichts passieren. Na, kennen Sie dieses Gefühl? Können Sie es jetzt nachvollziehen?«

Natürlich kannte der Kommissar dieses Gefühl. Und manchmal, zu Beginn seiner Karriere, hatte es ihn auch noch in Rage versetzt. Aber er hatte sich im Laufe der Zeit abgewöhnt, darüber nachzudenken. Er war nur ein kleines Rädchen im Getriebe der Verbrechensbekämpfung und er gab sein Bestes, dass dieses kleine Rädchen wie geschmiert lief. Alles andere war nicht seine Sache. Letztlich oblag es der Gesellschaft, die Normen festzulegen, nach denen die Strafen bemessen wurden. Und dieser gesellschaftliche Konsens war einem steten Wandel unterworfen. Durften Kinder früher von ihren Eltern ungestraft misshandelt werden, so war nun sogar schon eine Ohrfeige verboten. Ein Fortschritt, sicherlich, aber wer garantierte, dass es nicht auch wieder in die andere Richtung gehen würde?

Diese Wandelbarkeit des Gerechtigkeitsbegriffes schien der Richter aber nicht akzeptieren zu wollen: »Es hat mich krank gemacht, verstehen Sie? Ich bin der Meinung, man kann einen Rechtsbruch nicht absolut sehen und sanktionieren. Es kommt immer darauf an, welchen Schaden jemand durch diesen Rechtsbruch erleidet. Aber darum kümmert sich das Gesetz einen Dreck. Schlimmer noch: In bestimmten Fällen wird das Gesetz zum Komplizen. Was glauben Sie zum Beispiel, ist eine intakte Gesundheit wert? Meinen Sie nicht, die wäre höher anzusiedeln als ein materiell erlittener Schaden? Sofern aus dem keine Gesundheitsschäden resultieren, versteht sich. Unser Rechtssystem sieht das aber oft genug anders. Glauben Sie, es kann eine Entschädigung für die seelischen Höllenqualen geben, die ein Vergewaltigungsopfer durchmacht? Nein. Und kann dem Täter keine Tötungsabsicht nachgewiesen werden und war er vielleicht auch noch betrunken, dann hat er nicht viel zu erwarten. Aber das Opfer, mein Lieber, das Opfer führt ein anderes Leben. Es wird immer Opfer bleiben. Und dagegen musste ich etwas tun.«

Der Kommissar schüttelte nur den Kopf. Ihm fiel wieder das Bild im Gericht ein: Willkür und Blutgericht wären die Folgen, wenn sich jeder selbst zum Richter berufen würde.

»Ich würde ja gerne sagen, dass Sie mir Leid tun, aber eigentlich tun mir nur Ihre Opfer Leid. Ist Ihnen nicht klar, dass Sie selbst zum Täter geworden sind?«

»Ach hören Sie doch auf. Das waren die Täter, nicht ich, nicht wir.«

»Herrgottnochmal, Sie sind krank, Hartmann!«

»Ich würde es bevorzugen, wenn Sie in meiner Gegenwart nicht fluchen.«

Kluftinger war so perplex, dass es ihm kurzzeitig die Sprache verschlug. Das war nun wirklich der Gipfel der Bigotterie.

»Glauben Sie im Ernst, dass Gott Ihre Taten gutheißt?«, fuhr er ihn an, wobei er ihm so nahe kam, dass der seinen Atem spüren konnte.

»Sie verstehen es immer noch nicht, oder? Wie kann ich es Ihnen erklären, damit Sie es mit Ihrem schlichten Gemüt erfassen können? All das, was wir getan haben, haben wir als Werkzeuge Gottes getan.«

›Werkzeuge Gottes‹, der Mann redete wie ein Inquisitor aus dem Mittelalter.

Dann lächelte er bitter. »Sie begreifen es ja doch nicht … «

»Reden Sie, ich möchte es verstehen.«

»Es waren kleine Zeichen, Puzzleteile, wenn Sie so wollen, die sich zu einem Bild zusammengefügt haben. Und am Ende war alles klar.«

Kluftinger sagte nichts. Er wollte, dass Hartmann weiter erzählte.

»Meine Frau war schon immer sehr gläubig, ganz im Gegensatz zu mir. Auch ich war einmal ein arroganter Jurist, der sich mit Winkelzügen behalf. Aber als dieser schreckliche Vorfall passiert ist, da habe auch ich zum Glauben gefunden. Gott hat uns Kraft gegeben. Wofür, das wussten wir damals natürlich noch nicht. Und dann kamen die Zeichen.«

Strobl sah seinen Chef fragend an, doch der zuckte nur mit den Schultern.

»Wissen Sie, wie oft ich an diesem Gemälde in der Residenz vorbeigegangen bin? Fiat Justitia, dieser Satz hat sich in mein Gedächtnis gebrannt. Ich bin mir auch sicher, dass Sie nicht wussten, dass es einen Kemptener Fürstabt gegeben hat, der ›von Brentano‹ hieß. Auch der ist auf dem Gemälde, auch ihn sah ich jeden Tag. Und dann, eines Tages, der Fall Sutter. Eine alte Frau – ein Opfer, das aus Gram gestorben ist. Sie können sich vorstellen, dass ich wie elektrisiert war, als ihr Sohn, der Brentano, dem Sie dank Ihres Spürsinns einen Aufenthalt in Untersuchungshaft beschert haben, im Gerichtssaal plötzlich von der göttlichen Gerechtigkeit anfing. Ich wusste, dass die Worte eigentlich mir galten, nicht Sutter.

Und dann kam das letzte Puzzleteil. Bei meiner Pensionierung bekam ich einen Gedichtband geschenkt, weil ich Lyrik sehr mag. Näher als mit einem vollendeten Gedicht können die Menschen der Sprache Gottes nicht kommen. Nun ja, als ich diesen Band durchblättere, stoße ich auf diese unglaublichen Zeilen.«

Hartmann schloss die Augen und holte tief Luft, bevor er weiter redete: »Es ist ein Schnitter, der heißt Tod. Er mäht das Korn, wenn’s Gott gebot … Ich war aufgewühlt. Wieder habe ich gespürt, dass diese Worte mir galten. Und dann kam die Gewissheit und sie traf mich wie ein Donnerschlag, das können Sie mir glauben. Das Gedicht war von Clemens Brentano! Wie hätte ich da noch an Zufall glauben können?«

Hartmann hatte das alles leise, mit fester Stimme und im Brustton der Überzeugung vorgetragen. Kluftinger hatte keinen Zweifel: Der Mann spielte nicht, er glaubte, wovon er sprach. Und dem Kommissar jagte ein Schauer über den Rücken, denn auch er fand diese Zufälle eigenartig. Noch vor zwei Wochen hätte er das alles als Hirngespinste eines Irren abgetan, aber in diesen zwei Wochen war zu viel passiert.

Er dachte nach: Der Richter hatte ein Geständnis abgelegt, das Motiv war klar. Nur das »Wie« stand noch ungeklärt im Raum. »Ihre Taten zu beurteilen ist nicht meine Aufgabe. Mein Beruf ist es, Fragen zu stellen. Fragen wie diese: Wie haben Sie Ihren Sohn davon überzeugt, zu tun, was er getan hat? Ich nehme an, er war Ihr ausführendes Organ?«

»Überzeugt? Den muss man nicht überzeugen. Wir haben gesagt, was zu tun ist, und er hat gehorcht. Wissen Sie, er ist, wie soll ich sagen, schlichter Natur. Wie Sie sehen, passt auch das in den wunderbaren Plan.«

»Sie haben gesagt, ›wir haben befohlen‹. Also war Ihre Frau von Anfang an mit dabei? Sie müssen sie nicht belasten, das wissen Sie ja.«

»Es geht hier nicht darum, zu belasten. Wir unterstehen nicht mehr Ihrer Gerichtsbarkeit, auch wenn Menschen uns aburteilen. Natürlich war es meine Frau. Ich habe zu dem Jungen ja nie einen Draht entwickelt. Aber meiner Frau frisst er aus der Hand. Die hat ihm sagenhafte Geschichten erzählt – vom Dengelstein und so fort

– und irgendwann wusste auch er, dass es seine Bestimmung ist, mit der Sense zu richten.« »Haben Sie nie davor zurückgeschreckt, Ihren … nun, den

Sohn Ihrer Frau zu einem Mörder zu machen?« »Ich habe viel Geduld, aber strapazieren Sie sie nicht über die Maßen. Wir haben ihn nicht zum Mörder gemacht, sondern zum Werkzeug einer höheren Gerechtigkeit. Sie sollten vielleicht einmal wieder in die Kirche gehen, dann wüssten Sie, was das bedeutet.«

»Ach ja?«, fauchte Kluftinger zurück. »›Du sollst nicht töten‹ heißt es in der Bibel, nicht wahr? Mir scheint, Sie haben das ein oder andere vergessen!«

»In der Bibel steht auch ›Auge um Auge, Zahn um Zahn‹. Ich halte mich gern an den alttestamentarischen, zürnenden Gott«, erwiderte der Richter ungerührt.

Kluftinger schnaufte. Es war nicht seine Aufgabe, den Mann zu bekehren. Er brauchte nur noch ein paar Informationen, dann würde er sich nie wieder mit ihm befassen müssen. Dann würde die Gerechtigkeit ans Werk gehen, an die er glaubte.

»Eine Frage habe ich noch: Ich nehme an, die Kollegen der Spurensicherung werden am Dengelstein Spuren von Michaela Heiligenfelds Blut finden. Wir haben nämlich bisher nicht feststellen können, wo sie getötet wurde.«

Hartmann widersprach nicht.

»Aber was war mit Sutter? Den haben Sie nicht dort … exekutiert.«

»Die Wege des Herrn sind unergründlich. Sutter war stärker, als der Junge gedacht hat. Er hatte dafür keine Zeit mehr. Er musste sofort handeln. Es gab einen Kampf, ich nehme an, Sie werden Spuren bei der Leiche gefunden haben.« Kluftinger fiel die Platzwunde auf Sutters Stirn wieder ein und er nickte.

Hartmann ergänzte noch: »Ich finde, angesichts seines geistigen Zustands hat er gut improvisiert.«

Kluftinger zog sich der Magen zusammen, als der Richter ihn für sein Vorgehen lobte.

»Wie viele standen noch auf Ihrer Liste, Hartmann?«

Hartman antwortete mit einer Gegenfrage: »Wie viele Strophen hat das Gedicht?«

Kluftinger begriff, was er sagen wollte. Er hatte genug gehört. Auf einmal machte sich der Schmerz in seinem Arm wieder bemerkbar. Er fühlte sich leer und ausgebrannt. Er gab Strobl ein Zeichen und sie gingen nach draußen. Bevor er die Tür öffnete, drehte sich Kluftinger noch einmal um. »Wieso dieser ganze

Sagen-Firlefanz?«, wollte er wissen.

»Hätten Sie sonst verstanden?«

»Wenn es ein göttlicher Plan war, Hartmann, und wenn Ihre Liste noch länger war: Wieso sitzen Sie dann jetzt hier?«

Das ratlose Gesicht des Richters war das letzte, was der Kommissar sah, bevor er die Tür hinter sich schloss.

***

»Was hat er damit gemeint: ›Hätten Sie sonst verstanden?‹«, fragte Eugen Strobl seinen Chef, als sie auf der Couch in seinem Büro Platz nahmen.

»Ich vermute, dass wir sonst nicht verstanden hätten, warum sie sterben mussten. So hat er es vermutlich gemeint.«

Eine ganze Weile blieb es still im Zimmer. Dann sagte Strobl: »Vielleicht hat er Recht.«

Kluftinger antwortete nicht. Er war völlig erschöpft. Es war kurz nach Mitternacht. Eigentlich hatte er sich seinen Sonntag anders vorgestellt.

Die Türe ging auf, Maier und Hefele kamen herein. Sie ließen sich mit einem Seufzen ebenfalls in die Sessel plumpsen. Hefele wirkte irritiert.

»Hat euch die Urban nichts gesagt?«, wollte der Kommissar wissen.

»Doch, das ist es ja gerade. Alles. Sie hat nicht einmal ansatzweise versucht, sich irgendwie rauszureden. Wir könnten ihr nichts anhaben, hat sie immer wieder gesagt.«

Kluftinger und Strobl nickten. Dann sagte ein paar Minuten keiner mehr etwas. Sie hingen einfach nur ihren Gedanken nach, versuchten, das eben Gehörte zu verarbeiten.

»Wisst ihr was, Männer?«, durchbrach Kluftinger plötzlich das Schweigen. »Ich geb einen aus.«

»Ja, da schau her. Ganz neue Töne«, freute sich Hefele. »Hast du hier irgendwo einen Flachmann versteckt?«

»Nein, mit Alkohol kann ich leider nicht dienen. Aber ich hab was Besseres. Flüssiges Gold sozusagen.«

Seine Kollegen sahen mit ratlosen Blicken, wie er hinter seinem Schreibtisch verschwand und eine Flasche Apfelsaft hervorzog.

»Kluftinger Gold, aus eigener Mostung. Da geht nix drüber!«

»Genau: Heute wird mal nicht aufs Geld geschaut«, spottete Strobl. Dennoch nahm sich jeder ein Glas und hielt es unter die Flasche.

»Ach, wird hier ohne misch gefeiert?« Sandy war unbemerkt ins Büro gekommen.

»Nein, nein, Fräulein Henske. Nehmen Sie sich ein Glas.«

»Wie geht’s dem Arm?«

Er brannte immer noch wie Feuer.

»Merkt man kaum noch«, antwortete der Kommissar.

Sie hoben die Gläser und prosteten sich zu. Zum ersten Mal an diesem Tag waren sie ausgelassen. Und Kluftinger tat aus dieser Euphorie heraus etwas, was er unter normalen Umständen nicht gemacht hätte: Er ging zum Telefon, tippte eine Nummer ein, wartete und sagte dann: »Ja. Kluftinger. Herr Lodenbacher, wenn Sie wollen – wir stoßen hier gerade ein bisschen auf das Ende der Ermittlungen an … Ja, bis gleich.«

Kurze Zeit später erschien ihr Chef etwas misstrauisch, weil er offenbar selbst nicht so recht glauben konnte, dass ihn die Kollegen zu einem Umtrunk einluden. Auch er war sichtlich froh, dass nun alles zu Ende war, und ließ sich in der allgemeinen Hochstimmung zu ungewohnten Äußerungen hinreißen: »Auf meine besten Männer«, sagte er mit erhobenem Glas in feierlichem Hochdeutsch und schob, als er den strafenden Blick von Sandy Henske bemerkte, nach: »Und de beste Sekretärin.« Es blieb nicht die einzige Flasche Apfelsaft, die an diesem Abend geleert wurde. Und Sandy steuerte sogar noch eine Packung Salzstangen bei. Obwohl es bereits sehr spät war und alle mitgenommen und erschöpft waren, wollten sie noch nicht nach Hause. Als hätten sie Angst vor dem Loch, in das sie nach dieser aufwühlenden Zeit fallen würden, saßen sie blass auf dem Sofa und freuten sich über den gemeinsam erreichten Erfolg. Daheim hätten sie zwar auch davon erzählen können, verstanden hätte man sie aber nicht. Ihre Lieben hätten geduldig zugehört und ihre Ausführung mit Einwürfen wie »Um Gottes Willen« oder »Wirklich?« quittiert. Doch was es wirklich bedeutete, das konnten nur die Kollegen nachvollziehen, die dabei gewesen waren.

Etwa um eins verabschiedeten sich Dietmar Lodenbacher und Sandra Henske. Sie wolle noch bei Möbius vorbeischauen. Es war ausgerechnet Hefele, der ihr auftrug, ihm einen schönen Gruß auszurichten. Und Lodenbacher wies sie alle an, morgen nicht vor elf Uhr im Büro zu erscheinen.

Als sie gegangen war, sagte Strobl: »Apropos Möbius: Gibt es da was, was wir wissen müssten?«

Kluftinger verstand nicht. »Wie – was ihr wissen müsstet?«

»Na, ihr scheint ja inzwischen sehr intim zu sein«, ergänzte Maier.

»Sag mal, spinnt’s ihr, oder was?«

»Komm, kannst doch dazu stehen«, stimmte auch Hefele in den Chor mit ein.

»Wahre Liebe gibt’s eh nur unter Männern, das weiß doch jeder«, stichelte Strobl weiter. »Und wie er dir um den Hals gefallen ist, als du mit seinem Bruder zurückgekommen bist, also das war doch nicht nur Dankbarkeit, oder?«

Kluftinger lief rot an. Ihm war es auch unangenehm gewesen, dass der Staatsanwalt seine Verbundenheit gleich so deutlich hatte zeigen müssen. Aber dass seine Kollegen immer noch auf diesem Thema herumritten …

»So, Schluss jetzt. Wir gehen jetzt alle heim«, sagte er schließlich und beendete damit ihre traute Runde.

Als er das Licht ausschaltete, fügte er noch hinzu: »Und mit dem Moster muss ich auch noch ein Wörtchen reden. Ich glaub, der hat mir da vergorenen Saft angedreht, so wie der auf euch wirkt.«