26.

Der Himmel war von Wolken verhangen, was die Solargeräte außer Gefecht setzte. Regen durchnässte das Brennholz und verwandelte die kleineren Feuer, die Paulus zähneknirschend genehmigt hatte, in Qualm spuckende Gefahrenquellen. Jeska schüttelte sich. »Bei dem Mistwetter sollte man im Zelt bleiben und ein Spiel spielen.«

»Was denn für ein Spiel?«, fragte ich, denn die Möglichkeiten, sich zu amüsieren, waren in diesem Lager doch arg eingeschränkt.

»Man macht die Augen zu und sagt, was man sieht. Wovon man träumt.« Sie summte vor sich hin, während wir durchs Dickicht stapften. Ich berührte einen Ast, und sofort ging ein Schauer aus dicken, kalten Tropfen auf uns nieder. »Pass doch auf. Du bist ein kleiner Trampel, Pia.«

»Bin ich nicht«, widersprach ich. »Das war ich früher, in meiner grauen Wolke. Jetzt bin ich geschickt wie sonstwas. Ich finde inzwischen mehr Wurzeln als du.«

Ich hatte mir oft Gedanken über die Wildnis gemacht, aber was ich nie erwartet hätte, war die stundenlange Arbeit. Es kostete unendlich viel Zeit, sich Tag für Tag um das Essen zu kümmern. Wurzeln sammeln war nicht besonders schwierig, wenn man die entsprechenden krautigen Pflanzen erst mal von dem übrigen Grünzeug unterscheiden konnte, doch für so viele Menschen musste es mehr sein als eine Handvoll. Jeska und ich suchten das Seeufer ab, wir rissen und gruben. Wir streiften die Erde von den länglichen weißen Wurzeln, die intensiv dufteten; im Zweifelsfall erkannte man daran die richtigen. Meine Fingernägel waren so schwarz, dass ich sie auch mit gründlichem Schrubben nicht mehr sauber bekam. Auf meinen eiskalten Händen wuchsen schmerzhafte Blasen, und während Jeska immer noch munter plapperte, versuchte ich meine klammen Finger zu biegen.

»Reicht das nicht endlich?«

»Stell dich nicht so an, Pia. Für uns würde es reichen, aber Mama tauscht Wurzeln gegen Fleisch, und wir brauchen noch Stiefel für dich, für den Winter.«

»Haselnüsse müssen wir auch noch sammeln«, sagte ich wütend. Das hatte Ricarda uns heute Morgen gleich als Erstes aufgetragen.

»Das geht schnell«, meinte Jeska munter. »Ich kenne einen Strauch, ganz nah bei unserem Zelt. Den hat noch keiner von unseren Nachbarn entdeckt. Da müssen wir gar nicht lange suchen.«

»Kann Benni uns nicht wenigstens dabei helfen?« Sofort biss ich mir auf die Lippen. Wir sprachen nie über Bennis Defizite, das war wie ein ungeschriebenes Gesetz. Abwechselnd brachten wir ihm zu essen. Manchmal aß er alleine, oft musste man ihn füttern. Er saß nur im Zelt und spielte mit seinen Hölzchen.

Jeska antwortete nicht. Ich blickte hoch und sah eine Träne über ihre Wange rinnen, klein und rund und glänzend, und auf einmal war ich wieder in der Aula und schaute Moons ergreifendem Julia-Tod zu. Oh Romeo!

Ich musste schlucken. Wie hatten wir uns damals amüsiert. Wir waren so ahnungslos gewesen.

»Tut mir leid«, flüsterte ich, ich streckte meine Hand aus und legte sie ihr auf den Arm. »Tut mir echt leid.«

»Es ist schon vier Jahre her«, sagte Jeska, ohne mich anzusehen. Sie starrte auf die Wurzeln in ihrer Hand, mit dem Daumen rieb sie die Erdklümpchen weg. »Wir sind zusammen geflohen, als die Jäger kamen. Unsere Eltern, Benni und ich und Siria, unser Baby. Wir haben uns versteckt, aber Siria hat geweint, und meine Mutter hat ihr den Mund zugehalten, bis sie blau angelaufen ist.«

Ich sah es vor mir, denn ich hatte es schon selbst erlebt. Wie sie im Gebüsch kauerten, aneinandergedrängt, so wie ich und Gabriel vor ein paar Wochen. Und die dunkel gekleidete Gestalt, die vorbeiging und dann stehen blieb …

»Er hat euch trotzdem gefunden?«, fragte ich schließlich, da Jeska nicht weiterredete.

Vielleicht hatte das Baby gehustet. Sie dachten, der Jäger sei weitergegangen, aber er war noch da, er hörte selbst das kleinste Geräusch.

»Nein«, sagte Jeska schroff. »Er war weg. Aber meine kleine Schwester war tot.«

Mein Herz verkrampfte sich. Das erklärte jedoch nicht, wie Benni und Jeska ihre Eltern verloren hatten.

»Meine Mutter hat es nicht verkraftet. Sie hat sich umgebracht, ein halbes Jahr später. Und mein Vater wollte kämpfen, weißt du, er dachte, er könnte nicht weiterleben, ohne sich zu rächen. Was aus uns wird, darüber hat er nicht nachgedacht. Er hat gesagt, er tut es für uns, aber das war gelogen. Von Rache wird man nicht satt. Von Rache hat man kein Zelt und kein Feuer und niemanden, der einem die Sachen flickt.«

Ihre Augen waren viel älter als dreizehn, vierzehn Jahre. Schnell schaute ich wieder weg.

»Ein Jäger hat mich gefunden, weil ich mich nicht gut genug versteckt hatte. Er hat … Dinge getan und Dinge gesagt, und dann hat er auf mich angelegt, und ich wusste, dass ich gleich sterbe, und es war mir egal. Ich war bereit zu sterben. Er wusste, dass es mir egal war. Und so muss es auch sein, denn solche wie wir, bei uns ist es gleich, ob wir leben oder sterben. Er hat gesagt, wir seien keine richtigen Menschen, wir seien bloß Wild. Dann hat er auf mich angelegt und mir in den Bauch geschossen, aber ich war nicht tot. Ich habe nur dagelegen und darauf gewartet, dass ich sterbe. Der Jäger wollte ein zweites Mal schießen, aber es ist keine Kugel mehr aus seinem Gewehr gekommen. Glück gehabt, hat er gemeint, und dann ist er weggegangen, und ich hab den Hubschrauber gehört, wie er davongeflogen ist.«

Ich konnte ihr nicht ins Gesicht sehen, während sie erzählte. Er hat Dinge getan. Was für Dinge? So ein kleines, harmloses Wort.

Dinge getan, Dinge gesagt.

Mir wurde kalt. Und übel. Dieses Mädchen war so schön und zugleich so zerbrechlich, wie blühendes Gras, wie eine Blume, meine Jeska. Aber sie war nicht meine Jeska, sie war eine Fremde.

Ich beobachtete, wie sie die Wurzel säuberte, sah ihrem Daumen dabei zu, wie er über die schwarzen Rillen des weißen Gemüses schabte, immer wieder und wieder, und den Dreck dabei verteilte.

»Ich habe nicht gewusst, dass Benni dein richtiger Bruder ist.«

Jeska hob den Kopf und sah mich an und ich erschrak über den Zorn in ihren Augen. »Ich habe es dir erzählt und jetzt werden wir nie wieder darüber reden, klar? Nie wieder. Ricarda ist unsere Mutter, sie ist eine viel bessere Mutter, die uns nicht im Stich lassen wird. Sie hat Benni genommen, obwohl ihn sonst niemand haben wollte. Mich schon. Ich bin flink und kenne viele Pflanzen, und ich kann auch nähen. Aber jemand wie er ist ein Risiko, wenn die Jäger kommen. Ricarda hat gesagt, wenn ich zu ihrer Familie gehöre, dann er auch, und sie wird uns beschützen, und ich habe mir vorgenommen, dass ich sie beschütze, und wenn du mir nicht glaubst, du wirst schon sehen.«

Ich nickte nur und wagte keinerlei Einwände, während sie mich wild anfunkelte.

»Bald werden wir auch einen neuen Vater bekommen, dass hat sie mir versprochen, und du bist meine neue Schwester.«

Ich nickte wieder. Nein, ich forschte nicht nach, wen Ricarda verloren hatte. Irgendwann würde ich vielleicht den Mut aufbringen, sie selbst zu fragen.

»Hier haben wir alles abgeerntet«, sagte Jeska und wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Es tat mir in der Seele weh, wie tapfer sie war. Der Riss in meiner Brust wurde noch etwas größer. Es war, als würde die Wut ein Loch nach dem anderen hineinschlagen.

Ich sah nichts und hörte nichts, als wir weitergingen. Ich spürte nichts. Bis Jeska plötzlich meinen Arm packte. Und ich unter den Bäumen Orion sah. Orion mit Lumina.

Im ersten Moment dachte ich nur: Oh nein. Jeska darf nicht sehen, dass er kämpft. Dass er gegen Paulus’ Regeln verstößt, dass die Leute, die sich Die Krallen nennen, ihn zu einem Verteidiger ausbilden. Erst auf den zweiten Blick erkannte ich, dass es nicht um Nahkampf ging, nicht um Ringen.

Dass sie sich küssten.

Auf eine sehr intensive, sehr eindeutige, sehr leidenschaftliche Weise, die überhaupt keinen Zweifel daran ließ, was sie empfanden.

»Oh nein, Pia«, flüsterte Jeska erschrocken. Ich sagte gar nichts. Ich dachte nichts, meine Gedanken schwiegen, meine Gefühle setzten aus.

Orion, so versunken in diesen Kuss, in die Umarmung, hatte uns dennoch gehört. Er ließ Lumina los und sah mich, und da rannte ich schon, ohne zu wissen warum, rannte einfach fort.

»Peas! Pi, warte!«

Er holte mich natürlich mühelos ein. Fasste mich bei der Schulter, hielt mich auf.

»Pi«, sagte er, »kleine Erbse. Ich wollte nicht, dass du es auf diese Weise erfährst.« Sein Mund verzog sich zu einem zerknirschten Lächeln, aber sein Gesicht glühte immer noch, seine Augen brannten. Seine Hand auf meiner Schulter flammte wie Feuer.

»Nun ja.« Ich versuchte zu lachen. »Wenigstens hattet ihr noch alle eure Sachen an. Es braucht dir also nicht peinlich zu sein.«

»Dann macht es dir nichts aus? Ich meine, wir sind doch nur Freunde. Ich wollte mit dir darüber reden, schon lange.«

Freunde. Ja, wir waren Freunde. Hatte ich etwa angefangen, unsere Lüge zu glauben? Zu glauben, Orion und ich wären ein Paar? Nein, das hatte ich nicht. Wir hatten uns nie geküsst, wir hatten uns nie anders als freundschaftlich berührt. Ich hatte nur einfach … was? Weder meine Gedanken noch meine Gefühle hatten eine Antwort für mich.

»Natürlich macht es mir nichts aus«, sagte ich. »Du weißt, dass ich mit Lucky zusammen bin. Es ist nur … ich bin bloß überrascht. Geh zurück zu ihr. Lass sie nicht da im Regen stehen.«

Ich konnte seine Ungeduld spüren. Er wollte zu ihr, zu einem weiteren Kuss, der die Regentropfen zum Verdampfen brachte. Ich wünschte mir bloß, ich wäre nicht ausgerechnet jetzt mit Jeska im Wald gewesen, nicht ausgerechnet hier, ich wünschte, ich hätte es nicht gesehen.

»Geh nur«, sagte ich. »Lumina ist toll, ich mag sie auch.«

Er nickte, erleichtert, und ging, und ich wandte mich um und stolperte durch den nassen Wald nach Hause.

Jeska kam hinter den Bäumen hervor und trottete neben mir her. »Ich bin so wütend«, schnaufte sie. »Wie kann er es wagen, hinter deinem Rücken mit einer anderen rumzumachen? Und dann ausgerechnet Lumina. Sie ist so alt!«

»Sie ist fünfundzwanzig«, sagte ich. »Und er ist achtzehn. Sie sind alt genug, um zu wissen, was sie tun.«

Sie sah mich schräg an. »Bist du wirklich so ruhig, oder holst du dir ein Messer, um ihm irgendwelche Körperteile abzuschneiden? Ich hätte das hier anzubieten.« Sie hielt das kleine, scharfe Wurzelmesser in die Höhe. Und das von Jeska, die Orion wie ein heiliges Wesen verehrte!

Da musste ich lachen, und ich hoffte nur, dass sie in meinem Lachen den Schmerz nicht hörte. Diesen Schmerz, der mich so unerwartet getroffen hatte, als hätte die Kugel mich dieses Mal erwischt. Ein Schlag in den Rücken, von dem sich die Wärme ausbreitete, dunkel und schwer.

Schon zitterten mir die Knie, und gleich würde ich fallen und nie mehr aufstehen …

»So ist es nicht«, sagte ich, denn auf einmal war die Wahrheit das Einzige, was mich retten konnte, was mein Herz vor dem Verbluten bewahren konnte. »Orion und ich waren nie ein Paar. Das haben wir nur gesagt, damit Paulus uns nicht trennt. Er ist nicht mein Freund. Ich habe schon einen Freund, in Neustadt. Lucky heißt er. Das ist der Junge, den ich liebe, und Orion kann tun, was er will.«

Lucky. Ich versuchte sein Bild heraufzubeschwören, das Gefühl seiner Nähe. Das braune Haar, seine schönen Augen. Lucky, der mir gesagt hatte, dass ich hübsch war. Lucky, dem es nichts ausmachte, dass ich keine langbeinige Vorzeige-Schönheit war, der mich mochte, wie ich war. Lucky, der mich auf dem Dach geküsst hatte. Lucky, der Einzige, der mich liebte.

»Ich habe ihn im Stich gelassen«, sagte ich. »Ich bin durchs Tor gelaufen und habe ihn zurückgelassen.« Und dann weinte ich, ich konnte nichts dagegen machen, denn ich versuchte ihn zu sehen, seine Stimme zu hören, aber es ging nicht.

Er war nicht hier, er stand nicht hinter mir, küsste mich auf den Nacken und flüsterte mir zu, wie gut ihm der See gefiel. Er war so weit fort, dass es mir den Atem verschlug, und ich wusste nicht, wie ich mein Herz dazu bringen sollte, weiterzuschlagen.

»Oh, Pia«, sagte Jeska, und dann sang sie das Lied von den Schwänen, sang es für mich, und ihre erdigen Hände umklammerten meine, als wären Liebe und Verrat ein Ungeheuer, aus dessen Schlund sie mich herausziehen konnte.

»Wo sind meine alten Sachen?« Ich durchwühlte die Körbe nach meinem dunkelblauen Rock, der blauen Bluse, die ich zugunsten der Tarnkleidung aufgegeben hatte.

»Ich habe sie gewaschen und weggelegt«, sagte Ricarda. »Ich wollte das Oberteil umfärben, aber der Rock ist unpraktisch. Den Stoff können wir zum Ausbessern von anderen Sachen gebrauchen.«

»Du hast sie gewaschen?«, fragte ich entsetzt. Die Blume. Die Blume, die Lucky mir geschenkt hatte. Ich hatte sie in meine Tasche gesteckt, und sie war zerdrückt und verwelkt, aber ich hatte trotzdem gehofft, dass etwas davon noch da wäre. Ein Duft. Eine Erinnerung. Denn Lucky liebte mich, und das musste ich festhalten, musste es einschließen, es bewahren, irgendwie.

Orion und Lumina, die sich am Seeufer küssen, unter den regenschweren Ästen … Nein. Ich wollte dieses Bild nicht sehen, ich wollte es übermalen, Farbe darüberpinseln, eine so dicke Schicht, dass es verschwand. Diesen Schmerz zu empfinden war, als würde ich Lucky ein zweites Mal verraten.

Der Rock, hier. Die Gesäßtasche. Ich fasste hinein, und da war tatsächlich etwas Kleines, Hartes. Ein Stängel. Mehr nicht. Von der Blume war nichts als ein brauner Stängel übrig geblieben, den Ricarda beim Waschen übersehen hatte. Vielleicht war es etwas übertrieben, wegen einer Blume zu weinen, die verwelkt war und von der nichts mehr da war, nur etwas Braunes, das aussah wie eins von Bennis Hölzchen, aber ich konnte nichts dagegen tun. Nichts gegen die Schluchzer, die aus mir herausbrachen, nichts gegen die Tränen, die aus meinen Augen quollen. Zusammengekrümmt lag ich auf meiner Matte und heulte mir die Seele aus dem Leib.

»Pia«, begann Ricarda vorsichtig.

»Lass mich in Ruhe!«

Sie ging. Irgendwann, als ich mich schon fast wieder beruhigt hatte, spürte ich eine Hand auf meiner Schulter.

»Du sollst mich doch in Ruhe lassen!« Ich sah auf.

Benni schien durch mich hindurchzusehen. Seine Augen waren groß und dunkel, er hatte beinahe solche Augen wie Lucky.

Ich schluchzte wieder los, aber diesmal bemühte ich mich, etwas leiser zu sein, um ihn nicht zu erschrecken.

Tagsüber verbarg ich die Sehnsucht tief in mir. Ich schluckte sie herunter, sodass sie in meinem Magen saß und dort schwelte und rauchte wie eins dieser verräterischen Kochfeuer. Manchmal tat es so weh, dass ich nicht atmen konnte.

»Es geht vorüber«, sagte Alfred zu mir. Eigentlich hatte ich nach Gabriel gesucht, und war dabei auf unseren Oberdoc gestoßen, der in seiner kleinen Medikamentenkiste kramte.

»Was geht vorüber?«

»Der Schmerz.« Er sprach mit einer Selbstverständlichkeit darüber, als könnte er mir geradewegs ins Herz hineinsehen. »Wen auch immer du vermisst, es wird besser, das verspreche ich dir.«

»Woher willst du das wissen?«, fragte ich.

»Sie haben mich aus Neustadt hinausgeworfen. Hast du dich nie gefragt, wen ich zurücklassen musste? Aber nein, Mädchen. Wenn man ein wundes Herz hat, fragt man nicht danach, was andere fühlen. Die ganze Welt dreht sich bloß um dein Herz, es ist die Sonne, um die alle Planeten kreisen.«

Ich wollte mich schuldig fühlen, aber nicht einmal das konnte ich. Er hatte recht. Was andere durchmachten, interessierte mich im Moment nicht.

»Man ist allein«, fuhr Alfred fort. »Ein einsamer Stern in der Nacht. Ha, ich höre mich an wie ein Dichter! Lass dir eins gesagt sein, Pia. Was du fühlst, haben schon unzählige andere Menschen vor dir gefühlt, und so manch einer ist daran zugrunde gegangen. Aber du nicht. Würdest du dem Jäger, der vor dir steht, vor die Flinte springen? Nein? Dann hast du dich schon für das Leben entschieden.«

»Ich will nicht sterben«, brachte ich heraus. »Ich will nur, dass er hier ist, bei mir. Und wenn das nicht geht … dann will ich zurück.«

Er seufzte. »So ist es also ausgesprochen. Du willst zurück nach Neustadt. Aber das meinst du nicht ernst. Denn wenn du darüber nachdenkst, wirst du begreifen, dass das, was du dir vorstellst, unmöglich ist. Denn sobald du dort bist, werden sie dir wieder die Glücksgabe geben, und dann wirst du das, was du dir erträumt hast, sowieso nicht genießen können. Du wirst deine Familie wiedersehen oder deinen Freund … und es wird dich ein bisschen glücklich machen, aber nicht sehr. Es wird nur ein müdes, gedämpftes, totes Glück sein, und du wirst nicht einmal mehr begreifen können, dass du einen Fehler gemacht hast. Aber da Neustadt sowieso niemanden mehr zurücknimmt, können wir uns die Sorgen über das Wenn sparen, nicht wahr? Um etwas an deinem Unglück zu ändern, müssten wir die Zäune niederreißen, die Glücksfabrik in die Luft sprengen und die Regs zum Teufel jagen. Siehst du? Du bist nicht die Einzige mit wagemutigen Träumen.«

Etwas in Alfreds Stimme ließ mich aufhorchen.

»Wie meinst du das?«, wollte ich wissen.

Alfred lächelte nur. »Ich träume von einer neuen Welt, so wie wir alle. Aber was kümmert dich das? Du bist allein mit deinem Schmerz. Du bist eine brennende Sonne im All.« Er breitete die Decke aus, für den nächsten Patienten. »Jedenfalls bist du nicht hier, um dir meine Spinnereien anzuhören.«

»Wie kann man so leben?«, fragte ich. »Wie kann man das aushalten, immer auf der Flucht zu sein? Sich zu verkriechen? Warum packt ihr nicht eure Zelte und verschwindet ganz von hier?«

»Wohin denn?«, fragte Alfred zurück. »Es gibt nur wenige zusammenhängende Waldgebiete, die uns überhaupt Schutz bieten können, und was nützt es uns, wenn wir in die Nähe einer anderen Regierungsstadt geraten? Paulus baut eine eigene Siedlung, weiter unten im Süden. Eine Stadt, die sich verteidigen kann. Die eines Tages groß genug ist, um Handel mit Neustadt und Glücksstadt zu treiben. Er hofft, den Regs irgendwann so viel bieten zu können, dass sie es sich zweimal überlegen, ob sie nicht mehr davon profitieren, wenn sie uns am Leben lassen.«

»Na, viel Glück«, sagte ich bitter. Wie sollte man denn irgendetwas bauen, wenn jederzeit ein Hubschrauber mit Mördern an Bord landen konnte?

»Paulus glaubt noch an das Gute im Menschen. An Verträge. An Profit. Er glaubt, wenn wir den Regs etwas anbieten können, was sie sonst nirgends bekommen, sind wir in Sicherheit. Aber bis dahin sollen wir uns im Widerstand gegen die Jäger zurückhalten. Also muss man hinnehmen, dass sie uns abschlachten, um Schlimmeres zu verhindern. Darin liegt tatsächlich eine gewisse Logik.«

»Auf der Glut der Rache kann man sich kein Essen kochen.«

»Von wem hast du das denn?«

»Von Jeska.«

»Sie ist weise, deine kleine Schwester.« Sein gequältes Lächeln verriet ein wenig zu viel.

»Ich hätte nie gedacht, dass es hier genauso ist wie in Neustadt. Dass Leute, die sich querstellen, vor die Tür gesetzt werden.«

Sein intensiver Blick bewirkte, dass mir heiß wurde. Was war denn so Besonderes daran, was ich gesagt hatte?

»Du hast es erfasst. Wir leben hier nach Neustädter Gesetzen. Nur ahnen das die meisten nicht, weil sie nicht so wie du frisch aus Neustadt kommen. Es gibt Wahrheiten, die sind hier nicht beliebt. Also behalte deine Meinung lieber für dich.«

Ich hatte das deutliche Gefühl, dass dieses Gespräch damit beendet war. »Bevor ich es vergesse – ich wollte Gabriel ausrichten, dass meine Mutter eine Jacke für ihn näht. Er soll zur Anprobe kommen.«

Alfreds Lächeln verblasste. »Und da suchst du ihn bei mir?«

In diesem Moment polterte Orion herein. Mit der Rechten hielt er seinen linken Unterarm umfasst. »Tag, Pia.« Freundlich wie immer. »Wenn du dir das mal kurz ansehen könntest, Vater?«

Wie selbstverständlich er Alfred so nannte. Glühender Neid erfasste mich. Orion hatte mit Neustadt abgeschlossen, im Gegensatz zu mir.

»Gütiger Gott! Was ist passiert? Bist du verletzt? Deine Schulter? Ich hab dir gesagt, du sollst beim Trainieren nicht so übertreiben!«

Blut tropfte aus Orions Ärmel. »Alles halb so wild. Dieses verdammte Vieh hat mich gebissen.«

»Ein Wolf?«

»Nein, bloß eine Wildkatze. Ich hätte nicht versuchen sollen, sie mit bloßen Händen zu fangen.« Er lachte und zog sein Hemd aus. »Hast du noch was gegen Tollwut?«

Ich hätte gehen sollen, aber ich blieb. Ich schaute zu, diesmal wandte ich den Blick nicht ab. Vielleicht war es ungehörig, aber ich konnte nicht anders. Seine breiten Schultern. Die rote Narbe, dort, wo er angeschossen worden war. Die glatte Haut. In seinem Nacken war sein sonst so glattes schwarzes Haar leicht gewellt.

Die Bisswunde war tief und blutete stark. Kopfschüttelnd schleppte Alfred Tücher herbei. »Hilf mal kurz mit, Pia. Halte das. – Was in aller Welt wolltest du mit einer Wildkatze? Sie schmecken nicht, das kann dir jeder hier sagen.«

»Ich will sie ja nicht essen. Vielleicht kann man sie abrichten. Zur Jagd auf Vögel und Eichhörnchen.«

»Du hast sie tatsächlich gefangen?« Alfred ging darüber hinweg, dass Orion das verpönte Wort »Jagd« benutzt hatte. Er wusste längst, dass sein neuer Sohn sich nicht um Paulus’ Regeln scherte.

Ich musste den Blick von Orions strahlendem Lächeln abwenden. Hitze schoss mir bis unter die Stirn, dann kam eine Welle von Kälte über mich. Ich wollte in diesem Strahlen baden, mich hineinlegen wie ins Gras unter der Sonne, in es hineintauchen. Ich wollte, dass es mir galt, nicht einer Wildkatze. Mir allein. So sehr wollte ich es, dass es sich anfühlte, als hätte ich Fieber.

Da ich es nicht ertrug, ihm ins Gesicht zu sehen, konzentrierte ich mich auf das, was ich von seinem Körper vor mir hatte. Seine muskulösen Arme. Sie waren nicht übertrieben dick, man konnte gerade so erahnen, wie stark er war. Ich betrachtete die Vollkommenheit seiner Haut, die von blutigen Stellen unterbrochen wurde.

Leise fluchend desinfizierte Alfred die Wunde.

»Das müssen wir nähen. Verdammt noch mal, Orion, denkst du nie nach? Man kann auch auf andere Weise sterben als im Kampf. Manchmal reicht eine winzige Infektion, und ich hab nichts mehr gegen Tetanus, seit die Regs mein voriges Zelt zerbombt haben.«

Er war mir so nah, dass sein Duft das ganze Zelt ausfüllte. Wald. Nasse Erde. Gras. Der Himmel voller Regen und die Sonne. Die Bäume draußen waren längst nicht mehr so grün wie seine Augen.

Mir wurde schwindelig. Ich schwankte, stützte mich an ihm ab. Meine Finger berührten seine Haut. Es durchfuhr mich wie ein Blitz, eine Welle aus Schmerz und Verlangen, die über meinem Kopf zusammenschlug. Mit fast übermenschlicher Anstrengung riss ich mich von ihm los.

Lucky, dachte ich automatisch. Ich will Lucky, ich brauche Lucky. Ich muss nach Neustadt, zu Lucky. Ich baute ein Bollwerk aus Luckys Namen gegen die Versuchung, Orion erneut anzufassen. Mich vorzubeugen und meine Stirn gegen ihn zu lehnen, meine Arme um ihn zu schlingen, den Duft seiner Haut einzuatmen. Seine Wärme zu spüren, seine Stärke …

»Pia? Hast du Lust, dir die Katze anzusehen?«, fragte er.

»Ich … ich kann nicht. Das Blut … Ich glaube, mir wird übel.«

Das musste als Erklärung reichen. In Panik ließ ich die Tücher fallen, taumelte nach draußen und floh.