Durch den Dunst dringen Gesichter, verharren vor mir, verschwinden wieder. Sie blicken auf mich herab, stellen mir Fragen. Alle stellen Fragen. Ob ich wisse, wer ich bin? Ob mir irgendwo was weh tue? Ich weiß, wer ich bin, und Schmerzen habe ich überall. Ich würde gern in diesem Sinne antworten, aber sprechen tut weh. Ich weiß das, weil ich vor einiger Zeit, vielleicht vor einem Jahr, vielleicht vor zwei, vielleicht vor zehn Jahren, mit einem Kind zu sprechen versucht habe, das Rouge auf den Wangen und schwarz verschmierte Augen hatte. Das Kind. Ja, ich sehe es jetzt. Wir sind in irgendeinem Gefährt, das Kind und ich; ich glaube nicht, dass Soraya am Steuer sitzt, denn Soraya fährt nie dermaßen schnell. Ich will dem Kind etwas sagen - es scheint sehr wichtig zu sein. Vielleicht will ich ihm sagen, dass es doch bitte mit dem Weinen aufhören möge, dass alles gut werden wird. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Aus irgendeinem Grund, der mir selbst nicht ganz klar ist, möchte ich dem Kind danken.

Gesichter. Grüne Kappen. Sie tauchen auf und verschwinden wieder aus meinem Gesichtsfeld. Sie reden schnell, gebrauchen Wörter, die ich nicht verstehe. Ich höre andere Stimmen, andere Geräusche, Signaltöne und Alarmschellen. Und es kommen immer mehr Gesichter hinzu. Sie blicken auf mich herab. Ich erinnere mich an keines, außer an das mit

den gegelten Haaren und dem Clark-Gable-Schnauzer, das mit dem Afrikafleck auf der Haube. Mister Soap Opera. Komisch. Mir ist zum Lachen zumute. Aber auch das tut weh. Mir schwinden die Sinne.

Sie sagt, sie heiße Aisha, »wie die Frau des Propheten«. Ihr ergrautes Haar ist in der Mitte gescheitelt und im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. In ihrem Nasenflügel steckt ein blinkender Edelstein. Sie trägt eine Brille mit Bifokalgläsern, die ihre Augen unnatürlich groß erscheinen lassen. Auch sie ist grün gekleidet, und ihre Hände sind sanft. Sie bemerkt, dass ich sie ansehe, und lächelt mir zu. Sagt etwas auf Englisch. Ich spüre einen Stich in der Seite. Mir schwinden die Sinne.

Neben meinem Bett steht ein Mann. Ich kenne ihn. Er ist dunkel und schlaksig, hat einen langen Bart. Auf dem Kopf sitzt - wie nennt man diese Dinger noch gleich? Pakols? Er trägt es schief auf dem Kopf, wie jene berühmte Person, deren Name mir im Augenblick nicht einfällt. Ich kenne den Mann. Er hat mich vor langer Zeit chauffiert. Ich kenne ihn. Mit meinem Mund stimmt etwas nicht. Ich höre ein Blubbern. Mir schwinden die Sinne.

Mein rechter Arm brennt. Die Frau mit der Bifokalbrille und dem Nasenstecker beugt sich über meinen Arm und legt mir einen durchsichtigen Plastikschlauch an. Das sei Kalium, sagt sie. »Brennt wie ein Bienenstich, nicht wahr?«, sagt sie. Wie heißt sie noch? Der Name hat irgendwas mit einem Propheten gemein. Trug sie nicht einen Pferdeschwanz? Jetzt hat sie das Haar zu einem Knoten hochgesteckt. Einen solchen Knoten trug auch Soraya, als wir uns das erste Mal gesprochen haben. Wann war das? Letzte Woche? Aisha! Ja.

Mit meinem Mund ist irgendetwas nicht in Ordnung. Und dann dieses Stechen in der Seite ...

Mir schwinden die Sinne.

Wir sind in den Sulaiman-Bergen von Belutschistan, und Baba ringt mit einem schwarzen Bären. Es ist der Baba meiner Kindheit, Toophan Aga, ein überaus stattlicher Paschtune und nicht der welke Mann unter den Decken, der Mann mit den eingefallenen Wangen und hohlen Augen. Die beiden, der Mann und die Bestie, wälzen sich über einen Fleck aus grünem Gras, und Babas braune Locken fliegen. Der Bär brüllt, oder vielleicht ist es Baba. Speichel und Blut spritzen herum, Klauen und Fäuste schlagen drein. Mit dumpfem Dröhnen stürzen sie zu Boden. Baba sitzt auf der Brust des Bären und bohrt seine Finger in dessen Schnauze. Er blickt zu mir auf, und ich erkenne mich in ihm wieder. Ich ringe mit dem Bären.

Ich wache auf. Der schlaksige dunkle Mann steht wieder an meinem Bett. Sein Name ist Farid, ich erinnere mich. Und in seiner Begleitung ist das Kind aus dem Auto. Sein Gesicht erinnert mich an den Klang der Schellen. Ich habe Durst.

Mir schwinden die Sinne.

Ich pendele zwischen Wachheit und Ohnmacht.

Wie sich herausstellte, hieß der Mann mit dem Clark-Gable-Schnauzer Dr. Faruqi. Er war am Ende doch kein Seifenopernstar, sondern vielmehr ein Facharzt für plastische Chirurgie. Trotzdem erinnerte er mich stets an eine Figur namens Armand aus irgendeiner schwülstigen Kitschgeschichte vor tropischer Kulisse.

Wo bin ich? wollte ich fragen, konnte aber den Mund nicht öffnen. Ich kräuselte die Stirn, grunzte. Armand lächelte. Er hatte blendend weiße Zähne.

»Noch nicht, Amir«, sagte er auf Englisch mit starkem, rollendem Urdu-Akzent. »Aber bald. Wenn die Drähte raus sind.«

Drähte?

Armand verschränkte die Arme. Er hatte stark behaarte Unterarme und trug einen goldenen Ehering. »Sie fragen sich bestimmt, wo Sie sind und was passiert ist. Verständlich. Nach einer Operation ist man immer ein bisschen benommen. Ich will Ihnen sagen, was ich weiß.«

Ich wollte wegen der Drähte nachfragen. Operation? Wo war Aisha? Ich wünschte, sie würde mich anlächeln und ihre zarte Hand auf meine Hände legen.

Armand legte die Stirn in Falten und kniff in etwas selbstgefälliger Manier die Brauen zusammen. »Sie liegen in einem Krankenhaus in Peshawar. Schon seit zwei Tagen. Ich muss Ihnen leider sagen: Sie haben sehr schwere Verletzungen davongetragen, Amir. Ja, mein Freund, Sie haben Glück, noch am Leben zu sein.« Während er dies sagte, bewegte er den ausgestreckten Zeigefinger wie ein Pendel hin und her. »Sie hatten einen Milzriss, wahrscheinlich eine beidseitige Ruptur mit subkapsulärem Bluterguss. Meine Kollegen aus der allgemeinen Chirurgie haben eine Splenektomie vornehmen müssen. Sie können von Glück sagen, dass es erst jetzt zur Ruptur gekommen ist. Dazu hätte es auch schon früher kommen können, und dann wären Sie innerlich verblutet.« Er tätschelte meinen Arm, den mit dem Infusionsschlauch, und lächelte. »Außerdem sind sieben Rippen gebrochen. Eine davon hat einen offenen Pneumothorax verursacht.«

Ich kräuselte die Stirn. Versuchte, meinen Mund zu öffnen. Erinnerte mich aber dann an die Drähte.

»Das heißt Brustwandverletzung«, erklärte Armand und zupfte an einem dicken Plastikrohr, das mir links im Brustkorb steckte. Ich spürte einen stechenden Schmerz. »Mit dieser Thoraxdrainage haben wir das Leck geschlossen.« Mit den Augen folgte ich dem Rohr von der bandagierten Brust bis zu einem Behälter, in dem mehrere Wassersäulen zu erkennen waren. Die blubbernden Geräusche kamen von dort.

»Darüber hinaus mussten etliche Lazerationen genäht werden. Platzwunden.«

Ich wollte ihm sagen, dass ich diesen Begriff kannte, dass ich Schriftsteller bin, und vergaß die Drähte im Mund.

»Ihre Oberlippe hat es besonders schlimm erwischt«, sagte Armand. »Sie ist von oben nach unten aufgerissen, genau in der Mitte. Aber keine Angst, wir haben sie wieder zusammengenäht, und ich glaube, Sie werden mit dem Ergebnis zufrieden sein. Dass eine Narbe zurückbleibt, lässt sich nicht vermeiden.«

»Dann war da noch eine Orbitalfraktur auf der linken Seite«, fuhr Armand fort. »Ein Augenhöhlenbruch, den wir natürlich auch richten mussten. Die Drähte an den Kieferknochen werden in rund sechs Wochen wieder rausgenommen. Bis dahin gibt's für Sie nur Flüssiges und Brei. Sie werden Gewicht verlieren und eine Weile so sprechen wie Al Pacino in dem Film Der Pate.« Er lachte. »Übrigens, Sie haben heute noch einen Job zu erledigen. Wissen Sie, welchen?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ihr Job für heute wird es sein, Wind abgehen zu lassen. Wenn Sie das geschafft haben, werden Sie zur Belohnung gefüttert. Kein Pups, kein Pamps.« Er lachte wieder.

Später, nachdem Aisha die Schläuche ausgewechselt und auf meine Bitte hin das Kopfende des Bettes hoch gestellt hatte, ging ich in Gedanken den Katalog meiner Verletzungen durch. Milzriss. Ausgeschlagene Zähne. Durchlöcherte Lunge. Gebrochener Augenhöhlenrand. Ich beobachtete gerade eine Taube, die auf dem Fenstersims saß und

Brotkrumen pickte, als mir die Worte von Armand/Dr. Faruqi in den Sinn kamen: Ihre Oberlippe hat es besonders schlimm erwischt, hatte er gesagt. Sie ist von oben nach unten aufgerissen, genau in der Mitte. Genau in der Mitte. Wie bei einer Hasenscharte.

Farid und Suhrab besuchten mich am nächsten Tag. »Weißt du heute, wer wir sind? Erinnerst dich jetzt?«, fragte Farid halb im Scherz. Ich nickte.

»Al hamdullillah!«., antwortete er strahlend. »Du redest keinen Unsinn mehr.«

»Danke, Farid«, presste ich zwischen verdrahteten Zähnen hervor. Armand hatte Recht -ich klang tatsächlich wie Al Pacino im Paten. Und meine Zunge überraschte mich, sooft sie in eine der Lücken geriet, die die ausgeschlagenen Zähne hinterlassen hatten. »Vielen Dank, für alles.«

Er winkte mit der Hand ab und errötete. »Nicht der Rede wert«, sagte er. Ich wandte mich an Suhrab. Er trug neue Kleider: einen hellbraunen pirhan-tumban, der ihm eine Nummer zu groß zu sein schien, und eine schwarze Kappe. Er hatte den Blick gesenkt und spielte mit dem Infusionsschlauch, der sich auf der Bettdecke schlängelte.

»Wir haben uns noch gar nicht richtig vorgestellt«, sagte ich und reichte ihm meine Hand. »Ich bin Amir.«

Er musterte meine Hand, dann mich. »Sind Sie der Amir Aga, von dem mir mein Vater erzählt hat?«, fragte er.

»Ja.« Ich erinnerte mich an die Worte aus Hassans Brief. Ich habe Farzana jan und Suhrab so viel von dir erzählt. Wie wir zusammen aufgewachsen sind, zusammen gespielt haben und durch die Straßen gelaufen sind. Sie lachen, wenn sie von all dem Unfug hören, den wir beide angestellt haben!

»Auch dir bin ich sehr dankbar, Suhrab jan«, sagte ich. »Du hast mir das Leben gerettet.«

Er sagte nichts. Ich ließ die Hand sinken, als klar war, dass er sie nicht ergreifen würde. »Die neuen Sachen gefallen mir«, murmelte ich.

»Die sind von meinem Sohn«, sagte Farid. »Er ist aus ihnen rausgewachsen. Und Suhrab passen sie ganz gut, wie ich finde.« Suhrab könne bei ihm bleiben, sagte er, solange noch keine Unterkunft für ihn gefunden sei. »Wir haben zwar nicht viel Platz, aber was soll ich machen? Ich kann ihn schließlich nicht auf der Straße übernachten lassen. Außerdem haben meine Kinder schon Freundschaft mit ihm geschlossen. Ha, Suhrab?« Doch der Junge reagierte nicht; er hielt weiter den Blick gesenkt, drehte nur den Schlauch zwischen den Fingern.

»Ich wüsste gern«, sagte Farid zögernd, »was in diesem Haus passiert ist? Was ist zwischen dir und dem Talib vorgefallen?«

»Lass es mich so sagen: Wir haben beide bekommen, was wir verdient haben«, antwortete ich.

Farid nickte, drang nicht weiter in mich ein. Mir kam der Gedanke, dass wir irgendwann zwischen unserem Aufbruch von Peshawar und jetzt Freunde geworden waren. »Auch ich würde dich gern etwas fragen.«

»Was?«

Es fiel mir schwer zu fragen. Ich fürchtete die Antwort. »Rahim Khan«, sagte ich.

»Er ist gegangen.«

Mein Herz stolperte. »Ist er ...«

»Nein, er ist einfach ... gegangen.« Er reichte mir ein gefaltetes Stück Papier und einen kleinen Schlüssel. »Das hat mir sein Vermieter gegeben, als ich da war, um ihn zu sprechen. Er sagte, dass Rahim Khan einen Tag nach uns aufgebrochen ist.«

»Mit welchem Ziel?«

Farid zuckte mit den Achseln. »Das wusste der Vermieter nicht. Er sagte, Rahim Khan habe den Brief und den Schlüssel für dich hinterlassen und sei dann gegangen.« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Ich müsste jetzt los. Bia, Suhrab.«

»Könnte er nicht noch eine Weile bleiben?«, sagte ich. »Du holst ihn dann später ab, ja?« Ich wandte mich an Suhrab. »Würdest du mir noch ein bisschen Gesellschaft leisten?«

Er zuckte mit den Achseln und sagte nichts.

»Natürlich«, antwortete Farid. »Kurz vorm Abendgebet hol ich ihn ab.«

In meinem Zimmer lagen noch drei weitere Patienten: zwei ältere Männer - einer mit Gipsbein, der andere anscheinend mit asthmatischen Problemen - und ein junger Kerl von fünfzehn oder sechzehn Jahren, dem man den Blinddarm entfernt hatte. Der mit dem Gipsbein gaffte uns unverhohlen an und ließ seine Blicke zwischen mir und dem Hazara-Jungen hin und her wandern. Im Zimmer ging es zu wie in einem Taubenschlag; meine Bettnachbarn bekamen jede Menge Besuch von ihren Angehörigen, alten Frauen in hellen shalwar-kameezes, Kindern und Männern mit gehäkelten Kappen. Sie kamen mit pakoras, naan, samosas, biryani. Manchmal verirrte sich auch jemand in unser Zimmer, so wie der große bärtige Mann, der, in eine braune Decke gehüllt, kurz vor Farid und Suhrab aufgetaucht war. Aisha hatte ihn etwas auf Urdu gefragt, doch war er ihr eine Antwort schuldig geblieben, hatte sich nur umgesehen und seinen Blick, wie mir schien, ein wenig länger als nötig auf mich gerichtet. Ein zweites Mal von der Krankenschwester angesprochen, hatte er auf dem Absatz kehrtgemacht und das Zimmer verlassen.

»Wie geht es dir?«, fragte ich Suhrab. Er zuckte mit den Achseln und blickte auf seine Hände.

»Hast du Hunger? Die Dame dort hat mir einen Teller biryani gegeben. Ich kann aber doch nichts essen«, sagte ich. Mir fiel nichts anderes ein. »Möchtest du's?« Er schüttelte den Kopf. »Willst du mir was sagen?« Wieder schüttelte er den Kopf.

Eine Zeit lang saßen wir schweigend da, ich an dem hochgeklappten Kopfteil und zwei Kissen lehnend und Suhrab auf dem dreibeinigen Hocker neben dem Bett. Irgendwann döste ich weg. Als ich wieder aufwachte, hatte das Tageslicht ein wenig abgenommen, die Schatten waren länger geworden, und Suhrab saß immer noch neben mir. Nach wie vor betrachtete er seine Hände.

Nachdem Farid den Jungen abgeholt hatte, faltete ich Rahim Khans Brief auseinander. Ich hatte seine Lektüre so lange wie möglich hinausgezögert und las nun:

Amir jan,

Inshallah, dass dich der Brief erreicht und du in Sicherheit bist. Ich hoffe inständig, dich nicht in Gefahr gebracht zu haben und dass du Afghanistan nicht allzu ungastlich findest. Du bist seit dem Tag deines Aufbruchs in meinen Gebeten. Du hattest all die Jahre Recht mit der Vermutung, dass ich Bescheid weiß. Hassan hat mir von dem Vorfall berichtet. Du hast dich falsch verhalten, Amir jan, aber vergiss nicht, dass du damals noch ein Junge warst. Ein verstörter kleiner Junge. Du warst damals schon zu hart gegen dich selbst und bist es heute noch - das habe ich hier in Peshawar deinen Augen angesehen. Doch ich hoffe, du bedenkst Folgendes: Von Leid verschont bleibt nur, wer kein Gewissen hat und ohne Güte ist. Ich wünsche dir allerdings, dass dein Leiden mit dieser Reise nach Afghanistan ein Ende findet. Amir jan, es beschämt mich, dass wir dich über all die Jahre belogen haben. Dein Wutausbruch in Peshawar war nur allzu berechtigt. Du hattest einen Anspruch auf Aufklärung. So wie auch Hassan. Ich will nichts und niemanden entschuldigen, aber das Kabul jener Tage war eine seltsame Welt, in der manche Dinge wichtiger waren als die Wahrheit.

Amir jan, ich weiß, du hattest es als Junge oft schwer mit deinem Vater. Ich habe miterlebt und mitgefühlt, wie sehr du dich um seine Zuneigung bemüht hast. Dein Vater, Amir jan, war hin- und hergerissen zwischen dir und Hassan. Er hat euch beide geliebt, konnte aber Hassan nicht so lieben, wie er es gewünscht hätte, nämlich unverhohlen und wie ein Vater. Also hat er seine Verzweiflung an dir ausgelassen -an Amir, der gesellschaftlich akzeptierten Hälfte, jener Hälfte, die für die ererbten Reichtümer steht und für all die damit einhergehenden Privilegien. Wenn er dich sah, sah er sich selbst. Und seine Schuld. Du hegst immer noch Groll, und mir ist klar, dass es noch zu früh ist, Nachsicht von dir zu erwarten, aber vielleicht wirst du eines Tages einsehen, dass dein Vater, wenn er es dir schwer gemacht hat, im Grunde mit sich selbst hart ins Gericht gegangen ist. Dein Vater hat wie du unter Seelenqualen gelitten, Amir jan.

Ich kann dir kaum beschreiben, wie tief meine Trauer war, in die mich der Tod deines Vaters gestürzt hat. Ich habe ihn geliebt, nicht nur als Freund, sondern auch, weil er ein guter Mensch war, ja ein großer Mann. Und es liegt mir sehr daran, dir klar zu machen, dass Güte, wahre Güte, aus Reue erwächst, so wie bei deinem Vater. Ich glaube, dass alles, was er getan hat, sei es seine Mildtätigkeit gegenüber den Armen auf den Straßen, sei es der Bau des Waisenhauses oder seine Freigebigkeit, mit der er Freunden in Not geholfen hat - dass all das in der Absicht geschah, eine Schuld zu tilgen. Das ist, glaube ich, wahre Wiedergutmachung: Wenn Schuldgefühle Gutes hervorbringen.

Ich bin zuversichtlich, dass uns Allah Vergebung widerfahren lässt. Er wird deinem Vater vergeben, wie auch mir und dir. Nimm Dir ein Beispiel daran. Vergib deinem Vater, wenn es dir möglich ist. Vergib mir, wenn es dir beliebt. Und, was am wichtigsten ist: Vergib dir selbst.

Ich habe Geld für dich deponiert, es ist nicht viel, aber trotzdem ein Großteil dessen, was ich hinterlasse. Ich vermute, du wirst Auslagen haben, wenn du hierher zurückkehrst; dafür sollte das Geld immerhin reichen. Es liegt in einem Schließfach, dessen Schlüssel jetzt in deinem Besitz ist. Farid kennt die Adresse der Bank in Peshawar.

Ich muss jetzt gehen. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, und die möchte ich allein verbringen. Bitte, versuche nicht, mich ausfindig zu machen. Das ist meine letzte

Bitte an dich.

Allah sei mit dir.

Auf immer dein Freund,

Rahim

Ich fuhr mir mit dem Ärmel meines vom Krankenhaus gestellten Nachthemds über die Augen, faltete den Brief wieder zusammen und versteckte ihn unter der Matratze.

An Amir, der gesellschaftlich akzeptierten Hälfte, jener Hälfte, die für die ererbten Reichtümer steht und für all die damit einhergehenden Privilegien. Vielleicht lag darin der Grund, warum wir, Baba und ich, uns in den Vereinigten Staaten so viel besser verstanden haben, dachte ich. Dort, wo es uns so viel schlechter ging mit unseren armseligen Jobs und der schäbigen Wohnung, dort hat er in mir vielleicht einen Teil von Hassan gesehen.

Dein Vater hat wie du unter Seelenqualen gelitten. Möglich. Wir hatten beide Schuld auf uns geladen. Doch immerhin war es ihm gelungen, tätige Reue zu üben und Gutes hervorzubringen. Was aber hatte ich getan, abgesehen von den Versuchen, meine Schuld bei ebenjenen abzuladen, die ich betrogen hatte, um dann alles zu vergessen? Und um hernach unter Schlaflosigkeit zu leiden? Was hatte ich getan, um meine Fehler zu korrigieren?

Als die Schwester kam - nicht Aisha, sondern eine rothaarige Frau, deren Name mir entfallen ist - und mich fragte, ob ich eine Morphiuminjektion wünschte, sagte ich Ja.

Am nächsten Morgen wurde mir die Drainage aus der Brust entfernt, und Armand war einverstanden, dass man mir Apfelsaft verabreichte. Ich bat Aisha um einen Spiegel, als sie den mit Saft gefüllten Becher auf der Konsole neben meinem Bett abstellte. Sie schob ihre Bifokalbrille ins Haar und zog die Vorhänge auf, um die Morgensonne ins Zimmer scheinen zu lassen. »Seien Sie beruhigt«, sagte sie über die Schulter hinweg. »Schon in wenigen Tagen wird alles wieder besser aussehen. Mein Schwager hatte im vergangenen Jahr einen schweren Unfall mit seinem Moped. Er ist mit dem hübschen Gesicht über den Asphalt geschlittert und war so violett wie eine Aubergine. Jetzt ist er wieder schön wie ein Hollywood- Filmstar.«

Trotz ihrer freundlichen Worte stockte mir der Atem, als ich im Spiegel sah, was vorgab, mein Gesicht zu sein. Ich sah aus, als hätte man mir mit einer Luftpumpe den Kopf aufgeblasen. Die gesamte Augenpartie war dick angeschwollen und blau. Was mich aber noch viel mehr entsetzte, war mein Mund, ein grotesker Klumpen aus Blutergüssen und OP-Fäden. Der Versuch zu lächeln wurde mit einem stechenden Schmerz bestraft. Das also würde ich mir noch eine Weile verkneifen müssen. Genäht worden waren auch Platzwunden auf der linken Wange, unterm Kinn und an der Stirn knapp unterhalb des Haaransatzes.

Der alte Mann mit dem Gipsbein sagte etwas auf Urdu. Ich zuckte mit den Achseln und schüttelte den Kopf. Er deutete auf sein Gesicht, tätschelte es und zeigte mir ein breites, zahnloses Grinsen. »Very good«, sagte er auf Englisch. »Inshallah.«

»Danke«, flüsterte ich.

Gerade als ich den Spiegel aus der Hand gelegt hatte, kamen Farid und Suhrab zur Tür herein. Suhrab nahm auf dem Hocker Platz und lehnte den Kopf an das Metallrohr am Fußende des Bettes.

»Wir sollten machen, dass wir hier rauskommen«, sagte Farid.

»Dr. Faruqi...«

»Ich meine nicht das Krankenhaus. Ich meine Peshawar.« »Warum?«

»Ich fürchte, du bist hier nicht in Sicherheit«, antwortete Farid. Er senkte die Stimme. »Die Taliban haben Freunde hier. Sie werden früher oder später nach dir suchen.«

»Vermutlich haben sie schon damit angefangen«, murmelte ich in Erinnerung an den bärtigen Mann, der sich anscheinend im Zimmer verirrt und mich angestarrt hatte.

Farid rückte näher. »Sobald du wieder auf den Beinen stehen kannst, werde ich dich nach Islamabad bringen. Da ist es zwar auch nicht sicher, aber auf alle Fälle sicherer als hier. Und du wirst ein bisschen Zeit gewinnen.«

»Farid jan, du bringst dich selbst in Gefahr. Es wäre besser, wenn du dich nicht mit mir sehen ließest. Du hast für eine Familie zu sorgen.«

Farid winkte ab. »Meine Jungs sind zwar noch nicht erwachsen, aber schon sehr clever. Ihre Mütter und Schwestern zu beschützen dürfte kein Problem für sie sein.« Er schmunzelte. »Außerdem war nicht davon die Rede, dass ich dir ganz umsonst Hilfe leiste.«

»Das würde ich auch gar nicht zulassen«, antwortete ich. Ich vergaß, dass es in meinem Zustand nicht ratsam war, zu lächeln, und spürte einen Tropfen Blut über mein Kinn rinnen. »Darf ich dich um einen Gefallen bitten?«

»Für dich - tausendmal«, sagte Farid.

Und plötzlich gingen mir die Augen über. Tränen liefen mir über die Wangen und brannten in den offenen Wunden meiner Lippen. Ich schluchzte und schluchzte. »Was ist los?«, fragte Farid alarmiert.

Ich verbarg das Gesicht in der einen Hand und hob die andere wie zur Abwehr. Ich ahnte, dass alle Blicke auf mich gerichtet waren. »Tut mir Leid«, sagte ich, wieder halbwegs gefasst. Ich fühlte mich matt und leer. Suhrab musterte mich mit kritischer Miene.

Als ich wieder zur Sprache zurückgefunden hatte, erklärte ich Farid, wie er mir helfen konnte. »Rahim Khan sagt, dass sie hier in Peshawar leben.«

»Du schreibst mir die Namen lieber auf«, meinte Farid. Er war sichtlich irritiert und schien sich zu fragen, was mich denn als Nächstes aus der Fassung bringen mochte. Ich kritzelte die Namen auf ein Stück Papierhandtuch. »John und Betty Caldwell.«

Farid faltete den Zettel und steckte ihn ein. »Sobald ich Zeit habe, werde ich sie suchen«, versprach er. Und an Suhrab gewandt: »Dich hole ich dann am Abend ab. Und denk daran, Amir Aga muss noch geschont werden.«

Suhrab ging ans Fenster, vor dem ein halbes Dutzend Tauben die auf dem Sims ausgestreuten Brotkrumen aufpickten.

In der mittleren Schublade der Konsole neben meinem Bett hatte ich eine alte Ausgabe von National Geographie gefunden, einen angekauten Bleistift, einen lückenhaften Kamm und das, wonach ich mich nun unter Aufbietung all meiner geschwundenen Kräfte reckte: einen Satz Spielkarten. Ich hatte sie schon durchgezählt und zu meinem Erstaunen festgestellt, dass keine Karte fehlte. Ohne eine Antwort zu erwarten, geschweige denn eine positive, fragte ich Suhrab, ob er nicht mit mir spielen wolle. In meiner Gegenwart hatte er seit unserer Flucht aus Kabul kaum ein Wort gesagt. Jetzt wandte er sich allerdings vom Fenster ab und sagte: »Ich kann aber nur panjpar.«

»Dann tust du mir jetzt schon Leid, denn ich bin ein Großmeister des panjpar. Und als solcher auf der ganzen Welt bekannt.«

Er nahm Platz auf dem Hocker neben dem Bett. Ich gab ihm seine fünf Karten. »Als dein Vater und ich in deinem Alter waren, haben wir dieses Spiel auch immer gespielt. Vor allem im Winter, wenn es schneite und wir nicht nach draußen konnten. Wir spielten, bis es dunkel wurde.«

Er spielte eine Karte aus und hob eine von dem Stoß ab. Während er über sein Blatt grübelte, musterte ich ihn mit verstohlenen Blicken. Wie sehr und in wie vielerlei Hinsicht war er doch seinem Vater ähnlich: Genau wie dieser fächerte er die Karten mit beiden Händen auf, studierte sie mit halb zugekniffenen Augen und scheute den direkten Blickkontakt mit seinem Gegenüber.

Wir spielten schweigend. Ich gewann das erste Spiel, ließ ihn das nächste gewinnen und verlor die weiteren fünf glatt. »Du bist so gut wie dein Vater, vielleicht sogar besser«, sagte ich nach dem letzten verlorenen Spiel. »Ich habe ihn zwar manchmal geschlagen, glaube aber, dass er mich hat gewinnen lassen.« Und nach einer kurzen Pause: »Dein Vater und ich sind von derselben Amme gestillt worden.«

»Ich weiß.«

»Was ... was hat er dir sonst noch alles über uns erzählt?« »Dass Sie der beste Freund waren, den er je hatte«, antwortete er.

Ich zupfte und nestelte am Karobuben in meiner Hand. »Ich fürchte, ich war ihm kein besonders guter Freund«, entgegnete ich. »Ich würde aber gern dein Freund sein, und ich glaube, dass ich dir ein guter Freund wäre. Einverstanden? Würde dir das gefallen?« Ich legte vorsichtig meine Hand auf seinen Arm, doch er zuckte zurück. Er ließ die Karten fallen, stand auf und wich zum Fenster aus. Über Peshawar ging die Sonne unter und malte rote und violette Streifen an den Himmel. Von der Straße tönten Autohupen, Eselsschreie und die Trillerpfeife eines Polizisten. Suhrab stand im roten Abendsonnenschein, die Stirn ans Glas gepresst und die Fäuste unter die Arme gesteckt.

Aisha hatte einen Assistenten, der mir noch an diesem Abend dabei half, die ersten Schritte zu gehen. Ich schleppte mich ein einziges Mal durchs Zimmer und zurück, wobei ich mit der einen Hand den rollenden Infusionsständer gepackt hielt und mit der anderen den Unterarm des Assistenten. Für diesen kurzen Ausflug brauchte ich zehn Minuten; danach tat mir wieder alles weh, und mein Körper war schweißgebadet. Keuchend ließ ich mich aufs Bett fallen und spürte das Herz in den Ohren pochen. Ich dachte an meine Frau und daran, wie sehr sie mir fehlte.

Am nächsten Tag spielten Suhrab und ich fast ununterbrochen panjpar, wiederum schweigend. So auch am übernächsten Tag. Wir wechselten kaum ein Wort, spielten einfach nur panjpar, ich aufgerichtet im Bett, er auf dem dreibeinigen Hocker sitzend. Aus der Hand legten wir die Karten nur, wenn ich meine mühsamen Gehversuche im Zimmer fortsetzen oder die Toilette am Ende des Ganges aufsuchen musste. In der folgenden Nacht hatte ich einen Traum. Ich träumte, dass Assef in der Tür zu meinem Krankenzimmer stand, immer noch mit der Messingkugel in der Augenhöhle. »Wir sind uns gleich, du und ich«, sagte er. »Du hast zwar mit ihm an einer Brust gelegen, bist aber in Wirklichkeit mein Zwilling.«

Am Morgen verlangte ich von Armand, entlassen zu werden.

»Dazu ist es noch zu früh«, protestierte Armand. Statt des Krankenhauskittels trug er heute einen marineblauen Anzug und eine gelbe Krawatte. Das Haar war frisch gegelt. »Sie müssen noch intravenös mit Antibiotika versorgt werden ...«

»Ich muss hier weg«, fiel ich ihm ins Wort. »Ich bin Ihnen und dem ganzen Personal sehr dankbar, wirklich. Aber ich muss jetzt hier weg.«

»Wohin wollen Sie?«, fragte Armand.

»Darauf möchte ich lieber nicht antworten.«

»Sie können sich doch kaum auf den Beinen halten.«

»Ich schaff s schon durch den ganzen Flur und zurück«, erwiderte ich. »Ich komme klar.« Mein Plan war folgender: Das Krankenhaus verlassen. Aus dem Schließfach der Bank Geld holen und meine Krankenhausrechnung begleichen. Zum Waisenhaus fahren und Suhrab bei John und Betty Caldwell absetzen. Dann nach Islamabad reisen, noch ein paar Tage ausruhen. Und nach Hause fliegen.

Das hatte ich vor. Bis Farid und Suhrab an diesem Morgen kamen. »Deine Freunde, dieser John Caldwell und seine Frau, sind gar nicht in Peshawar«, sagte Farid.

Ich hatte zehn Minuten gebraucht, nur um in meinen pirhan-tumban zu schlüpfen. Die noch wunde Stelle auf der Brust, in der das Plastikrohr gesteckt hatte, schmerzte höllisch, als ich den Arm hob, und der Magen schnürte sich mir zusammen, sooft ich mich nach vorn beugte. Meine wenigen Sachen einzupacken war so anstrengend, dass ich in Atemnot geriet. Ich hatte es dann schließlich doch geschafft und saß auf der Bettkante, als Farid mit der Nachricht herausrückte. Suhrab saß neben mir auf dem Bett.

»Wo sind sie hin?«, fragte ich.

Farid schüttelte den Kopf. »Verstehst du nicht...«

»Rahim Khan hat doch gesagt...«

»Ich war im US-Konsulat«, berichtete Farid und nahm die braune Papiertüte, in die ich meine Sachen gesteckt hatte. »In Peshawar sind nie ein John und eine Betty Caldwell gemeldet gewesen. Laut Auskunft der Leute im Konsulat existieren die beiden überhaupt nicht. Jedenfalls nicht hier in Peshawar.«

Neben mir blätterte Suhrab in der alten National-Geographic-Ausgabe.

Wir holten das Geld von der Bank. Der Manager, ein dickbäuchiger Mann mit Schwitzflecken unter den Achseln, lächelte ununterbrochen und versicherte mir, dass niemand in der Bank das Geld angerührt habe. »Absolut niemand«, bekräftigte er und fuchtelte genau wie Armand mit dem Zeigefinger in der Luft herum.

Mit so viel Geld in einer Papiertüte durch Peshawar zu fahren war eine ziemlich beängstigende Vorstellung. Außerdem würde ich in jedem bärtigen Mann, der mich zufällig anstarrte, einen von Assef auf mich angesetzten Killer sehen. Ich hätte wahrhaftig viele zu beargwöhnen gehabt, denn es gibt jede Menge bärtige Männer in Peshawar, und alle starren.

»Was machen wir mit ihm?«, fragte Farid, als er mich langsam von der Krankenhauspforte zum Auto führte. Suhrab hockte bereits im Fond des Landcruisers und stierte, das Kinn in die Hand gelegt, durch das heruntergekurbelte Fenster auf den Verkehr.

»In Peshawar kann er jedenfalls nicht bleiben«, antwortete ich keuchend.

»Nay, Amir Aga, das kann er nicht«, bestätigte Farid. Er ahnte, was ich gern gefragt hätte. »Tut mir Leid. Ich wünschte, ich ...«

»Schon gut, Farid.« Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Du hast schon genug Mäuler zu füttern.« Neben dem Wagen stand ein Hund auf den Hinterbeinen; er stützte sich mit den Pfoten an der Tür ab und wedelte, von Suhrab gestreichelt, mit dem Schwanz. »Er wird wohl fürs Erste mit mir nach Islamabad kommen müssen«, sagte ich.

Ich schlief fast während der gesamten vierstündigen Fahrt nach Islamabad und träumte eine Menge. In Erinnerung geblieben ist mir nur ein Sammelsurium von Bildern, Ausschnitte von visuellen Eindrücken, die mir wie die Karten einer Rollkartei durch den Kopf flatterten: Baba, wie er für meine dreizehnte Geburtstagsfeier Lammfleisch mariniert. Soraya und ich am Morgen nach der Hochzeitsnacht, die Musik vom Vorabend noch in den Ohren und ihre mit Henna bemalten Hände mit meinen verschränkt. Mit Baba und Hassan auf einem Erdbeerfeld bei Jalalabad - der Besitzer hatte uns erlaubt, so viele Erdbeeren zu essen, wie wir mochten, vorausgesetzt, dass wir mindestens vier Kilo kaufen würden - und wie wir uns am Ende vor Magenschmerzen krümmten. Wie dunkel, fast schwarz Hassans Blut ausgesehen hatte, das aus seinem Hosenboden in den Schnee getropft war. Blut ist dicker als Wasser, bachem. Khala Jamila, die Sorayas Knie tätschelte und sagte: Weiß Gott, vielleicht sollte es einfach nicht sein. Die Nacht auf dem Dach unseres Hauses, als Baba davon sprach, dass es nur eine einzige Sünde gebe, nämlich die des Diebstahls. Wenn du eine Lüge erzählst, stiehlst du einem anderen das Recht auf Wahrheit. Rahim Khan am Telefon mit dem Trost, dass Wiedergutmachung möglich sei.

24

Hatte mich Peshawar an die Stadt erinnert, die Kabul einmal gewesen war, so sah ich in Islamabad die Stadt, die Kabul vielleicht einmal würde sein können. Die Straßen waren breiter als in Peshawar, sauberer, von Hibiskussträuchern und Flammenbäumen gesäumt. Die Basare machten einen sehr viel besser organisierten Eindruck; das Gedränge von Rikschas und Fußgängern war hier längst nicht so groß. Eleganter, moderner war auch die Architektur, und ich sah Parkanlagen, wo im Schatten dichter Bäume Rosen und Jasmin blühten.

Farid fand ein kleines Hotel in einer Seitenstraße am Fuß der Margalla-Hügel. Wir kamen an der berühmten Faisal-Moschee vorbei, der angeblich größten Moschee der Welt mit ihren kolossalen Betontragwerken und den schwindelnd hohen Minaretten. Suhrab merkte auf beim Anblick dieser Moschee, lehnte sich aus dem Fenster und bestaunte sie, bis wir um eine Ecke gebogen waren.

Das Hotelzimmer war unvergleichlich komfortabler als das, wo wir, Farid und ich, in Kabul Quartier bezogen hatten. Die Bettwäsche war frisch gewaschen, der Teppich gesaugt und das Badezimmer blitzblank. Es gab Shampoo, Seife, Rasierklingen, eine Badewanne und

Handtücher mit Zitronenduft. Und keine Blutspuren an den Wänden. Auf einer Kommode gegenüber den beiden Einzelbetten stand außerdem ein Fernsehapparat.

»Sieh mal!«, sagte ich an Suhrab gerichtet. Ich schaltete den Apparat ein - eine Fernbedienung fehlte -, suchte ein Programm und fand eine Show für Kinder, in der zwei flauschige Puppenschafe Lieder auf Urdu sangen. Suhrab setzte sich auf eines der Betten und zog die Knie an die Brust. Das flackernde Licht des Fernsehers spiegelte sich in seinen grünen Augen, als er mit regloser Miene zuschaute und dabei mit dem Oberkörper vor und zurück schaukelte. Ich erinnerte mich, Hassan versprochen zu haben, ihm und seiner Familie später einmal, wenn wir erwachsen sein würden, einen Fernseher zu schenken.

»Ich werde mich dann jetzt wieder auf den Weg machen, Amir«, sagte Farid.

»Bleib doch noch über Nacht«, entgegnete ich. »Du wärst dann ausgeruht für die lange Fahrt zurück.«

»Tashakkor«, sagte er. »Aber ich möchte noch heute Nacht wieder zu Hause sein. Ich vermisse meine Kinder.« Auf dem Weg hinaus blieb er in der Tür stehen. »Auf Wiedersehen, Suhrab ja««, sagte er. Auf eine Antwort wartete er vergebens. Suhrab nahm keine Notiz von ihm. Vom Licht des Fernsehers beschienen, schaukelte er vor und zurück. Draußen steckte ich Farid einen Briefumschlag zu. Als er ihn geöffnet hatte, fiel ihm die Kinnlade herunter.

»Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll«, sagte ich. »Du hast so viel für mich getan.« »Wie viel ist das?«, fragte Farid, sichtlich irritiert.

»Ein bisschen über dreitausend Dollars.«

»Dreitau...« Er stockte. Die Unterlippe zitterte ein wenig. Später, als sein Wagen anfuhr, drückte er zweimal auf die Hupe und winkte. Ich winkte zurück. Wir haben uns nie wieder gesehen.

Ich kehrte ins Hotelzimmer zurück und sah Suhrab zusammengerollt auf dem Bett liegen. Er hatte die Augen geschlossen, aber mir schien es, als weinte er. Der Fernseher war ausgeschaltet. Ich setzte mich aufs Bett, biss vor Schmerzen die Zähne aufeinander und wischte mir den kalten Schweiß von der Stirn. Ob ich aufstand, mich setzte oder im Bett zur Seite drehte - jede Bewegung tat höllisch weh, und ich fragte mich, wie lange noch. Ich fragte mich, wie lange ich noch auf feste Nahrung würde verzichten müssen. Ich fragte mich, was ich mit dem kleinen Jungen, dieser verletzten Seele, anstellen sollte, obwohl ein Teil von mir die Antwort längst kannte.

Auf dem Frisiertisch stand eine Karaffe Wasser. Ich schenkte mir ein Glas ein und nahm zwei von Armands Schmerztabletten. Das Wasser war warm und bitter. Ich zog die Vorhänge zu, nahm vorsichtig auf dem Bett Platz und streckte mich aus. Ich glaubte, mir würde die Brust zerspringen. Als der Schmerz ein wenig nachließ und ich wieder Luft schöpfen konnte, zog ich die Decke über die Brust und wartete darauf, dass die Wirkung der Pillen einsetzte.

Es war dunkler geworden, als ich aufwachte. Im Spalt des Vorhangs zeigte der Himmel über der Stadt die violette Tönung bei Anbruch der Nacht. Die Laken waren klamm, und mir dröhnte der Schädel. Ich hatte wieder geträumt, konnte mich aber an nichts erinnern.

Mein Herz stockte, als ich einen Blick zur Seite warf und feststellte, das Suhrabs Bett leer war. Ich rief seinen Namen und erschrak über den Klang meiner Stimme. In einem dunklen Hotelzimmer zu sitzen, Tausende von Meilen von zu Hause entfernt, mit geschundenem Körper, den Namen eines Jungen zu rufen, den ich erst seit wenigen Tagen kannte - das verstörte mich zutiefst. Ich rief seinen Namen noch einmal und hörte nichts. Ich mühte mich aus dem Bett, sah im Badezimmer nach, warf einen Blick in den engen Flur vor der Tür. Er war verschwunden.

Ich zog die Tür zu, schleppte mich nach unten, die Hand am Geländer, um mich zu stützen. In einer Ecke der Eingangshalle stand eine künstliche verstaubte Palme. Die Tapete war gemustert mit rosafarbenen Flamingos im Flug. Der Hotelmanager saß hinter dem Empfangsschalter und las Zeitung. Ich beschrieb Suhrab und fragte, ob er ihn gesehen habe. Er legte die Zeitung weg, nahm die Lesebrille von der Nase. Seine fettigen Haare und der quadratische kleine Schnurrbart waren grau meliert. Er verströmte den Geruch irgendeiner tropischen Frucht, die ich nicht genauer zu bestimmen wusste.

»Jungs stromern gern in der Gegend herum«, seufzte er. »Ich habe drei von der Sorte. Sind den ganzen Tag unterwegs und machen ihrer Mutter Sorgen.« Er griff wieder nach der Zeitung, fächelte sich Luft zu und starrte auf meine Kiefer.

»Ich glaube nicht, dass er einfach nur herumstromert«, entgegnete ich. »Im Übrigen sind wir nicht von hier. Ich fürchte, er könnte sich verirren.«

Er wiegte den Kopf hin und her. »Dann hätten Sie besser auf ihn Acht geben sollen, Mister.«

»Ich weiß«, sagte ich. »Aber ich bin eingeschlafen, und als ich wieder wach wurde, war er verschwunden.«

»Jungs darf man nie aus den Augen lassen, wissen Sie.«

»Ja«, sagte ich. Mein Puls ging schneller. Ich ärgerte mich über diesen Kerl, der meine Besorgnis offenbar überhaupt nicht ernst nahm. Er ließ die Zeitung in die andere Hand wechseln und fächelte weiter. »Jetzt wollen sie Fahrräder.«

»Wer?«

»Meine Jungs«, antwortete er. »Sie sagen, >Papa, Papa, bitte kauf uns Fahrräder, und wir werden dir keinen Ärger mehr machen. Bitte, Papa!<« Er schnaubte lachend durch die Nase. »Fahrräder. Ihre Mutter würde mich totschlagen, das schwöre ich Ihnen.«

Im Geiste sah ich Suhrab in einem Graben liegen. Oder im Kofferraum irgendeines Autos, gefesselt und geknebelt. Ich wollte nicht sein Blut an meinen Händen kleben haben. Nicht auch noch seins. »Bitte ...«, flehte ich. Ich schaute genauer hin auf das Namensschild am Kragen seines kurzärmeligen blauen Baumwollhemds. »Mr. Fayyaz, haben Sie ihn gesehen?«

»Den Jungen?«

Ich musste schwer an mich halten. »Ja, den Jungen! Den Jungen, der mit mir gekommen ist. Haben Sie ihn nun gesehen oder nicht, verflixt noch mal.«

Der Fächer blieb stehen. Mein Gegenüber kniff die Brauen zusammen. »Werden Sie bloß nicht frech, mein Freund. Ich bin schließlich nicht der, der ihn verloren hat.«

Mir schoss das Blut ins Gesicht. »Sie haben Recht. Es war meine Schuld. Also, haben Sie ihn gesehen?«

»Tut mir Leid«, antwortete er, kurz angebunden. Er setzte wieder seine Brille auf. Faltete die Zeitung auseinander. »Ich habe keinen Jungen gesehen.«

Ich stand noch eine Weile am Schalter. Fast hätte ich die Beherrschung verloren. Als ich auf den Ausgang zusteuerte, fragte er: »Haben Sie eine Ahnung, wohin er gegangen sein könnte?«

»Nein«, sagte ich. Ich fühlte mich erschöpft. Müde und verängstigt.

»Hat er irgendwelche Interessen?«, fragte er. Ich sah, dass er seine Zeitung beiseite gelegt hatte. »Meine Jungs sind zum Beispiel ganz verrückt auf amerikanische Actionfilme, vor allem auf solche mit Arnold Sowieswo.«

»Die Moschee!«, sagte ich. »Die große Moschee.« Ich erinnerte mich an Suhrabs Reaktion auf dieses Bauwerk, als wir daran vorbeigefahren waren, wie er sich aus dem Fenster gelehnt hatte, um es zu bestaunen.

»Die Shah Faisal?«

»Ja. Könnten Sie mich dorthin führen?«

»Es ist die größte Moschee der Welt, wussten Sie das?«, fragte er. »Nein, aber ...«

»Allein der Vorplatz fasst 40000 Menschen.« »Könnten Sie mich hinführen?«

»Ist nur einen Kilometer entfernt«, sagte er, löste sich aber bereits vom Schalter. »Ich zahle für die Fahrt«, sagte ich

Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Warten Sie einen Augenblick.« Er verschwand in einem angrenzenden Zimmer, kehrte mit einer anderen Brille und einem Schlüsselbund in der Hand zurück, gefolgt von einer kleinen, rundlichen Frau in orangefarbenem Sari. Sie nahm seinen Platz hinterm Schalter ein. »Ich will kein Geld«, sagte er prustend. »Ich helfe Ihnen, weil ich selbst Vater bin.«

Ich war darauf gefasst, den ganzen Tag kreuz und quer durch die Stadt zu fahren, und sah mich schon bei der Polizei unter Mr. Fayyaz' tadelnden Blicken eine Beschreibung von Suhrab abgeben, meinte bereits die müde, gelangweilte Stimme des Beamten zu hören, der die obligatorischen Fragen stellte. Und in Zwischentönen würde wahrscheinlich eine andere Frage anklingen: Wen zum Teufel interessiert ein weiteres totes afghanisches Kind?

Doch wir fanden ihn; rund hundert Schritt von der Moschee entfernt, hockte er auf einer Raseninsel inmitten eines Parkplatzes, der zur Hälfte mit Autos gefüllt war. Mr. Fayyaz hielt neben der Insel an und ließ mich aussteigen. »Ich muss wieder zum Hotel«, sagte er.

»In Ordnung. Wir gehen zu Fuß zurück«, sagte ich. »Ich bin Ihnen sehr dankbar, Mr. Fayyaz. Wirklich.«

Er beugte sich über den Vordersitz, als ich ausstieg. »Darf ich Ihnen etwas sagen?« »Sicher.«

Im Halbdunkel leuchteten mir die Brillengläser entgegen, in denen sich das abnehmende Licht spiegelte. »Also wirklich, ihr Afghanen ... ihr seid allesamt ziemlich leichtsinnig.«

Ich war müde und hatte Schmerzen, ganz besonders am Kiefer. Und diese verdammten Wunden in der Brust und am Bauch fühlten sich an wie Stacheldraht unter der Haut. Trotzdem fing ich unwillkürlich zu lachen an.

»Was ... was habe ich ...«, sagte Mr. Fayyaz, doch ich konnte nicht mehr an mich halten und stieß prustende Lachsalven durch meine verdrahteten Zähne.

»Verrücktes Volk«, brummelte er und fuhr davon.

»Du hast mir einen gehörigen Schrecken eingejagt«, sagte ich. Ich setzte mich neben Suhrab, stöhnend vor Schmerzen, als ich den Rumpf beugte. Suhrab war ganz in die Betrachtung der Moschee versunken. Sie sah aus wie ein riesiges Zelt. Auf dem Parkplatz herrschte reger Verkehr; in Weiß gekleidete Gläubige kamen und gingen. Wir saßen schweigend beieinander. Ich lehnte an einem Baumstamm, Suhrab hielt die angezogenen Knie mit den Armen umschlungen. Wir lauschten der Aufforderung zum Gebet, sahen die vielen hundert Lichter des Gotteshauses aufleuchten, als die Dunkelheit anbrach. Die

Moschee glitzerte wie ein Diamant. Sie brachte den Himmel und Suhrabs Gesicht zum Leuchten.

»Sind Sie jemals in Mazar-e-Sharif gewesen?«, fragte Suhrab, das Kinn auf eines der Knie gestützt.

»Vor langer Zeit. Viel ist mir davon nicht in Erinnerung geblieben.«

»Vater hat mich einmal dahin mitgenommen. Mutter und Sasa waren auch dabei. Auf dem Basar hat mir Vater einen Affen gekauft. Keinen lebendigen, sondern einen, den man aufblasen konnte. Er war braun und trug einen Schlips.«

»So einen hatte ich früher auch einmal.«

»Wir haben die Blaue Moschee besucht, das Grab von Hazrat Ali«, fuhr Suhrab fort. »Draußen vor der masjid gab es viele, viele Tauben. Die hatten kaum Angst. Sie wagten sich ganz dicht an uns heran. Sasa gab mir kleine Stückchen naan, und ich habe die Tauben gefüttert. Das war lustig, all die gurrenden Tauben um mich herum.«

»Du vermisst deine Eltern sehr, nicht wahr?«, sagte ich. Ich fragte mich, ob er mit angesehen hatte, wie sie von den Taliban hinaus auf die Straße gezerrt worden waren, hoffte, dass ihm das erspart geblieben war.

»Vermissen Sie Ihre Eltern?«, fragte er.

»Ob ich meine Eltern vermisse? Meine Mutter habe ich nicht gekannt. Mein Vater ist vor einigen Jahren gestorben. Ja, ich vermisse ihn. Manchmal sehr.« »Wissen Sie noch, wie er ausgesehen hat?«

Ich dachte an Babas kräftigen Nacken, die schwarzen Augen, das krause braune Haar. Auf seinem Schoß zu sitzen war, als ritte ich auf zwei Baumstämmen.

»Ja, ich weiß noch, wie er aussah«, antwortete ich. »Ich weiß sogar noch, wie er gerochen hat.«

»Bei mir ist es so, dass ich mehr und mehr vergesse«, sagte Suhrab. »Ist das schlimm?«

»Nein«, erwiderte ich. »Das bringt die Zeit so mit sich.« Mir fiel etwas ein. Ich griff in meine Manteltasche und holte die Polaroidaufnahme von Hassan und Suhrab hervor. »Hier«, sagte ich.

Er nahm das Foto, drehte es ins Licht, das von der Moschee herüberleuchtete, und führte es ganz dicht vor seine Augen. Lange betrachtete er die Aufnahme. Ich dachte, dass er womöglich zu weinen begänne, doch ich täuschte mich. Er hielt das Bild in den Händen und fuhr mit dem Daumen über die Oberfläche. Mir fiel eine Zeile ein, die ich irgendwo einmal gelesen oder aufgeschnappt hatte: Es gibt viele Kinder in Afghanistan, aber wenig Kindheit. Nach einer Weile reichte er mir das Foto zurück.

»Behalt es«, sagte ich. »Es gehört dir.«

»Danke.« Er warf noch einen Blick auf das Foto und steckte es dann in seine Westentasche. Ein Pferdekarren rollte klappernd über den Parkplatz. Die Schellen am Halsband des Pferdes läuteten bei jedem Schritt. »Ich habe in letzter Zeit viel über Moscheen nachgedacht«, sagte Suhrab.

»Ach ja? Inwiefern?«

Er zuckte mit den Achseln. »Einfach nur so.« Er hob das Gesicht und sah mich an. Jetzt hatte er tatsächlich zu weinen angefangen. »Darf ich Sie etwas fragen, Amir Aga?« »Nur zu.«

»Wird Allah mich ...« Er stockte schluchzend. »Wird Allah mich in die Hölle stecken für das, was ich diesem Mann angetan habe?«

Ich streckte die Hand nach ihm aus. Er zuckte zurück, und ich ließ von ihm ab. »Nay. Gewiss nicht«, antwortete ich. Gern hätte ich ihn an mich gezogen, in meinen Armen gehalten und ihm gesagt, dass nicht er Böses getan habe, dass vielmehr ihm Böses widerfahren sei.

Er verzog das Gesicht, hatte sichtlich Mühe, Fassung zu bewahren. »Vater hat immer gesagt, dass es auch falsch wäre, bösen Menschen zu schaden. Weil sie es nicht besser wissen und weil sie manchmal auch gut werden.«

»Nicht immer, Suhrab.«

Er sah mich fragend an.

»Ich kenne den Mann, der dir wehgetan hat, schon seit vielen Jahren«, erklärte ich. »Vermutlich hast du das aus unserer Unterhaltung herausgehört. Er ... er hat mich einmal so bedroht, dass ich große Angst bekam und mir nicht zu helfen wusste, aber dein Vater hat mich gerettet. Wir waren damals so alt wie du jetzt. Dein Vater war sehr tapfer. Sooft ich in Not war, ist er für mich eingestanden. Eines Tages hat dieser schlechte Mann, der es eigentlich auf mich abgesehen hatte, deinen Vater geschlagen und ihm sehr, sehr Schlimmes zugefügt. Und ich ... ich konnte ihm nicht helfen, so wie er mir geholfen hätte.«

»Warum wollten andere meinem Vater wehtun?«, fragte Suhrab mit dünner Stimme. »Er war doch nie zu irgendjemandem gemein.«

»Du hast Recht. Dein Vater war ein guter Mann. Aber das ist es ja gerade, das versuche ich dir zu erklären, Suhrab jan. Dass es in dieser Welt Menschen gibt, die schlecht sind und schlecht bleiben. Manchmal muss man solchen Menschen die Stirn bieten. Was du diesem Mann getan hast, hätte ich schon damals vor vielen Jahren tun müssen. Er hat es nicht anders verdient. Oder doch, im Grunde hätte er noch Schlimmeres verdient.«

»Glauben Sie, Vater wäre von mir enttäuscht?«

»Im Gegenteil, er wäre stolz. Davon bin ich überzeugt«, antwortete ich. »Du hast mir das Leben gerettet.«

Er wischte sich mit dem Hemdsärmel über das Gesicht, was die Speichelblase, die sich in seinem Mundwinkel gebildet hatte, zum Platzen brachte. »Ich vermisse Vater, und auch meine Mutter«, krächzte er. »Und ich vermisse Sasa und Rahim Khan Sahib. Manchmal bin ich aber froh, dass sie nicht... sie nicht mehr hier sind.«

»Warum?« Ich berührte seinen Arm. Er wich mir aus.

»Weil...«, er schluchzte, keuchte, »ich will nicht, dass sie mich sehen ... dreckig, wie ich bin.« Er holte tief Luft, stieß sie winselnd wieder aus. »Ich bin so dreckig und voller Sünde.« »Das bist du nicht, Suhrab«, sagte ich.

»Diese Männer ...« »Du bist nicht dreckig.«

»... was die gemacht haben! Der schlechte Mann und die beiden anderen ... was die mit mir gemacht haben!«

»Du hast dir nichts zu Schulden kommen lassen.« Wieder berührte ich seinen Arm, und wieder wich er mir aus. Behutsam legte ich meinen Arm um ihn und zog ihn an mich. »Ich werde dir nicht wehtun«, flüsterte ich. »Versprochen.«

Er sträubte sich noch ein wenig, gab dann aber nach. Er ließ es zu, dass ich ihn an mich zog, und lehnte seinen Kopf an meine Brust. Mit jedem Schluchzer zuckte sein kleiner Körper in meinen Armen.

Zwischen denen, die von derselben Brust genährt wurden, existieren verwandtschaftliche Bande. Jetzt, da mir der Schmerz des Jungen buchstäblich nahe ging, spürte ich, dass auch wir aufs Engste miteinander verbunden waren. Der Vorfall mit Assef hatte uns unwiderruflich zusammengeschweißt.

Seit Tagen hatte ich auf eine günstige Gelegenheit, auf den richtigen Zeitpunkt gewartet. Die Frage ging mir ständig im Kopf herum, ließ mich nachts nicht schlafen. Ich fand, dass hier und jetzt, da die hellen Lichter der Moschee zu uns herüberschienen, der richtige Moment gekommen war.

»Würde es dir gefallen, bei mir und meiner Frau in Amerika zu leben?«

Er antwortete nicht. Er weinte in mein Hemd, und ich ließ ihn gewähren.

Als wäre die Frage nie gestellt worden, kamen während der gesamten folgenden Woche weder er noch ich darauf zurück. Dann fuhren Suhrab und ich mit einem Taxi zu dem Aussichtspunkt Daman-e-Koh - dem »Bergsaum« -, der sich auf halber Höhe in den Margalla-Hügeln befindet und einen einzigartigen Blick auf Islamabad bietet, auf seine Karrees aus sauberen, von Bäumen gesäumten Alleen und weißen Häusern. Der Chauffeur machte uns darauf aufmerksam, dass man von dort oben den Präsidentenpalast erkennen könne. »Wenn es geregnet hat und die Luft klar ist, kann man bis nach Rawalpindi sehen«, sagte er. Im Rückspiegel sah ich seine Augen zwischen mir und Suhrab hin und her springen. Ich sah auch mich gespiegelt. Die Schwellungen im Gesicht waren ein wenig zurückgegangen, und die diversen Blutergüsse hatten eine gelbe Tönung angenommen.

Wir setzten uns auf eine Bank im Schatten eines Gummibaums. Es war ein warmer Tag, die Sonne stand hoch am topasblauen Himmel. Auf anderen Bänken in der Nähe picknickten Familien. Irgendwo tönte aus einem Radio ein Hindi-Lied, das ich aus einem alten Film mit dem Titel Pakeeza zu kennen glaubte. Etliche Kinder - viele in Suhrabs Alter - jagten ausgelassen lachend hinter Fußbällen her. Ich dachte an das Waisenhaus in Karteh-Seh, erinnerte mich an die Ratte, die mir in Zamans Büro um die Füße gelaufen war. In einem plötzlichen Anflug von Wut darüber, wie sehr meine Landsleute das eigene Land hatten verkommen lassen, schnürte sich mir die Brust zu.

»Was ist?«, fragte Suhrab.

Ich rang mir ein Lächeln ab. »Nicht so wichtig.«

Wir breiteten eines der aus dem Hotel mitgebrachten Badetücher auf dem Picknicktisch vor unserer Bank aus und spielten panjpar. Ich fühlte mich wohl dabei, mit dem Sohn meines Halbbruders Karten zu spielen, verwöhnt von der warmen Sonne im Nacken.

»Sehen Sie nur!«, sagte Suhrab. Er zeigte mit seinen Karten nach oben. Ich folgte seinem Blick und sah einen Falken am weiten Himmel kreisen. »Ich wusste gar nicht, dass es Falken in Islamabad gibt«, sagte ich.

»Ich auch nicht«, erwiderte er, den Blick nach oben gerichtet. »Gibt es da, wo Sie leben, auch welche?«

»In San Francisco? Ich glaube, ja. Nicht, dass ich dort schon besonders viele gesehen hätte ...«

»Aha«, sagte er. Ich hoffte auf weitere Fragen, doch er teilte ein neues Blatt aus und wollte wissen, ob es bald etwas zu essen gebe. Ich öffnete die Papiertüten und gab ihm sein Sandwich. Mein Lunch bestand wieder einmal nur aus Bananen- und Orangensaft - Mr. Fayyaz hatte mir seinen Mixer zur Verfügung gestellt. Mit einem Strohhalm sog ich den süßen Fruchtsaft in den Mund. Ein Teil davon tropfte an den Mundwinkeln wieder heraus. Suhrab reichte mir ein Taschentuch und sah zu, wie ich meine Lippen trocken tupfte. Ich lächelte, und er erwiderte mein Lächeln.

»Dein Vater und ich waren Brüder.« Diesmal kam spontan aus mir heraus, was ich mich an dem Abend vor der Moschee zu sagen noch gescheut hatte. Er hatte ein Recht darauf,

Bescheid zu wissen; ich wollte ihm nichts mehr verheimlichen. »Genau gesagt, Halbbrüder. Wir hatten denselben Vater.«

Suhrab hörte zu kauen auf. Legte das Sandwich hin. »Vater hat nie davon gesprochen, dass er einen Bruder hat.«

»Weil er es nicht wusste.«

»Warum nicht?«

»Es ist ihm nie gesagt worden«, antwortete ich. »Auch ich wusste nichts davon. Ich habe es erst kürzlich herausgefunden.«

Suhrab blinzelte. Er sah mich an, sah mich zum allerersten Mal wirklich an. »Aber warum hat man Vater und Ihnen nichts davon gesagt?«

»Die Frage habe ich mir auch gestellt. Es gibt eine Antwort, und die ist nicht schön. Lass es mich so ausdrücken: Man hat uns nichts gesagt, weil wir, dein Vater und ich, eigentlich keine Brüder hätten sein sollen.«

»Weil er ein Hazara war?«

Nur mit Mühe gelang es mir, seinem Blick standzuhalten. »Ja.«

»Hat Ihr Vater«, begann er und starrte auf sein Sandwich, »hat Ihr Vater Sie und meinen Vater gleich gern gehabt?«

Ich erinnerte mich an einen lange zurückliegenden Tag am Ghargha-See, als Baba Hassan anerkennend auf die Schulter geklopft hatte, weil der von ihm geworfene Stein häufiger übers Wasser gehüpft war als meiner. Ich sah Baba vor mir, wie er strahlte, als Hassan im Krankenhaus der Verband von den Lippen entfernt worden war. »Ich glaube, er hat uns gleich gern gehabt, aber auf unterschiedliche Weise.« »Hat er sich für meinen Vater geschämt?«

»Nein«, antwortete ich. »Ich glaube, er hat sich für sich selbst geschämt.«

Schweigend nahm Suhrab wieder sein Sandwich in die Hand und nagte daran herum.

Erst am späten Nachmittag, müde von der Hitze, aber auf angenehme Art müde, machten wir uns auf den Rückweg. Im Taxi fühlte ich mich die ganze Zeit über von Suhrab beobachtet. Ich bat den Chauffeur vor einem Laden anzuhalten, der Telefonkarten verkaufte. Er tat mir den Gefallen und besorgte mir eine.

Am Abend sahen wir uns, auf den Betten liegend, eine Talkshow im Fernsehen an. Zwei Geistliche mit grau melierten langen Barten und weißen Turbanen antworteten auf Anrufe aus aller Welt. Jemand aus Finnland, ein Mann namens Ayub, war um das Seelenheil seines zehnjährigen Sohnes besorgt und fragte allen Ernstes, ob es ihm schaden würde, wenn er den Bund seiner weiten Hose so weit herunterhängen ließe, dass die Unterwäsche darunter zum Vorschein kam.

»Ich habe einmal ein Foto von San Francisco gesehen«, sagte Suhrab.

»Tatsächlich?«

»Darauf war eine rote Brücke und ein ganz hohes, spitz zulaufendes Gebäude zu sehen.« »Du solltest erst einmal die Straßen sehen«, sagte ich.

»Was ist mit denen?« Er hatte jetzt den Blick auf mich gerichtet. Die beiden Mullahs auf dem Bildschirm beratschlagten sich.

»Die sind so steil, dass man, wenn man bergauf fährt, nur Himmel und den Kühler des eigenen Autos sieht«, antwortete ich.

»Das hört sich ja schlimm an«, sagte er. Er drehte sich zu mir, kehrte dem Fernseher den Rücken zu und sah mich an.

»Man hat sich schnell daran gewöhnt.«

»Gibt es dort Schnee?«

»Nein, aber umso mehr Nebel. Hast du das Bild der roten Brücke noch vor Augen?« »Ja.«

»Morgens hängt der Nebel manchmal so tief, dass nur noch die Spitzen der beiden Türme zu sehen sind.«

Der Junge war sichtlich beeindruckt. »Oh.«

»Suhrab?«

»Ja.«

»Hast du dir meine Frage noch einmal durch den Kopf gehen lassen?«

Das Lächeln verschwand. Er wälzte sich auf den Rücken, verschränkte die Hände hinterm Kopf. Die Mullahs kamen zu der Ansicht, dass Ayubs Sohn zur Hölle verdammt sei, wenn er seine Hosen so weit unten trüge. Das stünde so in der Hadith, behaupteten sie. »Ich habe darüber nachgedacht«, antwortete Suhrab.

»Und?«

»Es macht mir Angst.«

»Das ist nur verständlich«, sagte ich und schöpfte Hoffnung. »Ich bin sicher, dass du ganz schnell Englisch lernen, Freunde finden und dich eingewöhnen würdest...« »Ich meine etwas anderes. Davor hätte ich auch Angst, aber ...« »Was meinst du denn?«

Er wandte sich mir wieder zu. Zog die Knie an. »Was, wenn Sie mich nicht mehr bei sich haben wollen? Wenn Ihre Frau mich nicht leiden kann?«

Ich mühte mich von meinem Bett und setzte mich zu ihm. »Dazu würde es nie kommen, Suhrab«, antwortete ich. »Niemals. Das verspreche ich. Vergiss nicht, du bist mein Neffe. Und Soraya jan ist eine gute Frau. Glaub mir, sie wird dich lieben. Auch das kann ich dir versprechen.« Ich wagte es, seine Hand zu ergreifen. Er verkrampfte sich ein wenig, ließ es aber zu, dass ich sie hielt.

»Ich will nicht noch einmal in ein Waisenhaus«, sagte er.

»Dazu wird es auch nie kommen. Du hast mein Wort darauf.« Ich nahm seine Hand in beide Hände. »Komm mit mir nach Hause.«

Tränen liefen ihm übers Gesicht. Er sagte lange nichts. Dann drückte er meine Hand. Und er nickte. Er nickte.

Beim vierten Versuch kam die Verbindung zustande. Nach dem dritten Rufzeichen hob sie ab. »Hallo?« In Islamabad war es halb acht Uhr abends, zwölf Stunden später als in Kalifornien. Soraya müsste seit etwa einer Stunde auf sein und sich fertig machen für die Schule.

»Ich bin's.« Ich saß aufrecht auf dem Bett und beobachtete Suhrab, der eingeschlafen war.

»Amir!« Es war fast ein Schrei. »Ist alles in Ordnung mit dir? Wo bist du?« »In Pakistan.«

»Warum hast du nicht schon früher angerufen? Ich bin krank vor tashweesh! Meine Mutter betet jeden Tag und legt ein nazr ab.«

»Tut mir Leid, dass ich mich erst jetzt melde. Es geht mir wieder gut.« Ich hatte ihr gesagt, dass ich in einer, spätestens zwei Wochen wieder zu Hause sein würde. Mittlerweile war ich schon fast einen Monat lang weg. Ich lächelte. »Und sag Khala Jamila, dass sie aufhören soll, Schafe umzubringen.«

»Was heißt >wieder gut<? Und was ist mit deiner Stimme?«

»Mach dir keine Sorgen. Es geht mir gut. Wirklich. Da ist einiges, was ich dir erzählen muss, was ich dir eigentlich schon längst hätte erzählen müssen, aber vorher möchte ich dir noch etwas anderes sagen.«

»Was?«, fragte sie leise, zaghaft.

»Ich werde nicht alleine zurückkommen, sondern einen Jungen mitbringen.« Und nach einer kurzen Pause: »Ich will, dass wir ihn adoptieren.« »Was?«

Ich warf einen Blick auf die Armbanduhr. »Mir bleiben auf dieser dummen Telefonkarte nur siebenundfünfzig Minuten, und ich habe dir noch so viel zu erzählen. Setz dich erst mal hin.« Ich hörte, wie sie hastig einen Stuhl auf dem Holzboden zurechtrückte.

»Schieß los.«

Dann holte ich nach, was ich in fünfzehn Jahren Ehe versäumt hatte: Ich erzählte meiner Frau alles. Alles. Vor diesem Moment war mir immer Angst und Bange gewesen, doch jetzt, da ich ihr alles gestand, fühlte ich mich von einer Last befreit. Soraya hatte vermutlich ganz ähnlich empfunden in der Nacht unserer khastegari, als sie mich über ihre Vergangenheit aufgeklärt hatte.

Als ich mit meiner Geschichte am Ende war, weinte sie.

»Was denkst du?«, fragte ich.

»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, Amir. Das war zu viel auf einmal.« »Verstehe.«

Ich hörte, wie sie sich schneuzte. »Aber eins weiß ich: Du musst ihn mit nach Hause bringen.«

»Bist du dir sicher?«, fragte ich, lächelnd und mit geschlossenen Augen.

»Was für eine Frage«, entgegnete sie. »Amir, er ist dein qaom, er gehört zu deiner Familie, also ist er auch ein qaom von mir. Natürlich bin ich mir sicher. Du kannst ihn doch nicht auf der Straße zurücklassen.« Es blieb für eine Weile still in der Leitung. »Wie ist er?«

Ich warf einen Blick auf den Jungen. »Sehr lieb, auf seine ernste Art.«

»Ich bin sehr gespannt auf ihn, Amir.«

»Soraya?«

»Ja?«

»Dostet darum.« Ich liebe dich.

»Ich dich auch«, antwortete sie mit einem Lächeln in der Stimme. »Pass auf dich auf.« »Das werde ich. Und sag deinen Eltern bitte nicht, wer er ist. Wenn sie es wissen müssen, sollten sie es von mir erfahren.« »Einverstanden.« Wir legten auf.

Vor der amerikanischen Botschaft in Islamabad erstreckte sich eine fein säuberlich gepflegte Rasenfläche mit kreisrunden Blumenbeeten darin und einer Heckenumrandung, die mit dem Lineal gezogen zu sein schien. Das Gebäude selbst war wie viele andere Häuser in Islamabad: flach und weiß. Wir mussten etliche Straßensperren passieren und uns von drei verschiedenen Sicherheitsbeamten kontrollieren und durchsuchen lassen, nachdem die Drähte in meinem Mund den Alarm der Metalldetektoren ausgelöst hatten. Als wir schließlich, aus der Hitze kommend, die Vorhalle betraten, schlug mir die klimatisierte Luft wie ein Schwall Eiswasser entgegen. Die Empfangsdame, eine etwa 50-jährige, blonde Frau mit hagerem Gesicht, erkundigte sich lächelnd nach meinem Namen. Mit ihrer beigefarbenen Bluse und der schwarzen Hose war sie seit Wochen die erste Frau in meinem Umkreis, die weder Burkha noch shalwar-kameez trug. Sie suchte meinen Namen auf der Anmeldeliste und tippte mit dem Radiergummiende ihres Bleistifts auf den Schreibtisch. Als sie ihn gefunden hatte, forderte sie mich auf, Platz zu nehmen.

»Möchten Sie etwas trinken? Eine Limonade vielleicht?«, fragte sie.

»Nein, danke, für mich nicht«, antwortete ich.

»Und Ihr Sohn?«

»Wie bitte?«

»Wie steht's mit dem hübschen jungen Mann?«, fragte sie und lächelte Suhrab zu. »Oh. Das wäre nett, danke.«

Suhrab und ich setzten uns auf das schwarze Ledersofa neben der großen US-Fahne. Suhrab nahm eins der Magazine von dem gläsernen Beistelltisch und blätterte darin herum, ohne sich die Bilder genauer anzusehen.

»Was ist?«, fragte Suhrab.

»Wie bitte?«

»Warum lächeln Sie?«

»Ich habe an dich gedacht«, antwortete ich.

Er grinste irritiert und nahm ein zweites Magazin zur Hand, das er in weniger als dreißig Sekunden durchgeblättert hatte.

»Keine Sorge«, sagte ich und berührte ihn am Arm. »Diese Leute sind freundlich. Entspann dich.« Der gute Rat galt nicht zuletzt mir. Ich rutschte auf meinem Platz hin und her, löste die Schnürsenkel meiner Schuhe und schnürte sie wieder zu. Die Empfangsdame stellte ein großes eisgekühltes Glas Limonade auf dem Tischchen ab. »Zum Wohl.«

Suhrab lächelte schüchtern. »Tank you wery match«, bedankte er sich artig. Viel mehr wusste er auf Englisch nicht zu sagen, eigentlich bloß noch: Have a nice day.

Sie lachte. »Gern geschehen.« Auf ihren hohen Absätzen ging sie klackernd zurück hinter den Rezeptionsschalter.

»Have a nice day«, sagte Suhrab.

Raymond Andrews war ein kleiner Mann mit zierlichen Händen und perfekt manikürten Fingernägeln. Er trug einen Ehering am Ringfinger. Mir war, als zerquetschte ich einen Spatz, als ich seine Hand schüttelte. In diesen Händen liegt unser Schicksal, dachte ich, als wir, Suhrab und ich, vor seinem Schreibtisch Platz nahmen. Hinter ihm an der Wand, gleich neben einer Landkarte der Vereinigten Staaten, hing ein Poster der Verfilmung von Les Miserables. Auf dem Fensterbrett stand, von der Sonne beschienen, ein Topf mit Tomatenpflanzen.

»Zigarette gefällig?«, fragte Andrews mit volltönender, tiefer Stimme, die so gar nicht zu seiner schmächtigen Gestalt passte.

»Nein, danke«, antwortete ich. Dass er Suhrab keines Blickes würdigte und auch mich, wenn er sprach, nur flüchtig ansah, störte mich nicht im Geringsten. Er öffnete eine Schreibtischschublade und brachte eine halb leere Packung zum Vorschein, aus der er eine Zigarette zog und anzündete. Derselben Schublade entnahm er daraufhin eine Flasche Ol. Die Zigarette im Mundwinkel, rieb er sich mit diesem Öl die kleinen Hände ein und betrachtete derweil seine Tomatenpflanzen. Schließlich schloss er die Schublade wieder, stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und stieß aus vollen Backen Rauch aus. »So«, sagte er und zwinkerte mit den grauen vom Zigarettenrauch irritierten Augen. »Erzählen Sie mir Ihre Geschichte.«

Ich kam mir vor wie Jean Valjean, verhört von Inspektor Javert, und musste mir noch einmal klar machen, dass ich mich hier auf amerikanischem Territorium befand, dass Andrews auf meiner Seite stand und gut dafür bezahlt wurde, Menschen wie mir zu helfen.

»Ich möchte diesen Jungen adoptieren und ihn in die Staaten mitnehmen«, sagte ich.

»Erzählen Sie mir Ihre Geschichte«, wiederholte er und zerdrückte mit dem Zeigefinger ein Bröckchen Asche, das auf die penibel aufgeräumte Schreibtischplatte gefallen war.

Ich trug ihm vor, was ich mir gleich nach meinem Telefonat mit Soraya im Kopf zurechtgelegt hatte, nämlich dass ich nach Afghanistan gekommen sei, um mich um den verwaisten und verwahrlosten Sohn meines Halbbruders zu kümmern, dass ich diesen

Jungen aus dem Heim geholt, diesem Heim etwas Geld gespendet hatte und dann mit ihm nach Pakistan gefahren sei.

»Sie sind der Halbonkel des Jungen?«

»Ja.«

Er warf einen Blick auf die Uhr. Lehnte sich zurück und richtete den Blick auf die Tomatenpflanzen im Fenster. »Kann das irgendjemand bezeugen?« »Ja, aber ich weiß nicht, wo er sich zurzeit aufhält.«

Andrews wandte sich mir zu und nickte. Vergeblich versuchte ich, seine Miene zu deuten, und fragte mich, ob er mit diesen kleinen Händen wohl jemals Poker gespielt hatte.

»Ich vermute doch richtig, dass Sie Ihre Zähne nicht aus modischen Gründen haben verdrahten lassen, oder?«, fragte er, und mir war spätestens jetzt klar, dass er uns, Suhrab und mir, Ärger machen würde. Ich sagte, dass ich in Peshawar überfallen und zusammengeschlagen worden sei.

»Natürlich«, antwortete er. Er räusperte sich. »Sind Sie Moslem?«

»Ja.«

»Praktizierender?«

»Ja.« In Wahrheit konnte ich mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal betend mit der Stirn den Boden berührt hatte. Doch plötzlich fiel mir ein: Es war der Tag, an dem Baba von Dr. Amani erfahren hatte, dass er bald würde sterben müssen. Ich hatte mich auf den Gebetsteppich niedergekniet und von der ersten Sure aufgesagt, was mir noch aus dem Schulunterricht in Erinnerung geblieben war.

»Das hilft in Ihrem Fall, aber nicht viel«, sagte Andrews und kratzte sich eine Stelle im Kranz seiner sandfarbenen Haare.

»Was soll das heißen?«, fragte ich und nahm Suhrab bei der Hand. Der Junge blickte verunsichert mal auf Andrews, mal auf mich.

»Darauf gibt es eine ausführliche Antwort, und die werde ich Ihnen auch nicht schuldig bleiben. Aber vielleicht wollen Sie eine kurze Antwort vorweg hören?«

»Ich bitte darum.«

Andrews drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus und spitzte die Lippen. »Es hat keinen Zweck.« »Wie bitte?«

»Ihr Antrag auf Adoption hat keine Aussicht auf Erfolg. Darum rate ich Ihnen, es gar nicht erst zu versuchen.«

»Danke für den Rat«, entgegnete ich. »Dürfte ich vielleicht wissen, warum?«

»Sie fragen nach der ausführlichen Antwort«, sagte er mit gleichgültiger Stimme und unbeeindruckt von meinem barschen Ton. Er legte die Handflächen gegeneinander, als wollte er vor der Jungfrau Maria niederknien. »Gesetzt den Fall, Ihre Geschichte entspricht der Wahrheit - obwohl ich meine Pension darauf verwette, dass ein Großteil entweder frei erfunden oder ausgelassen worden ist. Wie auch immer, Sie sind hier, der Junge ist hier, und nur das ist von Belang. Trotzdem, Ihrem Antrag stehen ein paar gewichtige Hindernisse im Weg, so zum Beispiel der Umstand, dass dieses Kind keine Waise ist.« »Und ob.«

»Aber nicht rechtlich.«

»Seine Eltern sind auf offener Straße exekutiert worden. Vor den Augen der Nachbarn«, sagte ich und war froh, dass Suhrab kein Englisch verstand. »Haben sie Sterbeurkunden?«

»Sterbeurkunden? Wir sprechen hier über Afghanistan. Da haben die meisten Menschen nicht einmal Geburtsurkunden.«

Seine hellen Augen blieben ungerührt. »Ich bin für die Gesetze nicht verantwortlich, Sir. Ihre Empörung sei Ihnen unbenommen, trotzdem müssen Sie beweisen, dass die Eltern tot sind. Dass der Junge Vollwaise ist, muss amtlich bestätigt sein.«

»Aber ... «

»Sie wollten die ausführliche Antwort haben, ich gebe sie Ihnen. Ihr nächstes Problem wird darin bestehen, die zuständige Behörde im Heimatland des Jungen zur Zusammenarbeit zu bewegen. Und das dürfte selbst unter günstigeren Umständen sehr schwer fallen, denn wie sagten Sie doch selbst: Wir sprechen hier über Afghanistan. Kabul hat leider keine amerikanische Botschaft. Das macht die Sache ausgesprochen kompliziert, um nicht zu sagen unmöglich.«

»Was schlagen Sie mir vor - dass ich ihn wieder auf der Straße aussetze?«

»Davon war nicht die Rede.«

»Er ist sexuell missbraucht worden«, sagte ich und dachte an die Fußschellen, die geschminkten Augen.

»Bedauerlich«, sagte sein Mund. Seinem Augenausdruck nach hätte es in unserem Gespräch auch um das Wetter gehen können. »Doch das wird für die Einwanderungsbehörde kein Grund sein, diesem jungen Mann ein Visum auszustellen.«

»Was sagen Sie da?«

»Ich sage, wenn Sie helfen wollen, dann überweisen Sie eine Spende an eine seriöse Hilfsorganisation. Oder bieten Sie einem Flüchtlingslager Ihre Dienste an. Jedenfalls raten wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt allen US-Bürgern entschieden davon ab, afghanische Kinder zu adoptieren.«

Ich stand auf. »Komm, Suhrab«, sagte ich auf Farsi. Suhrab schmiegte sich an mich, den Kopf an meine Hüfte gelehnt. Ich erinnerte mich an das Polaroidfoto, auf dem er und Hassan in ganz ähnlicher Pose zu sehen waren. »Darf ich Sie noch etwas fragen, Mr. Andrews?«

»Bitte.«

»Haben Sie Kinder?«

Zum ersten Mal zeigten seine Augen Verunsicherung. »Nun? Die Frage müsste doch einfach zu beantworten sein.«

Er schwieg. »Das dachte ich mir«, sagte ich und nahm Suhrab bei der Hand. »Auf Ihrem Platz müsste jemand sitzen, der weiß, was es heißt, ein Kind haben zu wollen.« Ich wandte mich von ihm ab.

»Darf ich nun Sie noch etwas fragen?«, rief mir Andrews nach.

»Nur zu.«

»Haben Sie diesem Kind versprochen, es mit sich zu nehmen?« »Und wenn es so wäre?«

Er schüttelte den Kopf. »Kindern Versprechungen zu machen ist ziemlich heikel.« Seufzend zog er die Schublade wieder auf. »Sind Sie entschlossen, die Sache weiterzuverfolgen?«, fragte er und kramte in seinen Unterlagen.

»Allerdings.«

Er reichte mir eine Visitenkarte. »Dann rate ich Ihnen zu einem guten Anwalt, der sich in Einwanderungsfragen auskennt. Omar Faisal hat seine Kanzlei hier in Islamabad. Sie können ihm sagen, dass ich Sie geschickt habe.«

Ich nahm die Karte entgegen und murmelte: »Danke.«

»Viel Glück«, sagte er. Als wir den Raum verließen, warf ich einen Blick über die Schulter zurück. Andrews stand in einem Rechteck aus Licht, starrte wie geistesabwesend zum Fenster hinaus und drehte die Tomatenpflanzen in die Sonne.

»Alles Gute«, sagte die Empfangsdame, als wir an ihrem Schreibtisch vorbeikamen.

»Ihr Chef sollte sich bessere Manieren zulegen«, sagte ich und erwartete, dass sie die Augen verdrehen oder entgegen würde: »Wem sagen Sie das?« Stattdessen aber bemerkte sie mit gesenkter Stimme: »Armer Ray, seit dem Tod seiner Tochter ist er wie ausgewechselt.«

Ich kräuselte die Stirn.

»Selbstmord«, flüsterte sie.

Während der Fahrt zurück zum Hotel hielt Suhrab die Stirn ans Fenster gelehnt und starrte hinaus auf die vorbeifliegenden Häuser und Reihen der Gummibäume. Die Scheibe beschlug, trocknete und beschlug aufs Neue. Ich wartete darauf, dass er mir eine Frage zu dem Gespräch in der Botschaft stellte, doch das tat er nicht.

Hinter der geschlossenen Badezimmertür lief Wasser. Seit unserer Ankunft im Hotel nahm Suhrab an jedem Abend vor dem Zubettgehen ein ausführliches Bad. Im Kabul war fließend heißes Wasser Mangelware, so rar wie Väter. Suhrab verbrachte nun jedes Mal fast eine geschlagene Stunde in der Wanne, eingetaucht in Seifenwasser, und schrubbte sich. Ich saß auf der Bettkante und rief Soraya an. Mein Blick war auf die dünne Lichtspur unter der Badezimmertür gerichtet. Findest du dich immer noch nicht sauber genug, Suhrab?

Ich informierte Soraya über das, was ich von Raymond Andrews erfahren hatte. »Was hältst du davon?«, fragte ich.

»Wir sollten davon ausgehen, dass er falsch liegt.« Sie berichtete davon, mehrere Agenturen angerufen zu haben, die Adoptionen von ausländischen Kindern in die Wege leiteten. Sie hatte noch keine Vermittlungsstelle ausfindig gemacht, die auch in Afghanistan tätig war, wollte aber weitersuchen.

»Wie haben deine Eltern die Nachricht aufgenommen?«

»Madar freut sich für uns. Du weißt ja, sie hält große Stücke auf dich, Amir; in ihren Augen kannst du gar nichts falsch machen. Was Padar angeht... nun, bei ihm weiß man nicht so recht. Er sagt nicht viel.«

»Und du? Bist du glücklich?«

Ich hörte, wie sie den Hörer von einer Hand in die andere wechselte. »Ich denke, dass es dein Neffe gut bei uns haben wird und dass es auch für uns schön sein wird.« »Ich hatte denselben Gedanken.«

»Ist doch verrückt, nicht wahr, aber ich frage mich bereits, was er am liebsten isst und was wohl sein Lieblingsfach in der Schule sein wird. Ich sehe mich schon dabei, wie ich ihm bei seinen Hausaufgaben helfe.« Sie lachte. Im Badezimmer war der Wasserhahn endlich zugedreht. Ich hörte Suhrab in der Wanne herumrutschen und Wasser über den Rand schwappen.

»Du wirst es großartig machen«, sagte ich.

»Oh, fast hätte ich's vergessen! Ich habe Kaka Sharif angerufen.«

Ich erinnerte mich daran, wie Kaka Sharif während unserer nika ein Gedicht vorgetragen hatte. Als wir, Soraya und ich, von allen Seiten fotografiert, lächelnd auf die Bühne zugegangen waren, hatte sein Sohn den Koran über unsere Köpfe gehalten. »Was hat er gesagt?«

»Nun, er wird sich für uns stark machen. Er hat Freunde beim INS«, sagte sie. »Wo?«

»Der Einwanderungsbehörde.«

»Das sind gute Nachrichten«, sagte ich. »Ich kann es kaum erwarten, dass du Suhrab endlich kennen lernst.«

»Ich kann es kaum erwarten, dich wiederzusehen«, sagte sie. Lächelnd legte ich den Hörer auf.

Wenige Minuten später tauchte Suhrab aus dem Badezimmer auf. Seit der Unterredung mit Andrews hatte er kaum ein Dutzend Worte von sich gegeben, und meine Versuche, ein Gespräch mit ihm anzufangen, waren stets nur mit einem Kopfnicken oder einer einsilbigen Antwort quittiert worden. Er stieg ins Bett und zog die Decke unters Kinn. Es dauerte nicht lange, und er fing zu schnarchen an.

Ich wischte auf dem beschlagenen Spiegel eine kleine Stelle blank und rasierte mich mit dem hoteleigenen Rasiermesser, einem jener älteren Modelle mit auswechselbarer Klinge. Anschließend nahm auch ich ein Bad und lag in der Wanne, bis das heiße Wasser kalt und meine Haut schrumpelig war. Ich lag, sinnierte, träumte ...

Omar Faisal war untersetzt, dunkelhäutig, hatte Grübchen in den Wangen, schwarze Knopfaugen und ein freundliches Lächeln, das eine Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen offenbarte. Das graue, schüttere Haar hatte er hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Er trug einen braunen Cordanzug mit Lederflicken an den Ellbogen und hielt eine abgegriffene überfüllte Aktentasche, deren Griff abgerissen war, zwischen Brust und Arm geklemmt. Er zählte zu jener Sorte Mensch, die jeden zweiten Satz mit einem Lachen und einer unnötigen Entschuldigung beginnen. Nichts für ungut, ich wäre dann gegen fünf bei Ihnen. Lachen. Als ich bei ihm angerufen hatte, hatte er darauf bestanden, zu uns zu kommen. »Tut mir Leid, die hiesigen Taxifahrer sind Haie«, sagte er in perfektem Englisch ohne jeden Akzent. »Die riechen Ausländer und verdreifachen den Preis.«

Lächelnd kam er zur Tür herein. Er schnaufte ein wenig und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn, öffnete seine Aktentasche, kramte darin herum und entschuldigte sich dafür, dass er nicht auf Anhieb fand, wonach er suchte. Die Beine über Kreuz, hockte Suhrab auf dem Bett, den stumm geschalteten Fernseher im Blick. Mit einem Auge verfolgte er aber auch das hektische Treiben des Anwalts. Ich hatte ihn am Morgen auf Faisals Besuch vorbereitet, und mir schien es, als hätte er etwas fragen wollen, er hatte sich dann aber wieder dem Fernseher zugewandt, der eine Show mit sprechenden Tieren brachte.

»Na, da ist er ja«, sagte Faisal und holte einen gelben Notizblock zum Vorschein. »Ich hoffe, meine Kinder kommen in puncto Ordnung nach ihrer Mutter. Aber was rede ich da? Entschuldigung.« Er lachte. »Das ist wohl kaum, was Sie von Ihrem Anwalt zu hören erwarten.«

»Raymond Andrews hält große Stücke auf Sie.«

»Mr. Andrews. Ja, ja. Anständiger Kerl. Er hat mich übrigens angerufen und mir Ihren Fall geschildert.« »Tatsächlich?« »Oh ja.«

»Dann sind Sie also informiert.«

Faisal tupfte sich die Schweißperlen von der Oberlippe. »Informiert über das, was Sie Mr. Andrews zu Ihrem Fall vorgetragen haben«, präzisierte er. Ein scheues Lächeln vertiefte seine Grübchen. Mit Blick auf Suhrab sagte er auf Farsi: »Das wird wohl der junge Mann sein, auf den die Schwierigkeiten zurückgehen.«

»Das ist Suhrab«, sagte ich. »Suhrab, das ist Mr. Faisal, der Anwalt, von dem ich gesprochen habe.«

Suhrab rutschte über die Bettkante und gab Omar Faisal die Hand. »Salaam alaykum«, grüßte er leise.

»Alaykum salaam, Suhrab«, erwiderte Faisal. »Weißt du, dass du nach einem großen Krieger benannt bist?«

Suhrab nickte. Er stieg zurück aufs Bett und sah fern.

»Ich wusste nicht, dass Sie Farsi sprechen«, sagte ich auf Englisch. »Stammen Sie aus Kabul?«

»Nein, geboren bin ich in Karachi. Ich habe allerdings einige Jahre in Kabul gelebt. In Shar-e-Nau nahe der Haji-Yaghoub-Moschee«, antwortete Faisal. »Aber aufgewachsen bin ich in Berkeley. Mein Vater hat dort Ende der sechziger Jahre eine Musikalienhandlung aufgemacht. Freie Liebe, Stirnbänder, gebatikte Unterhemden und so weiter.« Er beugte sich vor. »Ich war in Woodstock dabei.«

»Groovy«, sagte ich, worauf Faisal so heftig lachte, dass er wieder zu schwitzen anfing. »Wie auch immer«, fuhr ich fort, »was ich Mr. Andrews gesagt habe, entspricht ziemlich genau der Wahrheit, abgesehen von ein, zwei kleinen Details. Ich werde Ihnen die unzensierte Version vortragen.«

Er befeuchtete die Kuppe des Zeigefingers, schlug eine noch unbeschriebene Seite auf und nahm einen Füller zur Hand. »Das weiß ich zu schätzen, Amir. Beschränken wir uns von jetzt ab aufs Englische.«

»Gern.«

Ich erzählte ihm alles, was passiert war. Berichtete ihm von meinem Treffen mit Rahim Khan, der Fahrt nach Kabul, dem Waisenhaus, der Steinigung im Ghazi-Stadion.

»Gott«, hauchte er. »Wie schrecklich, dabei habe ich so gute Erinnerungen an Kabul. Kaum zu glauben, dass es derselbe Ort ist, von dem Sie da berichten.«

»Sind Sie in jüngerer Zeit wieder einmal da gewesen?« »Nein.«

»Wie in Berkeley ist es jedenfalls dort nicht, das können Sie mir glauben«, sagte ich.

Dann erzählte ich den Rest, von der Begegnung mit Assef, dem Kampf, Suhrab und seiner Schleuder, unserer Flucht nach Pakistan. Als ich fertig war, machte er sich ein paar Notizen, atmete tief durch, bedachte mich mit einem ernsten Blick und sagte: »Tja, Amir, da haben Sie einen schweren Kampf vor sich.«

»Einen, den ich gewinnen kann?«

Er schraubte die Kappe auf den Füller. »Auch auf die Gefahr hin, dass ich wie Raymond Andrews klinge: Die Chancen sind sehr gering. Unmöglich ist es nicht, aber sehr unwahrscheinlich.« Das Lächeln und der schelmische Ausdruck waren verschwunden.

»Aber Kinder wie Suhrab brauchen ein Zuhause am allernötigsten«, sagte ich. »Diese Regeln und Vorschriften ergeben für mich keinen Sinn.«

»Mir brauchen Sie das nicht zu sagen, Amir«, antwortete er. »Aber die geltenden Einwanderungsgesetze, das Adoptionsrecht, die politische Situation in Afghanistan - all das spricht gegen Sie.«

»Ich verstehe das nicht«, sagte ich und hätte am liebsten um mich geschlagen. »Ich meine, ich begreife zwar, kann es aber nicht verstehen.«

Omar nickte und runzelte die Stirn. »So ist es. Nach einer Katastrophe, ob natürlichen Ursprungs oder von Menschen verursacht - und die Taliban sind eine Katastrophe, Amir, glauben Sie mir -, nach einer Katastrophe ist es immer schwer, zweifelsfrei festzustellen, ob ein Kind Waise ist oder nicht. Kinder gehen in Flüchtlingslagern verloren, oder sie werden von ihren Eltern ausgesetzt, weil die nicht mehr für sie sorgen können. So etwas kommt ständig vor. Darum wird Ihrem Neffen erst dann ein Visum ausgestellt, wenn belegt ist, dass er der Definition eines Waisenkindes entspricht. Bedaure, ich weiß, es klingt lächerlich, aber Sie brauchen Sterbeurkunden.«

»Sie kennen doch die Verhältnisse in Afghanistan«, sagte ich, »und werden wissen, dass es schlicht unmöglich ist, dort solche Dokumente zu bekommen.«

»Ganz recht«, antwortete er. »Jetzt nehmen wir einmal an, es gäbe keinen Zweifel daran, dass das Kind verwaist ist. In dem Fall wird die Einwanderungsbehörde argumentieren, dass es gute Adoptionspraxis sei, das Kind an Eltern im eigenen Land zu geben, damit es sein Kulturerbe nicht aufzugeben braucht.«

»Was für ein Erbe?«, entgegnete ich. »Die Taliban haben alles, was die Afghanen an kulturellem Erbe hatten, vernichtet. Sie erinnern sich doch noch, was die mit den großen Buddha-Statuen in Bamiyan angerichtet haben.«

»Tut mir Leid, ich sage Ihnen ja nur, wie der INS verfährt, Amir«, erwiderte Omar und legte mir die Hand auf den Arm. Er warf einen kurzen Blick auf Suhrab und lächelte. Wieder an mich gewandt, sagte er: »Nun, ein Adoptionsverfahren richtet sich nach den Gesetzen und Regularien des jeweiligen Landes, aus dem das zu adoptierende Kind stammt. Wenn aber in einem solchen Land Chaos herrscht, wie etwa in Afghanistan, haben die überlasteten staatlichen Behörden Wichtigeres zu tun, als Adoptionsverfahren abzuwickeln.«

Ich seufzte und rieb mir die Augen, hinter denen sich ein pochender Schmerz bemerkbar machte.

»Aber nehmen wir einmal an, dass Afghanistan seine Angelegenheiten irgendwie in den Griff bekommt«, fuhr Omar fort und verschränkte die Hände auf seinem Bäuchlein. »Ich fürchte, auch dann werden Sie Ihren Antrag nicht durchbringen. Selbst moderatere muslimische Länder sind in dieser Hinsicht sehr zögerlich, da das islamische Recht, die Scharia, so etwas wie Adoption nicht vorsieht. Und die Taliban kann man nicht als moderat bezeichnen, sie sind Fundamentalisten.«

»Sie raten mir also, es gar nicht erst zu versuchen?«, fragte ich und presste die Hand an die Stirn.

»Ich bin in den Vereinigten Staaten aufgewachsen, Amir. Wenn ich dort eins gelernt habe, dann die Maxime, dass aufzugeben das Allerletzte ist. Aber als Ihr Anwalt muss ich Ihnen reinen Wein einschenken«, sagte er. »Und da wäre noch etwas: Adoptionsvermittlungsstellen recherchieren für gewöhnlich im Umfeld des Kindes. Aber welche Agentur in Amerika würde einen Angestellten nach Afghanistan schicken?«

Ich bemerkte, dass Suhrab uns beobachtete. So wie er hatte auch sein Vater immer dagesessen: das Kinn auf die Knie gestützt.

»Ich bin sein Halbonkel. Zählt das nicht?«

»Doch, wenn Sie es beweisen können. Gibt es irgendwelche Papiere, aus denen hervorgeht, dass Sie sein Halbonkel sind?«

»Nein«, antwortete ich müde. »Ich wusste es ja bis vor kurzem selber nicht. Die einzige Person, die Zeugnis ablegen könnte, ist verschwunden, womöglich inzwischen gestorben.«

»Hmm.«

»Welche Optionen bleiben mir noch, Omar?« »Sehr wenige. Verzeihen Sie meine Offenheit.« »Himmel, was kann ich tun?«

Omar holte Luft, tippte mit dem Füller an sein Kinn und atmete geräuschvoll aus. »Sie können einen Antrag stellen und das Beste hoffen. Oder vielleicht versuchen Sie es mit einer so genannten independent adoption. Das heißt, Sie würden mit Suhrab für die nächsten zwei Jahre hier in Pakistan leben müssen. Oder Sie beantragen für ihn Asyl; in dem Fall müssten Sie sich auf ein längeres Verfahren einrichten und nachweisen, dass er in seinem Heimatland politisch verfolgt wird. Sie könnten auch bei der Staatsanwaltschaft eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen, doch die wird nur in ganz seltenen Fällen ausgestellt.« Er stockte. »Es gibt da allerdings noch etwas, und das könnte Ihre Chance sein.«

»Was?«, drängte ich.

»Sie könnten ihn einem hiesigen Waisenhaus zur Verwahrung geben und eine Waisenpetition einreichen. Sie füllen dann die 1-600 aus und lassen den vorgeschriebenen Eignungstest über sich ergehen.«

»Wie bitte? Ich kann nicht ganz folgen.«

»Verzeihung, die 1-600 ist ein Antragsformular, das der INS ausgibt. Der Eignungstest wird von einer Vermittlungsstelle Ihrer Wahl bei Ihnen zu Hause durchgeführt«, erklärte Omar. »Er soll sicherstellen, dass Sie und Ihre Frau nicht übergeschnappt und gemeingefährlich sind.«

»Das geht nicht«, sagte ich mit Blick auf Suhrab. »Ich habe ihm versprechen müssen, ihn nicht wieder in ein Heim zu stecken.«

»Aber da läge, wie gesagt, Ihre beste Chance.«

Wir unterhielten uns noch eine Weile. Dann begleitete ich ihn nach draußen zu seinem Wagen, einem alten VW-Käfer. Die Sonne ging gerade unter, im Westen lag ihr Widerschein flammend rot über Islamabad. Ich sah, wie die Federung des Wagens unter Omars Gewicht nachgab, als er sich hinter das Steuerrad quetschte. Er kurbelte das Fenster herunter.

»Amir?«

»Ja.«

»Hab ich Ihnen eigentlich schon gesagt, dass ich Ihr Vorhaben großartig finde?« Er winkte und fuhr los. Ich schaute ihm nach und wünschte, Soraya wäre bei mir.

Suhrab hatte den Fernseher ausgeschaltet, als ich ins Zimmer zurückkam. Ich setzte mich auf die Kante meines Bettes und bat ihn, an meiner Seite Platz zu nehmen. »Mr. Faisal sieht eine Möglichkeit, wie wir deine Einreise nach Amerika in die Wege leiten können.«

»Und?« Seit Tagen zeigte Suhrab wieder einmal ein flüchtiges Lächeln. »Wann fahren wir?«

»Tja, das ist der Punkt. Wir müssen uns noch eine Weile gedulden. Aber er sagt, dass es möglich ist, und will uns dabei helfen.« Ich legte ihm die Hand auf den Nacken. Draußen hallte die Aufforderung zum Gebet durch die Straßen.

»Wie lange?«, wollte Suhrab wissen.

»Ich weiß es nicht. Eine Weile.«

Suhrab zuckte mit den Achseln und lächelte, diesmal schon ein bisschen breiter. »Egal. Ich kann warten. Das ist wie mit sauren Äpfeln.« »Sauren Äpfel?«

»Einmal, da war ich noch ganz klein, bin ich auf einen Baum geklettert und habe grüne, saure Äpfel gegessen. Davon ist mein Bauch angeschwollen und so hart geworden wie eine Trommel. Es hat schrecklich wehgetan. Und Mutter hat gesagt, dass mir nicht schlecht geworden wäre, wenn ich gewartet hätte, bis die Äpfel reif sind. Wenn ich jetzt etwas wirklich gerne haben will, denke ich daran, was sie über die Äpfel gesagt hat.«

»Saure Äpfel«, wiederholte ich. »Mashallah, du bist der schlauste kleine Junge, der mir je begegnet ist, Suhrab ja«.« Ich sah, wie er rote Ohren bekam.

»Werden Sie mir diese große Brücke zeigen? Die aus dem Nebel aufragt?« »Ganz bestimmt«, antwortete ich. »Ganz bestimmt.«

»Und die Straßen, auf denen man nur die Motorhaube und den Himmel sieht?« »Die zeige ich dir auch, jede einzelne«, versprach ich und drängte eine Träne zurück. »Ist Englisch zu lernen schwer?«

»Ich würde sagen, in etwa einem Jahr wirst du genauso gut Englisch sprechen können wie Farsi.« »Wirklich?«

»Ja.« Ich legte einen Finger an sein Kinn und sorgte dafür, dass er mich ansah. »Aber es gibt da noch einen Haken, Suhrab.« »Welchen?«

»Nun, Mr. Faisal meint, dass es helfen würde, wenn ... wenn du bereit wärst, noch eine Zeit lang in einem Heim für Kinder zu wohnen.«

»Heim für Kinder?« Das Lächeln verschwand. »Sie meinen ein Waisenhaus.« »Es wäre nur für kurze Zeit.« »Nein«, sagte er. »Bitte, nein.«

»Suhrab, es wäre wirklich nur für kurze Zeit. Das verspreche ich.«

»Sie haben mir versprochen, dass ich nie wieder an so einen Ort komme, Amir Aga«, sagte er mit brüchiger Stimme, und aus seinen Augen quollen Tränen. Ich kam mir vor wie ein Schuft.

»Das ist etwas anderes. Es wäre hier, in Islamabad, nicht in Kabul. Und ich würde immer zu Besuch kommen, bis wir dann endlich gemeinsam nach Amerika fliegen können.«

»Bitte. Bitte, nein!«, schluchzte er. »Ich habe Angst. Man wird mir wehtun. Ich will nicht.«

»Dir wird niemand wehtun. Nie wieder.«

»Doch, das werden sie! Alles andere ist gelogen. Bitte, lieber Gott!«

Ich wischte die Tränen, die ihm über die Wange liefen, mit meinem Daumen ab. »Saure Äpfel, du weißt doch, was es damit auf sich hat«, sagte ich leise. »Es wäre dasselbe.«

»Nein, wäre es nicht. Ich will nicht in ein Heim. Bitte, nein!« Er zitterte. Rotz und Tränen troffen ihm von der Oberlippe.

»Schhhhh.« Ich schlang die Arme um den bebenden kleinen Körper und zog ihn an mich. »Schhhh. Es wird alles gut werden. Wir werden zusammen nach Hause fliegen. Du wirst sehen, alles wird gut.«

Meine Brust dämpfte seine Stimme, doch war die Panik, die in ihr mitschwang, unüberhörbar. »Bitte, versprechen Sie mir, dass ich nicht ins Heim muss. Oh Gott, Amir Aga. Versprechen Sie's mir!«

Wie konnte ich ihm das versprechen? Ich drückte ihn an mich, wiegte ihn hin und her. Er weinte, bis seine Tränen versiegten, bis er zu beben aufhörte und seine flehenden Bitten in ein unverständliches Schluchzen übergegangen waren. Ich wartete, wiegte ihn, und allmählich atmete er wieder freier, und sein Körper entspannte sich. Ich erinnerte mich an

Worte, die ich vor langer Zeit irgendwo gelesen hatte: So gehen Kinder mit Schrecken um. Sie schlafen ein.

Ich trug ihn in sein Bett. Dann streckte auch ich mich aus und schaute durch das Fenster auf den purpurnen Himmel über Islamabad.

Der Himmel war tiefschwarz, als mich das Telefon aus dem Schlaf riss. Ich rieb mir die Augen und schaltete die Lampe neben dem Bett ein. Es war kurz nach halb elf; ich hatte über drei Stunden geschlafen. Ich griff zum Hörer. »Hallo?«

»Ein Anruf aus Amerika«, meldete Mr. Fayyaz mit gelangweilter Stimme.

»Danke.« Im Badezimmer brannte Licht. Suhrab nahm sein nächtliches Bad. Es klickte ein paarmal in der Leitung, dann hörte ich Sorayas Stimme: »Salaam!« Sie klang aufgeregt.

»Hi.«

»Wie ist das Gespräch mit dem Anwalt gelaufen?«

Ich berichtete ihr von Omar Faisals Vorschlag. »Also, das kannst du vergessen«, antwortete sie. »Das wird nicht nötig sein.«

Ich richtete mich auf. »Rawsti? Warum, was ist los?«

»Kaka Sharif hat sich gemeldet. Er sagt, es komme einzig darauf an, Suhrab ins Land zu schleusen. Wenn er erst einmal da sei, werde sich alles andere finden. Er hat sich mit seinen Freunden beim INS in Verbindung gesetzt, mich heute Abend angerufen und gesagt, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach eine Aufenthaltserlaubnis für Suhrab erwirken könne.«

»Im Ernst?«, sagte ich. »Gott sei Dank. Der gute alte Sharif jan.«

»Ja, und wir garantieren für Suhrabs Lebensunterhalt. Das Ganze sollte aber möglichst schnell über die Bühne gehen. Er sagte, die Aufenthaltserlaubnis ist nur für ungefähr ein Jahr gültig, aber das müsste ja für einen Adoptionsantrag reichen.«

»Dann wird es also wirklich dazu kommen?«

»Sieht ganz danach aus«, antwortete Soraya. Sie klang glücklich. Wir versicherten uns unserer Liebe. Dann legte ich auf.

»Suhrab!«, rief ich und stand vom Bett auf. »Gute Nachrichten.« Ich klopfte an die Badezimmertür. »Suhrab! Soraya hat soeben aus Kalifornien angerufen. Du wirst nicht in ein Heim gehen müssen, Suhrab. Wir fliegen nach Amerika, du und ich. Hörst du? Wir fliegen nach Amerika!«

Ich öffnete die Tür. Trat ein.

Plötzlich lag ich auf den Knien und schrie. Schrie durch zusammengebissene Zähne. Schrie, bis ich dachte, dass mir der Hals platzt.

Später erfuhr ich, dass ich immer noch schrie, als die Ambulanz eintraf.

25

Sie lassen mich nicht zu ihm.

Ich sehe, wie sie ihn auf einer Rolltrage durch eine Reihe von Flügeltüren fahren. Ich zwänge mich hinter ihnen hindurch. Ein Schwall von Jod- und Peroxidgerüchen schlägt mir entgegen. Alles, was ich jetzt sehe, sind zwei Männer mit OP-Haube auf dem Kopf und eine Frau in Grün, die sich über die Trage beugen. Ein weißes Laken hängt an der Seite herunter und streift über den schachbrettartig gefliesten Boden. Zwei kleine blutverschmierte Füße sehen unter dem Laken hervor, und mir fällt auf, dass der Nagel des großen Zehs am linken Fuß aufgerissen ist. Dann drückt mir ein großer, stämmiger Mann in Blau seine flache Hand auf die Brust und schiebt mich durch die Türen zurück. Ich spüre seinen Ehering kalt auf meiner Haut, versuche, gegen ihn anzukommen, schimpfe auf ihn ein, doch er sagt, dass ich keinen Zutritt habe, sagt es auf Englisch, freundlich, aber bestimmt. Sie müssen sich gedulden, sagt er und schiebt mich in den Wartebereich zurück. Scheinbar seufzend schwingen nun wieder die Flügeltüren hinter ihm zu, und ich sehe nur noch die Hauben der Chirurgen in dem schmalen rechteckigen Fensterausschnitt der Türen.

Ich befinde mich in einem weiten fensterlosen Flur voller Menschen, die auf metallenen Klappstühlen entlang den Wänden sitzen. Manche hocken auch auf dem dünnen, abgewetzten Teppich. Ich bin drauf und dran zu schreien und erinnere mich an eine Situation, in der mir ähnlich zumute war: auf der Flucht mit Baba, mit anderen Flüchtlingen eingepfercht im Tank eines Tanklastzugs. Ich wollte mich losreißen von diesem Ort, aus dieser Realität, wie eine Wolke aufsteigen und davonschweben, mich auflösen in der schwülen Sommernacht irgendwo da draußen, hoch oben über den Hügeln. Stattdessen aber bin ich hier, mit bleischweren Beinen, Lungen ohne Luft und brennender Kehle. Ein Davonschweben gibt es nicht. Es wird heute Nacht keine andere Realität geben. Ich schließe die Augen, nehme die Gerüche um mich herum wahr, Schweiß und Ammoniak, vergällter Alkohol und Curry. Unter der Decke stürzen sich Motten auf das graue Licht der Leuchtstoffröhren, und ich höre das papierene Flappen ihrer Flügel. Ich höre Geplapper, gedämpftes Schluchzen, Schniefen. Jemand stöhnt, ein anderer seufzt, Fahrstuhltüren öffnen sich mit einem Pling, und von der Zentrale wird auf Urdu irgendjemand über Lautsprecher gerufen.

Ich schlage die Augen wieder auf und weiß auf einmal, was ich zu tun habe. Ich sehe mich um. Mein Herz hämmert in der Brust, in den Ohren rauscht das Blut. Links von mir liegt eine kleine dunkle Abstellkammer. Darin finde ich, wonach ich suche. Ich nehme eins der gefalteten, gestapelten weißen Bettlaken und kehre damit zurück in den Flur. Vor der Toilettentür sehe ich eine Krankenschwester, die sich mit einem Polizisten unterhält. Ich mache die Frau auf mich aufmerksam und frage, wo Westen ist. Sie scheint nicht zu verstehen und kräuselt die Stirn. Mein Hals schmerzt, und der Schweiß brennt mir in den Augen. Wenn ich Luft hole, ist es, als würde ich Feuer einatmen, und ich glaube, ich weine. Ich wiederhole meine Frage. Ich bettle. Der Polizist zeigt mir schließlich die Richtung.

Ich werfe meinen provisorischen jai-namaz, meinen Gebetsteppich, auf den Boden, knie darauf nieder und senke den Kopf. Meine Tränen tropfen auf das Laken. Ich verbeuge mich gen Westen. Mir wird bewusst, dass ich seit über fünfzehn Jahren nicht gebetet habe. Ich habe die Worte vergessen. Aber das macht nichts, ich sage, was mir noch einfällt: La illaha il Allah, Mohammad u rasul ullah. Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet. Ich weiß jetzt, dass Baba irrte. Es gibt einen Gott, es hat ihn immer gegeben. Ich sehe ihn hier, in den Augen der Leute in diesem Flur der Verzweiflung, dem wahren Gotteshaus. Wer Gott verloren hat, findet ihn hier wieder, nicht in der weißen masjid mit ihren strahlenden Diamantenlichtern und den himmelwärts strebenden Minaretten. Es gibt einen Gott, es muss ihn geben, und nun werde ich beten, ich werde ihn bitten, mir zu verzeihen, dass ich ihn all die Jahre missachtet habe, dass ich betrogen, gelogen und gesündigt habe und mich ihm erst jetzt, in höchster Not zuwende; ich bitte, dass er sich mir gnädig, wohlwollend und gütig erweist, was er ja seiner Schrift nach ist. Ich verbeuge mich gen Westen, küsse den Boden und verspreche, die zakat zu entrichten, das namaz zu sprechen, während des Ramadan zu fasten und auch darüber hinaus; und ich werde jedes einzelne Wort seines heiligen Buches auswendig lernen und mich auf die Pilgerfahrt in die Wüstenstadt begeben und vor der Ka'bah das Haupt neigen. All das werde ich tun, und ich werde von nun an täglich seiner gedenken, wenn er mir doch nur diesen einen Wunsch erfüllt. An meinen Händen klebt Hassans Blut; gebe Gott, dass nicht auch das Blut seines Jungen an ihnen klebe.

Ich höre ein Wimmern und bemerke, dass es aus meinem eigenen Mund kommt. Tränen rinnen über mein Gesicht, schmecken salzig auf den Lippen. Ich spüre, dass alle Augen auf mich gerichtet sind, verharre aber, die Stirn auf dem Boden. Ich bete. Ich bete und hoffe, dass ich nicht so tief in der Sünde verstrickt bin, wie ich immer befürchtet habe.

Über Islamabad bricht eine schwarze, Sternenlose Nacht herein. Es sind ein paar Stunden vergangen, und ich sitze auf dem Boden eines kleinen Warteraums jenseits des Flures, der zur Notaufnahme führt. Vor mir steht ein kleiner brauner Tisch voller Zeitungen und Magazine mit Eselsohren - eine 1996er Aprilausgabe der Time; eine pakistanische Zeitung mit dem Abbild eines Jungen, der vor einer Woche von einem Zug erfasst und getötet wurde; eine Hochglanz-Illustrierte mit lächelnden Hollywood-Stars. Mir gegenüber sitzt eine alte Frau in einem jadegrünen shalwar-kameez und mit gehäkeltem Schal in ihrem Rollstuhl. Sie ist eingenickt. Ab und an bewegt sie sich und murmelt auf Arabisch ein Gebet. Vor Müdigkeit benommen, frage ich mich, wessen Gebete wohl in dieser Nacht erhört werden, ihre oder meine. Im Geiste vergegenwärtige ich mir Suhrabs Gesicht, das spitz zulaufende Kinn, die kleinen Ohrmuscheln, seine wie Bambusblätter geformten schmalen Augen, die Augen seines Vaters. Mich überkommt eine Traurigkeit so schwarz wie die Nacht, und ich spüre, wie sich mir der Hals zuschnürt. Ich brauche Luft.

Ich stehe auf und öffne das Fenster. Die durch das Fliegengitter strömende Luft ist modrig und heiß - sie riecht nach Dung und überreifen Datteln. Ich zwänge Mengen davon in meine Lungen, doch die Beklemmung bleibt. Ich sinke wieder zu Boden, nehme das Time-Magazin zur Hand und blättere in den Seiten. Lesen kann ich nicht, kann mich auf nichts konzentrieren. Ich werfe das Heft zurück auf den Tisch und starre wieder auf die wirren Risse im Betonfußboden, auf das Spinnengewebe im Winkel zwischen Decke und Wand, auf die toten Fliegen auf dem Fensterbrett. Und immer wieder starre ich auf die Wanduhr. Es ist kurz nach vier. Dass man mich aus dem Raum mit der schwingenden Flügeltür ausgesperrt hat, liegt nun schon über fünf Stunden zurück. Und noch immer hat man mir keine Nachricht gegeben.

Der Boden unter mir fühlt sich zunehmend wie ein Teil meines Körpers an. Mein Atem wird schwerer, langsamer. Ich möchte schlafen, die Augen schließen, meinen Kopf auf den kalten, staubigen Beton legen. Und wegdösen. Wenn ich dann aufwache, werde ich vielleicht feststellen, dass es nur ein Traum war, was sich mir im Badezimmer des Hotels gezeigt hatte: das blutige Badewasser, in das einzelne Tropfen vom Wasserhahn fallen; der über den Wannenrand hängende linke Arm; die blutverschmierte Rasierklinge auf dem Spülkasten der Toilette - dieselbe Klinge, mit der ich mich am Tag zuvor rasiert hatte; und seine Augen, halb offen, aber ohne Licht. Vor allem diese Augen. Ich wünschte, ich könnte sie vergessen.

Irgendwann überkommt mich der Schlaf, und ich gebe ihm nach. Später kann ich mich nicht erinnern, ob und was ich geträumt habe.

Irgendjemand tippt mir auf die Schulter. Ich öffne die Augen. Da kniet ein Mann an meiner Seite. Er trägt eine OP-Haube wie die Männer hinter der schwingenden Flügeltür und einen Papiermundschutz. Dass ich Blut auf dem Mundschutz sehe, macht mir Angst. Auf dem Piepser des Mannes klebt das Bild eines jungen Mädchens mit großen dunklen Augen. Er nimmt den Mundschutz vom Gesicht, und es erleichtert mich, dass ich Suhrabs Blut nicht länger sehen muss. Seine Haut ist so dunkel wie die importierte Schweizer Schokolade, die Hassan und ich früher immer auf dem Basar von Shar-e-Nau gekauft hatten. Er hat schütteres Haar und haselnussbraune Augen mit langen Wimpern. Er spricht mit britischem Akzent, stellt sich mir als Dr. Nawaz vor. Am liebsten würde ich weglaufen, fürchte ich doch, nicht ertragen zu können, was er mir zu sagen hat. Er sagt, der Junge habe sich tiefe Schnittwunden zugefügt und sehr viel Blut verloren. Meine Lippen beten wieder:

La illaha il Allah, Mohammad u rasul ullah.

Man hat ihm mehrere Einheiten roter Blutzellen übertragen.

Was werde ich Soraya sagen?

Zweimal musste er wiederbelebt werden.

Ich werde das Pflichtgebet sprechen und die zakat entrichten.

Wenn sein Herz nicht so jung und kräftig wäre, hätten sie ihn wohl kaum zurückholen können.

Ich werde fasten. Er lebt.

Dr. Nawaz lächelt. Es dauert eine Weile, ehe ich begreife. Er sagt noch etwas, doch ich höre nicht mehr zu. Ich habe seine Hände ergriffen und an mein Gesicht gezogen. Ich weine meine Erleichterung in die mir fremden kleinen, weichen Hände. Er sagt nichts. Er wartet.

Die Intensivstation hat einen L-förmigen Grundriss. Uberall piepen Monitore, summen Maschinen. Dr. Nawaz führt mich durch ein Spalier von Betten, die mit weißen Plastikvorhängen voneinander abgetrennt sind. Suhrabs Bett steht im Seitenflügel und ist das letzte in seiner Reihe, nahe dem Schwesternzimmer, das gerade von zwei Schwestern in grünen OP-Kitteln besetzt ist. Sie erledigen Schreibarbeit und unterhalten sich leise. Im Fahrstuhl mit Dr. Nawaz auf dem Weg nach oben hatte ich noch befürchtet, beim Anblick Suhrabs wieder weinen zu müssen. Doch jetzt, da ich auf dem Stuhl am Fußende seines Bettes Platz nehme und hinter einem Wust von schimmernden Infusionsschläuchen und Drainagen sein bleiches Gesicht entdecke, bleiben meine Augen trocken. Ich sehe seine Brust im Rhythmus des zischenden Beatmungsgerätes sich heben und senken und spüre, wie sich eine sonderbare Taubheit in mir ausbreitet, eine Taubheit, wie man sie in Schrecksekunden erfährt.

Ich schlafe ein. Als ich aufwache, sehe ich im Fensterausschnitt neben dem Schwesternzimmer die Sonne am milchigen Himmel aufgehen. Das Licht fällt schräg in den Raum und lenkt meinen Schatten auf Suhrab. Er hat sich nicht gerührt.

»Es wäre besser, Sie legten sich schlafen«, sagt eine Schwester. Ein neues Gesicht; es hat wohl, als ich schlief, einen Schichtwechsel gegeben. Sie führt mich in ein Wartezimmer gleich neben der Intensivstation. Es ist leer. Sie reicht mir ein Kissen und eine Decke. Ich bedanke mich und strecke mich auf dem Vinylsofa in der Ecke des Zimmers aus. Augenblicklich schlafe ich ein.

Im Traum befinde ich mich wieder im Wartesaal im Erdgeschoss. Dr. Nawaz tritt ein, und ich stehe auf, um ihm entgegenzueilen. Er nimmt seinen Mundschutz ab. Seine Hände sind überraschend weiß, die Nägel sauber manikürt; das Haar ist ordentlich gescheitelt. Ich sehe nicht Dr. Nawaz vor mir, sondern Raymond Andrews, den kleinen Botschaftsangestellten, der Tomatenpflanzen in Töpfen zieht. Andrews legt den Kopf auf die Seite. Verengt die Augen.

Allmählich fand ich mich in dem Krankenhaus, diesem Labyrinth aus verwinkelten Fluren und grellem weißem Neonlicht, immer besser zurecht. Ich machte die Feststellung, dass die Anzeige für den vierten Stock im Fahrstuhl des Ostflügels nicht aufleuchtete, wie sie sollte, dass auf ebendieser Etage die Tür zur Herrentoilette klemmte und nur mit Gewalt zu öffnen war. Ich machte die Feststellung, dass das Leben im Krankenhaus festen Rhythmen folgt. Morgens, kurz vor Schichtwechsel, herrschte hektische Betriebsamkeit, so auch um die Mittagszeit; still und ruhig waren die späten Abendstunden, während denen man nur in Ausnahmefällen Ärzte oder Schwestern auftauchen sah. Tagsüber wachte ich an Suhrabs Bett, nachts wanderte ich durch die Korridore, lauschte dem Klappern meiner Absätze auf den Steinfliesen und überlegte, was ich Suhrab sagen sollte, wenn er aufwachte. Ich kehrte immer wieder auf die Intensivstation zurück, zu dem zischenden Beatmungsgerät neben dem Bett - und kam der Antwort keinen Schritt näher.

Nach drei Tagen entfernten sie den Beatmungstubus und verlegten Suhrab in ein Bett im Erdgeschoss. Ich war zu diesem Zeitpunkt nicht zur Stelle, sondern im Hotel, in das ich abends zuvor zurückgekehrt war, um einmal richtig durchschlafen zu können. Doch daraus wurde nichts; ich hatte mich stattdessen die ganze Nacht unruhig hin und her geworfen. Am Morgen traute ich mich kaum ins Badezimmer. Es war gründlich sauber gemacht worden; auf dem Boden lagen neue Fußmatten. Unwillkürlich setzte ich mich auf den kühlen Rand der Porzellanwanne und stellte mir Suhrab vor, wie er warmes Wasser hatte einlaufen lassen. Ich sah ihn die Kleider ablegen, sah, wie er den Griff des Rasierers abschraubte, die Halterung öffnete und die Rasierklinge zwischen Daumen und Zeigefinger daraus entfernte. Im Geiste sah ich ihn ins Wasser eintauchen und eine Weile ausgestreckt in der Wanne liegen, die Augen geschlossen. Ich fragte mich, welche Gedanken ihm durch den Kopf gingen, als er die Klinge ansetzte.

Der Hotelmanager Mr. Fayyaz fing mich in der Empfangshalle ab. »Es tut mir sehr Leid für Sie«, sagte er. »Trotzdem muss ich Sie bitten, das Hotel zu verlassen. So etwas ist schlecht fürs Geschäft, sehr schlecht.«

Ich zeigte Verständnis für ihn und räumte das Zimmer. Die drei Tage, die ich im Krankenhaus zugebracht hatte, stellte er nicht in Rechnung. Als ich draußen auf ein Taxi wartete, ging mir durch den Kopf, was Mr. Fayyaz während unserer gemeinsamen Suche nach Suhrab gesagt hatte: Also wirklich, ihr Afghanen ... ihr seid allesamt ziemlich leichtsinnig. Ich hatte darüber gelacht, aber vielleicht hatte er doch Recht gehabt. War ich tatsächlich eingeschlafen, nachdem ich Suhrab konfrontiert hatte mit dem, was er am meisten fürchtete?

Ich erkundigte mich bei meinem Taxichauffeur nach einer persischen Buchhandlung. Er kannte eine in der Nähe und fuhr mich auf dem Weg zum Krankenhaus dort vorbei.

Das Zimmer, in dem Suhrab nun lag, hatte cremefarbene Wände mit einem dunkelgrauen Fries aus Stuck, der an manchen Stellen bröckelte. Er teilte sich dieses Zimmer mit einem zehnjährigen Punjabi, der sich, wie ich später von einer der Schwestern erfuhr, ein Bein gebrochen hatte, als er vom Dach eines fahrenden Busses heruntergerutscht war. Das Bein war eingegipst und lag in einer Extensionsschiene mit Gewichtszug.

Suhrabs Bett stand neben dem zweigeteilten Fenster, durch dessen untere Hälfte das Licht der Morgensonne strahlte. Ein uniformierter Angestellter des Sicherheitsdienstes stand am Fenster und knabberte an gekochten Melonensamen - Suhrab stand, weil suizidgefährdet, rund um die Uhr unter Aufsicht. Das sei so Vorschrift, hatte mich Dr. Nawaz informiert. Der Wachposten tippte grüßend an die Kappe, als er mich sah, und verließ den Raum.

Suhrab steckte in einem kurzärmeligen Krankenhauspyjama. Er lag auf dem Rücken, hatte die Decke über die Brust gezogen und das Gesicht dem Fenster zugewandt. Ich dachte, er schlafe, doch als ich einen Stuhl ans Bett rückte, schlug er die Augen auf. Er schaute mich an und schaute wieder weg. Trotz all der Blutkonserven, die man ihm verabreicht hatte, sah er schrecklich bleich aus, und in der Beuge seines rechten Arms prangte ein großer violetter Bluterguss.

»Wie geht es dir?«, fragte ich.

Er antwortete nicht. Er blickte durchs Fenster auf den krankenhauseigenen Spielplatz mit Sandkasten und Schaukel. In der Nähe, beschattet von Hibiskusbäumen, spannte sich ein bogenförmiges Spaliergitter, an dem ein paar grüne Trauben rankten. Eine Hand voll Kinder spielte mit Eimerchen und Schaufel im Sandkasten. Der Himmel war ein wolkenloses Blau, und ich entdeckte ein winziges Flugzeug, das zwei weiße Streifen hinter sich zurückließ. An Suhrab gewandt, sagte ich: »Ich habe vorhin mit Dr. Nawaz gesprochen. Er meint, dass du schon übermorgen entlassen werden könntest. Freut dich das?«

Wieder blieb er mir eine Antwort schuldig. Der Punjabi auf der anderen Seite des Zimmers rührte sich im Schlaf und stöhnte. »Das Zimmer gefällt mir«, sagte ich und versuchte, nicht auf Suhrabs bandagierte Handgelenke zu blicken. »Es ist hell und hat eine schöne Aussicht.« Für ein paar Minuten herrschte betretenes Schweigen. Schweiß trat mir auf Stirn und Oberlippe. Ich deutete auf die mit Erbsbrei gefüllte Schale, die auf der Konsole neben dem Bett stand und offenbar nicht angerührt worden war. »Du solltest etwas essen, wieder zu Kräften kommen. Möchtest du, dass ich dich füttere?«

Mit versteinerter Miene hielt er meinem Blick für eine Weile stand. Seine Augen waren immer noch leer und ohne Licht, genauso wie in der Schreckensnacht, als ich ihn aus der Wanne gezogen hatte. Ich langte in die Papiertüte zwischen meinen Füßen und zog eine antiquarische Ausgabe des Shahname heraus, die ich in dem persischen Buchladen gekauft hatte. Ich hielt Suhrab den Buchdeckel vors Gesicht. »Daraus habe ich deinem Vater vorgelesen, als wir Kinder waren. Wir sind auf den Hügel hinterm Haus gestiegen und haben uns unter den Granatapfelbaum gesetzt...« Ich stockte. Suhrab schaute unverwandt zum Fenster hinaus. Ich rang mir ein Lächeln ab. »Am liebsten hörte dein Vater die Geschichte von Röstern und Suhrab. Nach ihm bist du benannt, ich glaube, das weißt du.« Ich kam mir ein bisschen idiotisch vor. »Wie auch immer, in seinem Brief erwähnte er, dass es auch deine Lieblingsgeschichte sei. Also dachte ich, dir daraus vorzulesen. Würde dir das gefallen?«

Suhrab machte die Augen zu. Legte den violett angelaufenen Arm übers Gesicht.

Ich schlug die noch im Taxi markierte Seite auf. »Dann fange ich jetzt an«, sagte ich und fragte mich zum ersten Mal, welche Gedanken Hassan wohl durch den Kopf gegangen sein mochten, als er das Shahname schließlich selbst gelesen und entdeckt hatte, dass er all die Male von mir hinters Licht geführt worden war. »>Vernimm die tränenreiche Geschichte vom Kampf zwischen Suhrab und Röstern<«, fing ich zu lesen an. »>Es begab sich, dass Röstern eines Tages mit düsteren Vorahnungen von seinem Lager aufstand. Er dachte bei sich ...<« Ich las fast das ganze erste Kapitel vor und endete an der Stelle, wo der junge Krieger Suhrab von seiner Mutter Tahmineh, der Prinzessin aus Samengan, zu wissen verlangt, wer sein Vater ist. Ich klappte das Buch zu. »Soll ich weiterlesen? Im weiteren Verlauf kommt es zu Kämpfen. Erinnerst du dich? Suhrab führt sein Heer zur Weißen Burg im Iran. Soll ich weiterlesen?«

Er schüttelte den Kopf, worauf ich das Buch in die Papiertüte zurücksteckte. »Na gut«, sagte ich, froh darüber, dass er überhaupt reagiert hatte. »Vielleicht machen wir morgen weiter. Wie fühlst du dich?« Suhrab öffnete den Mund und gab heisere Laute von sich. Dr. Nawaz hatte mich darauf vorbereitet und erklärt, dass das Beatmungsrohr die Stimmbänder verletzt habe. Suhrab fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und wiederholte den Versuch. »Müde.«

»Ich weiß. Dr. Nawaz sagt, das sei zu erwarten ...« Er schüttelte den Kopf. »Was ist denn, Suhrab?«

Es fiel ihm merklich schwer, die angekratzte Stimme zu bemühen. »Müde von allem«, hauchte er heiser.

Seufzend ließ ich mich auf den Stuhl zurücksinken. Ein Lichtstreif fiel zwischen uns übers Bett. Für einen Moment glaubte ich in dem aschgrauen Gesicht mir gegenüber das genaue Ebenbild Hassans zu erkennen, nicht des Hassan, mit dem ich Murmeln gespielt hatte, bis der Mullah zum Abendgebet rief, nicht des Hassan, mit dem ich von unserem Hügel herab um die Wette gelaufen war, wenn die Sonne hinter den Lehmdächern im Westen unterging; es war vielmehr jener Hassan, wie ich ihn das letzte Mal vom Fenster meines Zimmers aus gesehen hatte, als er zusammen mit Ali seine wenigen Habseligkeiten in den Kofferraum von Babas Wagen packte, während ein warmer Sommerregen auf die beiden niederging.

Er schüttelte den Kopf. »Müde von allem«, wiederholte er.

»Was kann ich tun, Suhrab? Bitte, sag es mir.«

»Ich möchte ...« krächzte er und langte mit der Hand an den Hals, als wollte er beseitigen, was seine Stimme unterdrückte. Wieder fiel mein Blick auf seine fest mit weißem Mull verbundenen Handgelenke. »Ich möchte in mein früheres Leben zurück«, hauchte er.

»Oh Suhrab.«

»Zurück zu Vater und Mutter jan. Zu Sasa. Ich möchte mit Rahim Khan Sahib im Garten spielen. Ich möchte wieder in unserem Haus wohnen.« Er warf den Unterarm übers Gesicht. »Ich möchte in mein früheres Leben zurück.«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, wusste nicht, wohin mit den Augen und starrte auf meine Hände. Dein früheres Leben, dachte ich. Oder das meine. Ich habe im selben Hof gespielt, Suhrab. Ich habe im selben Haus gewohnt. Aber das Gras ist verdorrt, und in der Auffahrt steht ein fremdes Auto, aus dem Öl auf den Asphalt tropft. Mit unserem früheren Leben ist es vorbei, Suhrab, und alle, die daran teilhatten, sind entweder tot oder liegen im Sterben. Nur du und ich sind übrig geblieben. Nur du und ich.

»Dazu kann ich dir nicht verhelfen«, antwortete ich.

»Ich wünschte, Sie hätten mich nicht...«

»Bitte, sag so etwas nicht.«

»... wünschte, Sie hätten mich nicht... Ich wünschte, Sie hätten mich im Wasser liegen lassen.«

»Sag das nie wieder, Suhrab«, entgegnete ich und beugte mich vor. »Ich kann nicht ertragen, dass du so sprichst.« Ich legte ihm meine Hand auf die Schulter. Er entzog sich ihr. Voller Reue dachte ich daran, dass er auf meine Berührungen schon sehr viel entspannter reagiert hatte. »Suhrab, so Leid es mir tut, ich kann dir dein früheres Leben nicht zurückgeben. Aber ich kann dich mit mir nehmen. Das wollte ich dir sagen, als ich ins Badezimmer gekommen bin. Du kannst ein Visum bekommen und mit mir und meiner Frau in Amerika leben. Wirklich. Ich verspreche es dir.«

Er seufzte durch die Nase und schloss die Augen. Ich hätte mir wegen der letzten vier Wörter auf die Zunge beißen mögen. »Weißt du, ich habe in meinem Leben schon so manches getan, was ich bitter bereue«, sagte ich. »So zum Beispiel, dass ich dir etwas versprochen und dieses Versprechen dann zurückgenommen habe. Aber das wird nicht wieder vorkommen. Es tut mir zutiefst Leid, und ich bitte dich um Verzeihung. Verzeihst du mir? Wäre dir das möglich?« Ich senkte die Stimme. »Kommst du mit mir?«

Während ich auf seine Antwort wartete, erinnerte ich mich an einen lange zurückliegenden Wintertag. Hassan und ich saßen unter einem kahlen Kirschbaum im Schnee. Ich hatte ein hässliches Spiel mit ihm getrieben: ihn gefragt, ob er Dreck essen würde, um mir seine Treue zu beweisen. Jetzt war ich auf dem Prüfstand und musste meinen Wert taxieren lassen. Es geschah mir recht.

Suhrab wälzte sich zur Seite, kehrte mir den Rücken zu. Lange ließ er mit der Antwort auf sich warten. Ich dachte schon, er sei eingeschlafen, als er schließlich krächzend sagte: »Ich bin so khasta.« So müde.

Ich saß an seinem Bett, bis er tatsächlich eingeschlafen war. Zwischen uns war etwas verloren gegangen. Vor meinem Gespräch mit dem Anwalt Omar Faisal hatte sich in Suhrabs Augen ein Hoffnungsschimmer gezeigt. Doch der war einem scheuen Gast gleich wieder verschwunden, und ich fragte mich, ob er je wieder zurückzukehren wagte. Ich fragte mich, wann es Suhrab wieder möglich sein würde zu lächeln. Wie lange es wohl noch dauerte, bis er mir wieder würde vertrauen können. Falls überhaupt.

Ich verließ das Krankenhaus und suchte nach einem anderen Hotel, nicht ahnend, dass noch fast ein ganzes Jahr verstreichen sollte, bis ich Suhrab wieder ein Wort sagen hörte.

Suhrab ging auf mein Angebot nicht ein. Er schlug es aber auch nicht aus, wusste er doch sehr genau, was ihm als verwaistem, obdachlosem Hazara bevorstand, sobald er aus dem Krankenhaus entlassen würde. Welche Wahl blieb ihm? Wohin hätte er sich wenden sollen? Was sich wie ein »Ja« anhörte, war in Wirklichkeit nicht so sehr Zustimmung als stille Kapitulation, die Verzichtserklärung eines Jungen, der zu müde war, um eine Entscheidung zu treffen, und weit davon entfernt, vertrauen zu können. Er sehnte sich nach seinem früheren Leben. Stattdessen bekam er mich und Amerika. Kein schlechtes Los, wenn man's recht bedenkt, aber das konnte ich ihm nicht vermitteln. Von Dämonen geplagt, war er nicht in der Lage, neue Ziele ins Auge zu fassen.

Ungefähr eine Woche später brachte ich Hassans Sohn von Afghanistan nach Amerika. Er tauschte die Gewissheit des Schreckens gegen erschreckende Ungewissheit.

Irgendwann war ich einmal in einer Videothek in Fremont; das muss 1983 oder 1984 gewesen sein. Ich stand vor einer Auswahl an Wildwestfilmen, als mich ein junger Mann, der Cola aus einem Seven-Eleven-Becher schlürfte, auf Die glorreichen Sieben ansprach und fragte, ob ich diesen Film schon gesehen habe. »Ja, dreizehnmal«, antwortete ich. »Darin geht es Charles Bronson an den Kragen. Und auch James Coburn und Robert Vaughn müssen dran glauben.« Er verzog das Gesicht, als hätte ich ihm soeben in die Cola gespuckt. »Besten Dank, Mann«, sagte er kopfschüttelnd und brummelte im Weggehen irgendetwas vor sich hin. An diesem Tag lernte ich, dass man Amerikanern niemals den Ausgang eines Films verraten darf, es sei denn, man will sie ärgern. Das Ende vorwegzunehmen gehört sich einfach nicht.

In Afghanistan kommt alles auf das Ende an. Sooft Hassan und ich einen Hindi-Film gesehen hatten und nach Hause zurückkehrten, wollten es alle, die bei uns ein und aus gingen, immer ganz genau wissen: Hat die junge Frau am Ende ihr Glück gefunden? Würden die Träume des bacheh film, des Filmhelden, in Erfüllung gehen, oder war er nahkam, zum Scheitern verurteilt?

Jeder wollte wissen, ob das Ende glücklich war oder nicht. Wenn mich heute jemand fragte, ob die Geschichte von Hassan, Suhrab und mir ein glückliches Ende gefunden hat, wüsste ich nicht, was ich darauf antworten sollte. Wer könnte das schon sagen?

Das Leben ist schließlich kein Hindi-Film. Zendagi migzara, heißt es unter Afghanen: Das Leben geht weiter; unabhängig von Ausgang oder Ende, ungeachtet aller Klippen und Krisen, bewegt es sich langsam voran wie eine Karawane.

Ich weiß auf diese Frage keine Antwort. Daran ändert auch das kleine Wunder nichts, das sich letzten Sonntag zugetragen hat.

Vor etwa sieben Monaten, an einem warmen Tag im August 2001, kamen wir zu Hause an. Soraya holte uns vom Flughafen ab. Nie zuvor war ich so lange von meiner Frau getrennt gewesen, und als sie sich mir an die Brust warf, als ich in ihrem Haar den Duft von Äpfeln wahrnahm, wurde mir richtig bewusst, wie sehr ich sie vermisst hatte. »Du bist immer noch die Morgensonne meines yelda«, flüsterte ich. »Was?«

»Ach, nichts.« Ich drückte ihr einen Kuss aufs Ohr.

Sie ging in die Hocke, um Suhrab auf gleicher Höhe in die Augen zu schauen. Lächelnd ergriff sie seine Hand. »Salaam, Suhrab jan, ich bin deine Khala Soraya. Wir haben dich schon sehnsüchtig erwartet.«

Als ich sah, wie sie den Jungen anlächelte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen, bekam ich eine Ahnung davon, was für eine gute Mutter sie hätte sein können.

Suhrab trat von einem Fuß auf den anderen und schaute zu Boden.

Soraya hatte aus dem Arbeitszimmer im Obergeschoss ein Schlafzimmer für Suhrab gemacht. Die hellblaue Bettwäsche war mit bunten Papierdrachen gemustert. Neben dem Kleiderschrank hatte sie eine Messlatte an der Wand befestigt, mit der sich das Wachstum von Kindern verfolgen ließ. Am Fuß des Bettes sah ich einen Weidenkorb mit Büchern, einer Lokomotive und Wassermalfarben.

Suhrab trug das weiße T-Shirt und die Jeans, die ich ihm in Islamabad kurz vor unserem Abflug gekauft hatte. Das T-Shirt hing lose von seinen knochigen, eingezogenen Schultern herab. Abgesehen von den dunklen Augenrändern, war sein Gesicht immer noch ohne Farbe. Er betrachtete uns mit derselben ausdruckslosen Miene, mit der er auch das Essen betrachtet hatte, das ihm im Krankenhaus vorgesetzt worden war.

Soraya fragte, ob ihm das Zimmer gefalle, und ich merkte, dass ihr Blick immer wieder unwillkürlich auf die rosafarbenen Narben an Suhrabs Handgelenken fiel. Suhrab setzte sich auf die Bettkante, versteckte die Hände unter den Oberschenkeln und senkte den Kopf. Nach einer Weile legte er den Kopf aufs Kissen. Dann, kaum fünf Minuten später, fing er leise zu schnarchen an.

Auch wir gingen zu Bett. Es dauerte nicht lange, und Soraya war in meinen Armen eingeschlafen. Ich konnte wieder einmal keine Ruhe finden und lag im Dunkeln da, allein mit meinen Dämonen.

Irgendwann mitten in der Nacht stand ich leise auf und schlich in Suhrabs Zimmer. Als ich mich über ihn beugte, fiel mir ein Gegenstand auf, der unter dem Kissen hervorlugte. Es war das Polaroidfoto von Rahim Khan, das ich Suhrab an dem Abend vor der Shah-Faisal-Moschee gegeben hatte, dasjenige, auf dem Hassan und Suhrab Seite an Seite zu sehen sind, wie sie, von der Sonne geblendet, blinzeln und lächeln, als wären sie mit sich und der Welt zufrieden. Ich fragte mich, wie lange Suhrab dieses Foto in den Händen gehalten und betrachtet haben mochte.

Dein Vater war hin- und hergerissen, hatte Rahim Khan in seinem Brief geschrieben. Zwischen mir, dem gesellschaftlich anerkannten, legitimen Nachfolger und ahnungslosen Erben seiner Schuld auf der einen und Hassan auf der anderen Seite, jenem Teil von ihm, der, wenngleich ohne Privilegien und Ansehen, all das geerbt hatte, was an Baba rein und edel gewesen war. Möglich, dass Baba im tiefsten Grunde seines Herzens nicht mich, sondern ihn für seinen wahren Sohn gehalten hatte.

Ich steckte das Foto unter das Kissen zurück. Plötzlich fiel mir noch etwas auf: nämlich, dass mich dieser letzte Gedanke gar nicht mehr schmerzte. Ich zog die Tür zu Suhrabs Zimmer hinter mir zu und fragte mich, ob womöglich gerade auf diese Weise Versöhnung zustande kommt - eben nicht mit dem Fanfarenstoß göttlicher Inspiration, sondern ganz heimlich, wenn der Schmerz nachlässt und sich unversehens mitten in der Nacht davonmacht.

Am nächsten Tag kamen der General und Khala Jamila zum Abendessen. Khala Jamila, die Haare kürzer und dunkler als sonst, hatte den Nachtisch mitgebracht: maghout mit Mandelkruste. Als sie Suhrab sah, ging ein Strahlen über ihr Gesicht. »Mashallah! Soraya jan hat zwar schon davon geschwärmt, wie hübsch du bist, aber in Wirklichkeit bist du noch viel hübscher, Suhrab jan.« Sie reichte ihm einen blauen Rollkragenpullover. »Den hab ich für dich gestrickt«, sagte sie. »Für den nächsten Winter. Hoffentlich passt er, inshallah.«

Suhrab nahm den Pullover entgegen.

»Hallo, junger Mann.« Mehr wusste der General nicht zu sagen. Er stützte sich mit beiden Händen auf seinen Stock und musterte Suhrab wie einen ungewöhnlichen Einrichtungsgegenstand im Haus eines Freundes.

Während Soraya und ihre Mutter den Tisch deckten, setzte ich mich mit dem General ins Wohnzimmer. Ich berichtete ihm von Kabul und den Taliban. Er hatte den Stock auf seinen Schoß gelegt und hörte zu, nickte zumeist, schüttelte aber den Kopf, als ich ihm von dem Mann erzählte, der seine Beinprothese verkauft hatte. Uber die Exekutionen im Stadion und den Henker Assef verlor ich kein Wort. Er erkundigte sich nach Rahim Khan, dem er in Kabul ein paarmal begegnet war, und zeigte sich betroffen, als ich sagte, dass Rahim Khan sehr krank sei. Im weiteren Verlauf des Gesprächs fiel mir auf, dass sein Blick ein ums andere Mal auf Suhrab fiel, der schlafend auf der Couch lag. Ich hatte den Eindruck, als redeten wir um den heißen Brei herum.

Bei Tisch kam dann der General endlich auf den Punkt. Er legte die Gabel hin und sagte: »Amir jan, erkläre uns doch bitte, warum du diesen Jungen zu dir ins Haus geholt hast?«

»Iqbal jan, was für eine Frage«, sagte Khala Jamila.

»Während du, meine Liebe, fleißig Pullover strickst, habe ich mich um das öffentliche Ansehen unserer Familie zu kümmern. Man wird Fragen stellen. Man wird wissen wollen, warum ein Hazara-Junge im Haus unserer Tochter wohnt. Was werde ich auf solche Fragen antworten?«

Soraya ließ ihr Besteck fallen. Wandte sich an ihren Vater. »Das kann ich dir sagen ...« »Lass gut sein, Soraya«, fiel ich ihr ins Wort und nahm ihre Hand. »Lass gut sein. Der General hat Recht. Die Leute werden fragen.« »Amir ...«

»Schon gut.« Ich wandte mich dem General zu. »Mein Vater hat mit der Frau seines Dieners geschlafen. Sie brachte einen Sohn zur Welt und nannte ihn Hassan. Hassan ist inzwischen tot. Der Junge, der da auf der Couch liegt und schläft, ist Hassans Sohn. Er ist mein Neffe. Das darf jeder wissen.«

Meine Schwiegereltern starrten mich fassungslos an.

»Aber da ist noch etwas, General Sahib«, ergänzte ich. »Ich verbitte mir, dass Sie ihn in meiner Gegenwart noch einmal als >Hazara-Jungen< bezeichnen. Er hat einen Namen und heißt Suhrab.«

Das ganze Essen über blieb es still am Tisch.

Es wäre falsch zu behaupten, dass Suhrab ruhig war. Ruhe ist Frieden. Gelassenheit. Ruhe kehrt ein, wenn der Lautstärkeregler des Lebens heruntergedreht wird. Stille heißt, es ist alles ausgeschaltet.

Suhrab schwieg nicht aus Protest. Er hatte sich zurückgezogen und suchte in der Stille Deckung.

Von einem Zusammenleben mit ihm konnte keine Rede sein. Er nahm gewissermaßen nur Raum ein, und davon herzlich wenig. Wenn wir unterwegs waren, auf dem Markt oder im Park etwa, fiel auf, dass andere Leute kaum Notiz von ihm nahmen. Es schien, als wäre er gar nicht zugegen. Manchmal kam es vor, dass ich von der Zeitung aufblickte und plötzlich zu meiner Überraschung feststellte, dass Suhrab mir gegenübersaß. Seine Art zu gehen vermittelte den Eindruck, als scheute er sich, Spuren zu hinterlassen. Kaum dass sich ein Lüftchen rührte, wenn er sich bewegte. Meist schlief er.

Seine Stille machte Soraya schwer zu schaffen. In unseren Ferngesprächen zwischen Amerika und Pakistan hatte sie jede Menge Pläne für Suhrab gemacht. Da war von Schwimmunterricht die Rede gewesen, von Fußball, von Bowling. Doch wenn sie jetzt in sein Zimmer trat und feststellte, dass von den Büchern im Weidenkorb kein einziges geöffnet, die Messlatte ohne jede Eintragung und das Holzpuzzle immer noch eingepackt war, sah sie sich jedes Mal mit enttäuschten Erwartungen konfrontiert. Ihre Hoffnungen schwanden, kaum dass sie aufgekeimt waren. Und mir ging es ganz ähnlich. Auch ich hatte mir anderes erhofft.

Suhrab schwieg, nicht so die Welt. An einem Dienstagmorgen im September des vergangenen Jahres stürzten die Türme des World Trade Center ein, und über Nacht wurde alles anders. Überall sah man plötzlich das Sternenbanner: an den Antennen der Taxis, an den Revers der Passanten auf den Gehwegen, selbst an den speckigen Mützen der Bettler von San Francisco, die unter den Markisen der kleinen Kunstgalerien und offenen Läden saßen. Eines Tages kam ich an Edith vorbei, einer obdachlosen Frau, die Tag für Tag an der Ecke Sutter und Stockton Akkordeon spielte. Auf ihrem Instrumentenkoffer klebte die amerikanische Flagge.

Bald darauf wurde Afghanistan von Amerika bombardiert. Truppen der Nordallianz rückten ein, und die Taliban verkrochen sich wie Ratten in ihre Höhlen. Die Namen der Städte meiner Kindheit - Kandahar, Herat, Mazar-e-Sharif - waren plötzlich in aller Munde. Vor vielen, vielen Jahren hatte Baba einmal mit Hassan und mir eine Fahrt nach Kunduz unternommen. Mir ist nur wenig davon in Erinnerung geblieben, nicht viel mehr als das Bild, wie wir, im Schatten einer Akazie sitzend, abwechselnd aus einem Keramikbecher den frischen Saft einer Wassermelone trinken und mit den Kernen um die Wette weitspucken. Jetzt hörte man im Café an der Ecke, wie sich Gäste über Kunduz als die letzte Talibanbastion im Norden unterhielten.

Im Dezember trafen sich Paschtunen, Tadschiken, Usbeken und Hazara in Bonn, um unter Beobachtung der Vereinten Nationen einen Friedensprozess in Gang zu setzen, der dem unseligen, seit über zwanzig Jahren herrschenden Unglück in ihrem watan ein Ende setzen sollte. Hamid Karzais Pelzkappe und grüner chapan machten Mode.

Suhrab bekam von alledem nichts mit.

Soraya und ich engagierten uns für Afghanistan-Projekte, nicht nur, weil wir uns als Bürger dazu aufgerufen fühlten; es ging uns vor allem auch darum, diese Stille in unserem Haus auszufüllen, die wie ein schwarzes Loch alles in sich aufzusaugen drohte. Ich war nie besonders aktiv gewesen, machte aber dann die Bekanntschaft mit einem Mann namens Kabir, einem ehemaligen afghanischen Botschafter in Sofia, der mich bat, an einem Krankenhausprojekt mitzuwirken. Ich erklärte mich einverstanden. Das Krankenhaus, um das es ging, lag in Rawalpindi, nahe der afghanisch-pakistanischen Grenze, und war mit einer kleinen chirurgischen Abteilung ausgestattet, in der Opfer von Landminen versorgt werden konnten. Es hatte aus finanziellen Gründen dichtmachen müssen. Mir übertrug man nun die Aufgabe der Geldbeschaffung, hoffte auf meine Reputation als Schriftsteller. Die meiste Zeit des Tages brachte ich in meinem Arbeitszimmer zu, korrespondierte mit Leuten auf der ganzen Welt, beantragte Fördermittel und organisierte Sponsorenveranstaltungen. Und redete mir unverdrossen weiter ein, dass es richtig gewesen war, Suhrab zu mir zu holen.

Den Silvesterabend verbrachten Soraya und ich auf dem Sofa; wir hatten uns eine Decke über die Beine gelegt und sahen fern: eine Show mit Dick Clark. Unter großem Gejohle zersprang die silberne Kugel, und alles verschwand im weißen Konfettiwirbel. Bei uns zu Hause fing das neue Jahr genauso an, wie das alte geendet hatte. In Stille.

Dann, vor knapp einer Woche, an einem kühlen, regnerischen Märztag im Jahre 2002, ereignete sich ein kleines Wunder.

Ich fuhr mit Soraya, Khala Jamila und Suhrab zu einem Treffen afghanischer Landsleute im Lake Elizabeth Park in Fremont. Der General war im Vormonat für einen Ministerposten nach Afghanistan geholt worden und seit zwei Wochen in Kabul. Khala Jamila sollte nachkommen, sobald er sich eingerichtet haben würde. Sie vermisste ihn sehr und machte sich große Sorgen um seine Gesundheit. Wir hatten darauf bestanden, dass sie bis auf weiteres bei uns wohnte.

Am voraufgegangenen Donnerstag war Frühlingsanfang gewesen, nach afghanischem Kalender Neujahr - Sawl-e-nau -, und der wurde unter den an der East Bay und auf der Halbinsel lebenden Afghanen groß gefeiert. Kabir, Soraya und ich hatten einen weiteren Grund zur Freude: Unser kleines Krankenhaus in Rawalpindi hatte vor einer Woche wieder aufgemacht, wenn auch fürs Erste nur mit einer pädiatrischen Abteilung. Es war nach Einschätzung aller dennoch ein guter Anfang.

Tagelang hatte die Sonne geschienen, doch als ich am Sonntagmorgen erwachte, klatschten schwere Regentropfen an die Fensterscheibe. Afghanisches Glück, dachte ich und schmunzelte in mich hinein. Während Soraya noch schlief, hielt ich mein allmorgendliches namaz - wozu ich das von der Moschee zur Verfügung gestellte Gebetbuch nicht mehr nötig hatte. Inzwischen konnte ich die Suren auswendig.

Gegen Mittag waren wir vor Ort und trafen nur eine Hand voll Leute an, die unter einer großen, zwischen sechs Zeltstangen aufgespannten Plastikplane Schutz gefunden hatten. Irgendjemand briet bolani. In einem Topf schmorte Blumenkohl, und aus den Teetassen stieg Dampf auf. Aus einem Kassettenrecorder dröhnte ein altes Lied von Ahmad Zahir. Ich musste lachen, als wir zu viert über den aufgeweichten Rasen auf die kleine

Festtagsgesellschaft zugingen, Soraya und ich vornweg, Khala Jamila in der Mitte und Suhrab als Schlusslicht. Die Kapuze seines gelben Regenmantels war ihm in den Nacken gerutscht.

»Was ist denn so komisch?«, fragte Soraya, die eine gefaltete Zeitung über den Kopf hielt.

»Man kann Afghanen aus Paghman herausholen, aber eine Handvoll Afghanen macht noch lange kein Paghman«, antwortete ich.

Wir traten unter das provisorische Zeltdach. Soraya und Khala Jamila steuerten auf eine schwergewichtige Frau zu, die in einer Pfanne Spinat-bolani briet. Nach nur kurzem Aufenthalt unter dem Zeltdach kehrte Suhrab, die Hände tief in die Taschen seines Mantels gestopft, in den Regenschauer zurück. Sein Haar, das inzwischen so braun und glatt geworden war wie das von Hassan, klebte ihm an der Kopfhaut. Vor einer Pfütze blieb er stehen und starrte in das kaffeebraune Wasser. Niemand schien auf ihn zu achten. Niemand rief ihn zurück. In letzter Zeit waren die neugierigen Fragen nach unserem adoptierten und so absonderlichen Jungen deutlich seltener geworden, was uns sehr erleichterte, zumal in afghanischen Kreisen Erkundigungen dieser Art ausgesprochen taktlos sein können. Es fragte keiner mehr, warum er denn nicht spreche und mit anderen Kindern spiele. Noch erfreulicher war, dass man aufhörte, ihm mit übertriebenem Mitleid zu begegnen, mit kopfschüttelndem Bedauern und Ausrufen wie »Oh gung bichara!« Oh, der arme kleine Stumme.

Ich begrüßte Kabir, und er stellte mich mehreren Männern vor, unter anderem einem pensionierten Lehrer, einem Ingenieur, einem ehemaligen Architekten und einem ehemaligen Arzt, der jetzt in Hayward Hotdogs verkaufte. Sie alle kannten meinen Vater noch aus Kabul und äußerten sich sehr respektvoll über ihn. Er hatte auf die eine oder andere Weise mit jedem von ihnen zu tun gehabt. Sie meinten, dass ich mich glücklich schätzen dürfe, einen so großen Mann zum Vater gehabt zu haben.

Wir unterhielten uns über Karzai, über die schwierige und undankbare Aufgabe, die er übernommen hatte. Auch von der neu gebildeten Loya Jirga war die Rede und von der bevorstehenden Rückkehr des Königs nach 28-jährigem Exil. Ich erinnerte mich an die Nacht im Jahre 1973, als Zahir Shah von seinem Cousin vom Thron gestürzt worden war; ich erinnerte mich an das Gewehrfeuer und den silbern leuchtenden Himmel - Ali hatte mich und Hassan in die Arme genommen und uns mit den Worten beruhigt, dass da draußen nur auf Enten geschossen werde.

Irgendjemand erzählte dann einen Hodscha-Nasreddin-Witz, und alle lachten. »Übrigens«, sagte Kabir, »dein Vater war auch ein sehr komischer Mann.«

»Ja, das war er«, bestätigte ich schmunzelnd und dachte daran, wie sich Baba kurz nach unserer Ankunft in Amerika abfällig über »US-Fliegen« ausgelassen hatte. Mit einer Fliegenklatsche in der Hand hatte er am Tisch gesessen und den hektischen, wirren Flugmanövern der kleinen Insekten zugesehen. »In diesem Land haben nicht einmal die Fliegen Zeit«, beklagte er sich, worüber ich herzhaft hatte lachen müssen. Noch bei der Erinnerung schmunzelte ich.

Gegen drei Uhr ließ der Regen nach. Der grau bewölkte Himmel lockerte ein wenig auf. Eine kühle Brise wehte durch den Park. Es kreuzten weitere Familien auf. Man begrüßte einander, umarmte, küsste sich, teilte mitgebrachte Speisen. Jemand sorgte für ein Holzkohlenfeuer, und bald duftete es herrlich nach Knoblauch und Fleischspießen. Es wurde auch musiziert und gesungen. Ich suchte Suhrab und sah ihn in seinem gelben Regenmantel an einen Mülleimer gelehnt, den Blick auf ein mit Maschendraht umzäuntes Baseballtrainingsfeld.

Ich unterhielt mich gerade mit dem ehemaligen Arzt, von dem ich erfuhr, dass er und Baba im achten Schuljahr Klassenkameraden gewesen waren, als mich Soraya am Ärmel zupfte. »Amir, sieh nur!«

Sie zeigte zum Himmel hinauf. Fünf, sechs Papierdrachen standen hoch oben in der Luft, leuchtend gelbe, rote und grüne Flecken vor grauen Wolken.

»Erkundige dich doch mal«, meinte Soraya, zeigte auf eine Bude in der Nähe, wo es offenbar Drachen zu kaufen gab.

Ich reichte Soraya meine Tasse Tee, entschuldigte mich bei meinem Gesprächspartner und ging auf den Verkaufsstand zu. Davor angekommen, deutete ich auf einen gelben seh-parcha. »Sawl-e-nau mubarak«, sagte der Verkäufer und gab mir für meine 20 Dollar den verlangten Drachen samt hölzerner Spule Glas-tar. Ich bedankte mich und wünschte ihm ebenfalls ein glückliches neues Jahr. Zwischen Daumen und Zeigefinger prüfte ich die Schnur, wie wir es früher immer getan hatten, Hassan und ich. Der Verkäufer sah schmunzelnd zu, wie ich mir die Finger an den feinen Glassplittern aufritzte und blutig machte.

Ich eilte mit dem Drachen zu Suhrab, der immer noch an dem Mülleimer lehnte, die Arme auf der Brust verschränkt. Er blickte zum Himmel hinauf.

»Wie findest du den seh-parcha?«., fragte ich und hielt den Drachen, am Leistenkreuz gepackt, in die Höhe. Er bedachte mich nur mit einem flüchtigen Blick und schaute wieder in den Himmel. Regenwasser tropfte ihm aus den Haaren und rann über sein Gesicht.

»Ich habe irgendwo einmal gelesen, dass man in Malaysia mit Drachen Fische fängt«, sagte ich. »Ich wette, das wusstest du noch nicht. Man befestigt eine Angelschnur am Drachen und lässt ihn überm Wasser schweben, so hoch, dass er keinen Schatten wirft und die Fische nicht verschreckt. Im alten China hat man sogar auf Schlachtfeldern Drachen steigen lassen, um den eigenen Truppen Zeichen zu geben. Das ist wahr. Ich binde dir keinen Bären auf.« Ich zeigte ihm meinen blutigen Daumen. »Die Schnur ist tipptopp.«

Aus dem Augenwinkel registrierte ich, dass Soraya uns vom Zelt aus beobachtete. Im Unterschied zu mir hatte sie es aufgegeben, Suhrab zu animieren. Die unbeantworteten Fragen, seine ausdruckslosen Blicke, das Schweigen - all das schmerzte sie zu sehr. Sie hielt sich selbst zurück und hoffte darauf, das Suhrab irgendwann einen Schritt auf sie zumachen würde.

Ich befeuchtete meinen Zeigefinger und hielt ihn in die Luft. »Ich weiß noch: Um die Windrichtung zu bestimmen, hat dein Vater immer mit seinen Sandalen Staub aufgewirbelt. Er hatte jede Menge Tricks auf Lager«, sagte ich. »Ich glaube, der Wind kommt von Westen.«

Suhrab wischte sich mit dem Daumen einen Regentropfen vom Ohrläppchen und verlagerte sein Gewicht von dem einen auf das andere Bein. Es war ihm kein Wort zu entlocken. Ich dachte an den Dialog zwischen Soraya und mir vor einigen Wochen, als sie mich gefragt hatte, wie seine Stimme klinge, und ich hatte antworten müssen, dass ich mich nicht mehr daran erinnerte.

»Habe ich dir schon erzählt, dass dein Vater der beste Drachenläufer im Wazir-Akbar-Khan-Viertel war? Wenn nicht sogar der beste von ganz Kabul?« Ich knotete das lose Ende der aufgewickelten Schnur an den Zügel des Drachen. »Die Nachbarskinder waren alle neidisch auf ihn. Wenn er einem Drachen folgte, brauchte er gar nicht zum Himmel aufzublicken. Die Leute sagten, dass er dem Schatten des Drachen nachjage. Was aber überhaupt nicht stimmte. Dein Vater jagte keine Schatten. Er wusste einfach, wohin und wie weit er laufen musste.«

Es waren inzwischen noch mehr Drachen aufgestiegen. Die Festgesellschaft versammelte sich in kleinen Gruppen. In der Hand eine Tasse Tee, beobachteten alle das Schauspiel am Himmel.

»Wie wär's, wenn du mir dabei hilfst, diesen Drachen steigen zu lassen?«, fragte ich Suhrab.

Er warf einen Blick auf mich, dann auf den Drachen.

»Okay.« Ich zuckte mit den Achseln. »Dann muss ich ihn wohl tanhaii fliegen lassen.« Allein.

Die Spule in der linken Hand, wickelte ich einen Meter Schnur ab und ließ den gelben Drachen daran baumeln, dicht über dem nassen Gras. »Letzte Chance«, sagte ich, doch Suhrab hatte seinen Blick auf zwei Drachen geheftet, die hoch über den Bäumen einander attackierten.

»Na schön. Dann mal los.« Ich rannte los, stampfte mit meinen Halbschuhen durch Matsch und Pfützen und hielt die Schnur am ausgestreckten Arm. Es war nach vielen, vielen Jahren der erste Versuch dieser Art, und ich fürchtete schon, mich lächerlich zu machen. In der linken Hand ließ ich die Spule abrollen und spürte die Schnur durch die rechte schießen. Der Drachen stieg, taumelte, und ich lief schneller, gab immer mehr Schnur nach, ohne darauf zu achten, dass sie mir eine Wunde in den Handteller schlitzte. Schließlich blieb ich stehen und drehte mich um. Schaute nach oben. Lächelnd. Mein Drachen stand hoch am Himmel, schwang wie ein Pendel hin und her und gab jene flappenden Geräusche von sich, mit denen ich seit eh und je Wintervormittage in Kabul assoziierte. Seit einem Vierteljahrhundert hatte ich keinen Drachen mehr steigen lassen, doch plötzlich war ich wieder zwölf Jahre alt, und all die Instinkte von damals meldeten sich von selbst zurück.

Als ich mich umdrehte, sah ich, dass Suhrab mir gefolgt war. Er stand neben mir, die Hände tief in den Taschen.

»Willst du's mal versuchen?«, fragte ich. Eine Antwort blieb aus. Als ich ihm aber die Schnur reichte, zog er eine Hand aus der Tasche. Zögerte. Nahm dann die Schnur entgegen. Mein Herz machte einen Sprung. Schweigend standen wir Seite an Seite, die Köpfe in den Nacken gelegt. Verfolgten unseren Drachen

Um uns herum tollten Kinder, schlitterten über den nassen Rasen. Irgendjemand spielte das Motiv einer alten Hindi-Filmmusik. Ein paar ältere Männer hatten sich der Reihe nach zum nachmittäglichen namaz auf Plastikfolien niedergelassen. In der Luft hing ein Duftgemisch aus nassem Gras, Rauch und gegrilltem Fleisch. Ich wünschte, die Zeit würde stillstehen.

Dann bemerkte ich, dass wir Gesellschaft bekamen. Ein grüner Drachen kam uns bedrohlich nahe. Ich folgte mit den Augen seiner Schnur und sah, rund dreißig Schritt von uns entfernt, einen Jungen mit kurz geschorenen Haaren und einem T-Shirt mit der Aufschrift »The Rock Rules« stehen. Er sah meinen Blick auf sich gerichtet und grinste. Winkte mir zu. Ich winkte zurück.

Suhrab reichte mir die Schnur.

»Bist du sicher?«, sagte ich.

Er nahm stattdessen die Spule.

»Okay«, sagte ich. »Wir sollten ihm ein sabagh geben, eine Lektion erteilen. Was meinst du?« Ich warf ihm einen Blick zu. Der glasige, leere Ausdruck in seinen Augen war plötzlich verschwunden. Hellwach und voll konzentriert beobachtete er die beiden Drachen, unseren gelben und den grünen des Jungen. Vor Erregung hatten sich seine Wangen ein wenig gerötet. Ich hatte, wie mir jetzt bewusst wurde, ganz vergessen, dass er trotz allem immer noch ein Kind war.

Der grüne Drachen griff an. »Jetzt bloß nicht die Nerven verlieren«, sagte ich. »Wir lassen ihn noch ein bisschen rankommen.« Er sackte ein Stück tiefer und rückte immer näher. »Na, komm doch. Komm zu mir«, flüsterte ich.

Der grüne Drachen stieg wieder ein Stück, sodass er nun schräg über dem unseren schwebte. Der Junge am anderen Ende der Schnur ahnte offenbar nicht, dass er mir in die Falle tappte. »Pass auf, Suhrab. Ich zeige dir jetzt einen Lieblingstrick deines Vaters.«

Neben mir atmete Suhrab schnell und in flachen Stößen durch die Nase. Er hielt die Spule fest gepackt. Unter der vernarbten Haut seiner Handgelenke traten die Sehnen wie Kordeln zum Vorschein. Einen Moment lang sah ich die Hände eines Jungen mit Lippenspalte vor mir, die Schwielen und aufgerissenen Nägel. Ich hörte eine Krähe krächzen und schaute nach oben. Geblendet vom Licht, wähnte ich mich in eine verschneite Parklandschaft versetzt und glaubte, dicke weiße Flocken von den Zweigen der Bäume rieseln zu sehen. Ich roch Steckrüben. Getrocknete Maulbeeren. Orangen. Sägemehl und Walnüsse. Die Stille im schalldämpfenden Schnee war betäubend. Dann hörte ich jenseits dieser Stille einen Ruf aus der Ferne, die Stimme eines Mannes, der sein rechtes Bein hinter sich herzog.

Der grüne Drachen stand jetzt direkt über dem unseren. »Er will's wissen. Gleich ist es so weit«, sagte ich, wieder ganz bei der Sache.

Der grüne Drachen zögerte. Verharrte in der Luft. Stieß dann herab. »Jetzt!«, rief ich.

Mein Konter war perfekt. Und das nach all den Jahren. Ich zerrte kurz an der Schnur und ließ unseren Drachen unter dem grünen Angreifer wegtauchen, um ihn gleich darauf mit einer schnellen Folge von präzisen, seitlich geführten Zügen wieder aufsteigen zu lassen. Plötzlich war mein Drache zuoberst. Mein Gegner verhaspelte sich, und ehe er reagieren konnte, hatte ich mir Hassans Trick zunutze gemacht. Ich zog an der Schnur und ließ unseren Drachen nach unten stürzen, konnte fast spüren, wie unsere Schnur die des anderen durchsägte, meinte hören zu können, wie sie entzweiriss.

Außer Kontrolle geraten, trudelte und kreiste der grüne Drachen in die Tiefe.

Hinter uns wurde Beifall laut. Ein Pfeifen und Gejohle. Ich schnappte nach Luft. Einen Gefühlsansturm dieser Art hatte ich seit dem Winter 1975 nicht mehr verspürt, als es mir gelungen war, den letzten Drachen zu schneiden, als ich Baba applaudieren und mit strahlendem Gesicht auf dem Dach stehen sah.

Ich schaute auf Suhrab. Ein Mundwinkel war ein kleines bisschen nach oben gezogen.

Ein schiefes Lächeln.

Nur eine Andeutung. Aber es war da.

Hinter uns wurde es laut. Eine Horde schreiender Kinder rannte dem gekappten Drachen nach, der hoch über den Bäumen davonsegelte. Ehe ich mich versah, war das Lächeln wieder verschwunden. Aber es war da gewesen. Ich hatte es gesehen.

»Willst du, dass ich dir den Drachen hole?«

Er schluckte, und sein Kehlkopf sprang auf und ab. Der Wind fuhr ihm durchs Haar. Ich glaubte zu sehen, dass er nickte.

»Für dich - tausendmal«, hörte ich mich selbst antworten. Dann drehte ich mich um und rannte los.

Es war nur ein Lächeln gewesen, nicht mehr. Aber wahrhaftig nicht gering zu schätzen. Nicht, dass sich nun alles plötzlich zum Guten gewendet hätte. Es war nur ein Lächeln gewesen. Ein Blatt im Wald, leicht bewegt im Sog eines vorbeifliegenden Vogels.

Doch ich nehme es an. Mit offenen Armen. Denn wenn der Frühling kommt, schmilzt der Schnee Flocke für Flocke, und vielleicht war das, was ich soeben gesehen hatte, das Schmelzen der allerersten gewesen.

Ich rannte los. Ein erwachsener Mann inmitten einer Schar schreiender Kinder. Doch das kümmerte mich nicht. Ich lief schneller als der Wind und mit einem Lächeln auf den Lippen, breiter als das Panjshir-Tal.

Ich rannte.