»Sei aber leise, nicht dass der Markus aufwacht!«

Natürlich: der Markus. Wenn ihr Sohn da war, dann gab es für Erika Kluftinger nur eine Sorge. Auch heute Morgen um

6.30 Uhr. Sie war wach geworden, als Kluftinger sich wie immer zwar leise, allerdings etwas weniger rücksichtsvoll als zu Beginn ihrer Ehe aus dem Bett geschlichen hatte, um sich für die Arbeit fertig zu machen. Und ihr erster Gedanke galt, sozusagen Millisekunden nach dem Verlassen der Tiefschlafphase, wie ihr Mann mit einer Mischung aus Amüsement und Bitterkeit feststellte, ihrem Sohn. Er konnte sich über die Fürsorge seiner Frau eigentlich nicht beklagen, aber ihr Sohn war, was das betraf, konkurrenzlos. Wenn er ehrlich war, musste auch er nicht weit fahren, um selbst Objekt einer solch umfassenden Betreuung zu werden, denn seine Mutter wohnte im gleichen Ort. Trotzdem war er diesbezüglich manchmal ein bisschen eifersüchtig auf seinen Sprössling, der ihm selbst ja durchaus auch am Herzen lag, auch wenn seine Frau das manchmal zu bezweifeln schien.

Nicht nur deswegen freute er sich geradezu darauf, nun exakt das Gegenteil dessen zu tun, wozu ihn seine Frau gerade aufgefordert hatte. Er tapste mit dem festen Vorsatz auf Zehenspitzen in den Hausgang, seinen Sohn trotz der frühen Stunde aufzuwecken. Aber er wollte ihn nicht ärgern. Nein, ihm war ihr gestriges Gespräch nicht mehr aus dem Kopf gegangen: Markus hatte sich als scharfsinniger Beobachter erwiesen, was Kluftinger nicht nur mit Stolz, sondern auch mit der Gewissheit erfüllte, ihn das Richtige studieren gelassen zu haben, auch wenn es bis zu dieser Erkenntnis ein wenig gedauert hatte. Psychologie war nicht gerade Kluftingers Wunschfach gewesen. Manchmal hatte er sich sogar ein bisschen geniert, wenn er in geselliger Runde, in der andere Eltern mit Europäischer Wirtschaft oder Informatik als zukunftssichere Studiengänge für ihren Nachwuchs angaben, lediglich Psychologie zu bieten hatte – ein Berufsfeld, das nun mal den Ruf hatte, vornehmlich von Menschen ausgeübt zu werden, die selbst nicht immer die beste Ordnung im Oberstübchen hatten. Und natürlich war Kluftinger gerne Zielscheibe des Spotts seiner Mitmenschen, die ihn dann mit Bemerkungen malträtierten wie »So, kommt dein Sohn dann mal auf Kaufbeuren?« – dort gab es eine geschlossene psychiatrische Anstalt – oder »Manche Dinge vererben sich eben einfach«.

Gestern aber hatten sie, soweit er sich erinnern konnte, ihr erstes Fachgespräch gehabt, in dem jeder die Kenntnisse des anderen respektierte – und das hatte ihm nicht nur gefallen, er versprach sich auch für das Fortkommen in seinem Fall einiges von einer Vertiefung des Themas.

»Markus … äh … bist du schon wach?«

Er sah sofort ein, dass das eine dämliche Frage war. Nicht nur, weil halb sieben nicht gerade die Zeit war, in der Studenten aufzustehen pflegten. Natürlich auch, weil die Antwort »Nein« keine wirkliche Option war. Er hatte früher aus gutem Grund das Wekken seiner Frau überlassen. Die hatte eine gewisse zärtliche Bestimmtheit, die einen sanft vom Reich der Träume in den Tag hinübergleiten ließ, während man sich bei ihm vorkam, als würde er mit seiner Trommel durchs Zimmer marschieren.

»Hm?«, kam es leise und etwas desorientiert aus Markus’ Bett.

»Ich würd’ gern noch vor dem Arbeiten mit dir über gestern weiter reden. Über den Fall. Wir konnten ja nicht wegen … na, jedenfalls ging’s ja dann nicht mehr.« Er scheute sich, zu sagen »wegen deiner Mutter«, denn sie hatte sich ja auf ihn gefreut und natürlich das gleiche Recht, mit ihrem Sohn zu reden, wie er.

»Komm sofort«, tönte es erstaunlich wach aus dem Dunkel.

Gut gelaunt ging Kluftinger ins Bad, und als er herauskam, saß Markus schon am Frühstückstisch und las die Zeitung.

»Was zu essen?«, fragte Kluftinger.

»Ja. Kaffee. Schwarz.«

»Hör mal, es tut mir Leid, dass ich dich so früh geweckt habe, aber … «

»Schon gut. Ich bin gar nicht mehr der Langschläfer von früher.«

Kluftinger seufzte. Früher hätte man Markus am Wochenende nicht vor zwei aus dem Bett bekommen – jedenfalls nicht ohne Androhung körperlicher Gewalt. Kluftinger hatte das nie verstanden und polterte dann bei seinen täglichen Verrichtungen immer besonders laut durchs Haus. Nicht aus Bosheit. Er fand einfach, dass es sich nicht gehöre, dem lieben Gott so den Tag zu stehlen. Sein Vater hätte ihn wahrscheinlich aus dem Bett geprügelt, wenn ihm eingefallen wäre, auch nur eine Minute länger als bis acht Uhr liegen zu bleiben. Aber das waren wohl andere Zeiten gewesen.

»Also, wegen gestern: Du hast da ein paar interessante Dinge gesagt.«

Markus sah auf einmal gar nicht mehr so zerknittert aus. Es kam selten vor, dass er von seinem Vater gelobt wurde.

»Vor allem das, wo du gemeint hast, der Mörder will, dass die Tat dechiffriert wird.«

»Ja. Das ist ein plausibler Grund. Er – ich denke wir können bei der männlichen Form bleiben, denn alles deutet auf einen Mann hin, aber das kann ich später noch genauer ausführen, wenn du willst – also, er arrangiert die Leichen. Quasi ein Schulbeispiel. Könnte ich mal ein Referat drüber halten.«

Kluftinger erschrak: »Ich darf dir das alles eigentlich gar nicht erzählen, das ist dir schon klar, oder?«

»Vatter, das war nur Spaß. Natürlich bleibt das alles unter uns.«

»Ach so, gut. Hast du sonst noch irgendwelche Ideen?«

»Na ja, ich denke, dass der Mörder Sagenmotive benutzt, ist kein Zufall. Auch das hat einen Hintergrund, der uns weiter auf seine Spur bringen kann.«

Jetzt war Kluftinger baff. Er hatte noch keine Silbe über die Sagen verloren. Sie hatten über eine Woche gebraucht, um darauf zu kommen, und Markus schüttelte diese Erkenntnis einfach aus dem Ärmel. Er hob gerade zu einem weiteren Lob an, da sagte sein Sohn: »Kannst dir die Luft sparen.«

Mit diesen Worten schob er ihm die Zeitung über den Tisch.

Entsetzt las Kluftinger die Überschrift, auf die Markus’ Finger deutete: »Mörder nimmt Sagen als Vorbild«.

»Wie … « Kluftinger riss die Zeitung an sich und überflog den Artikel. Dann legte er sie ganz langsam zurück, biss die Zähne zusammen und presste nur ein Wort hervor: »Maier!«

»Dein Kollege?«

Der Kommissar nickte. Dann schlug er sich gegen die Stirn. »Ich bin wahrscheinlich selber schuld. Ich hab ihnen aufgetragen, überall anzurufen, um das Sagenmotiv für den ersten Mord rauszufinden. Und Maier kennt doch einen von der Zeitung ganz gut, einen Älteren, der immer so Heimatthemen macht. Vielleicht hatte er … na, der soll mir nur kommen.«

»Beruhig dich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das eurer Arbeit schaden wird, na ja, wenn man vom öffentlichen Interesse und dem Druck, der damit auf eure Arbeit ausgeübt wird, einmal absieht. Aber wir sollten … ich meine: ihr solltet euch auf den Mörder konzentrieren.«

»Du hast Recht«, sagte der Kommissar. Aber Maier würde er sich trotzdem noch zur Brust nehmen.

»Also, wie hilft uns das jetzt weiter?«

»Das mit den Sagen? Na ja, der Mörder transportiert auf eine perverse Art irgendeine Botschaft. Es gibt mehrere Möglichkeiten, wie die lautet: Er könnte zum Beispiel seine Allmacht einerseits und die Unfähigkeit der Polizei andererseits damit zum Ausdruck bringen wollen, ein klassisches Motiv. Das glaube ich in diesem Fall allerdings nicht. Denn dazu bräuchte er kein so kompliziertes Arrangement. Es würde reichen, wenn er sich ein Markenzeichen zulegt. In den USA hat es das schon des Öfteren gegeben. Wenn Täter etwa immer eine Spielkarte am Tatort zurücklassen, dann sagen sie damit: Ich war schon da und ihr habt mich wieder nicht gekriegt. Ein so aufwändig konstruiertes Gebilde, wie ihr es gefunden habt, passt also nicht in dieses Schema.«

Kluftinger hörte fasziniert zu. Er hatte jahrzehntelange Erfahrung im Polizeidienst, aber so wie sein Sohn zu formulieren, das hätte er nicht fertig gebracht. Bei ihm kam vieles einfach aus dem Bauch, ohne dass er daraus Täterprofile hätte erstellen können. Und sein Bauch sagte ihm auch, dass Markus Recht hatte.

»Sondern?«

»Ich denke, er will, dass ihr den Mord ›lest‹. Es ist eine Art der Kommunikation. Ich … ja, ich glaube, euer Mörder will verstanden werden.«

»Wie bitte?«

»Na, er will, dass ihr eine bestimmte Botschaft, vermutlich über sein Motiv, herausfindet und dann vielleicht zu dem Schluss kommt: Er hat korrekt gehandelt.«

»Korrekt gehandelt? Bei zwei Morden?«

»Nicht aus eurer, aus seiner Sicht. Die musst du dir als Psychologe zu eigen machen. In unserem Seminar war das die erste Prämisse. Ich versuche wie der Täter zu denken.«

Kluftinger nahm einen Schluck Kaffee. Er war lauwarm. Er hatte vergessen zu trinken, weil ihn Markus’ Vortrag so fesselte.

»Also, wenn ich das richtig verstanden habe«, fasste Kluftinger die Gedanken seines Sohnes zusammen, »dann will der Mörder erreichen, dass wir uns mit seiner Tat auseinandersetzen.«

»Genau.«

»Aber warum macht er es dann so kompliziert? Mit den ganzen Sagen? Das hätte er schließlich auch einfacher haben können. Wir hätten das ja auf jeden Fall getan, das muss ihm doch klar sein.«

»Ihr hättet es aus der Sicht eines Polizisten getan. Nach dem Motto: Hatte das Opfer Feinde? Wer hat es zuletzt gesehen und so weiter. Aber jetzt seid ihr gezwungen, die Morde aus einer anderen Sicht zu betrachten – aus seiner.«

Kluftinger schluckte. Natürlich wusste auch er, dass man sich in die Täter hineinversetzen musste. Aber vielleicht tat er das in seiner täglichen Arbeit zu wenig. War er mit den Jahren betriebsblind geworden?

»Ich denke, wenn wir genauer hinschauen, können wir vielleicht etwas mehr daraus lesen, als er uns eigentlich mitteilen wollte«, fuhr Markus fort.

»Und das wäre?«, fragte Kluftinger gespannt, aber skeptisch.

»Nun, wie du gesagt hast, wird er wissen, dass die Polizei sich auf jeden Fall mit der Tat auseinandersetzen muss. Aber das reicht ihm nicht. Das heißt, dass ihr mehr rausfinden sollt, als ihr herausfinden würdet, wenn es ein ganz ›normaler‹ Mord wäre. Also kann man wohl davon ausgehen, dass es sich nicht um ein normales Opfer-Täter-Verhältnis handelt, der Täter also mutmaßlich nicht in direktem, engen Kontakt zu seinem Opfer stand, wie es meistens der Fall ist.«

Es fiel dem Kommissar schwer, zu glauben, dass das da vor ihm sein Sohn war. In ein paar Minuten hatte der ihm mehr über den Täter verraten, als er die letzten Tage herauszufinden im Stande gewesen war. Jedenfalls kam es ihm so vor.

»Können wir sonst noch etwas herauslesen?« Kluftinger kam sich vor wie das Publikum eines interessanten Vortrags: aufmerksam-unbeteiligt, zum untätigen Staunen verurteilt.

»Ja, lass uns noch mal einen Schritt weiter gehen. Also, unser Täter scheint der Meinung zu sein, eine Mission zu erfüllen. Eine Mission, die ihr erkennen sollt. Allerdings ist er sich natürlich auch darüber im Klaren, dass ihr versuchen werdet, seine Mission zu durchkreuzen. Das heißt: Einerseits braucht er euch, andererseits muss er vor euch auf der Hut sein. Auch deswegen ist das Ganze so verrätselt, schließlich sollen die Spuren nicht gleich zu ihm führen.«

»Klingt nach einem ausgefuchsten Plan.«

»Genau darauf will ich hinaus: Wir haben es hier mit einem gebildeten Menschen zu tun, etwas älter vielleicht, so zwischen vierzig und sechzig, würde ich meinen, denn Sagen sind kein Wissensgebiet für junge Menschen und in den Schulen werden sie heute kaum vermittelt. Also ein reiferer Täter, aber kräftig und sportlich, sonst hätte er die Tat nicht ausführen können. Und er muss planen, antizipieren können, sonst wäre er zu einer solchen Inszenierung nicht fähig.«

»Mehrere möglicherweise?«

»Möglich, aber nicht wahrscheinlich. Es kommt nicht oft vor, dass Täter mit so einer ausgeprägten Mission Mitstreiter finden. Aber man kann natürlich nie wissen. Das alles ist wissenschaftlich fundierte Spekulation, Rätselraten auf akademischem Niveau, wenn du so willst.«

Markus machte eine Pause, nahm einen Schluck Kaffee und starrte die Tasse an. Kluftinger sagte nichts, er hatte das Gefühl, dass sein Sohn noch nicht ganz fertig war.

»Eins noch: Der Mörder ist auch eitel. Er erhebt seine Taten zur Kunstform. Und Eitelkeit, das lehrt die Statistik, ist der schlimmste Feind von Verbrechern.«

Kluftinger nickte. »Ich hab nur noch eine Frage.«

»Schieß los.«

»Warum ausgerechnet Sagen? Warum nicht Märchen oder Bilder? Warum Sagen?« Er erzählte seinem Sohn, dass er sich bereits etwas in die Thematik eingearbeitet hatte, aber dabei noch nicht weiter gekommen war.

»Das ist nicht ohne weiteres zu beantworten«, erwiderte Markus zögerlich. »Man müsste das Pferd zur Beantwortung dieser Frage wohl eher von hinten aufzäumen und fragen: Was bedeuten Sagen eigentlich? Wofür haben wir unsere Mythen? Ein Ansatzpunkt, der mir hier hilfreich erscheint, ist, dass in Sagen sehr oft ein Gerechtigkeitsmotiv variiert wird. Allerdings mischt sich in der Regel eine transzendente Macht in das Geschehen ein.«

Mit einem großen Schluck trank Markus die Kaffeetasse leer, setzte sie geräuschvoll auf dem Tisch ab und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück, als erwarte er nun die Ovationen seines Vaters für seine Analyse. Und die ließen tatsächlich nicht lange auf sich warten, wenn auch etwas anders, als sich Markus das vielleicht erhofft hatte:

»Isch halt doch gut, dass ma den Bub hat studieren lassen«, sagte Kluftinger und fügte beim Blick auf die Uhr schnell hinzu: »Jessesmaria, ich muss ja schon längst weg.«

Er erhob sich, packte seinen Mantel und verließ das Haus so sehr mit Stolz angefüllt, dass er gar nicht wusste, wohin damit.

***

Sein Stolz wurde, je näher er seinem Büro kam, mehr und mehr von einem schlechten Gewissen verdrängt, weil er die Hausaufgaben, die er gestern der ganzen Sonderkommission gegeben hatte, selbst nicht gemacht hatte: Zum Lesen in den Sagenbüchern war er beim besten Willen nicht mehr gekommen. Aber er hatte in den Gesprächen mit seinem Sohn wahrscheinlich viel wichtigere Erkenntnisse für die Ermittlungen erlangt, rechtfertigte er sich vor sich selbst.

Als er an seinem Schreibtisch Platz nahm, wo sein PC bereits lief – er hatte nach dem Eklat mit dem Kollegen Hefele seine Sekretärin beauftragt, den Computer immer schon zu starten, bevor er da war, um, wie er sich ausgedrückt hatte, »möglicherweise wichtige Minuten« einzusparen – fand er nur eine einzige Mail in seinem Postfach.

Blau unterlegt las er die Worte »Neue Theorie – vertraulich« in der Betreffzeile, daneben stand der Absender: Maier, Richard KK. »O Jesses« flüsterte er. Mit einem Doppelklick öffnete er die Nachricht und begann zu lesen. Wie immer hatte Richard Maier alles klein geschrieben, weil man das im Internet eben so mache, das gehöre zur »Netiquette«, hatte er einmal doziert und keiner hatte danach gefragt, was Netiquette überhaupt sein solle, denn niemand wollte sich vor ihm eine Blöße geben:

»guten morgen, ich hab noch mal über die sache mit den gemeinsamkeiten nachgedacht und folgendes herausgefunden. also: gernot sutter hat seine firma in ursulasried gehabt. und zwar in der porschestraße. und die heiligenfeld hat, als sie noch verheiratet war und ihre praxis gut lief, ebenfalls in der porschestraße gewohnt. in füssen eben. außerdem hat sutter sicher einmal einen porsche gefahren, weil es ein aktenkundiges verkehrsvergehen gibt. könnte uns das weiterbringen? wir sollten, denke ich, auf jeden fall dranbleiben. sicher ist sicher. du musst auf diese nachricht nicht antworten. gruß R.«

Richard Maier unterschrieb seine E-Mails immer mit »R.«, weil er das für ein Markenzeichen hielt, wie er einmal sagte.

Kluftinger seufzte. Die abstrusen Zusammenhänge, die sein Kollege zu Tage förderte, hatten zwar einen gewissen Unterhaltungswert und wären ein gefundenes Fressen für Verschwörungstheoretiker gewesen. Ihnen halfen sie aber nicht weiter. Was hatte er denn bloß Falsches gesagt, dass sich Maier so in die Details verbiss? Was es auch gewesen war: Er wünschte, es wäre nie über seine Lippen gekommen. Das war ja geradezu lächerlich, was der sich da aus den Fingern sog. Jedenfalls wollte er den Notausgang, den Maier ihm in der Nachricht gelassen hatte, auch nutzen und löschte die E-Mail, ohne eine Antwort an den Absender zu schicken. So wäre es für beide wohl am wenigsten peinlich, fand er.

Als er Maier bei der »Morgenlage« traf, verlor keiner ein Wort über die neue Theorie. Ein paar geharnischte Worte wegen seines Anrufes bei der Zeitung, den er ohne Zögern eingestand, musste er allerdings über sich ergehen lassen – was offensichtlich sehr zum Amüsement der Kollegen beitrug. Aber Kluftinger fand, dass sich Maier diesen öffentlichen Rüffel verdient hatte.

Nach der Standpauke trug jeder ein paar Sagen vor, die er am vergangenen Abend gelesen hatte, was Kluftinger ein bisschen vorkam wie in der Schule, wenn die Kinder Inhaltsangaben abliefern mussten. Zum Leidwesen des Kommissars war jedoch keine Sage dabei, die auch nur im Entferntesten etwas mit Rappenscheuchen zu tun hatte. Dafür wurden von den Kollegen bereits Lieblingsgeschichten gekürt. An erster Stelle rangierten die »Pudel-Sagen«. Hefele hatte ein gewisses Talent im Vortrag dieser Geschichten, die alle nach einem ähnlichen Schema konstruiert waren: An bestimmten, meist einsamen oder gefährlichen Stellen eines Ortes wie Brücken oder kleinen Weg-Kapellen, wurden immer wieder Pudel gesichtet, die den Menschen Angst einjagten. Manchmal hatten sie feurige Augen, oder, wie im Fall des »nächtlichen Pudels bei Buchenberg« eine feuerrote Zunge. Oftmals löste sich der Pudel in einer stinkenden Wolke auf.

»Pass nur auf, in Altusried gibt’s fei auch so einen, den Kapellenpudel. Der springt einem auf den Rücken und dann muss man beim Tragen recht schwitzen«, rief Hefele lachend seinem Chef zu und ergänzte: »Na, aber dich wird er schon in Ruhe lassen, wo du doch an deiner Trommel in der Musikkapelle immer so schwer zu tragen hast.«

Die versammelte Gesellschaft lachte. Sein Mitwirken in der Blasmusik und die Klagen über das hohe Gewicht der großen Trommel waren immer wieder gern gewählte Anlässe für die Kollegen, ein bisschen über ihren Chef zu spotten.

Schließlich rissen alle Witze darüber, dass ausgerechnet Pudel – Hunde, die nach einhelliger Meinung der Kollegen zu den eher bemitleidenswerten Lebewesen gehörten – den Menschen Angst eingejagt hatten.

Das Lachen verstummte, als Maier darauf hinwies, dass der Pudel als ein Synonym des Teufels galt und nach wie vor gilt, etwa in Goethes Faust, wo sich Mephisto als Pudel zeige, was zu dem sprichwörtlichen Satz geführt habe: Das also ist des Pudels Kern.

Kluftinger räusperte sich nach Maiers Einlassung und sagte: »Ja, danke, Richard. Das ist ja sehr hilfreich. Hat noch jemand eine interessante Sage auf Lager? Vielleicht mal nichts Pudliges sondern irgendwas Unheimlicheres? Eugen?«

Strobl dachte kurz nach und antwortete: »Ja, also ich hab da eine gelesen, die schon gruslig war. Hinter Betzigau, bei Stein, ihr wisst schon, da gibt es doch diesen großen Findling, den Dengelstein. Wisst ihr, warum der so heißt? Tja, also nachts hört man da angeblich manchmal ein seltsames Klingen, als würde jemand eine Sense schärfen. Und das liegt daran, dass, wenn der Tod ein großes Loch in die streitsüchtige Menschheit mähen will, er den Teufel dort hinbestellt und ihm befiehlt: ›Dengle scharf!‹ Und dann kommt immer schlimmes Unheil übers Land und viele Leute müssen sterben.«

Für ein paar Sekunden blieb es still im Besprechungsraum.

»Da kann man ja Angst kriegen«, meldete sich schließlich Hefele zu Wort.

»Also, das ist ein oft gebrauchtes Motiv in Sagen«, antwortete ihm Kluftinger und sah dabei reihum die Kollegen an. »Meist wird eine transzendente Macht dazu benutzt, ein Gerechtigkeitsmotiv zu … also zu kreieren.«

Wieder wurde es still. Die Kollegen schienen über das, was ihr Chef da gesagt hatte, nachzudenken. Schließlich begann Strobl zu nicken. »Klingt plausibel«, sagte er und nickte weiter, bis schließlich alle einander zunickten. Kluftinger war zufrieden.

»Ich hab übrigens gestern noch versucht, den Stadtarchäologen zu erreichen, aber der war nicht aufzutreiben«, warf Hefele ein.

»Gut, da kümmere ich mich persönlich drum«, antwortete Kluftinger, nickte noch einmal in die Runde und verließ den Raum.

***

Der Kommissar hatte keine Vorstellung davon, wie ein Stadtarchäologe seine Tage verbrachte. Wenn er an Archäologen dachte, dann an Schliemann und andere, die irgendwo im Wüstensand Ruinen längst untergegangener Kulturen entdeckt hatten. Er wusste zwar, dass es in Kempten auch Ausgrabungen gegeben hatte, die Überreste der römisch-keltischen Vergangenheit dieser uralten Stadt zum Vorschein gebracht hatten, aber die waren seines Wissens längst ausgebuddelt. Sein professionelles traf sich hier also mit einem privaten Interesse, als er einen Dienstwagen der Kriminalpolizei, den er laut Vorschrift eigentlich für jede Fahrt benutzen sollte, in ein kleines Seitensträßchen auf einem Hügel über der Stadt lenkte.

Heute war er zielstrebig zum Polizeiwagen gegangen, weil sich seine Tankanzeige am Morgen kaum noch von der Anschlagnadel wegbewegt hatte. Zwar hatte die Polizei eine eigene kleine Tankstelle, aber an der durfte er sich nicht einfach bedienen. Für jede Dienstfahrt mit seinem PKW musste er zunächst selbst bezahlen und sich das Geld dann per Antrag auf Fahrtkostenerstattung wieder holen. So kam es auch, dass Kluftinger ein kleines Büchlein im Auto hatte, in das er Datum und Zielort jeder Dienstfahrt eintrug. Einmal im Monat bekam Sandy dieses Büchlein auf den Schreibtisch und hatte dann die mindestens drei Stunden füllende Aufgabe, Entfernungen nachzusehen und Kluftingers kaum lesbares Geschreibsel zu entziffern, um es schließlich in die offiziellen Anträge zu übertragen.

Die Momente, in denen er die fertigen Formulare unterschrieb, waren diejenigen, in denen er am glücklichsten darüber war, eine Sekretärin zu haben. Er fuhr eben einfach am liebsten mit seinem eigenen alten Passat – damit konnte er am besten umgehen und er hatte bereits das Alter, in dem es auf eine Schramme mehr oder weniger nicht ankam. Und seitdem er damals den neuen Polizei-VW-Bus beim Einparken an einer Wand ziemlich zerkratzt hatte, vermied er den Griff zum Dienstwagen und den damit verbundenen spöttischen Kommentar des Fuhrparkleiters, der immer derselbe war: »Aber schön aufpassen beim Einparken.«

Im Dienstwagen war ihm heute gleich etwas aufgefallen: Er roch beinahe wie ein neues Auto, obwohl der dunkelblaue Golf Kombi bereits gut hundertachtzigtausend Kilometer und immerhin drei Jahre auf dem Buckel hatte. Kluftinger führte das auf den Kontrast zu dem allmählich dominierenden Gestank in seinem Auto zurück.

»APC« stand auf dem Hinweisschild der kleinen Straße in weißen Buchstaben auf braunem Grund – »Archäologischer Park Cambodunum«. Cambodunum war der römische Name der Siedlung gewesen, aus der sich später die Stadt Kempten entwickelt hatte. Vom Büro des Stadtarchäologen hatte er die Information, dass sich der Leiter der Abteilung dort aufhielt. Wo sollte sich ein Archäologe auch sonst aufhalten, fragte sich der Kommissar.

Nachdem er seinen Wagen zugesperrt hatte und auf den Eingang, ein Tor in einem flachen, antik anmutenden, langgezogenen Bauwerk, zuging, hielt er kurz inne: Links lag ihm zu Füßen die Stadt, und da heute ein klarer Oktobertag war, gönnte er sich ein paar Minuten, in denen er einfach nur hinunterblickte. Er war nie ein großer Stadtfreund gewesen, aber er musste zugeben, dass Kempten an solchen Tagen auch seine Reize hatte, auch wenn er jederzeit dem Blick von einem Berggipfel auf ein grünes Tal den Vorzug gegeben hätte. Von hier oben gefiel ihm der Sitz seiner Behörde allerdings auch recht gut; außerdem drangen die Geräusche der gut Einundsechzigtausend-Einwohner-Stadt nur gedämpft bis hierher und ließen ihn, während er gegen die Sonne blinzelte, für ganz kurze Zeit vergessen, welch schreckliche Verbrechen seine Heimat zur Zeit erschütterten.

Mit einem Seufzen riss er sich schließlich von dem Anblick los und marschierte durch das Tor in den archäologischen Park. Er war noch nie hier gewesen und so nahm er sich die Zeit, sich erst einmal zu orientieren. Links von ihm stand ein zweigeschossiges Gebäude mit rotem Ziegeldach, das mit seinen kleinen Fenstern römisch wirkte, gegenüber lag ein kleineres Häuschen, das wie eine Kapelle aussah, und dazwischen stand eine Art Säulen-Pavillon. Den Boden zierten die Reste einer Steinmauer, die wohl den Grundriss eines ehemaligen Gebäudes markierten; rechts von ihm ragte eine Säule mit lateinischer Inschrift auf. Obwohl all diese Gebäude seit höchstens zwanzig Jahren standen und weiß verputzt waren, vermittelten sie antike Atmosphäre.

Erst jetzt sah Kluftinger, dass neben der kleinen Kapelle ein Mann mit dem Rücken zu ihm kniete, den Oberkörper weit nach unten gebeugt, so dass sein gewaltiges Gesäß weit in die Luft ragte. Kluftinger näherte sich ihm, doch selbst als er nur noch wenige Meter entfernt war, reckte ihm der Kniende noch immer seine Kehrseite entgegen.

Der Kommissar räusperte sich geräuschvoll, um auf sich aufmerksam zu machen. Erschrocken fuhr der Mann in den hellen, abgewetzten Jeans und dem dunkelblauen Hemd vor ihm herum und starrte ihn aus einem geröteten, verschwitzten Gesicht unter einem grotesken Strohhut heraus an. Kluftinger schätzte ihn auf Anfang fünfzig.

»Herr Schneider?«

»Doktor Schneider, der bin ich, richtig. Darf ich fragen, wer … «

»Kluftinger, Kripo Kempten. Grüß Gott.«

Schwerfällig erhob sich der Archäologe und Kluftinger fiel auf, dass sein Hemd schweißnass an seinem massigen Oberkörper klebte. Dabei war es ein zwar sonniger, aber trotzdem herbstlich kühler Tag.

»Ich hoffe, ich störe Sie nicht bei etwas Wichtigem«, sagte der Kommissar und deutete dabei auf den Pinsel und den kleinen Meißel, den Schneider in der Hand hielt.

»Ach so, nein, nein. Irgendjemand muss die Sachen ja in Schuss halten, nicht wahr? Aber wie kann ich Ihnen helfen?«

»Ich ermittle gerade in zwei Mordfällen und ich dachte, Sie können mir vielleicht weiterhelfen. Eigentlich geht es um einen ganz speziellen, der vor einer Woche in Rappenscheuchen passiert ist.«

»Ach ja, ich hab da heute was in der Zeitung gelesen. Geht um Sagen, nicht wahr?«

Kluftinger schnaufte. Für einen kurzen Moment stieg ihm wieder die Zornesröte ins Gesicht und er fragte sich, ob der Anpfiff für seinen Kollegen Richard Maier heute Morgen scharf genug gewesen war.

»Das stand in der Zeitung, richtig. Dann kann ich mir ja weitere Vorreden sparen. Also: Wir wissen sicher, dass der zweite Mord eine Sage zum Vorbild gehabt hat, und wir gehen davon aus, dass das auch bei dem Mord in Rappenscheuchen der Fall ist. Na, und wir dachten, dass Sie vielleicht … weil Sie sich doch, quasi beruflich, mit der Vergangenheit … «

»Ach so«, unterbrach ihn Schneider und schaukelte dann seinen Bauch im Takt seines Lachens. »Also wissen Sie, Archäologie hat nicht gerade was mit Sagen tun. Ist zwar ein sagenhafter Beruf, wenn Sie mir das Wortspiel erlauben, aber es ist eben auch eine Wissenschaft, die nach historischen Fakten sucht, während Sagen ja doch eher ins Reich der Phantasie gehören.«

Kluftinger kam sich wie ein Schuljunge vor, als ihn der Archäologe belehrte. Natürlich wusste er das oder hatte es zumindest instinktiv so verstanden, trotzdem schien es eine plausible Möglichkeit gewesen zu sein.

»Das weiß ich natürlich«, rechtfertigte sich Kluftinger etwas heftiger als er eigentlich wollte.

Schneider ließ ihn gar nicht weiter zu Wort kommen: »Als Archäologe kann ich Ihnen über Rappenscheuchen zumindest so viel sagen: Es gab dort einmal eine Burg, von der inzwischen aber leider nichts mehr zu sehen ist. Vielleicht gehen Sie mal ins Stadtarchiv, die können Ihnen diesbezüglich vielleicht weiterhelfen. Oder noch besser: Schauen Sie mal bei der Frau Urban, Hiltrud Urban, in Kaisersmad vorbei. Die befasst sich seit Jahren intensiv mit Sagen und Mythen des Allgäus. Sie wohnt auf einem wunderschönen, uralten Bauernhof. Mein archäologisches Interesse hat mich da mal hinausgeführt. Jedenfalls kann die Ihnen bestimmt mehr sagen. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden.«

Kluftinger war der Archäologe im Verlauf des Gespräches eigentlich immer unsympathischer geworden. Er wurde nun einmal nicht gerne wie ein Kind behandelt. Als Kriminalhauptkommissar war es seine Pflicht, alle Informationsquellen anzuzapfen. Denn in seinem Beruf ging es im schlimmsten Fall um Menschenleben, während die Menschen, mit denen sich ein Archäologe befasste, sowieso nicht mehr zu retten waren.

Gerne hätte er das alles seinem Gegenüber gesagt, doch aus irgendeinem Grund traute er sich nicht, was möglicherweise an dem Respekt lag, den ihm seine Mutter vor akademischen Titelträgern eingebläut hatte. Ehrfürchtig hatte sie immer die Stimme gesenkt und vom »Herrn Doktor« oder gar »dem Herrn Professor« gesprochen, wenn jemand über derartige Namensattribute verfügte, wobei sie den eigentlichen Namen dann meist gar nicht mehr erwähnte. So hatte er früher lange nicht einmal gewusst, wie sein Kinderarzt geheißen hatte. Mit einem devoten Gruß trat Kluftinger den Rückzug an.

»Ach, wo Sie schon hier sind«, rief ihn der Archäologe noch einmal zurück, »können Sie mir hier vielleicht noch ganz kurz helfen?«

Schneider deutete auf einen großen, rechteckigen Gegenstand am Boden.

»Natürlich«, brummte der Kommissar und ging noch einmal zurück. »Was gibt’s denn?«

»Hier, die Abdeckung müsste wieder zurück auf diesen Stein.«

Kluftinger blickte erst auf die Abdeckung, eine große, kupferne Platte, die inzwischen durch die Witterungseinflüsse fast schwarz geworden war, und den Stein, der auf einem etwas erhöhten Sokkel lag. Irgendetwas kam Kluftinger an diesem Anblick bekannt vor. Ihm war dieses Gefühl vertraut; jeden Moment würde es in seinen Gedanken »klick« machen. Er blieb einfach regungslos stehen und verließ sich darauf, dass das auch heute wieder funktionieren und sich der Gedanke durchsetzen würde. Dabei ignorierte er die wiederholte Aufforderung des Archäologen, die Platte doch am anderen Ende anzufassen.

Dann hatte er es. Er machte auf dem Absatz kehrt, winkte dem Archäologen zum Abschied zu und rannte zum Ausgang. Er hörte nicht mehr, wie Schneider wütend vor sich hinbrummte: »Dein Freund und Helfer. Von wegen!«

***

Keine zehn Minuten später, wofür einige Geschwindigkeitsübertretungen nötig gewesen waren, stand Kluftinger dort, wo vor über einer Woche alles begonnen hatte: in Rappenscheuchen. Er empfand es immer als seltsam, an den Schauplatz eines Mordes im Laufe der Ermittlungen zurückzukehren. Beim ersten Mal waren die Tatorte immer von geschäftigem Treiben erfüllt, überall schwirrten Polizisten, Ärzte, Beamte in Zivil herum, alles war, auch wenn es sich um ein Tötungsdelikt handelte, angefüllt mit Leben.

Kehrte man aber später zurück, dann war dieses Leben verschwunden und der Ort atmete nur noch die Atmosphäre eines Leichenfundortes: dunkel, unheimlich und – bis zur Aufklärung – geheimnisvoll.

Deswegen rumorte es auch in seinem Magen, als er den kleinen Hügel erstieg und auf den Platz zulief, an dem sie Sutter gefunden hatten. In Gedanken sah er dieses Bild noch einmal vor sich, aber sein innerer Blick war nicht auf die Leiche gerichtet. Stattdessen wanderte er die rechte Hand des Toten entlang und blieb da haften, wo sie in einer grotesken Verrenkung nach hinten ausgestreckt gelegen hatte. Sie hatte auf einem großen Blech geruht, jetzt stand Kluftinger noch einmal davor. Einen Stein hatte er schon damals darunter vermutet. Und der Bauer, der Sutter entdeckt hatte, hatte es ihm bestätigt. Wie hatte er sich noch ausgedrückt? Gedenkstein, oder so ähnlich. Der Kommissar ärgerte sich ein bisschen über sich selbst, dass ihm das damals noch nicht aufgefallen war. Doch sein Zorn hielt sich in Grenzen, schließlich hatte er damals noch nicht gewusst, was er heute wusste.

Jetzt stand er ein wenig nervös vor dem Blech, das ganz anders aussah als noch vor einer Woche: Es blinkte silbergrau, wie poliert. Offenbar hatte es jemand gegen das alte ausgetauscht. Falls es der Bauer gewesen war, so konnte Kluftinger es ihm nicht verdenken: Er hätte dasselbe getan, hätte es in seinem Garten gelegen und man darauf eine Leiche gefunden. Nur ein kleines Schild, das mit ein paar Nägeln darauf befestigt war, trug rostiges, verwittertes Hellgrün. Er erinnerte sich, dass er es auch an dem anderen Blech gesehen hatte. Das Sprüchlein, das darauf stand, hatte er damals nicht bewusst registriert, und auch jetzt konnte er es nur mühsam entziffern, so sehr hatte das Wetter ihm zugesetzt: »Wer den Hut rab tut, tut ihn wieder nauf!«

Er bückte sich, packte das Blech an zwei gegenüberliegenden Enden und warf es mit Schwung einen Meter zur Seite.

Das erste, was er sah, waren die unzähligen Asseln, die vom plötzlichen Lichteinfall erschreckt auseinander stoben. Einige Nacktschnecken hatten unter dem Blech ebenfalls Schutz vor der Sonneneinstrahlung gesucht. Dann erblickte der Kommissar die Schrift. Wie er es nach seinem Ausflug in den archäologischen Park vermutet hatte. Allerdings waren nur die ersten Buchstaben lesbar, der Rest war unter einer feuchten, dunklen Dreckschicht verborgen. Kluftinger nahm sich ein paar der welken Blätter, die der Herbst bereits auf die Wiese hatte fallen lassen, und wischte damit den Stein provisorisch sauber. Dann ging er einen Schritt zurück und besah sich die Inschrift. In großen, festlich geschwungenen, altertümlichen Buchstaben stand dort: »Burg Rappenschaichen. Sitz der Herren von Hirschdorf, Truchsessen der Äbte des Stiftes Kempten, erstmals urkundlich erwähnt 1239.«

Er wusste nicht genau, was Truchsessen waren, aber der Fund reichte auch so aus, um in ihm eine ehrfürchtige Freude über dieses neue Puzzleteil aufkommen zu lassen. Es hatte hier eine Burg gegeben und bestimmt gab es auch irgendeine Sage zu den Herren, die hier gehaust hatten. Konzentriert schrieb er die Inschrift Wort für Wort ab.

Gerade als er seinen Block wieder einsteckte, durchbrach ein Schrei hinter ihm die Stille: »He! Was machen Sie da? Weg da!« Er drehte sich um und erkannte den Bauern, der ihm mit der Mistgabel entgegen rannte.

»Herr Gassner, grüß Gott«, rief ihm der Kommissar entgegen, was den Landwirt irritiert innehalten ließ. Er hatte aufgehört zu rennen und ging nun langsam auf den Kommissar zu. Erst, als er nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war, hellte sich seine verkniffene Miene auf.

»Ach, der Herr Polizist. Ich hab Sie gar nicht gleich erkannt, müssen’s schon entschuldigen. Aber seit dem Fund sind wir halt ein bissle nervös.«

»Schon gut. Ich muss mich entschuldigen, dass ich nicht erst bei Ihnen geklingelt hab. Aber ich bin etwas in Eile, wissen S’.«

Der Landwirt nickte. Er trug exakt die gleiche Kleidung wie an jenem Mittwoch: eine Latzhose, die in dunkelgrünen Stiefeln steckte, und ein grobes, schmutziges Hemd mit Stehkragen, dessen Ärmel hochgekrempelt waren. Mit einem wuchtigen Hieb, der die Kraft des hageren Mannes erahnen ließ, rammte er die Mistgabel, die er trug, in den Boden neben sich. Dann blickte er fragend zwischen dem Stein und dem Kommissar hin und her.

»Ja, Sie werden sich fragen, was ich hier mache«, begann der Kommissar. Das war zwar offensichtlich, aber er wollte noch etwas Zeit gewinnen, um sich darüber klar zu werden, wie viel er dem Mann von den Ermittlungen preisgeben wollte.

»Es ist so … also, wissen Sie etwas über eine Sage, die von diesem Ort handelt?«

»Dass hier mal eine Burg war? Ja, das steht ja auf dem Stein da. Aber Sage ist das eigentlich keine, das war schon so. Mein Vater hat die Reste irgendwann mal planiert. Also nicht die Reste der Burg, mehr die vom Hügel. Sind ja eh nur noch ein paar Steine da. Aber des sehen’s ja selbst.«

»Jaja … ich meine, nein. Das mit der Burg ist schon klar. Aber mir geht es um eine Sage über den Ort hier.«

»So eine Gruselg’schichte, oder was? Nein, also da kenn ich nix. Ich weiß halt bloß des mit der Burg. Die hat da g’standen. Des war ja viel hügeliger, da wo wir jetzt stehen. Ein richtiger Burggraben war da drumherum. Aber den hat mein Vater planiert. Ich hab ein Bild davon, wenn Sie’s sehen wollen.«

Kluftinger ließ sich das Bild, ein Gemälde aus den Fünfzigern, zeigen, doch darauf war nicht viel mehr zu sehen als jetzt, mit dem Unterschied, dass der kleine Hügel, auf dem sich der Gedenkstein befand, damals ein großer gewesen war.

Er bedankte sich und fuhr mit dem Gefühl, um ein Detail reicher zu sein, aber nicht so recht zu wissen, wohin damit, zurück zur Polizeidirektion.

***

Für seine dritte Dienstfahrt an diesem Tag musste der Kommissar wieder auf seinen Passat zurückgreifen. Der blaue Golf, den er am Morgen gefahren hatte, war bereits anderweitig im Einsatz und sonst waren nur noch – nach Kluftingers Auffassung zu auffällige – Streifenwagen verfügbar. Zum Glück war die Tankstelle mit dem billigen Sprit gleich um die Ecke.

***

Wenige Minuten später saß Kluftinger mit Hefele im Wagen und fuhr stadtauswärts. Er hatte seinen Kollegen erst im Auto über den Grund der Dienstfahrt in Kenntnis gesetzt.

Der Kommissar schob den Heizungsregler seines Autos nach rechts. Ihn fröstelte. Gelb-graue Wolken zogen langsam über den Himmel. Schneewolken. Es war ein kalter, grauer Tag, auch die Luft roch bereits nach dem ersten Schnee. Und das Anfang Oktober. Nun kam wieder die Zeit der langen Unterhosen. Und die dauerte bei Kluftinger normalerweise bis mindestens Ende April. Außerdem würde er wieder Unterhemden tragen müssen. Die Wollsocken, die seine Mutter ihm noch immer regelmäßig strickte, trug er sowieso das ganze Jahr über. Er war überzeugt davon, dass man von reiner Schurwolle keine Schweißfüße bekam. Dass der Geruch aus dem Schuhschrank gerade im Sommer das Gegenteil bewies, ignorierte er einfach. In den nächsten Tagen würde Erika sicher die Wintersachen aus dem alten Kleiderschrank vom Dachboden holen und die Steppdecken gegen die dicken Daunenbetten tauschen.

Allmählich wurden Kluftingers Beine warm, Hefele jedoch kurbelte nun die Seitenscheibe herunter. Kluftinger sah mit gerunzelter Stirn zu seinem Kollegen hinüber, was der aber nicht registrierte. Der Kommissar stellte deswegen den Heizungsregler auf volle Stärke, was Hefele kurze Zeit später aber mit einem weiteren Öffnen des Fensters quittierte.

»Könntest du das Fenster zulassen? Ich hab kalte Füße.«

Hefele konnte zwar die Füße seines Vorgesetzten nicht sehen, ging aber davon aus, dass er wie üblich angezogen war: Entweder mit den Haferlschuhen, die ihre beste Zeit lange hinter sich hatten, oder mit grauen Trekkingschuhen, deren praktische Vorzüge er gern betonte. Sicher aber war sich Hefele, dass darin Füße in Wollsocken steckten.

»Trotz Wollsocken friert es dich an die Füße?«

»Ja nicht unten, oben!«

»Ach so.« Manchmal erschwerte der Allgäuer Dialekt die Kommunikation selbst zwischen den Eingeborenen. Beine gab es nicht: Man unterteilte die Füße traditionell in oben und unten. Und allein der Satzzusammenhang musste klarstellen, welcher Teil der Extremitäten denn nun gemeint war.

Er schloss sein Fenster ein Stück, ließ aber einen Spalt von etwa zehn Zentimetern offen. »Kannst du’s bitte noch weiter zumachen?«

Hefele schaute betrübt. Er befand sich in einer Zwickmühle. Er konnte jetzt entweder seinen Chef verärgern, indem er dessen Frieren hartnäckig ignorierte, oder ihn mit einer unangenehmen Wahrheit konfrontieren. Er entschloss sich für die zweite Variante. »Es müffelt ziemlich«, tastete er sich vor.

»Hoi, ich riech nix«, log Kluftinger.

Hefele schloss das Fenster um zwei weitere Zentimeter.

»Wirklich, es riecht sehr streng da herin.«

»Ich wüsste nicht, nach was.« Kluftinger versuchte abzuwiegeln, Hefele aber verlor allmählich die Scheu.

»Wie gespie … also … ziemlich säuerlich. Oder süß-säuerlich. Ach Herrgottsack: Es stinkt bestialisch. Ich ertrag den Geruch nicht. Tut mir Leid, ich spei dir sonst noch rein.«

Eine Weile blieb es still, dann wagte sich Hefele erneut vor: »Wie ist denn das passiert?«

»Nicht so, wie du jetzt denkst. Das ist nur Sahne, die ist mir ausgelaufen. Und jetzt baut sie sich biologisch ab. Da kann ich auch nichts machen.«

»Und diese leicht süßliche Note?«

»Duftbaum Vanille. Man gewöhnt sich dran.«

Bis zu ihrer Ankunft erörterten sie daraufhin die verschiedenen Möglichkeiten der Geruchsbekämpfung im Auto. Hefele empfahl einen speziellen Kristall, der durch Schwingungen und die Abgabe irgendwelcher Ionen angeblich alle Gerüche zu binden vermochte. Kluftinger nahm einen tiefen Lungenzug Autoluft und verwarf den Gedanken daran nicht nur, weil er den »Schwingungskram« immer mehr verachtete, sondern auch weil er sich sicher war, dass ein Stein gegen diesen Gestank nichts hätte ausrichten können.

Als sie in dem kleinen Weiler Kaisersmad angekommen waren, standen die Polizisten vor einem Problem: Er bestand aus mehreren Bauernhöfen und ein paar anderen Wohnhäusern, die einfach durchnummeriert worden waren. Sie suchten das Haus mit der Anschrift Kaisersmad 7. Zwar wusste Kluftinger aus dem Gespräch mit Dr. Schneider, dass es sich um einen alten Hof handeln musste. Das traf aber auf so ziemlich jedes Haus hier zu. Und die Verteilung der Hausnummern war nicht zu durchschauen: Da kam 3a neben 6c, das nächste Haus hatte die 23.

Es dauerte eine ganze Weile, dann wurden die Beamten fündig: Etwas geduckt lag das Haus an der linken Seite der leicht ansteigenden Straße. Ein alter Allgäuer Hof; wie ihn der Kemptener Denkmalpfleger beschrieben hatte. Die typischen Bauernhäuser bestanden aus nur einem Langhaus, besaßen ein flach geneigtes Dach und waren oft mit Holzschindeln gegen das Wetter geschützt. Der ehemalige Wirtschaftsteil des Hauses musste zum Wohnhaus umgebaut worden sein, was die Vorhänge an den Fenstern der Holztenne verrieten. Dunkles, verwittertes Holz dominierte die Fassade. Die kleinen Fenster mit den alten Fensterläden verbreiteten eine heimelige Atmosphäre und wirkten nicht wie die Augenhöhlen eines Totenkopfes, wie es Kluftingers Meinung nach bei allzu vielen Neubauten der Fall war. Kluftinger bog in den gekiesten Hof ein, dessen Ende ein kleiner alter Bauerngarten markierte, der von einem grünen, schmiedeeisernen Zaun begrenzt wurde.

Kluftinger fielen beim Einfahren zwei Dinge gleichzeitig auf: Zum einen das originelle Heiligenbild, das auf schräg gestellte Lamellen gemalt war und je nach Blickwinkel entweder die Heilige Jungfrau oder einen leidenden Christus preisgab. Zum zweiten ein pechschwarzer Dobermann, der in gemessener Entfernung zur hölzernen Eingangstür des Hauses im Kies lag. Kluftinger hielt den Wagen an, stellte den Motor ab, warf zuerst einen Blick auf den regungslos herumliegenden Hund, dann einen zur Haustür, deren Bretter sternförmig angeordnet waren, dann wieder einen zum Hund und blickte schließlich zu Hefele.

»Klingelst du gleich mal?«

»Ich?«, fragte Hefele ungläubig, der den Hund ebenfalls bemerkt hatte. Er überlegte mit zusammengekniffenen Lippen und starrem Blick auf den Dobermann und warf Kluftinger sodann ein »Nein« hin, das diesen in seiner Entschiedenheit überraschte.

»Doch. Ich bin dafür Auto gefahren.«

»Ich mach vieles und ich würde so gut wie nie eine Anordnung missachten. Aber bitte – geh du!«

Hefele versuchte es also auf die Mitleidstour. Kluftingers Blick wanderte wieder zum Hund. Der schmale Kopf des Tieres lag auf den Pfoten und auf den ersten Blick hätte man meinen können, dass er gelangweilt aussah. Kluftinger aber blickte ihm eine Weile tief in die Augen und war sicher, blutrünstigen Hass darin zu entdecken.

Für einen Augenblick sagten die beiden nichts, bis Hefele aus seinem Pfeifentäschchen, das er immer bei sich trug, auch wenn Kluftinger ihn noch nie eine Pfeife hatte rauchen sehen, eine Pakkung Streichhölzer herauszog. Kluftinger sah kurz zu ihm und fixierte dann wieder besorgt den Hund. Seitdem sie auf den Hof gefahren waren, hatte der sich nicht gerührt.

Kommentarlos streckte Hefele seinem Vorgesetzten zwei Streichholzköpfchen hin.

»Wer den Kürzeren zieht, geht.«

Darauf musste Kluftinger wohl oder übel eingehen. Es war eine faire Sache. Eine gerechte Angelegenheit zwischen echten Männern. Aber nicht deshalb, sondern weil sich nun immerhin eine fünfzigprozentige Chance ergab, nicht gehen zu müssen, zog Kluftinger wortlos am rechten Hölzchen.

»Der tut eh nichts. Der liegt ganz still da. Keine Angst, das geht schon«, tönte Hefele erleichtert.

Kluftinger hatte ein halbes Schwefelholz in der Hand und wurde blass. Langsam bewegte er seine Hand in Richtung Türgriff, ließ sie dort einen Moment liegen – und zog sie wieder zurück. Er schüttelte den Kopf. Sollten sie ihn doch eine Memme nennen, er wusste, wo seine Grenzen lagen.

»Nicht bei dem Hund. Diese Sorte hat ein Problem mit mir. So einer hat mich einmal gebissen, als ich als Kind mit dem Roller bei meinen Eltern im Garten gefahren bin. Da hatten wir noch kein Gartentor und der kam rein und hat mich einfach vom Roller gestoßen und mich am Arm gepackt. Aus heiterem Himmel, weißt du? Aus so etwas kann ein echtes Trauma entstehen. Hat mein Markus neulich erst wieder gesagt. Und Phobien auch.«

»Dann fahr halt so nah an die Tür, dass man zur Glocke nur schnell hinüberhechten muss und sofort wieder im Auto ist.«

»Meinst du?«

»Bevor wir hier noch ewig stehen! Wird ja auch peinlich allmählich. Wenn uns jemand sieht!«

Zu Hefeles Freude startete Kluftinger den Motor. Was ihn aber verwunderte, war, dass der Kommissar zurücksetzte und zu wenden schien. Den Sinn dieses Fahrmanövers hatte er erst erfasst, als die Beifahrertür, an der er saß, sich nun direkt gegenüber der Haustür befand.

Es dauerte noch ein, zwei Sekunden, dann fasste sich Hefele ein Herz, riss die Tür des Wagens auf, ignorierte den Hund und zog an dem Messingstab, unter dem ein altes Emailleschild mit dem Wort »Türglocke« angebracht war.

Kluftinger, der im Auto sitzen geblieben war, behielt den Dobermann die ganze Zeit im Blick. Er übernahm sozusagen die Deckung, redete er sich ein. Als Hefele mit einem lauten Schlag die Türe von innen wieder schloss, hatte der Hund sich noch immer nicht gerührt. Nun wanderten die Blicke der beiden zur Haustür. Nichts geschah. Eine ganze Weile warteten sie, dass die Tür sich öffnen, der Hund ins Haus gepfiffen und dort weggesperrt würde. Aber der Eingang blieb verschlossen.

»Klingelst du nochmal?«, fragte Kluftinger schließlich zaghaft.

Dann endlich öffnete sich die Tür. Hefele kurbelte vorsichtig, mit Blick zum Bluthund, das Fenster herunter, als eine Frau im Türstock erschien. Keine Regung des Hundes. Die Frau war vielleicht etwas über sechzig mit einem knochigen und blassen Gesicht, die dünnen Lippen hatte sie fest zusammengekniffen. Ihr Gesicht war eingerahmt von einem akkurat geschnittenen Pagenkopf. Sie trug einen grauen Rock, der bis über ihre Knie ging. Die weinrote Bluse besaß keinerlei Ausschnitt, ihr Kragen war mit Rüschen verziert. Mit ihrer ebenfalls dunkelroten Hausjacke und ihrer dünnen Goldkette um den Hals, an der ein kleines Kruzifix hing, erinnerte Frau Urban Kluftinger an seine Englischlehrerin, die er von der siebten bis zur zehnten Klasse gehabt hatte. Er hatte nie etwas gegen Herta Höppner gehabt, auch wenn sie mit fünfzig Jahren noch allein mit ihrer Mutter gewohnt, sie das »th« in einem so übertriebenen Oxford-English ausgesprochen hatte, wie es nur deutsche, ledige Englischlehrerinnen konnten, und auch wenn sie bei der Einführung des Verbs »to kiss« rot angelaufen war. Dennoch war sie ihm immer eine Spur zu korrekt gewesen. Sie war eine der Frauen, die sich ihr Leben lang mit »Fräulein« ansprechen ließen und dies auch noch zu genießen schienen.

»Ja, was möchten Sie?«, kam es von der Haustür her in einer hellen, freundlichen Tonlage, und in einem geschliffenen Hochdeutsch, das Kluftinger entfernt an Fräulein Höppners »th« erinnerte.

»Wir kommen auf Empfehlung von Herrn Dr. Schneider von der Stadt Kempten. Kluftinger. Mein Kollege Hefele. Frau Urban, erschrecken Sie jetzt nicht: Wir sind von der Kriminalpolizei.«

»Ist etwas passiert? Mit meinem Sohn? Ein Unfall?«

»Nein, keine Angst, wir möchten Ihnen ein paar Fragen zur Allgäuer Geschichte stellen, wir brauchen Sie sozusagen als Expertin. Herr Dr. Schneider hat uns gesagt, dass Sie sich da so gut auskennen. Entschuldigen Sie, dass wir Sie einfach überfallen.«

Sofort wich der kurze Anflug von Sorge aus ihrem Gesicht, ein Gesichtsausdruck, den Kluftinger von Erika kannte, wenn Markus sich sehr verspätete. Mit freundlicher Zurückhaltung bat sie die beiden Polizisten ins Haus. Diese aber machten keine Anstalten, auszusteigen.

»Bitte, treten Sie ein, meine Herren!«, wiederholte sie ihre Aufforderung.

Wieder aber erkannte sie keine Regung bei den Beamten, die nun demonstrativ in Richtung des Hundes sahen.

Hiltrud Urban aber schien nicht zu verstehen und bat nun, schon etwas ungeduldig: »Ja kommen Sie doch herein!«

Zögerlich ließ Kluftinger ein langgezogenes »Äh … « verlauten und fügte fragend »Und der Hund?« hinzu.

»Ach wegen des Hundes … keine Sorge, der ist die Sanftmut in Person. Sie können ruhig aussteigen. Komm her, Tyras!«

»Ja priml«, flüsterte Kluftinger seinem Kollegen zu. »Tyras. Entzückender Name. So beruhigend.«

Tyras folgte seiner Herrin aufs Wort und trabte zur Haustür. Kluftinger stieg langsam aus. Gemessenen Schrittes bewegte er sich um das Auto herum. Zu seiner Erleichterung blieb die vermeintliche Bestie völlig ruhig, bewegte sich aber langsam in seine Richtung. Er müsste einfach ganz unauffällig weitergehen, sprach er sich selbst Mut zu. Nur keine hektischen Bewegungen, die machen Wachhunde aggressiv, das wusste er von den Diensthundeführern der Polizei.

An der Tür angekommen, reichten die Beamten Frau Urban nacheinander die Hand. Tyras schlich gelangweilt um sie herum. Kluftinger nahm sein Mobiltelefon aus der Tasche und stellte es auf lautlos.

»Machen Sie dieses Ding bitte aus, solange Sie bei uns im Haus sind«, versetzte Frau Urban zwar nicht unfreundlich, aber sehr bestimmt.

»Ich stell den Klingelton ab, dann stört es uns nicht.«

»Machen Sie es bitte aus. Auch lautlos strahlt es weiter. Wir haben alle strahlenden Geräte aus unserem Haushalt verbannt.«

Kluftinger fand das reichlich übertrieben – offenbar gehörten die Urbans auch zu den glühenden Gegnern der Mobilfunkmasten, die hier in der Gegend aufgestellt werden sollten und wovor Schilder und Transparente, ja sogar weiß eingepackte Strohballen mit Beschriftung im Ort und rings um die Gemeinde warnten. Da Kluftinger nur zu gut wusste, dass es besser war, sich mit solchen Leuten nicht auf eine Diskussion einzulassen, und da er ja schließlich Gast in einem fremden Haus war, schaltete er das Telefon aus und bedeutete Hefele, es ihm gleich zu tun. Der erwartete Dank der Hausherrin hierfür blieb allerdings aus.

Vom Interieur des Hauses hatte sich der Kommissar etwas völlig anderes versprochen, als er nun zu sehen bekam. Im kahlen, etwas zu dunklen Gang stand ein altes, schweres Büffet in dunklem Nussbaumholz und schräg gegenüber ein passendes Vertiko. Auf dem ausgetretenen, einfachen Dielenboden hätte er Bauernschränke erwartet, nicht aber diese Stilmöbel, die besser in eine Gründerzeitvilla gepasst hätten. Die Schwere der Einrichtung wurde noch verstärkt durch die niedrige Holzdecke. Auf der Kommode sah Kluftinger ein Wählscheibentelefon, dessen orangefarbener Hörer unter einem rot-goldenen Brokatbezug herausspitzte. Kluftinger erinnerte sich, dass eine seiner Tanten ebenfalls einmal eine solche Stoff-Verzierung besessen hatte. Und Fräulein Höppner bestimmt auch. Er fragte sich, was wohl gesundheitsschädlicher war: Diese Geschmacklosigkeit oder ein paar Handy-Strahlen. Hiltrud Urban öffnete links eine alte hölzerne Stubentüre und bat ihre Besucher ins Wohnzimmer.

Auch hier waren die Möbel fast schwarz: ein riesiger Bücherschrank, eine Art Sideboard an der gegenüberliegenden Wand und ein Esstisch, auf dem eine kleine weiße Spitzendecke lag. Vor den Fenstern hingen bodenlange, weiße Vorhänge, die das diffuse Licht noch einmal dämpften, darüber Übervorhänge, deren Stoff an die Verkleidung des Telefons erinnerte. Vor den Fenstern und auf dem Sideboard lagen mehrere Kristalle, von denen Kluftinger einige als Rosenquarz, andere als Bergkristall identifizierte. In einer Ecke auf einem Hocker brannte eine Salzkristalllampe.

Bestimmt gegen die Strahlung, vermutete Kluftinger. Fernseher oder Radio konnte er nicht erblicken. Zwei wuchtige, lederne Clubsessel standen in einer anderen Ecke, dazwischen eine Stehlampe aus Messing mit ledernem Schirm. Bis auf die elektrischen Lampen wirkte alles wie aus einem vergangenen Jahrhundert. Beim Blick durch das Fenster sah Kluftinger in dem schönen Bauerngarten den Rücken eines weißhaarigen Mannes, der gerade ein Beet harkte. Kluftinger wunderte sich über die widersprüchlichen Eindrücke, die sich ihm hier boten: außen eine originalgetreue bäuerliche Idylle, innen der angestaubte, etwas muffige Charme einer Stadtwohnung der Jahrhundertwende.

Die Kommissare setzten sich Frau Urban gegenüber an den Esstisch. Sie schien nicht sonderlich beeindruckt davon, dass sie von der Kriminalpolizei als Expertin für Heimatkunde befragt wurde. Entweder, dachte der Kommissar, war sie es gewohnt, über ihr Hobby allen möglichen Leuten Auskunft zu geben, oder sie gehörte zu den Menschen, denen man Stimmungen nicht anmerkte. Die mit Gleichmut alles hinnahmen und kommentarlos registrierten, was das Leben ihnen bot.

Plötzlich erschrak Kluftinger: Er hatte den großen Hund bereits völlig vergessen, als dieser sich neben ihn setzte und ihn regungslos anstarrte. Kluftinger schluckte und begann zu schwitzen. Seine Anspannung übertrug sich auf seine Haltung und er saß steif auf seinem Stuhl. Es würde kein unverkrampftes Gespräch werden mit dieser Bestie neben sich.

»Worum geht es denn, meine Herren?«

»Einen schönen Gruß von Herrn Dr. Schneider soll ich Ihnen ausrichten«, begann Kluftinger.

»Deswegen sind Sie hier?«, erwiderte Frau Urban ernst.

Kluftinger lächelte kurz und hob dann an: »Wie gesagt, es geht um Heimatgeschichte. Wir würden gerne etwas über die Sage erfahren, die sich um die ehemalige Burg in Rappenscheuchen bei Hirschdorf rankt. Können Sie uns da weiterhelfen?«

»Ist es wegen des Mordfalls? Ich habe in der Zeitung davon gelesen.«

Kluftinger nickte und bemerkte, dass Frau Urban den Genitiv nach »wegen« setzte, was er zwar in der gesprochenen Sprache auch viel zu selten tat, ihm aber sehr gefiel. Schließlich schien kaum mehr jemand diese richtige Form zu kennen. Selbst in der Zeitung – in der Werbung sowieso – standen heutzutage ja schon Schlagzeilen wie die, über die sie unlängst im Präsidium gesprochen hatten und an die er sich jetzt wieder erinnerte: »Burschen wegen schwerem Raub zu Jugendstrafe verurteilt«.

Hiltrud Urban war unterdessen zu ihrem wohlsortierten Bücherschrank gegangen und hatte ein paar Wälzer geholt, von denen Kluftinger einige bereits kannte. Sie legte sie vor sich auf den Tisch und fing an zu erzählen.

»Nun, die Rappenscheuchen-Sage. Die kann ich Ihnen gern näher bringen, ich möchte aber etwas weiter ausholen, damit Sie die Geschichte auch besser einordnen können. Wenn ich Sie langweile, sagen Sie es bitte.«

Kluftinger winkte energisch ab, ließ seine Hände aber schlagartig wieder sinken, als sein Blick auf den immer noch starrenden Dobermann fiel.

»Sie müssen wissen, dass gerade in unserer Gegend vergleichsweise viele alte Sagen existieren, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Wie dem auch sei, es hat sich ein geradezu bizarrer Volks- und Aberglaube bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts erhalten – in einigen abgelegenen Weilern wahrscheinlich bis heute. Zum Glück haben sich aber vor beinahe hundert Jahren einige Heimatforscher die Mühe gemacht, die wichtigsten der im Volk kursierenden Sagen und Geschichten aufzuschreiben, ein Schatz, der in unserer schnelllebigen und hektischen Zeit sonst wohl auf ewig verloren gegangen wäre.«

»Wie ich mittlerweile weiß, gibt es ja für ganz viele Dörfer eigene Sagen.«

Hefele sah Kluftinger von der Seite an und zollte ihm für sein Fachwissen mit einem angedeuteten Kopfnicken Respekt.

»Sie müssen aber unterscheiden zwischen echten Sagen, also etwa christlichen, Heiligen- oder Heldensagen, etwa die von Heinrich dem Kempter, und den immer nur mündlich und eher ortsgebunden überlieferten Geschichten«, fuhr Frau Urban fort. »Da gilt es dann wieder Geistersagen und Erzählungen über unheimliche Erscheinungen zu trennen von Geschichten über die Herkunft von Ortsnamen. Und Sie haben ganz Recht. Über einige Orte gibt es geradezu massenhaft Überlieferungen. Außerdem ziehen sich manche Sagen durch das ganze Allgäu und weit darüber hinaus. So berichtet man aus fast jedem Ort von einer Gespenstermette, also einem Gottesdienst, der in regelmäßigen Abständen von Geistern abgehalten oder einem Geisterchor begleitet wird. Auch unheimliche Tiererscheinungen finden sich mit beinahe identischen Fakten und nur geänderten Ortsnamen überall in der Gegend. Wissen Sie beispielsweise, woher dieser Weiler, Kaisersmad, seinen Namen hat? Wahrscheinlich nicht.«

Kluftinger schüttelte den Kopf.

»Woher?«, fragte er ehrlich interessiert.

»Nun, es geht die Sage, dass in längst vergangener Zeit einmal ein hoher Herr, wahrscheinlich ein Kaiser, hier vor dem Kemptener Wald mit seinem Gefolge Lager gehalten hat. Aus Langeweile haben dann einige Männer des Hofstaats sich darin versucht, mit der Sense zu mähen. Die adligen Herren haben sich dabei recht blamiert, weil sie es noch nie gemacht hatten. Nur der Kaiser soll zur Sense gegriffen und geschnitten haben, als habe er es von Jugend an gelernt. Und deshalb soll dieser Flecken hier den Namen Kaisersmad bekommen haben. Sagen Sie, wo kommen Sie denn beispielsweise her, Herr Klutfinger?«

»Kluftinger … «, korrigierte der Kommissar und fügte hinzu: »Aus Altusried.«

»Ah ja, über Altusried gibt es eine Menge Geschichten. Moment … «

Die Hausherrin stand wortlos auf, ging zur Kommode, holte dort ein ledernes Brillenetui und setzte eine goldumrandete Lesebrille auf, was ihr wieder jenen Anschein der strengen Lehrerin verlieh. Dann schlug sie eines der Bücher auf, blätterte kurz darin und lächelte dann zum ersten Mal, seit sie die beiden Beamten hereingebeten hatte.

»Hier, genau. Die so genannte ›Gschnaidt-Sage‹. Kennen Sie diese Gegend?«

»Das Gschnaidt? Ja, freilich. Das ist bei Frauenzell. Da steht eine kleine Kapelle oben, mit ganz vielen Kreuzen drumherum, die dort von Gläubigen hingestellt worden sind.«

»Genau. Aber wissen Sie auch, was es mit diesen Kreuzen auf sich hat?«

»Nein, keine Ahnung.«

»Ein Mönch fristete dort einst sein Leben als Einsiedler. Wasser bekam er aus einer Quelle, die ihm von geheimnisvollen Raben gezeigt wurde.«

Als Kluftinger das Wort »Raben« vernahm, breitete sich auf seinem Arm eine Gänsehaut aus.

»Viele Jahre später fand man ihn dort tot. Als er in Frauenzell begraben werden sollte, geschah etwas Seltsames: Jedes Mal kurz vor Frauenzell scheuten die Pferde, die seinen Sarg zogen, machten kehrt und fuhren zurück ins Gschnaidt. Schließlich begrub man den Eremiten auf dem Hügel und errichtete über seinem Grab eine Kapelle. Die steht noch heute da, wie Sie ja wissen, und ist immer wieder Ziel zahlreicher Wallfahrer. Die später dort auch einen Kreuzweg errichteten, von der Kapelle bis zur Quelle, die einst die Raben dem Einsiedler gezeigt haben. Seitdem war die Kapelle immer wieder Ort unerklärlicher Vorgänge … «

Kluftinger schluckte. Frau Urbans Erzählung hatte ihn gefesselt. »Und Sie, junger Mann, wo kommen Sie her?«

Kluftinger sah seinen Kollegen, der Ende vierzig war, grinsend an. Frau Urban verkörperte einen Typ Frau, der langsam ausstarb. Was sie auszeichnete, war eine Mischung aus althergebrachter Korrektheit und dem verstaubten Charme einer alten Jungfer.

»Aus Roßhaupten. Ich hab jeden Tag einen ziemlich weiten Weg nach Kempten zu fahren.«

»Roßhaupten?«

Ohne diesmal in einem ihrer Bücher nachschlagen zu müssen, erklärte sie den beiden Kriminalkommissaren die Entstehung dieses Ortsnamens: »Es geht die Sage, dass dort, wo heute der Ort Roßhaupten im Ostallgäu liegt, früher nur ein paar Hütten in weiter Wildnis gestanden hätten, die damals den Jägern Schutz boten. Und wenn diese draußen ihre Pferde angebunden haben, sind in der Nacht wilde Tiere gekommen, die die Rösser bis auf den angebundenen Kopf aufgefressen haben. Daher hat dann der Ort seinen Namen bekommen.«

Kluftingers Stimme war vom gespannten Zuhören belegt und er räusperte sich, bevor er sagte: »Interessant, Frau Urban. Man könnte Ihnen ewig zuhören, wirklich. Sie sind mir aber nicht böse, wenn ich Sie jetzt nach Rappenscheuchen frage?«, brachte Kluftinger das Gespräch auf den eigentlichen Grund ihres Besuchs zurück.

»Rappenscheuchen, ja, selbstverständlich, deshalb sind Sie ja da.«

Hiltrud Urban nahm aus dem Stapel ein zerfleddertes, altes Büchlein, eher ein Heft, dessen grüner, ausgeblichener Einband mit einem Kupferstich, der einen unheimlichen Ritter zeigte, verziert war.

»Ich denke, Sie sollten die Sage ganz hören, damit ich kein Detail vergesse. Ich werde sie Ihnen einfach kurz vorlesen. Folgendes steht hier geschrieben:

Wenn man auf der Straße von Kempten nach Memmingen das Dorf Hirschdorf hinter sich hat … von Altusried übrigens keine Rede«, sagte sie mit einem kleinen Lächeln in Kluftingers Richtung, »sieht man etwa eine Viertelstunde unterhalb dieses Dorfes links neben der Straße am nahen Waldsaume die Ruinen einer zerfallenen Burg, über welche junge Tannen und Fichten emporragen. Daneben steht ein Weiler, von mehreren zerstreuten Häusern gebildet, welcher bis auf den heutigen Tag den Namen von dieser Burg ›Rappenschaichen‹ trägt.«

Frau Urban sah kurz hoch und sagte: »Das steht hier interessanterweise noch mit ›ai‹ geschrieben.« Dann fuhr sie fort:

»Hier hauste in alten Zeiten ein gar ungebärdiger Ritter, der Schrecken der ganzen Gegend. Zogen die Ulmer Kaufleute mit ihren Waren aus Welschland des Weges fürbaß, da lauerte Kuno mit seinen wilden Gesellen im Gehölze, plünderte die Reisigen oder ließ sich das Weiterziehen mit blankem Gelde bezahlen. Seine Grundholden bedrückte er auf alle Weise; kam ein Bettler an die Schlosspforte, so hetzte er seine zottigen Rüden nach ihm und sah mit Hohngelächter zu, wenn sie ihn recht übel zurichteten … «

Kluftinger blickte kurz zu Tyras, der reglos neben ihm saß und starrte, konzentrierte sich aber gleich wieder auf die Geschichte.

»Auch alten Weibern nahm er noch die letzte Habe, die sie hatten, dass die mitunter am Hunger oder auch am Grame starben. Das unrecht aufgehäufte Gut war dann in schwelgerischen Gelagen verschwendet, wobei die geraubten Weinfässer, wenn sie ihres feurigen Inhalts entleert waren, unter dem Gejauchze der Zechenden in den Burggraben hinabgerollt wurden. So trieb er das wilde Raubhandwerk viele Jahre, fragte nichts nach Gott und nach den Menschen, und so kühne Abenteuer er auch unternahm, immer kehrte er siegreich von jedem Strauße heim, so dass es allum hieß: Ritter Kuno hat seine Seele dem Teufel verschrieben, drum richtet keiner etwas mit ihm aus! Plötzlich stirbt er um die Mitternachtsstunde, von einem blutigen Raube heimgekehrt. Seine Gesellen tragen den Leichnam in das oberste Gemach, von dem aus Kuno auf die an der nahen Straße Vorüberziehenden Spähe zu halten pflegte. Indes sie im Erdgeschoss über die Teilung der angehäuften Schätze hadern und lärmen, erschallt plötzlich um die Zinne der Burg ein kreischendes Gekrächze einer Schar Raben, welche bald durch die geöffneten Fenster in das Totengemach hineinfliegen und mit wütendem Geschrei das Antlitz des verstorbenen zerfleischen. Die Totenwächter vermochten sie erst zu verscheuchen, als von dem vollstrotzenden Gesichte nur mehr die nackten Knochen aus dem Leintuche hervorgrinsten. Die Zechenden im Hofe ergriff kalter Graus, sie ahnten Gottes Strafgericht, verteilten die geraubten Güter unter die Armen oder vergaben sie an Kirchen und überlieferten das Raubnest den Flammen, welche es bis auf das Erdgeschoss verzehrten, das noch heute in seinen Trümmern die Erinnerung an diese Sage aufbewahrt in seinem Namen Rappenschaichen.«

Sie blickte sie über den Rand ihrer Brille hinweg an. Kluftinger atmete tief durch. Noch bevor er aber etwas sagen konnte, fügte sie an:

»Moment, hier steht noch eine andere Version: Nach anderer Sage habe man den Raubritter einmal verwundet auf sein Schloss gebracht. Als am Morgen seine Diener den Schlafgaden öffneten, um nach ihrem Herrn zu sehen, saßen schwarze Vögel auf seinem toten Leibe. Alle Versuche, die schauerlichen Vögel zu verscheuchen, misslangen, bis diese zuletzt mit ihren feurigen Krallen den Leichnam erfassten und in den Lüften forttrugen.«

»Sensationell.«

»Bergkristall. Gegen schlechte Strahlen. Es ist der Stein der Reinheit, wissen Sie?«

Kluftinger merkte erst nach einer Weile, dass er es war, den Frau Urban da gerade angesprochen hatte. Tatsächlich hatte er so gedankenversunken den Sagen gelauscht, dass er unterbewusst mit einem Kristallbrocken auf dem Tisch herumgespielt hatte. Allerdings hatte sich sein »sensationell« nicht auf den Stein bezogen. Es waren zu gleichen Teilen die Sage und der mitreißende Vortrag der Frau gewesen, die ihm dieses Urteil entlockt hatten. Endlich hatten sie gefunden, wonach sie die letzten Tage so sehr gesucht hatten. Er wollte nun schnellstens in sein Büro, wollte die Fäden zusammenknüpfen, deren lose Enden nun vor ihm lagen. Er hob den Kopf in Richtung der Gastgeberin und sagte kurz angebunden: »Ah so.«

»Das sind geradezu Magneten, die die bösen Schwingungen binden.«

»Mhm … ja, vielen Dank dann für Ihre Mühe und Ihre schnelle Hilfe«, unterband Kluftinger weitere Erklärungen über Erdstrahlen und geheime Schwingungen. Hiltrud Urban kehrte wieder zu ihrem reservierten Ton und ihrer kühlen Art zurück, die sie am Anfang der Begegnung mit den Polizisten gezeigt hatte: »Keine Ursache, meine Herren. Ich bringe Sie noch zur Tür.«

Wie auf Kommando sprang auch Tyras, den Kluftinger im Lauf des Gesprächs niemals aus den Augen verloren hatte, auf und postierte sich neben seinem Frauchen.

»Ein schönes Haus, das Sie da haben«, sagte der Kommissar beim Hinausgehen.

»Danke«, erwiderte Frau Urban mit kühler Strenge, die im Kontrast zu ihrer lebendigen Vortragsweise stand, und Kluftinger fragte sich, wie es ihr gelang, ihre Stimmungslage so schnell zu wechseln.

»Aber sicher viel Arbeit, gell?«, vermutete Hefele.

»Es geht.«

Die beiden gaben ihren Versuch, sich mit geheucheltem Interesse für die Mühe, die sie der Frau bereitet hatten, zu bedanken, schließlich auf und verabschiedeten sich.

Der Kommissar äußerte nur noch eine Bitte: »Wenn wir Fragen haben, dürften wir dann noch mal kommen?«

»Sicher. Wenn Sie dann aber vorher anrufen würden.« Damit schloss sie die Haustüre und überließ es ihrem Hund, Hefele und Kluftinger noch zum Auto zu eskortierten.

Vorsichtig, den Dobermann immer im Blick, gingen sie zu ihrem Wagen. Erst als sie saßen, bemerkten sie, dass draußen mittlerweile der erste Schnee gefallen war. Es war ein körniger Schneegriesel, der fürs Allgäu zwar nicht ungewöhnlich, so früh aber auch im Voralpenland selten zu beobachten war.

Kluftingers Nase hatte ihn nicht getäuscht. Den ganzen Tag über hatte schon Schnee in der Luft gelegen. Als er seinen Wagen vom Hof lenkte, hatte sich Tyras auf die nasse Kiesfläche gelegt und den Kopf auf die Pfoten gesenkt. Für einen kurzen Moment sah Kluftinger noch einmal seine dunklen, unergründlichen Augen. Möglicherweise würde dieser Hund nun die Krähen in seinen nächtlichen Träumen ablösen, dachte er mit einem Schaudern.

***

Eine ganze Weile war im Wagen nichts zu hören als das monotone Quietschen der Scheibenwischer, die Kluftinger wegen des leichten Schneefalls eingeschaltet hatte. Wie hypnotisiert starrte der Kommissar dabei auf das linke Wischerblatt, das offenbar ausgetauscht werden musste: Statt in einem durchgehenden Schwung ruckelte es unregelmäßig über die ganze Scheibe.

Der Schnee, dachte er, irgendwie ist alles friedlicher, wenn es schneit. Friedlich … ruhig … warum kommt es einem nur ruhiger vor, wenn Schnee fällt? Oder nur Einbildung? Der Hund hat auch keine Geräusche gemacht … komischer Hund. Unheimlich. Komische Frau. Werden Hunde den Haltern ähnlich? Oder Halter den Hunden? Warum sieht die Urban meiner alten Lehrerin ähnlich? Komische Frau, aber war ja auch eine komische Sache.

»Unser Herrgott hat schon einen großen Tiergarten«, sagte Hefele und Kluftinger fühlte sich, als würde ihn die Bemerkung seines Kollegen von einem weit entfernten Ort ins Auto zurückholen. Manchmal versank er richtig in seinen Gedanken, hing ihnen so intensiv nach, dass er alles um sich herum ausblendete. Meist waren das schöne, stille Momente, die er genoss, auch wenn ihm dabei regelmäßig seine Gesichtszüge entglitten und ihn seine Mitmenschen, vor allem seine Frau oder sein Sohn, immer wieder mal darauf aufmerksam machten, dass er mit halb geöffnetem Mund und hervorquellender Zunge einen reichlich debilen Eindruck mache.

Kluftinger verstand sofort, was Hefele mit seiner Bemerkung sagen wollte: »Ja, es gibt einfach komische Leut. Die ganzen Steine, die da rumlagen. Und die vielen Kreuze. Ich mein, ich bin ja auch ein gläubiger Mensch, aber man muss es ja nicht gleich übertreiben.«

»Aber weißt du, was wirklich ein bisschen unheimlich war?«

»Du meinst den Hund?«

»Nein. Also: Ja, der war natürlich auch unheimlich. Aber ich mein was anderes. Ist dir in der Wohnung nichts aufgefallen?«

»Hm … also die Steine und das, das hab ich ja schon gesagt … «

»Nein, ich mein was anderes: Spiegel.«

»Wie – Spiegel?«

»Na, es hingen keine Spiegel im Haus. Ich hab im Rausgehen noch einen Blick ins Klo geworfen, das stand offen. Da war auch keiner. Im Bad hängt man einen Spiegel auf, das macht doch jeder. Dann hab ich im Hausgang gesucht: nix. Nirgends. Komisch, oder?«

»Na, die wird sich gedacht haben: Da kommt der Hefele, da häng ich erst mal die Spiegel ab, nicht dass er noch einen rechten Schreck kriegt, wenn er an einem vorbeiläuft.«

Kluftinger hatte sich so auf die Pointe seines Witzes gefreut, dass der letzte Satzteil nahtlos in ein glucksendes Lachen überging.

»Sehr witzig«, spielte Hefele erst den Beleidigten, stimmte dann aber in Kluftingers Gelächter mit ein. »Vielleicht hat sie auch nicht gewollt, dass wir merken, dass sie ein Vampir ist. Weißt schon, weil die doch kein Spiegelbild haben.«

Ihr herzhaftes Lachen wurde vom Klingeln eines Telefons unterbrochen. Hefele langte in seine Tasche, schaute auf das Display seines Handys und lachte los: »Deins klingelt.«

Kluftinger genoss diesen Augenblick: Zwischen ihm und Hefele schien es viel besser zu laufen als noch vor einigen Tagen. In ihm hatte er sogar jemand gefunden, der seine Art von Humor teilte – etwas, das er mehr als alles andere an einem Menschen schätzte.

Die letzten Lacher waren noch nicht ganz verklungen, als er sich meldete: »Ja … Kl … Kluftinger?«

»Ich bin’s, der Richard. Ich wollte fragen … «

Als er die ausgelassene Stimmung der beiden bemerkte, machte er eine kurze Pause und fuhr dann etwas pikiert fort: »Na, ihr scheint es ja ganz schön lustig zu haben, während wir hier schuften.«

»Richie, ganz ruhig, ein bissle Humor kann nie schaden. Was gibt’s denn?«

»Ich wollte nur fragen, wann ihr wiederkommt. Es gibt einige Dinge zu besprechen. Und wir gehen jetzt essen.«

»Das ist eine gute Idee. Sag doch den Kollegen Bescheid, dann treffen wir uns in der Kantine.«

»Allen?«

»Wieso allen?«

»Na, allen von der neuen Soko Erntedank?«

Kluftinger dachte kurz nach. »Nein, nur wir, du weißt schon. Bis gleich.«

Nachdem er aufgelegt hatte, genügte ein Satz zu Hefele und beide prusteten erneut los. Mit einem Blick aufs Handy sagte er: »Der Herrgott hat schon einen großen Tiergarten.«

***

Rund zehn Minuten später betraten Kluftinger und Hefele die Betriebskantine einer Papierfabrik gleich neben dem Revier. Die Polizei verfügte über keine eigene Küche und so fanden sich viele Beamte hier zu einem günstigen Mittagessen zusammen. Sogar der Speiseplan wurde bei ihnen verteilt und ausgehängt.

Kluftinger kniff die Augen etwas zusammen, um seine Kollegen auszumachen. Die Kantine hatte den Charme einer großen Lagerhalle und vermutlich war sie das auch einmal gewesen. Ramponierte, braune Resopaltische und Stahlrohrstühle mit orangefarbenen Plastikschalen als Sitzfläche gaben dem Raum etwas Provisorisches. Und es war wie immer sehr laut. Unzählige Stimmen tönten durcheinander, Stühle quietschten schrill auf dem glatten, weinroten Linoleumboden, alles begleitet von lautstarkem Geschirrklappern. Die Kantine war nicht mehr ganz so voll wie Schlag zwölf, aber es waren immer noch sehr viele Menschen hier, die meisten in blauen, schmutzigen Latzhosen.

»Mahlzeit« war wie immer das erste Wort, das ihm entgegengeschmettert wurde, kaum, dass er die Kantine betreten hatte. Er brummte irgendetwas Unverständliches zurück, denn er hatte im Lauf seiner beruflichen Karriere eine handfeste Abneigung gegen dieses Wort entwickelt. Am Anfang hatte es ihm noch gar nichts ausgemacht, es gehörte eben dazu. Doch je länger er bei der Polizei arbeitete, desto unerträglicher fand er es. Er hatte im Laufe seiner Karriere Menschen kennen gelernt, die ab halb zehn Uhr in der Früh vom »Guten Morgen« ansatzlos zu »Mahlzeit« wechselten und damit, bis zur endgültigen Verabschiedung in den Feierabend, den Rest des Tages bestritten. Mit dem psychologischen Feingespür, das er sich im Kripodienst angeeignet hatte, glaubte er auch eine Erklärung gefunden zu haben: Es war für die meisten Menschen unerträglich, Kollegen auf dem Flur zu begegnen und nichts zu haben, was sie ihnen hätten sagen können. Deswegen hatte irgendwann einmal jemand dieses Wort erfunden, das praktisch endlos wiederholt werden konnte, während »Hallo« oder »Grüß Gott« nur einmal pro Tag als adäquat empfunden wurden. Ein zweites Mal waren sie höchstens mit einem Zusatz wie »Wir haben ja schon, aber doppelt hält besser, also: Servus« möglich. Notfalls konnte dies mit einem »So, beim dritten Mal kostet’s was, gell?« erweitert werden. Aber dann war Schluss.

Nur »Mahlzeit« kannte keine solche Grenzen, weswegen es fröhlich den Siegeszug durch die Geschäftswelt angetreten hatte. Wohingegen es zu Hause erstaunlicherweise praktisch nicht benutzt wurde. Dort begegnete man sich eben nicht mal zufällig auf dem Gang und kam so in die Verlegenheit, entweder gar nichts zu sagen, was als zu unfreundlich ausschied, einen Gruß zu gebrauchen, was eben nur einmal am Tag möglich war, oder irgendein anderes Zeichen des empathischen Erkennens zu geben

– »Mahlzeit«.

Erschwerend kam noch hinzu, dass »Mahlzeit« nach Kluftingers Dafürhalten nicht mal einen Sinn hatte. Es bedeutete offensichtlich nicht »Guten Appetit«, denn sonst würde es kaum am späten Nachmittag beim Eintreten in ein Büro angesichts am PC arbeitender Kollegen Verwendung finden. Glücklicherweise stand in Kluftingers Abteilung des gehobenen Polizeidienstes das Wort auf der schwarzen Liste, was vor allem daran lag, dass man sich vom inflationären »Gemahlzeite« der uniformierten Kollegen abheben wollte. Der verwirrte Blick eines Kollegen, dessen »Mahlzeit« er mit einem herzhaften »Grüß Gott« begegnete, bereitete ihm manchmal ein geradezu kindliches Vergnügen.

An einem der hinteren Tische nahm Kluftinger einen Arm wahr, der in die Luft gestreckt wurde und winkte.

»Da«, sagte Hefele und zeigte auf Richard Maier, dem der Arm gehörte; neben ihm saß Eugen Strobl. Erst, als er schon am Tisch stand, sah er, dass auch Sandy Henske mitgekommen war, was nur selten passierte. An Hefeles verkrampfter Körperhaltung erkannte er, dass auch er sie bereits entdeckt hatte. Wahrscheinlich würde er während des ganzen Essens wieder kein Wort herausbringen, weil er offenbar dachte, dass durch sein Schweigen seine Schwäche für die Sekretärin so am wenigsten sichtbar würde. Natürlich war genau das Gegenteil der Fall.

Nachdem Kluftinger Platz genommen und vier hintereinander vorbeimarschierenden Polizisten in Uniform, die ein zackiges »Mahlzeit« bellten, erst »Servus«, »Hallo«, »Griaß di« und beim vierten ein vernuscheltes »Du mich auch« erwidert hatte, nahm er den Speiseplan vom Tisch und las die Angebote vor: »Schweinekrustenbraten in Dunkelbiersoße. Goldbarschfilets im Krustenmantel. Kartoffelsalat. Dessert: Zwetschgendatschi. Na also, auf den Winne ist doch Verlass.«

Winne war der Koch, von dem das Gerücht kursierte, er habe einst als Küchenchef in einem Drei-Sterne-Hotel gearbeitet, dann aber wegen der stressigen Tätigkeit in eine Kantine gewechselt. Niemand hatte sich bis jetzt getraut, den unglaublich dicken, immer verschwitzen und missgelaunten Winne nach dem Wahrheitsgehalt dieses Gerüchts zu fragen, was aus Kluftingers Sicht aber auch gar nicht nötig war, da sein Essen in der Regel die Antwort gab – und von einem Sternehotel war aus der nichts rauszuhören. Also eine Küche nach Kluftingers Geschmack.

Als sie nach wenigen Minuten und ein paar Dutzend »Mahlzeits« mit ihren Tabletts zurück am Tisch waren, begann Hefele, vom Besuch in Kaisersmad zu erzählen. Kluftinger hörte ihm eine Weile zu, schweifte dann aber ab, indem er sich wunderte, dass ausgerechnet Hefele, der sonst gerne auch mal eine doppelte Portion Fleisch zu sich nahm, sich für das Goldbarschfilet im Krustenmantel entschieden hatte – das einzig »vegetarische« Gericht, das sich im Übrigen als ordinäres Fischstäbchen entpuppte. Laut und deutlich hatte er vernehmen lassen, dass er zur Zeit auf seine Linie achte. Kluftinger bezweifelte, dass ihm das mit dem frittierten Fisch und der fettigen Remouladensoße gelingen würde, verstand das Ganze aber eher als Anbiederungsmanöver an Sandra Henske, die etwas lustlos in einem kleinen Schälchen Salat herumstocherte.

Als Hefele mit seinem Bericht zu Ende war, legte Kluftinger bereits das Besteck zur Seite und wischte sich mit der Serviette über den Mund. Er war wie immer als Erster fertig; ein Umstand, der ihn im Nachhinein oft ärgerte, wenn er beim Anblick der kauenden Kollegen wieder Hunger bekam. Aber gerade schnell zu essen machte für ihn einen wesentlichen Teil seines Genusses aus.

»Scheint, als ginge ein Racheteufel im Allgäu um«, resümierte Richard Maier Roland Hefeles Ausführungen und erntete dafür erst einen scheelen Blick des Kollegen Strobl und anschließend den Kommentar »Engel«.

»Oh, danke, ich hab dich auch lieb, Blümle«, säuselte Maier zurück und lehnte sich etwas zu Strobl, worauf dieser ihn empört zurückstieß und schimpfte: »Rache-Engel, mein ich. Racheengel heißt das, nicht Teufel.«

»Scheint mir auch so«, pflichtete Kluftinger bei. Dann versicherte er sich, dass die Kollegen nun ebenfalls fertig gegessen hatten, erhob sich und sagte: »So, jetzt hol ich mir noch einen schönen Datschi mit Sahne. Mag noch jemand einen? Ich geb eine Runde aus.«

Mit großem Hallo nahmen die Kollegen an. Nur Hefele rief ihm noch nach, dass er lieber keine Sahne wolle, dafür aber gerne »zwei Stückle« nehme.

»Das viele Fett ist ja so ungesund«, erklärte er Sandy Henske, zu der er jetzt – erstaunlich mutig, wie Kluftinger fand – aufrutschte, nachdem der Platz neben ihr frei geworden war.

»Ohne Sahne, hab ich doch gesagt«, beklagte sich Hefele, als Kluftinger wenig später einen Kuchenteller vor ihm abstellte.

»Ich weiß, das war Absicht. Jetzt pass mal auf, das haben wir gleich.« Mit diesen Worten nahm Kluftinger den Suppenlöffel, den er sich mitgebracht hatte, und kratzte die Sahne fein säuberlich von Hefeles Kuchen, um sie bei seinem obendrauf zu klatschen.

»Jetzt passt’s«, sagte er, als er zufrieden den Sahneturm auf seinem Zwetschgendatschi betrachtete. Dann schob er sich eine Gabel mit einer Ladung im Verhältnis eins zu drei – ein Teil Kuchen, drei Teile Sahne – in den Rachen und schloss für einen kurzen Moment genießerisch die Augen.

»Besser könnt’s meine Mutter auch nicht machen«, lobte er, und als er die irritierten Gesichter seiner Kollegen sah, verbesserte er sich: »Meine … meine Frau, meine ich.« Tatsächlich hatte er es aber schon richtig gesagt, es schien ihm nur gesellschaftlich akzeptabler, im fortgeschrittenen Alter von fünfundfünfzig Jahren nicht mehr vom Kuchen der Mutter zu schwärmen. Tatsächlich war ihr Zwetschgendatschi aber nach wie vor der beste: Die Zwetschgen waren immer saftig und sie nahm immer nur so viele, dass sie den Geschmack des Teigs nicht ganz erschlugen – ein Kardinalfehler, den er häufig bei Obstkuchen konstatieren musste. Die unterste Bodenschicht war immer knusprig und er hatte keine Ahnung, wie sie das machte, denn die darauf folgende Teigschicht, auf die sie die Früchte bettete, war nicht mehr bröselig und noch nicht zu feucht, ihre Konsistenz lag irgendwo zwischen kernig und saftig. Außerdem streute sie auf die Zwetschgen noch ein paar gehobelte Mandeln – genau wie Winne, der Kantinen-Sternekoch. Und die mochte er sogar noch lieber als Butterstreusel, denn die wurden gerne einmal hart. Kluftinger hätte nicht gewusst, wie das Rezept noch zu verbessern gewesen wäre.

Während er ein Stück nach dem anderen genüsslich – in seinem Fall also ohne Pause – in sich hineinschaufelte und auch die übrigen Kollegen zufrieden schwiegen, holte plötzlich Sandy Henske Luft, um eine Frage zu stellen, die ihr, die sich auch dem Kuchen verweigert hatte, beim Beobachten der schmatzenden Kollegen schon eine ganze Weile im Kopf herumgegangen war: »Wie issn das nu: Müssn wir jetzt damit reschnen, dass der Mörder noch’n drittes Mal zuschlägt?«

Wie auf Kommando hörten die vier Kommissare auf zu kauen. Kluftinger verschluckte sich sogar an ein paar Mandelstückchen und hustete so stark, dass es ihm das Wasser in die Augen trieb. Gleichzeitig ließen die Männer ihre Gabeln sinken und sahen sich an, alle ein bisschen blasser als zuvor.

»Kreuzkruzifix«, fluchte Kluftinger heiser.

»Hab isch was Falsches gesacht?«, fragte Sandy irritiert.

Kluftinger schüttelte den Kopf. »Nein, ganz und gar nicht, Fräulein Henske. Ganz und gar nicht.«

»Du hast sogar was verdammt Richtiges gesagt«, pflichtete ihm Strobl bei und erntete dafür einen bösen Blick Hefeles, der es wohl als seine Aufgabe angesehen hatte, ihr zu erklären, warum sie auf einmal wie gelähmt waren.

***

»Vatter, das Auto hängt fast bis auf die Straße! Du kannst den alten

Karren doch nicht so überladen. Das zieht er ja gar nicht mehr.«

»Der hat schon so viel überlebt, das packt er auch noch.«

Kluftinger drängte seinen Sohn, endlich einzusteigen und schließlich, nachdem er die Außenspiegel dem Beladungszustand angepasst hatte –, die Heckscheibe war durch die Apfelkisten völlig zugestellt – fuhr er vorsichtig rückwärts aus der Garageneinfahrt. Die fiel zur Straße hin leicht ab, weswegen der Auspufftopf mit einem lauten, metallischen Kratzen auf dem Asphalt aufsaß.

»Kreuzkruzifix!«, fluchte Kluftinger.

»Prima, Vatter!«

»Überladen bringt Schaden. Vielleicht war es doch der eine oder andere Apfel zu viel«, räumte Kluftinger kleinlaut ein, setzte den Wagen aber trotzdem, wenn auch noch etwas langsamer, zurück. »Das schauen wir uns nachher an. Da ist bestimmt nix passiert. Fahren wir halt schön langsam, das geht schon.«

Mit Tempo sechzig fuhren sie schließlich von Altusried in Richtung Durach.

So oder so ähnlich lief das jedes Jahr ab. Im Herbst, wenn bei Kluftingers die Erntezeit anbrach, hieß es für alle: Äpfel klauben und Saft einkochen. Ein Ritual, das sie nicht mehr missen wollten. Zwar war einiger Aufwand mit dem selbst gemachten Apfelsaft verbunden, aber der schmeckte wie kein zweiter. Und billiger als der gekaufte war er sowieso, obwohl man den Lohnmoster in Durach, einer der wenigen, bei dem man den Saft der eigenen Äpfel und nicht irgendwelcher grasgrüner »Grotten« bekam, natürlich auch bezahlen musste. Zudem waren der Saft und die daraus von Kluftinger selbst hergestellten Nebenprodukte wie Apfelessig oder Apfelwein ein überaus günstiges Mitbringsel zu jeder Art von Einladung. Sogar Markus hatte in Erlangen immer einen Vorrat an heimischem Saft, den ihm die Eltern bei Besuchen gleich kistenweise mitbrachten.

Als sie hinter Durach von der Hauptstraße zu dem etwas abseits gelegenen Bauernhof mit der angeschlossenen Mosterei abbogen, hatten Vater und Sohn sich bereits den Zorn zahlreicher anderer Autofahrer zugezogen. Ob wegen der starken Rauchentwicklung des altersschwachen Dieselmotors, der hin und wieder kleine schwarze Rußflöckchen ausstieß, oder wegen der niedrigen Geschwindigkeit, hatten sie nicht immer ausmachen können. Kluftinger hatte mit stoischer Ruhe all die beleidigenden Handzeichen, die bösen Gesichter und auch die von den Lippen abzulesenden Flüche ertragen und allenfalls mit einem gemurmelten »Schon Recht, Depp!« quittiert. Als ihn aber an der Kreuzung Richtung Sulzberg ein Anzug tragender BMW-Fahrer durch die heruntergekurbelte Seitenscheibe mit einem Stinkefinger und einem »Du blöder Bauerndepp, fahr doch gleich mit dem Traktor!« bedachte, ließ er sich dazu hinreißen, seinen Dienstausweis mit den Worten »Ihre Nummer hab ich ja« aus dem Fenster zu halten. Der BMW-Fahrer wurde blass und entfernte sich mit quietschenden Reifen.

In der »Mosthalle«, einem kleinen Stadel hinter dem Bauernhaus, in dem die große hydraulische Presse stand, herrschte reger Betrieb. Ein Mann lud gerade eine Milchkanne auf seinen Anhänger, auf dem bereits ein großer Plastiktank stand, der bis zum Rand mit goldgelbem Saft gefüllt war. Zwei junge Männer in Bundhosen, Brüder, wie Kluftinger wusste und aufgrund ihrer Ähnlichkeit unschwer zu erkennen war, schöpften aus der großen Aluminiumwanne den einlaufenden Saft mittels einer Blechkanne in ein Plastikfass, während der »Saftmeister« Helmut Kramer damit beschäftigt war, dünne Matten von trockenen Pressrückständen auf einen großen Haufen zu werfen. Hildegard Kramer, die Bäuerin, fuhr gerade eine voll beladene Schubkarre mit diesem »Presskuchen« aus dem Stadel.

»Grüß Gott, Herr Kluftinger. So, ist es doch mehr geworden, oder?«, sagte sie mit einem skeptischen Blick auf den tiefer gelegten Passat.

»Ja, wir haben uns ein bissle verschätzt. Das schaffen wir aber schon, oder?«

»Ja, ja, Sie sind eh der letzte für heut. Ich muss jetzt bloß in den Stall.«

»Lassen’s sich nicht aufhalten. Gibt’s heut wieder eine Delikatesse für die Viecher, oder?«

»Die fressen den Trester schon gern. Man muss nur aufpassen, dass sie’s nicht verschnellt. Das Zeug gärt im Magen.«

Da die Brüder jetzt wieder Äpfel in den Wasserbottich warfen, in dem die Früchte zuerst gewaschen und von wo aus sie in einen Häcksler gesaugt wurden, der sie zu einem Fruchtbrei verarbeitete, war den beiden Kluftingers klar, dass sie noch eine Weile warten mussten. Deshalb begutachtete Kluftinger senior ausgiebig die Vorrichtung, mit der die gehäckselten Äpfel direkt auf die mit netzartigen Decken ausgelegten Holzböden befördert wurden, die die einzelnen Lagen der Apfelmasse trennten. Er sah fasziniert dabei zu, wie der große Eisenstempel auf das Pressgut niederfuhr und dadurch Sturzbäche von Saft auf den Weg in eine Wanne schickte. In der Zwischenzeit hatte sein Sohn bereits sämtliche Apfelkisten ausgeladen.

»Wenn das mit deinem Studium nichts wird, wirst du Mostpresser. Da kommt man auch über die Runden.«

»Ungefähr einen Monat lang, ja. Das isch ein nettes Zubrot, sonscht nix«, brummte Kramer, der mitgehört hatte.

»Schon klar, er schafft’s ja auch, sein Studium«, grinste Kluftinger etwas verlegen zurück.

»Als Profiler werd ich schon mein Auskommen haben, keine Sorge«, versetzte Markus daraufhin beiläufig.

»Ach so, ja, wenn du meinst, Markus.«

Inzwischen wurde die letzte Lage Äpfel der Brüder gepresst und Kramer forderte Kluftinger auf, nun sein Obst in den Waschbehälter zu kippen. Zusammen mit seinem Sohn hob er die erste Kiste an.

»Als was wirst du nochmal dein Auskommen haben?«

»Als Pro-fi-ler, Vatter. Ich hab beschlossen, Profiler zu werden. Das wollt ich dir die ganze Zeit schon sagen.«

Der letzte Satz und das Gesicht, das sein Sohn dabei machte, ließen in ihm den Verdacht aufkommen, dass er mit dieser Berufswahl nicht zufrieden sein würde.

»Und was ist das ganz genau?«, fragte er misstrauisch nach.

»Profiler. Erstellen von Täterprofilen, wenn dir das mehr sagt«, sagte sein Sohn vorsichtig und ausnahmsweise gar nicht besserwisserisch.

Kluftinger setzte die Kiste ab, wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn, sah seinem Sohn ins Gesicht und sagte: »Spinnst du?«

»Warum?«

»Du willst zur Polizei und dich mit irgendwelchen abartigen Verbrechern beschäftigen?«

»Und? Dass ich mich mit psychisch Kranken beschäftigen würde, hätte dir klar sein müssen, seit ich mich für mein Psychologiestudium entschieden habe.«

»Schon, aber tu dir das doch nicht an. Mach doch irgendwas Nettes. Bleib an der Uni, werd Professor. Oder Kinderpsychologe.«

Kluftinger fand selbst, dass er sich wie sein eigener Vater anhörte.

»Du machst doch nichts anderes!«, sagte Markus trotzig.

Genau vor diesem Argument hatte sich der Kommissar gefürchtet, denn damit hatte er völlig Recht. Er versuchte trotzdem, ihm etwas entgegenzusetzen.

»Eben. Deswegen weiß ich auch, wie schwer das Ganze ist. Glaub mir, das ist kein Zuckerschlecken.«

Doch Markus ließ sich nicht beirren: »Ich glaub nicht, dass man es als Professor so viel schöner hat. Außerdem sind die Stellenanzeigen nicht gerade voll von Gesuchen nach Lehrstuhlinhabern. Schau, ich mach doch gerade dieses Hauptseminar in Forensischer Psychiatrie. Und ich hab gemerkt, dass das genau mein Ding ist. Sei doch froh, ich trete dann ja praktisch in deine Fußstapfen.«

»Da leg ich keinen Wert drauf. Du musst in dem Beruf in die Abgründe der menschlichen Seele blicken. Beinahe immer.«

»Gibt es für einen Psychologen etwas Interessanteres?«

»Leer!«, unterbrach Kramer ihren Disput. »Wenn die Herren vielleicht a bissle Obscht neitun würden?«

»Wir reden nachher weiter«, zischte Kluftinger seinem Sohn zu und widmete sich dann wieder seinen Äpfeln.

»Ohne Konservierung oder mit?«, wollte Kramer noch wissen.

»Ohne«, antwortete Kluftinger. Er verstand nicht, warum manche Leute die Äpfel aus ihrem Garten zuerst mosten ließen, um dann Chemie hineinzuschütten, nur weil sie zu faul waren, den Saft zu Hause einzukochen.

***

»Sag des fei bloß nicht deiner Mutter!«

Auf dem Rückweg nach Altusried saß Markus hinten, auf der zur Ladefläche umgeklappten Sitzbank. Nachdem er seinen Vater davon überzeugt hatte, dass es nicht sinnvoll sei, die Saftkannen auf den Sitz zu stellen und anzuschnallen, hatte er sich bereit erklärt, diese hinten im Kofferraum festzuhalten.

»Was?«

»Das mit deinem Profiler. Die fällt uns in Ohnmacht.«

»Sie wird es so oder so erfahren. Ich bring ihr das schonend bei.«

Der Passat schnaufte gerade die letzte Steigung zwischen Krugzell und Altusried hinauf, als der Kommissar im Rückspiegel einen roten Schriftzug aufleuchten sah.

»Zefix!«

Markus blickte nach hinten. Er saß auf der Ladefläche, ohne Sitz, ohne Gurt, im völlig überladenen Auto.

»Kein Problem, alles Kollegen«, versuchte Kluftinger mehr sich selbst als seinen ohnehin nicht sonderlich aufgeregten Sohn zu beruhigen.

Die Polizeibeamten in Uniform, die ihren Streifenwagen hinter Kluftingers Auto abgestellt hatten, warfen ungläubige Blicke in den Laderaum. »So, guten Abend, Verkehrskontrolle. Führerschein und … « Der Beamte, etwa in Kluftingers Alter, stockte, als er diesen sah. »Du?«, fragte er ungläubig.

Seine junge Kollegin verstand nicht. Sie hatte den Fahrer noch nie gesehen. Sie war höchstens zwanzig, und seit die Verkehrspolizei vor einigen Jahren in die ehemalige Kaserne in der Stadt umgezogen war, kannte man sich untereinander nicht mehr so gut. Der Kollege half ihr auf die Sprünge.

»Schau, Mädchen, dieser Herr hier ist einer unserer hochdekorierten Kriminalbeamten.«

Sie nickte verständnisvoll.

»Du Herbert«, sagte Kluftinger zu seinem uniformierten Kollegen »das ist mir jetzt aber peinlich.«

»Peinlich. Soso. Dir ist schon klar, was dir jetzt eigentlich blüht, oder?«

»Ich kenn mich beim Bußgeld gar nicht mehr so aus«, murmelte Kluftinger verlegen. Trotz der kalten Luft, die durch das geöffnete Fenster strömte, schwitzte er.

»Überschreiten des zulässigen Gesamtgewichts, Fahren mit abgelaufener Hauptuntersuchung und … warte … « Er ging vor das Auto, kam wieder und fuhr fort » … Abgasuntersuchung, Befördern von Personen ohne Sitz und Sicherheitsgurt, ungesicherte Ladung im Innenraum, und so weiter. Da kommt schon was zusammen.«

»Willst du mir das jetzt abkassieren, oder was?«

»Wahrscheinlich sind auch noch deine Reifen abgefahren und dein Verbandkasten abgelaufen. Du bist mir ein schönes Vorbild. Lass das den Lodenbacher erfahren und er macht dich rund. Da ist nichts mehr bloß mit Bußgeld, das gibt Punkte.«

»Jetzt Herbert! Ich bin ja gleich daheim.«

Herbert schüttelte den Kopf. Dann schickte er seine junge Kollegin zum Streifenwagen. Sie solle sich ein bisschen aufwärmen.

»Ich kann dich so nicht fahren lassen. Nicht vor der jungen Kollegin. Ich mach dir ein Angebot: Du lädst die Hälfte von den Kannen … was hast du da eigentlich drin?«

»Apfelsaft«, tönte Kluftinger stolz. »Willst du ein bissle was davon? Wir haben eh so viel dieses Jahr.«

»Danke nein. Also, du lädst die Hälfte von deinem Saft hier aus. Kannst ihn ja nachher holen. Außerdem kommst du nächste Woche bei uns in der Verkehrspolizei vorbei und zeigst mir eine neue TÜV- und AU-Bescheinigung. So, wie der Karren rußt, wird das mit der Abgasuntersuchung eh eine größere Sache. Dann kann ich von mir aus noch ein Auge zudrücken. Aber spinnen tust du schon!«

»Ich hab an den TÜV gar nicht mehr gedacht. Du weißt ja, die Serienmorde. Da kommst du zu nix mehr.«

»Lenk nicht ab, Klufti. Und das nächste Mal gibt’s kein Pardon mehr. Auch für dich nicht. Servus.«

Kluftinger versuchte sich zu erinnern, ob er dem Kollegen einmal auf die Füße getreten war, weil er ihn gar so hart anfasste. Allerdings fiel ihm, außer den standardmäßigen Reibereien zwischen Kripo und Verkehrspolizei, kein konkreter Vorfall ein. Markus schwante Böses, als er mit seinem Vater drei der sechs Kannen aus dem Auto hob. Er wusste, wie wertvoll dem der goldgelbe Saft war.

»Dann bleibst du da und passt auf den Saft auf, oder?«, ordnete sein Vater mehr an, als dass er fragte.

»Wieso bleibst du denn nicht hier? Schließlich hast du das Auto so voll geladen. Und Mama wär es bestimmt auch nicht recht, wenn ich hier im Nieselregen sitze.«

Kluftinger dachte kurz nach. Markus hatte Recht. Der Verweis auf seine Ehefrau und die zu erwartende Gardinenpredigt, wenn sie erfahren würde, dass er »den armen Markus« an der Straße hatte sitzen lassen, überzeugten ihn.

Missmutig setzte er die Kapuze seines zu klein gewordenen Arbeitsparkas auf und nahm auf drei Aluminium-Milchkannen Platz, die am Straßenrand standen.

»Und mach schnell!«, rief er seinem Sohn hinterher, als dieser losfuhr.

Als Kluftinger junior etwa eine halbe Stunde später zurückkam, war sein Vater nicht nur völlig durchgefroren und nass, er hatte auch mindestens ein halbes Dutzend ungläubiger Blicke von Bekannten über sich ergehen lasen müssen, die in der Zwischenzeit vorbei gefahren waren. Das würde bei der nächsten Musikprobe wieder zahllose Späße auf seine Kosten nach sich ziehen, denn in Altusried verbreiteten sich derartige Vorfälle wie ein Lauffeuer.

»Mir ist eine Kanne umgekippt, drum bin ich später dran«, entschuldigte sich Markus und hatte Mühe, beim Anblick, den die durchnässte Gestalt vor ihm bot, nicht zu grinsen.

***

»Ich find das fei nicht schlecht, dass unser Markus auch Beamter werden will. Da hat er immerhin ein sicheres Auskommen«, trällerte Erika fröhlich, als sie sich zu ihrem Mann in der Waschküche gesellte, der dort auf einem alten Herd den Saft einkochte.

Er konnte kaum glauben, was er da hörte. Scheinbar war sein Sohn ein besserer Psychologe, als er für möglich gehalten hätte. Denn seiner Mutter seine Pläne als gute Nachricht zu verkaufen, dazu gehörte schon ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen. Kluftinger wünschte sich selbst etwas mehr davon.

Seine Frau fügte sogar noch hinzu: »Vielleicht kannst du da ein bisschen deine Beziehungen spielen lassen, wenn es so weit ist.« Den Kommentar, dass sie neuerdings wohl alles ganz toll finde, was ihr Sohn sich in den Kopf setze, verkniff er sich. Er hatte noch dutzende Liter Apfelsaft vor sich und konnte eine helfende Hand gut gebrauchen.

Als er um halb zwei Uhr nachts todmüde in sein Bett kroch, hatte er unzählige Liter Saft eingekocht, für kurze Zeit den Fall völlig vergessen und wieder einmal das unangenehme Gefühl, derjenige in der Familie zu sein, der am meisten arbeitete. Weil er wusste, dass diese Empfindung schon am Morgen, wenn Erika ihm das Frühstück bereitete, wieder vergangen sein würde, genoss er bis zum Einschlafen noch sein leises Selbstmitleid.