Miesitos Schrumpfkopf und andere ekelhafte Gutenachtgeschichten 

Sie charterten ein Flugzeug und flogen nach Cuzco, in die alte Inkastadt, hoch in den Anden. Das Flugzeug war eine Cessna Caravan, und das war auch nötig bei der Ausrüstung, die sie aus New York mitgebracht hatten. Während das Flugzeug in Cuzco aufgetankt wurde, flogen sie mit dem Hubschrauber hinauf zur Zitadelle von Machu Picchu, der sogenannten »Verlorenen Stadt«, die Hiram Bingham 1911 entdeckt hatte.

Machu Picchu scheint fast in den Wolken zu liegen, und für die Zwillinge war es einer der spektakulärsten Anblicke, die sie je gesehen hatten. Fast so schön wie die Pyramiden, auch wenn die Stadt viel jünger war.

»Kaum zu glauben, dass die Inka alle diese riesigen Felsblöcke hier hinaufgeschafft und die Stadt ohne Dschinnkraft erbaut haben«, meinte John.

»Aber so war es«, sagte Nimrod. »Die Stadt wurde 1450 errichtet, lange nachdem der Dschinnkönig der Inka, Manco Cápac, gestorben war.«

»Es gibt kaum etwas, was Menschen nicht fertigbringen, wenn sie es sich erst mal in den Kopf gesetzt haben«, schnaufte Groanin kurzatmig, denn die Luft ist in Machu Picchu, das fast zweieinhalbtausend Meter über dem Meeresspiegel liegt, ziemlich dünn. »Außer vielleicht, einen Ort wie diesen mit ein bisschen Respekt zu behandeln. Seht euch das bloß an. Hier geht es zu wie an einem Feiertag im Heaton Park von Manchester. Die Leute schwatzen in ihre Handys oder picknicken, Hippies verkaufen Postkarten, religiöse Spinner veranstalten Gebetstreffen, ja, verflixt noch mal, da drüben steht sogar ein Trupp Yankees und dreht einen Werbespot für Sonnencreme.«

Es stimmte. In der alten Zitadelle wimmelte es nur so von Touristen sämtlicher Nationalitäten und John verließ Machu Picchu mit dem Gedanken, dass es vielleicht besser gewesen wäre, Hiram Bingham hätte seine Entdeckung für sich behalten. Philippa konnte sich kaum vorstellen, dass ein weiterer solcher Ort – in Machu Picchu gibt es auf einer Fläche von acht Quadratkilometern einhundertvierzig verschiedene Bauwerke – noch darauf wartete, entdeckt zu werden.

Zumindest dachte sie das, bis sie wieder in der Cessna saßen und in Richtung Osten flogen, auf die gegenüberliegende Seite der Anden zu einer kleinen Stadt namens Manu, im Herzen des peruanischen Amazonasgebiets.

Der Regenwald des Amazonasgebiets ist der größte tropische Regenwald der Welt und bedeckt eine Fläche von mehr als fünf Millionen Quadratkilometern. Das peruanische Gebiet bildet nur einen kleinen Teil des riesigen Ganzen, ist jedoch der unzugänglichste und damit am wenigsten erforschte Dschungel der Erde. Als das Flugzeug über dem fast endlosen Teppich aus Baumkronen zur Landung ansetzte, hatte Philippa das Gefühl, auf eine dicke Schicht grüner Kumuluswolken zu blicken.

»Wow«, sagte sie zu John. »Es hört einfach nicht mehr auf. Wenn man sieht, wie dicht dieser Baumteppich ist, kann man sich viel besser vorstellen, dass es da unten vielleicht wirklich eine verlorene Stadt gibt, nicht?«

»Darauf kannst du wetten.« Lächelnd nickte John seiner Zwillingsschwester zu. »Ist das nicht cool?«

Groanin dagegen tat sein Bestes, die Aussicht nicht zur Kenntnis zu nehmen.

»Ich hoffe, der Pilot weiß, wo er hinfliegt«, sagte er. »Es wäre schrecklich, wenn uns hier das Benzin ausgehen würde und wir nach einem geeigneten Landeplatz Ausschau halten müssten.«

John klopfte dem Butler auf die Schulter. »Guter alter Groanin «, sagte er. »Sie sehen die Dinge immer von der positiven Seite.«

»Jemand muss es ja tun«, erwiderte dieser. »Dann wundert sich wenigstens keiner, wenn etwas schiefgeht.«

John lachte.

»Freut mich, dass du dich darüber amüsieren kannst, John«, sagte Zadie. »Ich kann es nämlich nicht. Ich kann Fliegen nicht ausstehen, selbst wenn die Verhältnisse noch so gut sind.«

»Das habe ich mir irgendwie gedacht«, murmelte John.

»Sieh’s von der positiven Seite«, meinte Groanin. »Wenigstens hat sie aufgehört zu steppen.«

»Wusstet ihr, dass es da unten tausend verschiedene Vogelarten gibt?«, fragte Philippa. »Ganz zu schweigen von sechzig verschiedenen Fledermausarten, darunter allein fünf Vampirarten.«

»Erzähl mir bloß nichts von Fledermäusen«, sagte Groanin, »und schon gar nichts von Vampirfledermäusen. Ich hasse Fledermäuse. Grässliche Viecher. Wie Ratten mit Flügeln.«

»Wenn Sie nicht gerade so unvorsichtig sind, Ihren Fuß nachts aus dem Zelt zu strecken«, sagte Mr Vodyannoy, »ist kaum damit zu rechnen, dass Sie von einer gebissen werden.«

»Es ist kaum damit zu rechnen, dass ich nachts auch nur ein einziges Haar aus dem Zelt strecken werde«, erklärte Groanin. »Manche von uns haben mehr Verstand, als sich im Dschungel rumzutreiben, wo es von Kopfjägern nur so wimmelt.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand Ihren Kopf haben will, Mr Groanin«, sagte Zadie. »Zum einen sind nicht viele Haare drauf. Und besonders viel drin ist auch nicht.«

Groanin schickte einen leisen Fluch in ihre Richtung und begann ein Gläschen Baby-Bio-Thunfisch-Penne-Menü zu löffeln – die einzige Art von Nahrung, die er zu sich zu nehmen gedachte, solange sie im Amazonasgebiet waren. Aber vielleicht würde sich etwas Nettes zu trinken finden, hoffte er. Er hatte gehört, das Bier in dieser Gegend, Chichai, solle sehr lecker schmecken.

»Hört mal«, sagte Philippa, »können wir diesen lächerlichen Mythos vielleicht ein für alle Mal begraben? Es gibt keine Kopfjäger im amazonischen Regenwald. Möglicherweise gab es vor hundert Jahren welche, aber doch heute nicht mehr. Hab ich nicht recht, Onkel Nimrod?«

»Es kann gut sein, dass du recht hast, Philippa«, sagte Nimrod. »Andererseits reden wir hier vom Amazonas und nicht vom Yellowstone-Nationalpark. Das hier sind die letzten großen urzeitlichen Wälder der Erde. Zwölftausend Quadratkilometer davon liegen allein in Peru, und den Großteil hat nie ein Mensch betreten. Oder Dschinn, was das angeht. Von daher haben wir eigentlich keine Ahnung, was es hier gibt oder nicht gibt. Aber das Mindeste, was sich sagen lässt, ist, dass wir dort unten allesamt einige Überraschungen erleben werden.«

 

Sie wurden von ihrem südamerikanischen Führer und Expeditionsmanager Miesito und seinem Koch und Bootsführer Muddy erwartet.

Für einen Indio war Miesito extrem groß. Er hatte riesige Hände und Füße und Arme, Hals und Brust waren von zahllosen seltsamen Tätowierungen bedeckt, die er John mehr als bereitwillig zeigte. Alle, bis auf die Tätowierung auf seinem Bauch. Diese, erklärte er John, halte er versteckt, weil sie, wie früher die Gorgonen, die Macht hatte, alle Lebewesen in Stein zu verwandeln.

»Mann«, sagte John, »ich möchte mal wissen, wo das Tätowierstudio zu finden ist.«

»Vor vielen Jahren«, erklärte Miesito, »Mr Vodyannoy mir schenkte drei Wünsche. Einer davon war Tätowierung. Damit ich Feinde besiegen kann, auch wenn unbewaffnet.«

»Wow«, sagte John. »Haben Sie denn viele Feinde?«

Miesito lächelte. »Jetzt nicht mehr.«

Ansonsten war er ein freundlicher und humorvoller Mann, sehr zuverlässig und absolut aufrichtig. Außerdem schien er ein recht talentierter Bildhauer zu sein. Dachten die Kinder zumindest. Das Bemerkenswerteste an Miesito aber war die Größe seines Kopfes, der nicht dicker war als eine Grapefruit oder, in diesem Fall, seine eigene Faust. John und Philippa versuchten, so zu tun, als sähe sein Kopf völlig normal aus, doch das war nicht ganz einfach. Da Miesitos Englisch nicht sonderlich gut war, mussten sie ihm beim Sprechen genau auf die Lippen sehen, um zu verstehen, was er sagte. Und diese Lippen waren fast ebenso sonderbar wie die Größe seines Kopfes. Die Zwillinge hatten durchaus schon Body-Piercings gesehen. In New York liefen massenhaft komische Leute mit seltsamen Metallteilen in Nase, Ohren, Lippen oder Bauchnabel herum. Aber Miesito war der erste Mensch, der ihnen begegnete, dem man bunte Baumwollkordeln durch die Lippen gezogen hatte und die herabhingen wie Fu-Manchu-Schnurrbärte. Die Frage, wie er dazu gekommen war, blieb für einige Stunden ein faszinierendes Rätsel.

Die Herkunft seines Spitznamens hingegen war nicht schwer zu erraten. Jedes Mal, wenn jemand Miesito eine Frage stellte wie zum Beispiel: »Wie geht es dir heute?«, gab er zur Antwort: »Nicht so gut. Geht mir heute ziemlich mies.« Natürlich waren die Zwillinge viel zu höflich, um ihn über seinen kleinen Kopf und die ungewöhnlich verzierten Lippen auszufragen. Zadie dagegen war weniger diskret und wohlerzogen; daher war sie es auch, die irgendwann mit der Frage herausplatzte, die ihnen allen durch den Kopf ging.

Und das kam so:

Sie aßen in Miesitos Lodge in Manu zu Abend, am Rand eines von Palmen umgebenen Sees, wo sie ihre erste Nacht im peruanischen Amazonasgebiet verbringen würden. Den köstlichen Ziegeneintopf hatte Muddy, der Koch, für sie zubereitet, der nicht nur gut kochen, sondern obendrein ausgezeichnet Gitarre spielen konnte. Zadie hatte mehrere Gläser von etwas getrunken, das ihr ausgesprochen lecker schmeckte, also fragte sie Miesito, wie es hergestellt wurde.

»Das ist Chichai. Bier, das die Inka hier erfunden haben«, sagte Miesito.

»Es geht doch nichts über ein Glas anständiges Bier«, schwärmte Groanin und toastete Miesito glücklich zu.

»Erwachsene wie Mister Groanin trinken Chichai mit Alkohol «, erklärte Miesito Zadie weiter. »Heißt einfach nur Chichai. Aber Mr Vodyannoy hat gesagt, ich soll euch geben alkoholfreie Sorte. Heißt heiliges Chichai und ist, was du gerade trinkst. Schmeckt genau wie Chichai, ist aber ohne Alkohol und ohne Kalorien. Wenn ihr nicht amerikanische Kinder wärt, ich hätte euch gegeben normales Chichai, aber –«

»Ja, ja, das verstehe ich alles«, unterbrach ihn Zadie. »Aber woraus wird es gemacht? Was ist dadrin?«

»Getreide«, sagte Miesito. »Wie in jedem Bier. Und Spucke. Speichel von Menschen.«

Zadie schluckte schwer. »Pardon, aber haben Sie gerade ›Speichel‹ gesagt?«

»Ja«, antwortete Miesito. »Spucke.« Er nahm sein leeres Glas, zog die Kordeln in seinen Lippen zur Seite und ließ ein ordentliches Quantum Spucke hineinlaufen, als würde das alle Zweifel beseitigen, die nach seiner Erklärung noch verblieben waren. »So. Ja?«

»Sie machen Witze«, sagte Zadie.

»Ich fürchte, nein«, sagte Mr Vodyannoy und zündete seine Pfeife an.

»Keine Witze«, sagte Miesito. »Ist sehr altes Inkarezept. Uralt. Schmeckt gut, nicht?«

Philippa lächelte höflich. »Kaufen Sie das Chichai in Flaschen?«, fragte sie. »Im Supermarkt?«

»Nein, macht Muddy selbst«, sagte Miesito.

»Ich verstehe Sie doch richtig?«, hakte John mit sadistischem Vergnügen nach, womit er lediglich die Wirkung auf Zadie und Groanin verstärken wollte. »Dieses Chichai ist selbst gebraut. Muddy hat es aus seiner eigenen Spucke hergestellt, richtig?«

Muddy hörte auf, Gitarre zu spielen, stand auf und verbeugte sich, als wollte er seinem Stolz über die wahre Herkunft des Chichai Ausdruck verleihen. Er war kaum größer als einen Meter fünfzig und im Stehen so groß wie Miesito im Sitzen. Aber er hatte ein großes Herz.

»Mit meiner Spucke, ja«, sagte er und spuckte ins Gebüsch, wie um seine Worte unter Beweis zu stellen.

»Ich spucke gern und ziemlich gut. Schaffe an die neun Meter und treffe alles, was ich treffen will.«

»In ganz Südamerika niemand spuckt besser als Muddy«, sagte Miesito.

Groanin stand auf und ging leise hinaus.

»Oje«, sagte Nimrod. »Der arme Groanin. Vielleicht hätte ich es ihm sagen sollen, bevor er Geschmack daran fand. Er hat mehrere große Gläser davon getrunken.«

»Köstlich«, sagte Mr Vodyannoy und leerte sein Glas.

»Können wir vielleicht über etwas anderes reden?«, schlug Zadie vor. Sie hielt sich entsetzt den Bauch und ihr war viel zu übel, um dem Butler zu folgen, der sich bereits lautstark ins Gebüsch erbrach.

Aber John war nicht gewillt, das Thema fallen zu lassen. Noch nicht. »Wie viel Spucke braucht man denn dafür, Muddy«, erkundigte er sich, »um, sagen wir mal, drei, vier Liter von dem Zeug herzustellen?«

Muddy nickte und ließ mehrere Portionen Spucke in sein leeres Glas laufen. »Ungefähr so viel für Chichai «, sagte er und hielt sein Glas in die Höhe, das einige Zentimeter hoch mit dicker gelber Spucke gefüllt war. »Und noch mehr für heiliges Chichai

»John, sei so gut«, sagte Zadie. »Ich glaube, wir haben alle genug gehört.« Und weil sie vermutete, dass John und Muddy nur dann von dem ekelhaften Thema ablassen würden, wenn sie das Gespräch auf ein anderes lenkte, sagte sie mit einem strahlenden Lächeln: »Also, Miesito, wie kommt es eigentlich, dass Sie so einen kleinen Kopf haben? Und wie sind diese komischen Bindfäden in Ihre Lippen gekommen? Haben Sie die selbst eingenäht?«

Philippa war sprachlos, dass jemand einen so offensichtlich geschlagenen Menschen so direkt zu fragen wagte. Aber Miesito machte das nichts aus. Er war es gewohnt.

»Ich bin Prozuanaci-Indio «, sagte er. »Prozuanaci sind alte Feinde von Xuanaci-Indios. Xuanaci sind mächtig grausam und viel primitiver als wir. Leben in mächtig unwirtlichem Gebiet, wo es gibt keine Pfade durch dichten Dschungel. Sieht man Xuanaci nicht oft. Ist auch besser so. Vor langer Zeit, als ich war kaum größer und älter als Junge hier, haben mich Xuanaci-Indios gefangen. Ich war noch zu jung, sonst sie hätten mir abgeschnitten Kopf als Kriegstrophäe. Das nennen sie Tzantza. Dann sie haben beschlossen, mich zu demütigen und immer an Gefangennahme zu erinnern, indem sie Kopf schrumpfen, obwohl er noch auf Schultern sitzt.«

»Aber das ist doch unmöglich«, sagte Philippa.

»Nicht für Xuanaci. Wissen mächtig viel über Sammeln und Schrumpfen von Menschenköpfen für Trophäen. Haben mich zuerst festgebunden und mit kleinem Strohhalm Fett aus Gesicht gesaugt. Dann sie haben Kopf rasiert und eingerieben mit Spezialöl, das von Pflanze kommt, die nur am Amazonas wächst und nur Xuanaci kennen. Dann ich musste viele Wochen mit Kopf in Korb liegen. Korb voller Kräuter und mächtig viel heißem Sand, der Kopf austrocknet. Dann sie haben ihn noch mal eingerieben mit Spezialöl und wieder ausgetrocknet und immer wieder Fett abgesaugt aus Gesicht.«

»Hört sich an wie eine kosmetische Liposuktionsbehandlung «, sagte John. »Verstehe.«

»Das sie haben gemacht viele Male«, erzählte Miesito. »Ganze Zeit Körper wurde immer größer und Kopf immer kleiner. Natürlich ich habe versucht zu schreien um Hilfe, denn meine Leute haben nach mir gesucht. Aber Xuanaci haben verhindert und mir mit Schnüren Lippen zusammengenäht, die ich immer noch trage, wie ihr seht.«

»Was ist dann passiert?«, fragte John, den Miesitos Geschichte faszinierte. »Haben die Sie gehen lassen?«

»Als Kopf fertig war geschrumpft, haben Xuanaci mächtig großes Pernocabeza-Fest gefeiert und ich war Ehrengast. Sie mir gaben Getränk mit ganzem Fett, das sie aus Kopf gesaugt.«

»Und haben Sie es getrunken?«

»Natürlich. Xuanaci hätten sonst mich getötet. Fett hat meinen Körper viel größer gemacht als normal. Deshalb sieht Kopf noch kleiner aus.«

»Logisch«, stellte John fest. »Was war dann?«

Miesito zuckte die Achseln. »Sie gaben mir Spiegel, den sie irgendwann für Schrumpfkopf eingetauscht haben, damit ich mich kann betrachten. Xuanaci fanden das mächtig komisch.«

»Und wie ging es Ihnen dabei?«, fragte Philippa, die wider Willen ganz fasziniert war.

»Mies«, sagte Miesito. »Ganz mies. Obermies. Wie hättest du dich gefühlt?«

»Mies«, stimmte Philippa ihm zu.

»Dann sie ließen mich gehen. Ich ging zurück in mein Dorf und alle waren mächtig froh, mich zu sehen, aber auch traurig über das, was Xuanaci gemacht haben mit mir und meinem Kopf.«

»Haben Sie sich je an ihnen gerächt?«, fragte John, dem dieser Gedanke als Junge natürlich nahelag.

»O ja. Aber viel später.« Miesito sah Mr Vodyannoy an und lächelte.

»Ich habe hier unten meinen Urlaub verbracht«, sagte Mr Vodyannoy, »und Miesito hat mir das Leben gerettet. Mich davor bewahrt, von einem Scolopendra gigantea, einem peruanischen Riesentausendfüßler, gebissen zu werden. Sie sind hochgiftig und meist tödlich. Für Dschinn noch eher als für Menschen.«

»Ich finde das nur gerecht, wenn man bedenkt, dass wir gegen Schlangengift immun sind«, meinte John.

»Wie groß sind sie denn?«, fragte Philippa.

»Sie können mehr als fünfundzwanzig Zentimeter lang werden «, sagte Mr Vodyannoy. »Auf jeden Fall habe ich Miesito drei Wünsche gewährt. Und nachdem er den ersten verschwendet hatte …«

Miesito grinste verlegen, als er daran dachte. »Ich habe gewünscht, zu wissen, ob er Wahrheit sagt oder nicht. Das wusste ich dann natürlich.«

»Aber, entschuldigen Sie«, sagte Zadie vorsichtig. »Nehmen Sie mir das bitte nicht übel, Miesito, aber warum haben Sie sich keinen normal großen Kopf gewünscht?«

»Weil ich nicht wollte«, antwortete Miesito schlicht. »Ich war gewohnt, dass Kopf so groß ist, wie er ist. Und alle anderen auch. War mir nicht so wichtig.«

»Verstehe«, sagte John. »Ihr zweiter Wunsch war, sich an den Xuanaci zu rächen.«

»O nein«, sagte Miesito. »Zweiter Wunsch war, zu haben eigenes Geschäft im Dschungel. Damit ich kann sorgen für Familie. Deshalb habe ich Tour- und Expeditions-Company. Mein dritter Wunsch war Tätowierung, von der ich dir erzählt habe. Die verwandelt Dinge in Stein.«

»Und ich dachte, Sie wären Bildhauer«, sagte Philippa. »Diese ganzen naturgetreuen Tierstatuen, die hier überall zu sehen sind, das waren früher alles echte Tiere, stimmt’s?«

»Ja«, sagte Miesito. »Ich sie verkaufe an Touristen und verdiene Geld.«

»Und die Xuanaci?«, fragte John.

Wieder grinste Miesito verlegen. »Du hast recht, Junge. Irgendwann ich bin tief hineingegangen in Dschungel, habe nach Xuanaci gesucht und mit Tätowierung ein paar in Stein verwandelt.«

»Wow«, sagte John. »Und wie war das für Sie?«

»Mies«, sagte Miesito. »Ganz mies. Obermies. Hat keinen Spaß gemacht. Na ja, vielleicht ihr werdet sehen Statuen. Wir müssen Fluss hinauf und tief in Xuanaci-Gebiet, um hinzukommen, wo wir hinwollen.«

Groanin kehrte an den Tisch zurück.

»Gehen die Xuanaci immer noch auf Kopfjagd?«, fragte John mit einem Seitenblick auf Groanin.

Miesito hob die Schultern. »Schwer zu sagen. Habe Xuanaci schon lange nicht mehr gesehen. Vielleicht ja, vielleicht nein.« Er lächelte Groanin an und fügte leise hinzu: »Bitte Sie halten ganz still, Mr Groanin.«

»Was haben Sie gesagt, Miesito, alter Knabe?«

»Bitte Sie halten ganz still. Ist etwas auf Ihrem Rücken.«

Groanin schluckte und wurde leichenblass. »Etwas? Was für ein Etwas? Ein krabbeliges Etwas vielleicht?«

Miesitos Hand verschwand kurz hinter Groanins Rücken, und als sie wieder zum Vorschein kam, hielt sie einen riesigen Tausendfüßler. Er bestand aus etwa achtundzwanzig roten lederartigen Segmenten und zwei Dutzend gelben Beinpaaren, größer als die größten Kammzinken. Der Tausendfüßler sah aus, als käme er von einem anderen Planeten – einem sehr unwirtlichen Planeten.

»Heiliges Kanonenrohr!«, rief John und sprang vom Tisch auf. »Ein Scolopendra gigantea

»Ganz genau«, sagte Nimrod.

»Größter Tausendfüßler, den ich je gesehen«, sagte Miesito und hielt das Tier gegen das Licht, damit es alle betrachten konnten. Selbst in Miesitos Hand wirkte der riesige Skolopender so lang wie eine Schlange. »Ist mindestens fünfundvierzig Zentimeter lang und mächtig giftig.«

»Sie sind ein bisschen blass um die Nase, Groanin«, sagte Nimrod. »Wie geht es Ihnen?«

»Mies«, sagte Groanin. »Ganz mies. Obermies. Was denken Sie denn?«

Dann fiel er in Ohnmacht.

 

Miesito tötete den riesigen Tausendfüßler nicht und warf ihn auch nicht ins Gebüsch. Später am Abend entdeckten die drei Kinder, dass er den Skolopender in eine große Kiste gesteckt hatte und ihn mit Mäusen und Kakerlaken fütterte.

»Igitt«, sagte Zadie. »Warum behalten Sie das widerliche Vieh, Miesito?«

»Will ihn füttern, bis er ganz groß ist«, sagte Miesito. »Dann ich zeige ihm magische Tätowierung und verwandle in Stein. Touristen zahlen mächtig viel Geld für Skulptur. So wie für andere.«

Er zeigte auf einige der wunderbar detailgetreuen Steintiere, die vor seinen Wohnräumen auf der Veranda standen. Es gab eine Spinne, einen Ameisenbären, ein Faultier, ein Opossum, einen Brüllaffen, einen Kurzohrfuchs, einen Tapir, ein Stachelschwein und einen Puma. Miesito schien in seinem bescheidenen Blockhaus in Manu ein recht florierendes Geschäft zu betreiben.

»Stellen Sie alle Ihre Skulpturen so her?«, fragte John. »Indem Sie ihnen einfach Ihren Bauch zeigen?«

Miesito nickte. »Früher ich hatte auch steinernen Xuanaci-Indio«, sagte er. »Aber berühmter britischer Künstler hat ihn mir abgekauft und für mächtig viel Geld verkauft an modernes Kunstmuseum in London.«

»Und wie fanden Sie das?«, fragte John.

»Mies«, sagte Miesito.

»Ich kann verstehen, dass jemand einen steinernen Puma haben möchte«, sagte Philippa. »Vielleicht auch noch ein Stachelschwein. Aber welcher Spinner begeistert sich für einen steinernen Tausendfüßler?«

»Also, ich weiß nicht«, sagte John. »Mir würde der schon gefallen. Wissen Sie was, Miesito? Ich kaufe ihn.«

»Ich denke, das beantwortet meine Frage«, sagte Philippa.

»Das heißt, wenn Sie die, äh, Verwandlung in Stein vorgenommen haben«, fügte John schnell hinzu. »Er würde sich zu Hause bestimmt gut auf unserem Kamin machen.«

Daher war John ein bisschen enttäuscht, als Miesito ihm wenig später mitteilte, dass der riesige Tausendfüßler aus der Kiste entkommen war.

»Muss mächtig kluger Tausendfüßler gewesen sein«, sagte Miesito und kratzte sich nachdenklich den grapefruitgroßen Kopf. »Vielleicht er hat sich kleiner gemacht, als er wirklich ist. Muss länger gewesen sein, als ich dachte. Aber jetzt ist er weg. Wir ihn werden nicht wiedersehen.«

»Das hoffe ich«, sagte Zadie.

Obgleich sie eine instinktive Abneigung gegen Tausendfüßler empfand, schien es ihr mit Fledermäusen ganz anders zu gehen, denn die Zwillinge stellten überrascht fest, dass sie eine als Schmusetier auf dem Arm trug. »Sie hing in meinem Zimmer an der Wand«, erklärte Zadie und bot den Zwillingen an, die Fledermaus zu streicheln. »Sie ist ziemlich zahm.«

Mr Vodyannoy sah sich das Tier näher an. »Es ist eine Sturnira erythtomos«, erklärte er mit Bestimmtheit. »Eine Gelbschulter-Fledermaus. Ziemlich harmlos.«

»Ihr Pelz ist ganz weich«, sagte Philippa und strich der Fledermaus mit dem Finger über den Kopf.

»Der Inkaherrscher Atahualpa hatte einen Umhang, der weicher war als Seide und aus feinster Fledermaushaut bestand«, erzählte Mr Vodyannoy. »Das hat einer von Pizarros Brüdern, Pedro, in seinem Bericht über die Bezwingung der Inka überliefert.«

»Ich nenne sie Zotz«, erklärte Zadie. »Nach Camzotz, dem Gott der Fledermäuse und der Unterwelt bei den Maya.«

Muddys Hund, Hektor, knurrte die Fledermaus an, als Zadie die beiden miteinander bekannt machen wollte, woraufhin ihm Groanin den Kopf tätschelte.

»Bin ganz deiner Meinung, alter Junge«, murmelte der Butler. »Irgendwas ist mächtig faul mit dem Mädchen.«