6.
In den Gängen war es still. Während wir an den Türen der Klassenzimmer vorbeigingen, hörten wir das Gemurmel von dort drinnen, als wäre hinter jeder Tür eine andere Welt, die mit dieser hier nichts zu tun hatte.
Lass den Glücksstrom nicht abreißen.
Das Plakat über der Wartebank sprang mir ins Auge, fast hätte ich laut aufgelacht.
Lucky setzte sich in die Mitte und stützte das Gesicht in die Hände. Ich drückte Star, die immer noch unkontrolliert zitterte, auf einen Stuhl und blieb selbst stehen. Ich konnte mich jetzt nicht hinsetzen, stattdessen wanderte ich vor der Tür des Sprechzimmers auf und ab.
Die Welt hatte sich verändert. Eben noch war alles so normal gewesen, so wie immer. Doch jetzt …
Da kam schon Dr. Händel mit raschen Schritten den Gang hinunter. Seine Schuhe quietschten so laut, dass er von Weitem zu hören war. Geschäftig ließ er seine Finger knacken, bevor er das Sprechzimmer aufschloss. Nie zuvor war mir aufgefallen, wie viel Lärm er machte.
»So, jetzt seid ihr dran. Was ist mit euch? Ist noch jemand gestürzt?«, fragte er und musterte uns scharf. »Lucky?«
Lucky sah natürlich am schlimmsten aus, denn er hatte Phil auf dem Schoß gehalten.
»Stars Bruder ist vom Gerüst gefallen«, sagte ich, da er nicht antwortete. »Das haben Sie ja gesehen.«
»Du bist seine Schwester?« Dr. Händel richtete den Blick auf Star, die wie eine kleine, zerbrechliche Puppe auf dem Plastikstuhl hockte. »Na, dann komm mal. Ich gebe dir was für die Nerven. Wie lange ist deine letzte Welle her? War das nicht gerade erst vorhin? Ich werde euch allen Blut abnehmen und …«
In meinem Kopf traf ein Gedanke ein.
Fast hörbar machte es klick. Sofort fuhr ich auf und kämpfte gleichzeitig meine Aufregung nieder. Mein ganzer Körper kribbelte – so musste es sich anfühlen, Parasiten zu haben, Ameisen vielleicht, die einem die Beine hinaufkrabbelten.
»Eigentlich brauchen wir nichts«, sagte ich. »Es geht uns gut. Wir waren bloß neugierig. Das kann man sich schließlich nicht entgehen lassen.«
Lucky hob den Kopf und starrte mich an. Ich bemerkte es aus den Augenwinkeln, aber ich fixierte weiterhin Dr. Händel.
»Wirklich, wir müssen uns nur umziehen und dann wieder in den Unterricht. Ich dachte, wir hätten ein paar Splitter vom Gerüst abbekommen, aber es ist nichts.«
Dr. Händel zuckte die Achseln. »Und du, Star? Du fühlst dich gut?«
»Natürlich tut sie das«, behauptete ich, während der Gedanke in meinem Hirn hin und her raste, auf der Suche nach einem Ausweg. Red dich raus … red euch alle da raus …
»Tja«, sagte ich und lachte, »wann sieht man schon mal, wie jemand stirbt? Wir nehmen ja gerade in Geschichte Romeo und Julia durch. Das war eine gute Anschauung.« Ich kniete mich auf den Fußboden. »Oh Romeo, du bist tot, wie soll ich bloß weiterleben!« Hastig stand ich wieder auf, nachdem ich einen flüchtigen Blick auf Luckys verwirrtes Gesicht erhascht hatte. »Ich würde eine ganz gute Julia abgeben, nicht?« Ich probierte, albern zu kichern, was zwar misslang, aber da ich kein typisches albernes Kichern hatte, fiel dem guten Doktor nicht auf, wie falsch es klang. »Star übt auch schon.« Ich gab ihr einen kleinen Stoß. »Nicht wahr, meine Liebe? Sie bekommt die Rolle im nächsten Jahr«, teilte ich Dr. Händel vertraulich mit. »Dann, ähm, gehen wir jetzt, ja?«
Ich schubste Star zur Tür, packte Lucky am Ärmel und zog ihn mit nach draußen.
»Bis nächste Woche dann«, rief Dr. Händel uns noch nach. »Und wascht euch gründlich.«
»Klar, machen wir«, versicherte ich.
Die Tür schlug hinter uns zu.
Wir standen auf dem Flur. Ohne Beruhigungsmittel. Ohne Blutuntersuchung.
Gerade so entkommen.
»Was war das gerade?«, fragte Lucky. Er zeigte auf Star. »Sie braucht was, siehst du das nicht? Sie bricht gleich zusammen.«
»Mein Bruder darf nicht sterben«, sagte Star. Sie klang wie eine Schlafwandlerin, aber sie machte keinerlei Anstalten, bewusstlos zusammenzubrechen. »Was glaubst du, brauche ich wohl? Ich will meinen Bruder. Ich will keine Spritze, ich will zu Phil ins Genesungshaus!«
Ich sah mich rasch um. Meine Gedanken fühlten sich an wie kleine, spitze Pfeile. Sie waren überall, so als könnte ich sogar mit den Zehen denken.
»Was das war?«, fragte ich. »Wie blöd bist du, dass du das nicht merkst? Irgendwas ist mit unserer Welle schiefgegangen.«
»Du spinnst. Wir haben sie ordnungsgemäß bekommen.«
»Es ist anders. Alles ist anders. Die Farben werden klarer. Meine Fußsohlen fühlen den glatten Boden. Ich schwebe nicht, ich gehe … Merkst du es nicht? Die Wolke ist weg.«
Er starrte mich an, verständnislos. War ich es denn allein? War ich die Einzige, die das wahrnahm, die wusste, dass die ganze Welt sich verwandelt hatte? Es war nicht der Unfall des Jungen. Es war das, was ich fühlte. Was ich dachte. Dass ich überhaupt in der Lage war, diese Gedanken zu denken – ich, Pi, die sonst immer wie auf Wolken schwebte und mit den Wänden zusammenstieß!
»Warum bist du raus aufs Gerüst? Warum war es dir nicht egal? Warum bist du nach draußen gerannt?«
»Weil … der Junge …«
Er sah mich an, als hätte er mich noch nie gesehen. »Pi«, fragte er leise, »was ist los mit dir? So viel hast du in deinem ganzen Leben noch nicht gesprochen.«
»Irgendwas hat mit der Glücksgabe nicht gestimmt«, sagte ich. »Ich habe es schon in der Mensa gemerkt. Etwas war anders. Und du«, ich wandte mich an Star, »du warst ja auch heute dran. Bei dir ist es auch anders, oder? Du dürftest dich gar nicht so aufregen.«
»Ich soll mich nicht aufregen?«, zischte sie mich an. »Mein Bruder ist verunglückt!«
»Ich weiß, was du meinst, Pi«, sagte Lucky langsam.
Wir entfernten uns vom Sprechzimmer und stiegen automatisch die Treppe hoch zur Aula. Star blieb auf dem ersten Absatz stehen. »Ich muss nach Hause«, sagte sie. »Ich muss zu meinen Eltern!«
»Die kommen damit klar. Ihr könnt jetzt nichts anderes tun als warten und hoffen.«
»Aber …«
Gedanken wie Pfeile. Wie Blitze schossen sie durch meinen Geist und schmerzten. Es war, als hätte jemand die Jalousie hochgezogen. Als hätte ich die vergangenen Jahre in der verdunkelten Aula gesessen und einem schlecht gespielten Theaterstück zugesehen. Das Licht, das jetzt hereinbrach, blendete, und die Dinge traten scharf umrissen hervor, so als würden die Ränder aller Gegenstände brennen.
»Erstens«, sagte ich, »stimmt etwas nicht mit uns. Das ist keine normale Reaktion. Letzte Woche, als der Arbeiter vom Gerüst gefallen ist, hat sich kein Mensch aufgeregt. Versteht ihr? Wir sollten uns gar nicht aufregen können.«
»Ja«, sagte Lucky. Er wirkte immer noch sehr bleich und ernst.
»Das heißt, es würde nicht mehr so wehtun, wenn ich noch mal eine Welle kriege?«, fragte Star mit zittriger Stimme. »Eine richtige? Es würde aufhören, so schrecklich wehzutun?«
Ich nickte.
»Aber … Dr. Händel wollte mir was zur Beruhigung geben. Warum hast du das nicht zugelassen?«
»Weil er kurz davor war, eine Blutuntersuchung vorzunehmen. Wenn er feststellen würde, dass mit den Glücksgaben etwas nicht stimmte, dass sie irgendwie wirkungslos waren …«
»Wilde Gefühle?«, fragte Star. Ihr Gesicht kam mir so klein und kindlich vor, dabei war sie nicht viel jünger als ich. »Du meinst, das sind … wilde Gefühle?«
»Wenn das rauskommt, werfen sie uns alle in die Wildnis. Die Wildnis«, wiederholte ich. »Da kommen alle hin, die aus dem Glücksstrom fallen.«
»Aber es war doch keine Absicht.« Luckys Gesicht hatte sich verändert, als wäre er plötzlich um Jahre gealtert. »Und es sind nur ein paar Stunden, die wir auf dem Trockenen waren. Wenn wir sofort die neue Gabe bekommen …«
»Glaubst du, unser Körper kann diese Erfahrung je wieder vergessen? Das war ja nicht gerade ein alltägliches Erlebnis. Die wilden Gefühle haben sich bereits in unser Erbgut eingeprägt.«
Sie erzählten uns immer, wie schnell das ging. Wie Gift breitete sich das Böse im Körper aus.
»Das bedeutet, dass wir den neuen Menschen sabotieren, wenn wir die Sache verschweigen«, sagte Lucky leise. »Unsere Kinder werden vergiftet geboren werden. Ich meine jetzt nicht unsere Kinder, ich meine …«
»Ich weiß, was du meinst.« Ich hatte nicht gewusst, dass Gedanken sich wie Messer anfühlen können, wie spitze Stacheln. »Wir könnten gestehen und hoffen, dass die Glücksbehörde das nicht so eng sieht … oder wir sagen nichts und warten einfach die nächste Glücksgabe ab.«
Lucky knirschte mit den Zähnen, während er nachdachte. »Es ist ungeheuerlich. Es ist gegen alle Regeln, gegen alles, was man uns beigebracht hat. Aber auf der anderen Seite steht die … Wildnis.« Ich ließ meine Worte eine Weile auf sie wirken, bevor ich weitersprach. »Wir müssen tun, als wenn nichts wäre. Wir alle. Wenn sie bei einem von uns Verdacht schöpfen, werden sie vielleicht auch die anderen untersuchen.«
Wir standen im Treppenhaus. Die Pausenklingel war hier besonders laut. Ich schrak zusammen; noch nie war ich so wach gewesen.
Denk nach. Gleich werden hier Ströme von Schülern auftauchen.
Lucky starrte mich wieder so merkwürdig an. »Pi? Es ist, als wenn du ein anderer Mensch wärst.«
Ich fühlte mich auch wie ein anderer Mensch. Ich spürte keine wilden Gefühle. Kein Entsetzen über Phils Tod. Darüber schien eine dunkle, undurchsichtige Wolke gebreitet zu sein, so wie immer. Doch durch den Riss in diesem Nebel kamen die Gedanken. Zischende Funken. Klare, leuchtende Linien, an denen ich mich entlanghangeln konnte. Denk nach, Pi. Denke.
»Mein Bruder liegt im Sterben«, sagte Star zum hundertsten Mal, »und du beschwerst dich, weil deine Freundin zu viel redet?«
Sie hielt mich für seine Freundin. Wie witzig – ich und Lucky zusammen! Aber mir war nicht nach Lachen zumute. Die Gedanken ließen es nicht zu. Sie registrierten, dass die Schüler die Flure füllten. Das Summen unzähliger Stimmen hallte durch das Gebäude, und schon stürmten die ersten schwatzenden Siebtklässler die Stufen hinunter und warfen uns angewiderte Blicke zu.
»Normalität«, ordnete ich an. »Das ist jetzt das Wichtigste. Das ist lebenswichtig für uns, verstanden? Du gehst in deine Klasse, Star, und benimmst dich wie immer. Lass dir von jemandem eine Jacke geben, damit man nichts von den Blutflecken sieht. Und heute Nachmittag fährst du ganz normal mit dem Schulbus nach Hause. Beobachte, wie deine Eltern damit umgehen, und dann tust du ganz genau dasselbe. Bekommst du das hin? Star?«
Um ihre Mundwinkel zuckte es.
»Bekommst du das hin?«, wiederholte ich unerbittlich. »Du darfst es auf keinen Fall verderben. Sonst bringen sie dich zum Arzt, und dann sind wir alle dran. Denk an die Wildnis.«
Sie wirkte so klein und verloren, als sie sich in den Strom der Schüler einreihte. Es war, als hätte ich ein kleines Papierboot gefaltet und einem Bach anvertraut. Die Wahrscheinlichkeit, dass es unterging, war recht hoch.
Jetzt standen wir alleine da, Lucky und ich. Die vielen anderen Jugendlichen blendete ich aus.
»Danke«, sagte er leise. »Ich hätte nicht so schnell geschaltet, was eine Blutuntersuchung bedeuten würde. Ich war … ich konnte an gar nichts denken. Ich habe nur den Jungen vor mir gesehen. Sonst nichts.«
»Ich weiß«, sagte ich.
»Tja.« Er lachte heiser. »Dann können wir jetzt eine Woche lang testen, wie es ist, wilde Gefühle zu haben?«
»Sieht so aus.«
»Ich weiß nicht, ob ich das aushalte«, bekannte er leise. »Es ist … ich bin völlig durcheinander.«
Wie merkwürdig, dass ich mich so kühl fühlte. So klar und kalt und wissend. Es war, als würden sich die leuchtenden Gedanken schön ordnen, wie Besteck in einer Schublade. Denk nach. Eine Woche, das kann man durchhalten. Das geht. Denk nach – irgendwas hast du übersehen. Da gibt es etwas, das dir einfallen müsste. Gleich kommt der neue Gedanke …
Aber er kam nicht. Stattdessen unterbrach uns Charitys fröhliche Stimme: »Du meine Güte, wie seht ihr denn aus? Wollt ihr in der nächsten Stunde ein blutiges Stück aus der finsteren Moderne aufführen?«
»Wir haben die Theaterwaffe mit einem echten Messer verwechselt«, sagte ich, worauf sie schallend loslachte.
»Echt jetzt? Und dann habt ihr euch in Theaterblut gewälzt?« Es gehörte wirklich nicht viel dazu, Charity zum Lachen zu bringen.
Als Nächstes haben wir Biologie im zweiten Stock, teilten mir meine Gedanken mit. Die anderen werden gleich alle die Treppe herunterkommen. Tu so, als wäre nichts.
Ich wollte schon zu einer Erklärung ansetzen, als meine Gedanken mir Einhalt geboten: Rede nicht so viel. Lass sie nicht merken, dass du denkst. Spiel ihnen was vor.
Ich lächelte dümmlich.
Lucky zog sein Hemd aus und warf es in einen Papierkorb. Bevor ihn Schalom mit einem frischen Shirt versorgte, sah ich ihn kurz mit nacktem Oberkörper. Lucky war dünn. Anders als die meisten anderen Jungs, denen der perfekte Athletenkörper nicht bereits in die Wiege gelegt worden war, hatte er sich kein Sixpack machen lassen. Seltsam, dass ich ihn nie gefragt hatte, was er werden wollte.
Moon gesellte sich zu mir. »Ihr habt die ganze Stunde verpasst. Peace hat Schalom auf der Bühne abgeknutscht.«
»Das hätte ich gerne gesehen.« Ich versuchte zu lächeln; selbst in meiner grauen Wolke war mir das leichter gefallen als jetzt.
Während wir die Treppe zum Bioraum hochstiegen, gesellte sich Jupiter zu uns. »Bestimmt bringt Venus uns wieder Krankheitskeime mit. Dabei habe ich eine viel bessere Idee, was wir heute untersuchen könnten: den Zusammenhang des Brustumfangs mit der Intelligenz!«
Schalom verschluckte sich fast. »Das willst du Venus fragen?«
»Wir könnten ja auch untersuchen, inwieweit Glück, Frieden und Schönheit zusammenhängen. Ist euch auch schon aufgefallen, dass hübsche Menschen besonders friedlich sind? Sportler sehen nie so gut aus wie die anderen.«
»Hört, hört«, gluckste Charity. »Aber warum ist Zeus dann so süß?«
Moon legte ihren Arm um Jupiters Schultern. »Du bist kein Athlet. Ergo bist du wunderschön. Das ist Logik, mein Lieber.«
Er strahlte sie übers ganze Gesicht an. »Ja, findest du?«
»Bestimmt«, sagte Peace zu Lucky, »würdest du auch gerne den Einfluss des Küssens auf den Notendurchschnitt untersuchen.«
Wir hatten gar nicht gemerkt, dass unsere Lehrerin schon im Raum war.
»Was würdet ihr dazu sagen, wenn es heute weder um gutes Aussehen noch ums Küssen geht? Stattdessen habe ich euch echte Viren mitgebracht«, eröffnete Venus den Unterricht. Wie immer, wenn Versuche anstanden, hatte sie ihr Haar straff zurückgekämmt und zu einem strengen Knoten gebunden, aber ihr Lächeln war alles andere als streng. Venus liebte ihr Fach, und sie liebte uns.
»Gibt es denn Viren in Neustadt?«, quietschte Charity entsetzt.
»Ja, dich!«, rief Peace dazwischen.
Venus lächelte. »Es kommt vor, wenn auch selten. Seit nach der Phase der großen Umgestaltung alles Kranke in die Wildnis verbannt wurde, sind wir hier einigermaßen sicher. War schon mal jemand von euch krank?«
Köpfe bewegten sich, aber natürlich meldete sich niemand.
»Der Anteil der Personen, die sich ansteckende Krankheiten zuziehen, liegt bei 0,1 Prozent der Bevölkerung Neustadts«, klärte sie uns auf. »Durch pränatale Diagnostik und strikte Ausmerzung schadhafter Embryonen wurden auch sämtliche Erbkrankheiten so gut wie ausgerottet. Wir können heute mit Stolz behaupten, dass die Bevölkerung noch nie so gesund und glücklich war wie heute.« Venus sah in die Runde. »Ihr seid das Ergebnis – schöne, perfekte junge Menschen. Es werden allerdings noch einige Generationen vergehen, bis wir diesen Stand auf natürliche Weise halten können.« Sie ging durch die Reihen und verteilte kleine Gläser, in denen sich eine durchsichtige Flüssigkeit befand.
»Das sind unschädlich gemachte Viren vom Typ Morbus Fünf Alpha. Diese Krankheit führte noch während der Unruhen nach dem letzten Europäischen Krieg zum Tod von Zehntausenden von Menschen in Süd- und Osteuropa. Unsere Proben hier sind natürlich völlig harmlos«, beeilte sie sich zu versichern. »Auch wenn sie unangenehme Symptome hervorrufen. Ihr würdet husten und euch sehr krank fühlen, und für die Ärzte wäre es schwer festzustellen, ob ihr das echte Morbus Fünf hättet oder nicht. Also passt lieber auf, ja? Wir werden unter dem Mikroskop beobachten, wie die Viren andere Zellen okkupieren und zerstören. Auch wenn sie entschärft sind, ist äußerste Vorsicht angebracht. Behandeln wir dieses Präparat bitte so, als wären wir uns nicht ganz sicher, ob es tatsächlich unschädlich ist. Stellt euch vor, es könnte euch töten.«
Wir durften die Mikroskope aus dem Schrank holen und an die Computer anschließen, wo man die Bilder beliebig vergrößern und dreidimensional betrachten konnte. Ehrfurchtsvoll drehte ich das Virenglas in den Händen. Mein Vater konnte mir bestimmt mehr dazu erzählen, schließlich arbeitete er mit Krankheiten. Wenn er bisher von seiner Arbeit berichtet hatte, war ich in meinem Zustand nur niemals wirklich fähig gewesen, ihm zuzuhören. Sobald es kompliziert wurde, schweiften meine Gedanken ab. Vielleicht konnte ich jetzt, wo ich mich so wach wie nie fühlte, etwas mehr erfahren – auch wenn mich das Ganze in wenigen Tagen voraussichtlich nicht mehr interessieren würde.
Es gelang mir, den hauchdünnen Objektträger unter der Linse zu platzieren, ohne ihn fallenzulassen oder zu zerbrechen. Da kam ein völlig absurdes Glücksgefühl über mich. Meine Finger gehorchten mir! Ich konnte sogar winzige Gegenstände anfassen, ohne danebenzugreifen! Ich konnte mich konzentrieren, ohne umzukippen! Der Raum schwankte nicht, meine Beine eierten nicht. Mir war nicht schwindelig. Nichts zerfloss. Das Mikroskop war so scharf zu sehen, dass ich sogar dachte, ich bräuchte es nicht, um selbst die kleinsten Teile mit eigenen Augen zu erkennen. Kurz fühlte ich mich schuldig, weil ich Phil vergessen hatte. Doch als hätte mein neuartiger Verstand nur darauf gewartet, dass mein Glück wieder verflog, schob er einen Gedanken dazwischen, der mich wie ein Pfeil traf: Wer hatte heute noch alles eine Welle bekommen? Was, wenn die ganze Charge fehlerhaft gewesen war? Dann würden ungefähr hundert Schüler und ein paar Lehrer verwirrt und möglicherweise in Panik durch die Gänge stolpern. Wir hatten keine Chance, ihnen allen klarzumachen, dass sie Stillschweigen bewahren sollten. Es würde rauskommen. Es musste rauskommen. Ich hätte Star die Beruhigungsspritze, die sie so nötig hatte, nicht verwehren sollen, denn unser Geheimnis war so oder so nicht zu retten, und das Mädchen brauchte Hilfe, um nicht völlig durchzudrehen. Vielleicht wären sie so nachsichtig gewesen, uns doch nicht in die Wildnis zu verbannen, wenn wir nur sofort gebeichtet hätten.
Für so schlau hatte ich mich gehalten. Gedanken, knisternd vor Schärfe und Cleverness, dabei war es völlig unmöglich, diese Sache zu vertuschen. Wir waren verloren.
»He, Pi«, sagte Moon und schob mich sanft zur Seite, »lass mich mal lieber da ran. Nicht, dass schon wieder was zu Bruch geht. Wir sollen vorsichtig sein mit diesen Viren.«
Wie viel hatte ich schon zerbrochen in diesem Schuljahr?
Ich dachte an Star. Warum um alles in der Welt hatte ich das getan? Unsere Welle war nur Stunden her. Man konnte es vielleicht immer noch richten. Eine zweite hinterhergeben, bevor der Organismus die ganze Wucht der wilden Gefühle zu spüren bekam. Ein paar Stunden reichten doch sicherlich nicht aus, um das Böse in die DNS einzugraben? Je früher die Glücksgabe kam, umso besser. Und wenn Dr. Händel nichts in die Dateien eingab und die Behörde nicht informierte, würde es nie irgendjemand erfahren. Ob er das wohl für uns tun würde? Das Mittel war schließlich immer noch in unserem Blut, wenn auch zu schwach. Die Wirkung hatte nachgelassen, aber es musste immer noch reichlich Glück im Körper sein. Wenn wir schnell genug handelten, vermieden wir, dass wir bald ganz aufs Trockene gerieten.
Mir wurde kalt. Wenn es jetzt schon so heftig zu spüren war und das, obwohl die unwirksame Welle erst ein paar Stunden her war, hieß das, es würde vermutlich noch schlimmer werden. Was hatte ich bloß angerichtet durch meinen kläglichen Versuch, die Sache zu vertuschen?
Ich ließ mich auf den Stuhl fallen, während Moon am Objektiv drehte, und begegnete Luckys Blick.
»Es tut mir leid«, formten meine Lippen.
»Jetzt ist es scharf«, sagte Moon, die am Objektiv drehte. »Willst du mal gucken? Aber ramm dir nicht wieder das Teil da ins Auge.«
Lucky blinzelte mir über die Tische hinweg zu, als ich mich zum Mikroskop beugte.
Ich konnte meinen Körper beherrschen, ohne irgendwo anzustoßen. Ich ging wie auf einer Brücke über den dunklen Wolken, in denen ich so lange gelebt hatte. Und ich wusste, dass ich auf keinen dieser sieben Tage verzichten wollte, ganz gleich, was es mich und die anderen kostete.