Ich schenkte ihm Tee nach, und Rahim Khan sprach weiter. Vieles wusste ich bereits, einiges nicht. Er erzählte mir, dass er seit 1981 in Babas Haus gelebt hatte, wie es mit meinem Vater vereinbart gewesen war. Daran erinnerte ich mich. Baba hatte Rahim Khan das Haus kurz vor unserer Flucht aus Kabul »verkauft«. Damals hatte Baba die Schwierigkeiten Afghanistans lediglich als vorübergehende Unterbrechung unseres Lebensstils angesehen und daran geglaubt, dass die Tage der Partys in dem Haus im Wazir-Akbar-Khan-Viertel und die Picknick-Ausflüge nach Paghman gewiss wiederkehren würden. Daher hatte er das Haus Rahim Khan gegeben, damit er so lange darauf aufpasste.

Nun erzählte mir Rahim Khan, wie in Kabul nach der Einnahme durch die Nordallianz in der Zeit von 1992 bis 1996 verschiedene Gruppen verschiedene Teile der Stadt für sich beansprucht hatten.

»Wenn man vom Shar-e-Nau-Viertel ins Kerteh-Parwan-Viertel gehen wollte, um einen Teppich zu kaufen, riskierte man, von einem Heckenschützen erschossen oder von einer Rakete getroffen zu werden - wenn man es überhaupt schaffte, an all den Kontrollpunkten vorbeizukommen. Man brauchte praktisch ein Visum, um von einem Viertel in das andere zu gelangen. Also blieben die Leute, wo sie waren, und beteten, dass die nächste Rakete nicht ihr Haus treffen möge.« Er erzählte mir, wie die Menschen Löcher in die Wände ihrer Häuser schlugen, damit sie die gefährlichen Straßen umgehen und einen Häuserblock weit gelangen konnten, indem sie sich von Loch zu Loch bewegten. In anderen Stadtteilen gelangten sie durch unterirdische Tunnel vorwärts.

»Warum bist du denn nicht weggegangen?«, fragte ich.

»Kabul war für mich die Heimat. Ist es immer noch.« Er kicherte. »Erinnerst du dich noch an die Straße, die von eurem Haus zur Qishla, der Militärkaserne neben der Istiqlal Schule, verlief?«

»Ja.« Das war unsere Abkürzung zur Schule gewesen. Ich erinnerte mich noch an den Tag, als Hassan und ich sie genommen und die Soldaten Hassan wegen seiner Mutter aufzogen hatten. Hassan hatte später im Kino geweint, und ich hatte den Arm um ihn gelegt.

»Als die Taliban hereinrollten und die Allianz aus Kabul hinauswarfen, habe ich tatsächlich auf dieser Straße getanzt«, sagte Rahim Khan. »Und ich war nicht allein, das kannst du mir glauben. Die Leute feierten in Chaman, in Deh-Mazang, sie begrüßten die Taliban auf den Straßen, kletterten auf ihre Panzer und posierten mit ihnen vor den Kameras. Die Menschen waren die andauernden Kämpfe, die Raketen, das Geschützfeuer, die Explosionen so leid, und sie waren es auch leid, zusehen zu müssen, wie Gulbuddin und seine Kohorten auf alles schössen, was sich bewegte. Die Allianz hat Kabul mehr geschadet als die Shorawi. Sie haben auch das Waisenhaus deines Vaters zerstört, wusstest du das eigentlich?«

»Aber warum denn nur?«, fragte ich. »Warum zerstört jemand ein Waisenhaus?« Ich konnte mich noch daran erinnern, wie ich am Tag der Eröffnung hinter Baba gesessen hatte. Wie ihm der Wind den Hut aus Karakulfell vom Kopf geweht hatte und die Leute in Lachen ausgebrochen waren und wie sie, nachdem er seine Rede beendet hatte, aufgestanden waren und Beifall geklatscht hatten. Und jetzt war es nur noch ein Schutthaufen unter vielen. All das Geld, das Baba darauf verwandt hatte, all die Nächte, in denen er über den Plänen geschwitzt hatte, all die Besuche auf der Baustelle, um sicherzustellen, dass jeder Stein, jeder Balken, jeder Block genau richtig platziert wurde ...

»Fehltreffer«, sagte Rahim Khan. »Wenn du wüsstest, Amir jan, wie es war, in den Trümmern dieses Waisenhauses zu suchen. Da lagen Leichenteile von Kindern ...«

»Und als dann die Taliban kamen ...«

»Waren sie Helden«, sagte Rahim Khan.

»Endlich Frieden.«

»Ja, die Hoffnung stirbt ja nie, nicht wahr? Endlich Frieden. Aber zu welchem Preis?« Rahim Khan bekam einen schrecklichen Hustenanfall, der seinen abgezehrten Körper schüttelte. Als er in sein Taschentuch spuckte, zeigten sich darin rote Flecken. Ich fand, dass nun der Moment gekommen war, die Frage zu stellen, die ich so lange vermieden hatte.

»Wie geht es dir?«, fragte ich. »Aber bitte gib mir eine ehrliche Antwort.«

»Ich sterbe«, erwiderte er mit einer gurgelnden Stimme. Ein weiterer Hustenanfall. Noch mehr Blut im Taschentuch. Er wischte sich den Mund ab, betupfte sich mit dem Ärmel die Stirn von einer eingesunkenen Schläfe zur anderen und warf mir einen Blick zu. Als er nickte, wusste ich, dass er die Frage in meinen Augen gelesen hatte. »Nicht mehr lange«, keuchte er.

»Wie lange?«

Er zuckte mit den Schultern. Hustete wieder. »Ich glaube nicht, dass ich das Ende dieses Sommers noch erleben werde«, sagte er.

»Komm mit mir nach Hause. Ich kann dir einen guten Arzt besorgen. Sie entdecken ständig neue Behandlungsmöglichkeiten. Es gibt neue Medikamente und experimentelle Therapien, ich könnte dafür sorgen, dass man dich aufnimmt...« Ich war mir bewusst, dass ich schwafelte. Aber es war besser, als zu weinen, was ich gewiss ohnehin tun würde.

Er lachte mich aus, und ich konnte sehen, dass ihm die unteren Schneidezähne ausgefallen waren. Noch nie hatte ich jemanden so erschöpft lachen sehen. »Wie ich sehe, hat dich Amerika mit seinem Optimismus, der es so groß gemacht hat, angesteckt. Das ist gut. Wir Afghanen sind melancholische Menschen, nicht wahr? Oft schwelgen wir viel zu sehr in ghamkhori und Selbstmitleid. Wir ergeben uns dem Verlust, dem Leiden, betrachten es als Teil des Lebens, sehen es sogar als etwas Notwendiges an. Zendagi migzara sagen wir, das Leben geht weiter. Aber ich beuge mich nicht etwa dem Schicksal, sondern ich bin einfach nur pragmatisch. Ich habe hier einige gute Ärzte aufgesucht, und sie haben mir alle die gleiche Antwort gegeben. Ich vertraue ihnen. Es gibt so etwas wie den Willen Gottes.«

»Es gibt nur das, was man tut, und das, was man nicht tut.«

Rahim Khan lachte. »Jetzt klingst du wie dein Vater. Ich vermisse ihn so sehr. Aber es ist Gottes Wille, Amir jan. So ist das nun einmal.« Er verstummte für einen Moment.

»Außerdem gibt es noch einen anderen Grund, warum ich dich gebeten habe, hierher zu kommen. Ich wollte dich noch einmal sehen, bevor ich gehen muss, das ist wahr, aber da ist noch etwas anderes.«

»Was auch immer es ist, sag es mir.«

»Ich habe doch all die Jahre in dem Haus deines Vaters gelebt, nachdem ihr fortgegangen seid, nicht wahr?« »Ja.«

»Nun, ich war in der Zeit nicht allein. Hassan hat bei mir gewohnt.«

»Hassan«, sagte ich. Wann hatte ich das letzte Mal seinen Namen ausgesprochen? Die spitzen alten Stacheln der Schuld bohrten sich wieder in mein Fleisch, als hätte das Aussprechen seines Namens einen Bann gebrochen, um sie mich aufs Neue spüren zu lassen. Plötzlich kam mir die Luft in Rahim Khans kleiner Wohnung so stickig vor, so heiß und so erfüllt von den Gerüchen der Straße.

»Ich wollte es dir immer schon einmal schreiben, aber ich war mir nicht sicher, ob du es überhaupt wissen wolltest. Habe ich mich getäuscht?«

Die Wahrheit lautete Nein. Die Lüge hieß Ja. Ich entschied mich für etwas dazwischen. »Ich bin mir nicht sicher.«

Er hustete einen weiteren Blutfleck in sein Taschentuch. Als er den Kopf vorbeugte, um zu spucken, erblickte ich honigfarbene, verkrustete wunde Stellen auf seiner Kopfhaut. »Ich habe dich hierher geholt, um dich um etwas zu bitten. Ich werde dich bitten, etwas für mich zu tun. Aber bevor ich das tue, möchte ich dir von Hassan erzählen. Verstehst du das?« »Ja«, murmelte ich.

»Ich möchte dir von ihm erzählen, und ich möchte, dass du alles erfährst. Wirst du mir zuhören?« Ich nickte.

Rahim Khan nahm ein paar Schlucke von seinem Tee. Dann lehnte er den Kopf an die Wand und begann zu reden.

16

Es gab mehrere Gründe, warum ich 1986 in den Hazarajat reiste, um Hassan zu suchen. Der wichtigste davon war - Allah möge mir verzeihen -, dass ich mich einsam fühlte. Zu der Zeit waren die meisten meiner Freunde und Verwandten entweder umgebracht worden oder nach Pakistan und in den Iran geflüchtet. Ich kannte kaum noch jemanden in Kabul, der Stadt, in der ich mein ganzes Leben gewohnt hatte. Alle waren sie geflohen. Wenn ich im Kerteh-Parwan-Viertel spazieren ging - da, wo früher die Melonenverkäufer ihre Buden hatten, weißt du noch? -, erkannte ich dort niemanden mehr. Niemand, den ich grüßen konnte, niemand, mit dem ich mich hinsetzen und einen chai trinken konnte, niemand, mit dem ich Geschichten austauschen konnte, bloß Roussi-Soldaten, die in den Straßen patrouillierten. Also hörte ich mit der Zeit auf, in der Stadt herumzulaufen. Ich verbrachte meine Tage oben im Arbeitszimmer im Haus deines Vaters, las die alten Bücher deiner Mutter, hörte die Nachrichten im Radio und sah mir die kommunistische Propaganda im Fernsehen an. Ich betete meine namaz, kochte mir etwas, las weiter, betete erneut und ging zu Bett. Am Morgen stand ich auf, betete, und alles ging wieder von vorn los.

Und mit meiner Arthritis wurde es immer schwerer, das Haus instand zu halten. Meine Knie und der Rücken taten ständig weh. Wenn ich morgens aufstand, brauchte ich mindestens eine Stunde, um die Steifheit aus den Gliedern zu schütteln - ganz besonders im Winter. Ich wollte das Haus deines Vaters nicht vor die Hunde gehen lassen; wir alle haben dort früher so viel Spaß gehabt, Amir jan, so viele gute Erinnerungen sind mit ihm verbunden. Es wäre ungerecht gewesen: Dein Vater hat das Haus selbst entworfen, es hat ihm so viel bedeutet, und außerdem hatte ich ihm doch versprochen, darauf aufzupassen, als ihr beide nach Pakistan floht. Nun waren da nur noch ich und das Haus und ... Ich habe wirklich mein Bestes gegeben. Ich habe versucht, die Bäume jeden Tag zu wässern, den Rasen zu schneiden, mich um die Blumen zu kümmern, alles zu reparieren, was repariert werden musste, aber schon damals war ich kein junger Mann mehr.

Dennoch, ich hätte es vielleicht schaffen können. Zumindest noch für eine Weile. Aber als mich dann die Nachricht vom Tode deines Vaters erreichte ... da verspürte ich zum ersten Mal eine schreckliche Einsamkeit in diesem Haus. Eine schreckliche Leere.

Und so füllte ich eines Tages den Tank des Buick und fuhr in den Hazarajat hinauf. Ich wusste noch, dass mir dein Vater nach Alis Entlassung erzählt hatte, dass die beiden in ein kleines Dorf in der Nähe von Bamiyan gezogen waren. Ali hatte dort einen Cousin. Ich hatte keine Ahnung, ob Hassan immer noch bei ihm lebte oder ob irgendjemand etwas über seinen Verbleib wissen würde. Immerhin waren zehn Jahre vergangen, seit Ali und Hassan das Haus deines Vaters verlassen hatten. Hassan war 1986 ja schon ein erwachsener Mann von zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahren - wenn er noch lebte, was ich damals nicht wusste. Die Shorawi - mögen sie in der Hölle schmoren für das, was sie unserem watan angetan haben - hatten so viele unserer jungen Männer umgebracht. Aber das muss ich dir ja nicht sagen.

Doch mit Gottes Hilfe habe ich ihn gefunden. Es war gar nicht so schwer; ich musste nichts weiter tun, als in Bamiyan einige Fragen stellen, und die Leute wiesen mir den Weg zu seinem Dorf. Ich weiß nicht einmal mehr, wie es hieß oder ob es überhaupt einen Namen hatte. Aber ich weiß noch, dass es ein glühend heißer Sommertag war und ich über eine zerfurchte, unbefestigte Straße fuhr, und rechts und links von mir war nichts außer ausgedörrten Büschen, knorrigen, dornigen Baumstämmen und vertrocknetem Gras. Ich führ an einem toten Maultier vorbei, das neben der Straße verweste. Und dann sah ich mit einem Mal mitten in diesem kargen Land eine Ansammlung von Lehmhütten vor mir, und dahinter nichts weiter als den weiten Himmel und Berge, die gezackten Zähnen ähnelten.

Die Leute in Bamiyan hatten mir gesagt, dass er leicht zu finden sei - er lebte in dem einzigen Haus im Dorf, dessen Garten eine Mauer besaß. Die niedrige pockennarbige Lehmmauer umschloss auch ein winziges Haus, das im Grunde nicht mehr war als eine bessere Hütte. Barfüßige Kinder spielten auf der Straße, schlugen mit Stöcken nach einem zottigen Tennisball, und sie starrten zu mir herüber, als ich angefahren kam und den Motor abstellte. Ich klopfte an die Holztür und betrat den Garten, in dem es außer einem verdorrten Erdbeerbeet und einem kahlen Zitronenbaum sehr wenig gab. In einer Ecke, im Schatten einer Akazie, befand sich ein tandoor-Ofen, neben dem ein Mann hockte. Er war damit beschäftigt, Teigstücke, die er vorher gegen die Wände des tandoor schlug, auf einen großen Holzschieber zu legen. Als er mich sah, ließ er den Teig, den er gerade in der Hand hielt, fallen. Ich musste ihn fast zwingen, damit aufzuhören, mir die Hände zu küssen.

»Lass dich ansehen«, sagte ich. Er trat einen Schritt zurück. Er war inzwischen so groß -wenn ich mich auf die Zehenspitzen stellte, reichte ich ihm trotzdem nur bis zum Kinn. Die Sonne hier draußen hatte seine Haut gegerbt und sie um etliches dunkler gefärbt, als ich es in Erinnerung hatte. Außerdem fehlten ihm mehrere Vorderzähne. An seinem Kinn wuchsen spärliche Haarstoppeln. Aber ansonsten hatte er immer noch dieselben schmalen grünen Augen, die Narbe an der Oberlippe, das runde Gesicht, dieses freundliche Lächeln. Du hättest ihn erkannt, Amir jan. Da bin ich mir sicher.

Wir gingen hinein. In einer Ecke des Raumes saß eine junge hellhäutige Hazara-Frau, die an einem Tuch nähte. Sie war offensichtlich schwanger. »Das hier ist meine Frau, Rahim Khan«, sagte Hassan stolz. »Ihr Name ist Farzana jan.« Sie war eine schüchterne Frau, sehr höflich. Sie sprach mit einer Stimme, die kaum lauter als ein Flüstern war, und sie wagte es nicht, ihre hübschen haselnussbraunen Augen zu heben, um meinem Blick zu begegnen. Aber so, wie sie Hassan anschaute, hätte er auch genauso gut im Arg auf dem Thron sitzen können.

»Wann kommt das Baby denn?«, fragte ich, nachdem wir in dem Raum aus ungebrannten Lehmziegeln Platz genommen hatten. Es gab kaum etwas darin, bloß einen durchgescheuerten Teppich, etwas Geschirr, zwei Matratzen und eine Laterne.

»Inshallah, diesen Winter«, erwiderte Hassan. »Ich bete um einen Jungen, der den Namen meines Vaters fortführen kann.«

»Wo wir gerade von Ali sprechen, wo steckt er denn?«

Hassan blickte zu Boden. Er erzählte mir, dass Ali und sein Cousin - dem das Haus gehört hatte - vor zwei Jahren außerhalb von Bamiyan auf eine Landmine getreten waren. Beide waren sofort tot gewesen. Eine Landmine. Ein typisch afghanischer Tod, nicht wahr, Amir jan? Und aus irgendeinem verrückten Grund war ich mir absolut sicher, dass es Alis rechtes Bein - sein verwachsenes, von der Polio verkümmertes Bein - gewesen war, das ihn schließlich doch noch im Stich gelassen hatte und auf diese Mine getreten war. Es erfüllte mich mit großem Kummer, von seinem Tod zu erfahren. Dein Vater und ich sind zusammen aufgewachsen, wie du weißt, und Ali war, solange ich mich zurückerinnern kann, immer bei ihm gewesen. Ich weiß noch, wie er, als wir noch Kinder waren, an Polio erkrankte und beinahe gestorben wäre. Dein Vater ist den ganzen Tag im Haus herumgelaufen und hat geweint.

Farzana bereitete uns shorwa mit Bohnen, Rüben und Kartoffeln zu. Wir wuschen uns die Hände und tunkten frisches naan aus dem tandoor in die Gemüsesuppe - es war das beste Essen, das ich in den letzten Monaten zu mir genommen hatte. Das war der Moment, in dem ich Hassan bat, zu mir nach Kabul zu ziehen. Ich erzählte ihm von dem Haus und dass ich mich nicht mehr allein darum kümmern konnte. Ich bot ihm an, ihn gut zu bezahlen, und sagte ihm, dass er dort ein komfortables Leben mit seiner khanum führen könne. Sie blickten einander an, ohne etwas zu sagen. Später, nachdem wir uns die Hände gewaschen und Farzana uns Weintrauben serviert hatte, erklärte mir Hassan, dass das Dorf nun seine neue Heimat sei; dass Farzana und er sich dort ein Leben aufgebaut hätten.

»Und Bamiyan ist nicht weit. Dort kennen wir auch einige Leute. Vergeben Sie mir, Rahim Khan. Ich hoffe, Sie verstehen das.«

»Aber gewiss«, sagte ich. »Du musst dich nicht entschuldigen. Ich verstehe sehr gut.«

Als wir nach dem Essen unseren Tee tranken, fragte Hassan nach dir. Ich erzählte ihm, dass du nun in Amerika lebst, ich aber nicht viel mehr wisse. Hassan wollte alles über dich wissen. Ob du verheiratet seist? Ob du Kinder hättest? Wie groß du nun seist? Ob du immer noch gern Drachen steigen ließest und ins Kino gingest? Ob du glücklich seist? Er erzählte mir, dass er sich mit einem alten Farsi-Lehrer in Bamiyan angefreundet habe, der ihm Lesen und Schreiben beigebracht habe. Wenn er dir einen Brief schriebe, würde ich den dann an dich weiterleiten?, fragte er mich, und: »Ob er mir wohl zurückschreiben wird?« Ich erzählte ihm, was ich von den wenigen Telefongesprächen, die ich mit deinem Vater geführt hatte, über dich wusste, aber ich konnte ihm die wenigsten seiner Fragen beantworten. Dann erkundigte er sich nach deinem Vater. Als ich ihm erzählte, was passiert war, vergrub er das Gesicht in den Händen und brach in Tränen aus. Er weinte für den Rest des Abends wie ein Kind.

Sie bestanden darauf, dass ich die Nacht bei ihnen verbrachte. Farzana richtete mir ein Lager und stellte mir ein Glas Brunnenwasser hin, falls ich in der Nacht Durst bekommen sollte. Die ganze Nacht hindurch hörte ich sie mit Hassan flüstern, vernahm immer wieder sein Schluchzen.

Am Morgen erklärte er mir, dass sie sich entschlossen hätten, zu mir nach Kabul zu ziehen.

»Ich hätte nicht kommen sollen«, sagte ich. »Du hattest Recht, Hassan jan. Du hast dir hier ein zendagi, ein Leben, aufgebaut. Es war anmaßend von mir, einfach so hier aufzutauchen und dich zu bitten, dies alles aufzugeben. Ich bin es, der um Vergebung bitten muss.«

»Wir haben nicht so viel, was wir aufgeben könnten, Rahim Khan«, erwiderte Hassan. Seine Augen waren immer noch rot und verquollen. »Wir werden mit Ihnen gehen. Wir werden Ihnen helfen, auf das Haus aufzupassen.«

»Bist du dir da auch absolut sicher?«

Er nickte und ließ den Kopf hängen. »Aga Sahib war wie ein zweiter Vater für mich ... Gott möge ihm Frieden geben.«

Sie häuften ihre Habseligkeiten in einige alte Lumpen und knoteten die Ecken zusammen. Wir luden das Ganze in den Buick. Hassan stand auf der Türschwelle des Hauses und hielt den Koran in die Höhe, den wir alle küssten, ehe wir unter ihm hindurchtraten. Dann machten wir uns auf den Weg nach Kabul. Ich erinnere mich noch, dass sich Hassan, als ich losfuhr, umdrehte, um einen letzten Blick auf ihr Heim zu werfen. Als wir nach Kabul kamen, stellte ich fest, dass Hassan nicht die Absicht hatte, in das Haus einzuziehen. Farzana und er brachten ihre Habseligkeiten in die Hütte hinten im Garten, wo er zur Welt gekommen war. Ich bat sie, in eines der Gästezimmer oben zu ziehen, aber davon wollte Hassan nichts wissen. »Was soll denn Amir Aga denken?«, sagte er zu mir. »Was soll er denken, wenn er nach dem Krieg nach Kabul zurückkehrt und herausfindet, dass ich seinen Platz im Haus eingenommen habe?« Die nächsten vierzig Tage trug er zum Zeichen der Trauer um deinen Vater Schwarz.

Ich wollte es zwar nicht, aber die beiden erledigten das ganze Kochen und Saubermachen. Hassan kümmerte sich um die Blumen im Garten, goss sie täglich, zupfte die welken Blätter ab und pflanzte Rosenbüsche, strich die Mauern. Im Haus kehrte er Zimmer, in denen seit Jahren niemand geschlafen hatte, säuberte Badezimmer, in denen niemand gebadet hatte. Als bereitete er das Haus für jemandes Rückkehr vor. Erinnerst du dich noch an die Mauer hinter der Reihe mit dem Mais, die dein Vater gepflanzt hatte, Amir jan? Die ihr beide immer »Die Mauer des kränkelnden Maises« genannt habt? Eine Rakete hatte in jenem Frühherbst eines Nachts einen Teil der Mauer zerstört. Hassan baute die Mauer mit eigenen Händen, Stein für Stein, wieder auf. Ich weiß nicht, was ich ohne ihn angefangen hätte.

Später in jenem Herbst brachte Farzana ein Mädchen zur Welt. Es war eine Totgeburt. Hassan küsste das leblose Gesicht des Babys, und wir vergruben es im Garten, in der Nähe der Heckenrosen. Wir bedeckten den kleinen Hügel mit Pappelblättern. Ich sprach ein Gebet für das arme kleine Wesen. Farzana blieb den ganzen Tag in der Hütte und klagte das Wehklagen einer Mutter ist herzzerreißend, Amir jan. Ich bete zu Allah, dass du es niemals hören musst.

Draußen vor den Mauern dieses Hauses tobte ein Krieg. Aber wir drei schafften uns in dem Haus deines Vaters unsere kleine Zuflucht. In den späten Achtzigern wurden meine Augen immer schlechter, und so ließ ich mir von Hassan aus den Büchern deiner Mutter vorlesen. Wir saßen in der Halle, am Ofen, und Hassan las mir aus dem Masnawi-Epos oder aus Werken von Khayyam vor, während Farzana in der Küche kochte. Und jeden Morgen legte Hassan eine Blume auf den kleinen Hügel in der Nähe der Heckenrosen.

Anfang des Jahres 1990 wurde Farzana erneut schwanger. Im selben Jahr, mitten im Sommer, klopfte eines Morgens eine Frau, die in eine himmelblaue Burkha gehüllt war, ans vordere Tor. Sie schwankte, als wäre sie zu schwach, um zu stehen. Ich fragte, was sie wolle, aber sie antwortete nicht.

»Wer sind Sie?«, fragte ich. Doch sie brach dort in der Auffahrt zusammen. Ich schrie nach Hassan, und er half mir, sie ins Haus zu tragen. Wir legten sie im Wohnzimmer auf das Sofa und zogen ihr die Burkha aus. Darunter fanden wir eine zahnlose Frau mit strähnigem grauem Haar und Wunden an den Armen. Sie sah aus, als hätte sie seit Tagen nichts mehr gegessen. Aber das Schlimmste war ihr Gesicht. Jemand hatte sich mit einem Messer darüber hergemacht und ... Amir jan, die Narben verliefen kreuz und quer. Eine reichte von der Wange bis zum Haaransatz hinauf, und das Messer hatte ihr linkes Auge nicht ausgespart. Es sah einfach schrecklich aus. Ich tupfte ihr mit einem feuchten Tuch die Stirn ab, und sie öffnete die Augen. »Wo ist Hassan?«, flüsterte sie. »Ich bin hier«, sagte er. Er griff nach ihrer Hand und drückte sie.

Ihr gesundes Auge wanderte zu ihm hinüber. »Ich bin von weit hergekommen, um zu sehen, ob du in Wirklichkeit auch so schön bist wie in meinen Träumen. Und das bist du. Schöner noch.« Sie zog seine Hand an ihr narbiges Gesicht. »Bitte lächle für mich.«

Als Hassan der alten Frau den Wunsch erfüllte, begann sie zu weinen. »Du hast gelächelt, als ich dir das Leben geschenkt habe, hat man dir das jemals erzählt? Und ich wollte dich nicht einmal in meinen Armen halten. Allah möge mir vergeben, ich wollte dich nicht einmal in meinen Armen halten.«

Keiner von uns hatte Sanaubar wiedergesehen, seit sie im Jahre 1964, kurz nach Hassans Geburt, mit einer Gruppe von Sängern und Tänzern davongelaufen war. Du bist ihr nie begegnet, Amir, aber in ihrer Jugend war sie eine wahre Schönheit. Wenn sie lachte, hatte sie Grübchen in den Wangen, und ihr Gang machte die Männer verrückt. Niemand - ob Mann oder Frau -, der auf der Straße an ihr vorüberging, konnte die Augen von ihr wenden. Und nun ...

Hassan ließ ihre Hand fallen und rannte aus dem Haus. Ich lief hinter ihm her, aber er war zu schnell für mich. Ich sah, wie er den Hügel hinaufhastete, wo ihr zwei immer gespielt habt, und seine Füße wirbelten wahre Staubwolken auf. Ich ließ ihn ziehen. Ich saß den ganzen Tag bei Sanaubar, während sich die Farbe des Himmels von strahlendem Blau in Violett verwandelte. Als die Dunkelheit anbrach und die Wolken im Mondlicht badeten, war Hassan immer noch nicht zurückgekehrt. Sanaubar rief unter Tränen, dass ihre Rückkehr ein Fehler gewesen sei, vielleicht schlimmer noch als ihr Verschwinden. Aber ich überredete sie zu bleiben. Hassan würde wiederkommen, das wusste ich.

Er kehrte am nächsten Morgen müde und erschöpft zurück, als hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen. Er nahm Sanaubars Hand in seine Hände und erklärte ihr, sie könne weinen, wenn ihr danach sei, aber sie brauche es nicht, denn sie sei nun zu Hause, zu Hause bei ihrer Familie. Er berührte die Narben in ihrem Gesicht und strich ihr übers Haar.

Hassan und Farzana pflegten sie gesund. Sie fütterten sie und wuschen ihre Kleidung. Ich gab ihr eins der Gästezimmer. Manchmal, wenn ich aus dem Fenster des Arbeitszimmers in den Garten blickte, sah ich Hassan und seine Mutter nebeneinander knien und sich beim Tomatenpflücken oder beim Beschneiden der Rosenbüsche unterhalten - sie taten, was sie all die Jahre nicht hatten tun können. Soweit ich weiß, hat er sie nie gefragt, wo sie gewesen ist oder warum sie ihre Familie verlassen hat, und sie hat es nie erzählt. Manche Geschichten müssen wohl nicht erzählt werden.

Es war Sanaubar, die Hassans Sohn in jenem Winter 1990 auf die Welt holte. Es hatte noch nicht zu schneien begonnen, aber die Winterwinde bliesen durch den Garten, drückten die Köpfe der Blumen zu Boden und fuhren raschelnd durch die Blätter. Ich weiß noch, wie Sanaubar aus der Hütte kam und ihren Enkelsohn, der in eine Wolldecke gehüllt war, in den Armen hielt. Sie stand strahlend unter einem bedeckten, grauen Himmel, die Tränen liefen ihr über die Wangen, der eiskalte Wind blies ihr durch das Haar, und sie hielt diesen Jungen in ihren Armen, als wollte sie ihn nie wieder loslassen. Sie reichte ihn Hassan, der ihn mir reichte, und ich sang das Ayat-ul-kursi-Gebet in das Ohr des kleinen Jungen.

Sie nannten ihn Suhrab, nach Hassans Lieblingshelden aus dem Shahname, wie du ja weißt, Amir jan. Er war ein wunderschöner kleiner Junge, so süß, und er besaß das gleiche Naturell wie sein Vater. Du hättest Sanaubar mit dem Jungen sehen sollen, Amir jan. Er wurde ihr Ein und Alles. Sie nähte Kleider für ihn, bastelte ihm Spielzeug aus Holzstückchen und Lumpen und getrocknetem Gras. Wenn er Fieber bekam, blieb sie die ganze Nacht auf und fastete drei Tage. Sie verbrannte isfand für ihn in einer Bratpfanne, um nazar, den bösen Blick, zu vertreiben. Als Suhrab zwei Jahre alt war, nannte er sie Sasa. Die beiden waren unzertrennlich.

Sie erlebte noch, wie er vier Jahre alt wurde, und dann, eines Morgens, wachte sie einfach nicht mehr auf. Sie machte einen ruhigen, friedlichen Eindruck, als hätte es ihr nichts ausgemacht, jetzt zu sterben. Wir begruben sie auf dem Friedhof, an dem Abhang, wo der Granatapfelbaum steht, und ich sprach auch für sie ein Gebet. Der Verlust traf Hassan hart - es ist immer schlimmer, etwas zu besitzen und dann zu verlieren, als es erst gar nicht zu besitzen. Aber viel schlimmer noch traf es den kleinen Suhrab. Er wanderte tagelang auf der Suche nach Sasa im Haus herum. Aber du weißt ja, wie kleine Kinder sind, sie vergessen so schnell.

Inzwischen - wir schrieben jetzt das Jahr 1995 - waren die Shorawi besiegt und längst verschwunden, und Kabul gehörte Massoud, Rabbani und den Mudjaheddin, die sich gegenseitig erbitterte Kämpfe um die Macht lieferten. Nie wusste man, ob man am Ende des Tages noch leben würde. Unsere Ohren gewöhnten sich an das Pfeifen der heranfliegenden Granaten, das Donnern des Gefechtsfeuers, und unsere Augen gewöhnten sich an den Anblick von Männern, die Leichen unter Trümmern hervorzogen. Kabul war in jenen Tagen wahrhaftig der reinste Vorhof der Hölle, Amir jan. Aber Allah war uns dennoch freundlich gesinnt: Das Wazir-Akbar-Khan-Viertel wurde nicht so häufig angegriffen, und so erging es uns nicht ganz so schlimm wie einigen anderen Vierteln.

Wenn in jenen Tagen einmal weniger Raketen abgefeuert wurden und nicht ganz so viele Schüsse fielen, ging Hassan mit Suhrab in den Zoo, damit er sich Marjan, den Löwen, ansehen konnte, oder sie gingen ins Kino. Hassan brachte ihm bei, wie man eine Schleuder benutzt, und Suhrab stellte sich sehr geschickt damit an. Mit acht Jahren konnte er von der Terasse aus einen Kiefernzapfen treffen, der in der Mitte des Gartens aufrecht auf einem Eimer platziert worden war. Hassan brachte ihm auch Lesen und Schreiben bei - sein Sohn sollte nicht ungebildet aufwachsen wie er. Ich begann an dem kleinen Jungen zu hängen -ich hatte gesehen, wie er die ersten Schritte tat, hatte ihn sein erstes Wort sprechen hören. Ich kaufte Suhrab Kinderbücher in dem Buchladen neben dem Park-Kino - das sie inzwischen auch zerstört haben -, und Suhrab las sie so schnell durch, dass ich kaum genug Nachschub besorgen konnte. Er erinnerte mich an dich, Amir jan, du hast, als du klein warst, auch unheimlich gern gelesen. Manchmal habe ich ihm abends etwas vorgelesen, ihm Rätsel aufgegeben und Kartenspielertricks beigebracht. Ich vermisse ihn schrecklich.

Im Winter nahm Hassan seinen Sohn mit zum Drachenlaufen. Es gab nicht annähernd so viele Drachenturniere wie in der guten alten Zeit - niemand fühlte sich draußen auf Dauer sicher -, aber hin und wieder wurde ein Kampf veranstaltet. Hassan setzte sich Suhrab auf die Schultern und trabte mit ihm durch die Straßen, jagte Drachen hinterher, kletterte auf Bäume, in denen sie gelandet waren. Weißt du noch, was für ein guter Drachenläufer Hassan einmal gewesen ist? Und er hatte nichts davon verlernt. Als der Winter zu Ende ging, hängten Hassan und Suhrab all die Drachen, die sie in der kalten Jahreszeit erlaufen hatten, an die Wände des großen Flurs. Wie Gemälde.

Ich habe dir ja erzählt, wie wir alle 1996 gefeiert haben, als die Taliban hereinrollten und den täglichen Kämpfen ein Ende bereiteten. Ich weiß noch, wie ich an jenem Abend nach Hause kam und Hassan in der Küche antraf, wo er Radio hörte. Sein Gesicht war ernst. Ich fragte ihn, was los sei, aber er schüttelte nur den Kopf. »Gott stehe jetzt den Hazara bei, Rahim Khan Sahib«, sagte er.

»Der Krieg ist vorbei«, erwiderte ich. »Es wird endlich Frieden geben, inshallah, und Glück und Ruhe. Keine Raketen mehr, kein Töten, keine Beerdigungen!« Aber er schaltete nur das Radio aus und fragte, ob er noch etwas für mich tun könne, bevor er zu Bett ging.

Einige Wochen später verboten die Taliban die Drachenkämpfe. Und zwei Jahre später, 1998, verübten sie ein Massaker an den Hazara in Mazar-e-Sharif.

17

Rahim Khan streckte langsam die Beine aus und lehnte sich vorsichtig und behutsam wie jemand, der bei jeder Bewegung vom Schmerz durchbohrt wird, an die nackte Wand. Draußen schrie ein Esel, und jemand rief etwas auf Urdu. Die Sonne ging langsam unter, glitzerte rot durch die Lücken zwischen den baufälligen Mauern.

Das ungeheure Ausmaß dessen, was ich in jenem Winter und dem darauf folgenden Sommer getan hatte, wurde mir aufs Neue bewusst. Namen schwirrten mir durch den Kopf: Hassan, Suhrab, Ali, Farzana, Sanaubar. Als Rahim Khan Alis Namen aussprach, war es, als würde man eine alte Spieldose öffnen und eine Melodie zum Leben erwecken, die man seit Jahren nicht mehr vernommen hatte: Wen hast du denn heute gefressen, Babalu? Wen hast du heute gefressen, du schlitzäugiger Esel? Ich versuchte mir Alis erstarrtes Gesicht vorzustellen, versuchte seine sanften Augen wirklich vor mir zu sehen, aber die Zeit ist manchmal ein gieriges Ding: Sie raubt die Einzelheiten, will sie ganz für sich allein behalten.

»Lebt Hassan jetzt immer noch in dem Haus?«, fragte ich.

Rahim Khan hob die Teetasse an seine trockenen Lippen und nahm einen Schluck. Dann zog er einen Briefumschlag aus der Brusttasche seiner Weste und reichte ihn mir. »Für dich.«

Ich riss den verschlossenen Umschlag auf. Darin fand ich ein Polaroidfoto und einen gefalteten Brief. Ich starrte das Foto eine geschlagene Minute lang an.

Ein Mann mit einem weißen Turban und einem grün gestreiften chapan stand mit einem kleinen Jungen vor einem schmiedeeisernen Tor. Von der linken Seite fiel schräg das Sonnenlicht ins Bild und warf einen Schatten auf die eine Hälfte seines runden Gesichts. Er lächelte blinzelnd in die Kamera und entblößte dabei einige fehlende Vorderzähne. Selbst auf dem verwackelten Polaroidfoto strahlte der Mann in dem chapan Selbstsicherheit und Unbefangenheit aus. Es lag wohl an der Art und Weise, wie er mit leicht gespreizten Beinen dastand, die Arme locker auf der Brust gekreuzt, den Kopf ein wenig Richtung Sonne geneigt. Aber hauptsächlich lag es daran, wie er lächelte. Wenn man sich dieses Foto ansah, konnte man zu dem Schluss kommen, dies sei ein Mann, der glaubte, das Schicksal habe es gut mit ihm gemeint. Rahim Khan hatte Recht, ich hätte ihn sofort erkannt, wenn er mir auf der Straße begegnet wäre. Der kleine Junge war barfuß, hatte einen Arm um den Oberschenkel des Mannes geschlungen, und sein rasierter Kopf ruhte an der Hüfte seines Vaters. Auch er lächelte blinzelnd in die Kamera.

Ich faltete den Brief auseinander. Er war auf Farsi geschrieben. Kein einziger Punkt war ausgelassen worden, kein Strich vergessen, keine Buchstaben ineinander gerutscht - die Handschrift hatte etwas Kindliches in ihrer Ordentlichkeit. Ich begann zu lesen:

Im Namen Allahs des Allmächtigen und des Barmherzigen sende ich dir, Amir Aga, meine respektvollsten Grüße.

Farzana jan, Suhrab und ich beten darum, dass dich unser Brief bei guter Gesundheit und im Schein der Gnade Allahs erreicht. Bitte richte Rahim Khan Sahib meine tiefe Dankbarkeit aus, dass er ihn dir überbringt. Ich hoffe sehr, dass ich eines Tages einen deiner Briefe in meinen Händen halten werde und etwas über dein Leben in Amerika erfahren kann. Vielleicht wird sogar eine Fotografie von dir unsere Augen erfreuen. Ich habe Farzana jan und Suhrab so viel von dir erzählt. Wie wir zusammen aufgewachsen sind, zusammen gespielt haben und durch die Straßen gelaufen sind. Sie lachen, wenn sie von all dem Unfug hören, den wir beide angestellt haben!

Amir Aga,

leider ist das Afghanistan unserer Kindheit lange tot. Es gibt keine Freundlichkeit, keine Güte mehr in diesem Land, und man kann dem Morden nicht entkommen. Mord und Totschlag, wohin man auch blickt. In Kabul wohnt überall die Angst - in den Straßen, im Stadion, auf den Märkten -, sie ist ein Teil unseres Lebens hier, Amir Aga. Die Bestien, die über unser watan herrschen, scheren sich nicht um Anstand und Menschenwürde.

Vor ein paar Tagen habe ich Farzana jan auf den Basar begleitet, um ein paar Kartoffeln und etwas naan zu kaufen. Sie fragte den Händler, wie viel die Kartoffeln kosteten, aber er hörte sie nicht, ich glaube, er war ein wenig taub. Also stellte sie ihre Frage lauter, und plötzlich kam ein junger Talib auf sie zugerannt und schlug ihr mit einem Holzstock auf den Oberschenkel. Er schlug so fest zu, dass sie hinfiel. Er schrie sie an und fluchte und rief, dass es das Ministerium für Laster und Tugend nicht erlaube, dass eine Frau die Stimme erhebt. Sie hatte tagelang einen großen violetten Fleck auf dem Oberschenkel, aber was blieb mir anderes übrig, als daneben zu stehen und zuzusehen, wie meine Frau geschlagen wurde? Hätte ich gekämpft, hätte mir dieser Hund sicherlich mit Freude eine Kugel in den Leib gejagt! Und was wäre dann aus meinem Suhrab geworden? Die Straßen sind schon voll genug mit hungrigen Waisenkindern, und ich danke Allah jeden Tag, dass ich am Leben bin, und das nicht etwa, weil ich Angst vor dem Tod habe, sondern weil so meine Frau einen Mann hat und mein Sohn kein Waisenjunge ist.

Wenn du Suhrab doch nur sehen könntest! Er ist ein guter Junge. Rahim Khan Sahib und ich haben ihm Lesen und Schreiben beigebracht, damit er nicht so unwissend aufwächst wie sein Vater. Und wie er mit der Schleuder umgehen kann! Manchmal nehme ich ihn mit nach Kabul und kaufe ihm Süßigkeiten. Es gibt immer noch einen Affen-Mann in Shar-e-Nau, und wenn wir zu ihm gehen, bezahle ich ihn dafür, dass er seinen Affen für Suhrab tanzen lässt. Du solltest sehen, wie er lacht! Wir beide marschieren oft zu dem Friedhof auf dem Hügel. Weißt du noch, wie wir unter dem Granatapfelbaum dort oben gesessen und im Shahname gelesen haben? Die Dürren haben den Hügel ausgetrocknet, und der Baum hat schon seit Jahren keine Früchte mehr getragen, aber Suhrab und ich sitzen immer noch in seinem Schatten, und ich lese ihm aus dem Shahname vor. Ich muss dir wohl nicht erst sagen, dass sein Lieblingsteil der ist, in dem sein Namensvetter vorkommt, der, in dem es um Röstern und Suhrab geht. Es wird nicht mehr lange dauern, und er kann selbst in dem Buch lesen. Ich bin ein sehr stolzer und glücklicher Vater. Amir Aga,

Rahim Khan Sahib ist sehr krank. Er hustet den ganzen Tag, und wenn er sich den Mund abwischt, ist Blut an seinem Ärmel. Er hat stark abgenommen, und ich wünschte, er würde etwas von der shorwa mit Reis essen, die Farzana jan für ihn kocht. Aber er nimmt immer nur einen oder zwei Bissen zu sich, und selbst das wohl nur aus Höflichkeit ihr gegenüber. Ich mache mir so große Sorgen um diesen mir so teuren Menschen, ich bete jeden Tag für ihn. Er reist in ein paar Tagen nach Pakistan, um dort einige Ärzte aufzusuchen, und ich hoffe, dass er mit guten Nachrichten zurückkehren wird. Aber in meinem Herzen fürchte ich um ihn.

Farzana jan und ich haben dem kleinen Suhrab gesagt, dass es Rahim Khan Sahib bald wieder gut gehen wird. Was können wir anderes tun? Er ist doch erst zehn Jahre alt und liebt Rahim Khan Sahib über alles. Sie stehen einander sehr nah. Rahim Khan Sahib hat ihn immer auf den Basar mitgenommen und ihm Ballons und Kekse gekauft, aber dazu ist er nun zu schwach.

Ich träume in letzter Zeit sehr viel, Amir Aga. Manchmal sind es Albträume, in denen erhängte Leichen in Fußballstadien mit blutrotem Gras verfaulen. Dann erwache ich atemlos und in Schweiß gebadet. Aber meistens sind es schöne Träume, und dafür danke ich Allah. Ich träume davon, dass es Rahim Khan Sahib wieder gut geht. Ich träume davon, dass mein Sohn zu einem guten Menschen heranwächst, einem freien Menschen und einem wichtigen Menschen. Ich träume davon, dass wieder lawla-Blumen in den Straßen Kabuls blühen und rubab-Musik in den Samowar-Häusern gespielt wird. Und dass Drachen am Himmel fliegen. Und ich träume davon, dass du eines Tages wieder nach Kabul zurückkehrst, um das Land unserer Kindheit zu besuchen. Wenn du das tust, wirst du hier einen alten treuen Freund vorfinden, der auf dich wartet. Möge Allah immer mit dir sein, Hassan

Ich las den Brief zweimal. Dann faltete ich ihn und betrachtete erneut für eine ganze Weile das Foto, ehe ich schließlich beides einsteckte. »Wie geht es ihm?«, fragte ich.

»Dieser Brief wurde vor sechs Monaten geschrieben, wenige Tage bevor ich nach Peshawar aufgebrochen bin«, erwiderte Rahim Khan. »Das Foto habe ich am Tag vor meiner Abreise aufgenommen. Einen Monat nach meiner Ankunft in Peshawar erhielt ich einen Telefonanruf von meinem Nachbarn in Kabul. Er erzählte mir die ganze Geschichte: Kurz nach meiner Abreise hatte sich das Gerücht verbreitet, dass eine Hazara-Familie allein in dem großen Haus im Wazir-Akbar-Khan-Viertel lebt - oder so haben es die Taliban jedenfalls später behauptet. Zwei Beamte der Taliban kamen, um die Angelegenheit zu untersuchen und Hassan zu befragen. Sie beschuldigten ihn der Lüge, als er ihnen mitteilte, dass er bei mir wohnte. Und das, obwohl viele der Nachbarn - einschließlich des Nachbarn, der mich anrief - seine Geschichte bestätigten. Die beiden Taliban behaupteten, dass er ein Lügner und ein Dieb sei wie alle Hazara, und befahlen ihm, bis zum Sonnenuntergang mit seiner Familie das Haus zu verlassen. Hassan protestierte. Aber mein Nachbar sagte, die Taliban hätten das große Haus angesehen wie - wie hat er sich noch einmal ausgedrückt? - ja, wie >Wölfe, die eine Herde von Schafen ansehen<. Sie erklärten Hassan, dass sie dort einziehen würden, angeblich, um bis zu meiner Rückkehr darauf aufzupassen. Hassan protestierte wieder. Also haben sie ihn auf die Straße hinausgebracht...«

»Nein«, hauchte ich.

»... und ihm befohlen, sich hinzuknien ...«

»Nein. Oh Gott, nein.«

»... und haben ihm von hinten eine Kugel in den Kopf geschossen.« »Nein.«

»... Farzana kam schreiend aus dem Haus gelaufen und ist auf sie losgegangen ...« »Nein.«

»... da haben sie auch sie erschossen. In Notwehr, wie sie nachhher behauptet haben ...« Aber ich brachte nicht mehr als ein Flüstern zustande: »Nein, nein, nein«, sagte ich unaufhörlich vor mich hin.

Meine Gedanken kehrten immer wieder in jenes Krankenhauszimmer zurück, in dem Hassan nach seiner Hasenschartenoperation gelegen hatte. Baba, Rahim Khan, Ali und ich hatten uns um Hassans Bett versammelt und zugesehen, wie er seine neue Oberlippe in dem Handspiegel betrachtet hatte. Jetzt waren alle, die in jenem Zimmer gewesen waren, entweder tot oder todkrank. Außer mir.

Dann wieder sah ich andere Bilder vor mir: ein Mann in einer Weste mit Fischgrätmuster, der den Lauf einer Kalaschnikow an Hassans Hinterkopf drückt. Die Explosion hallt durch die Straße, in der das Haus meines Vaters steht. Hassan sinkt auf den Asphalt, und sein Leben, das so erfüllt war von unerwiderter Anhänglichkeit, entweicht wie die vom Wind davongetragenen Drachen, hinter denen er einst herjagte.

»Die Taliban zogen in das Haus ein«, sagte Rahim Khan. »Sie gaben vor, einen Eindringling zur Räumung gezwungen zu haben. Die Ermordung von Hassan und Farzana wurde als ein Fall von Selbstverteidigung abgetan. Niemand verlor ein Wort darüber. Ich denke, der Grund war hauptsächlich die Furcht vor den Taliban. Aber es wollte auch niemand irgendetwas für zwei Hazara-Dienstboten riskieren.«

»Was haben sie mit Suhrab gemacht?«, fragte ich. Ich fühlte mich erschöpft, ausgelaugt. Rahim Khan wurde von einem Hustenanfall geschüttelt, der lange Zeit dauerte. Als er schließlich aufblickte, war sein Gesicht gerötet, und die Augen waren blutunterlaufen. »Ich habe gehört, dass er sich in einem Waisenhaus irgendwo in Karteh-Seh befindet. Amir jan ...«, er hustete wieder. Als sich der Husten legte, sah er älter aus als noch vor wenigen Augenblicken, ganz so, als hätte ihn der Hustenanfall altern lassen. »Amir jan, ich habe dich hierher gerufen, weil ich dich noch einmal sehen wollte, bevor ich sterbe, aber das ist nicht alles.«

Ich sagte nichts. Ich glaubte schon zu wissen, was nun kommen würde. »Ich möchte, dass du nach Kabul fährst. Ich möchte, dass du Suhrab hierher bringst«, sagte er.

Ich bemühte mich, die rechten Worte zu finden. Ich hatte ja kaum Zeit gehabt, mich mit der Tatsache abzufinden, dass Hassan tot war.

»Bitte hör mich an. Ich kenne ein amerikanisches Ehepaar namens Thomas und Betty Caldwell hier in Peshawar. Sie sind Christen und betreiben eine kleine Wohltätigkeitsorganisation, die sich durch Privatspenden finanziert. Sie geben afghanischen Kindern, die ihre Eltern verloren haben, ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen. Ich habe das Haus gesehen. Es ist sauber und sicher, man kümmert sich gut um die Kinder, und die Caldwells sind freundliche Leute. Sie haben mir bereits versichert, dass Suhrab bei ihnen willkommen wäre und ...«

»Rahim Khan, das kann doch nicht dein Ernst sein.«

»Kinderseelen zerbrechen leicht, Amir jan, sie sind zerbrechlich wie Glas. Kabul ist schon voll von solchen zerbrochenen Seelen, und ich möchte nicht, dass Suhrab das gleiche Schicksal widerfährt.«

»Rahim Khan, ich möchte nicht nach Kabul fahren. Ich kann das nicht!«, sagte ich.

»Suhrab ist ein begabter kleiner Junge. Wir können ihm hier ein neues Leben und neue Hoffnung bei Menschen bieten, die ihm ihre Liebe schenken würden. Thomas Aga ist ein guter Mann und Betty khanum so gütig; du solltest sehen, wie sie mit diesen Waisenkindern umgeht.«

»Warum ich? Warum kannst du nicht jemanden dafür bezahlen, dorthin zu fahren. Ich werde den finanziellen Teil übernehmen, wenn es eine Geldfrage ist.«

»Es geht hier nicht um Geld, Amir!«, brüllte Rahim Khan. »Ich bin ein todgeweihter Mann und werde mich nicht beleidigen lassen! Um Geld ist es bei mir nie gegangen, das weißt du. Und warum du es tun sollst, fragst du? Ich glaube, die Antwort darauf kennen wir beide doch sehr gut, nicht wahr?«

Ich wollte diese Bemerkung nicht verstehen, aber ich verstand sie nur zu gut. »Ich habe eine Frau in Amerika, ein Haus, eine Karriere und eine Familie. Kabul ist ein gefährlicher Ort, das weißt du, und du willst, dass ich alles riskiere für ...« Ich verstummte.

»Weißt du«, sagte Rahim Khan, »als du einmal nicht da warst, haben dein Vater und ich uns über dich unterhalten. Als du noch ein Kind warst, hat er sich ja ständig Sorgen um dich gemacht. Ich weiß noch, wie er zu mir sagte: > Rahim, ein Junge, der nicht für sich selbst eintritt, wird zu einem Mann, der für gar nichts eintritt. < Ich frage mich, ob das aus dir geworden ist.«

Ich blickte zu Boden.

»Ich bitte dich lediglich darum, einem alten Mann einen letzten Wunsch zu erfüllen«, erklärte er ernst.

Er hatte auf die Wirkung dieser Bemerkung spekuliert. Hatte damit seinen Trumpf ausgespielt. So dachte ich zumindest. Seine Worte hingen zwischen uns in der Luft, aber wenigstens hatte er gewusst, was er sagen sollte. Ich suchte immer noch nach den richtigen Worten, dabei war ich von uns beiden der Schriftsteller. Schließlich entschied ich mich für Folgendes: »Vielleicht hat Baba ja Recht gehabt.«

»Tut mir Leid, dass du so von dir denkst.«

Ich vermochte nicht ihn anzusehen. »Tust du es denn nicht?«

»Wenn es so wäre, hätte ich dich wohl kaum gebeten, hierher zu kommen.«

Ich spielte mit meinem Ehering. »Du hast immer schon zu große Stücke auf mich gehalten, Rahim Khan.«

»Und du warst immer viel zu streng mit dir selbst.« Er zögerte. »Aber da ist noch etwas. Etwas, das du nicht weißt.«

»Bitte, Rahim Khan -«

»Sanaubar war nicht Alis erste Frau.«

Nun blickte ich auf.

»Er war schon einmal verheiratet gewesen, mit einer Hazara-Frau aus der Jaghori-Gegend. Das war lange vor deiner Geburt. Sie waren drei Jahre verheiratet.« »Was hat das denn mit dieser Sache zu tun?«

»Sie hat ihn nach drei kinderlosen Jahren verlassen und einen Mann in Khost geheiratet. Dem hat sie drei Töchter geschenkt. Das versuche ich dir zu sagen.«

Ich begann zu begreifen, wohin das führte. Aber ich wollte den Rest gar nicht hören. Ich hatte ein gutes Leben in Kalifornien, ein hübsches viktorianisches Haus mit einem Spitzdach, eine gute Ehe, eine vielversprechende Schriftstellerkarriere, Schwiegereltern, die mich liebten. Ohne mich.

»Ali war steril«, sagte Rahim Khan.

»Nein, das war er nicht. Sanaubar und er hatten Hassan, oder etwa nicht? Sie hatten Hassan zusammen und...«

»Nein, das hatten sie nicht«, sagte Rahim Khan.

»Aber natürlich!« »Nein, Amir, das hatten sie nicht.« »Aber wer ist denn dann ... ?« »Ich glaube, du weißt, wer.«

Ich kam mir wie ein Mann vor, der einen steilen Abhang hinunterrutscht und erfolglos versucht, sich an Büschen und dornigem Gestrüpp festzuklammern. Das Zimmer hob und senkte sich, schwankte von einer Seite zur anderen. »Hat Hassan es gewusst?«, sprach ich durch Lippen, die sich nicht wie meine eigenen anfühlten. Rahim Khan schloss die Augen. Schüttelte den Kopf.

»Ihr Mistkerle«, murmelte ich. Stand auf. »Ihr gottverdammten Mistkerle!«, schrie ich. »Ihr seid nichts weiter als ein Haufen gottverdammter Scheißlügner! Gottverdammte Hurensöhne.«

»Bitte setz dich wieder«, sagte Rahim Khan.

»Wie konntet ihr das nur vor mir geheim halten? Und vor allem vor ihm?«, brüllte ich.

»Bitte denk doch einmal nach, Amir jan. Es war eine peinliche Situation. Die Leute hätten getuschelt. Alles, was ein Mann damals besaß, war seine Ehre, sein Name, und wenn die Leute geredet hätten ... Wir konnten niemandem davon erzählen, das musst du doch einsehen.« Er streckte die Hand nach mir aus, aber ich ignorierte sie. Ging auf die Tür zu.

»Bitte, Amir jan, geh nicht.«

Ich öffnete die Tür und wandte mich noch einmal um. »Wieso nicht? Was könntest du mir schon sagen? Ich bin achtunddreißig Jahre alt und habe gerade herausgefunden, dass mein ganzes Leben eine einzige, verdammte Lüge ist! Was könntest du mir schon sagen, was die Sache besser machen würde? Nichts. Rein gar nichts!«

Und mit diesen Worten stürmte ich aus der Wohnung.

18

Die Sonne war fast untergegangen und hatte den Himmel in Violett und Rot getaucht. Ich lief die belebte schmale Straße entlang, die von Rahim Khans Haus wegführte. Es war eine laute Straße in einem Wirrwarr von engen Gassen, die mit Fußgängern, Fahrrädern und Rikschas verstopft waren. Reklametafeln hingen an den Ecken, auf denen für Coca-Cola und Zigaretten geworben wurde; Filmplakate zeigten heißblütige Schauspielerinnen, die mit gut aussehenden dunkelhäutigen Männern auf Wiesen voller Ringelblumen tanzten.

Ich betrat ein verräuchertes kleines Samowar-Haus und bestellte eine Tasse Tee, lehnte mich im Stuhl zurück und rieb mir über das Gesicht. Das Gefühl, auf einen Abgrund zuzurutschen, ließ langsam nach. Dafür kam ich mir jetzt vor wie ein Mann, der in seinem eigenen Haus erwacht und feststellt, dass die Möbel umgestellt sind, sodass jeder vertraute Winkel ihm plötzlich fremd erscheint. In seiner Verwirrung ist er gezwungen, seine Umgebung neu zu beurteilen, sich neu zu orientieren.

Wie hatte ich nur so blind sein können? Die Zeichen waren doch überall sichtbar gewesen. Eins nach dem anderen fiel mir nun ein: Baba hatte Dr. Kumar geholt, um Hassans Hasenscharte operieren zu lassen. Baba hatte nicht ein einziges Mal Hassans Geburtstag vergessen. Als ich Baba an dem Tag, als wir die Tulpen pflanzten, gefragt hatte, ob er schon einmal darüber nachgedacht habe, sich neue Dienstboten zu nehmen, da hatte er mich angefahren: Hassan geht nirgendwohin. Er bleibt hier bei uns, wo er hingehört. Das hier ist sein Zuhause, und wir sind seine Familie. Er hatte geweint, geweint, als Ali verkündete, dass Hassan und er uns verlassen würden.

Der Kellner stellte eine Teetasse vor mich auf den Tisch. An der Stelle, wo sich die Tischbeine wie ein X kreuzten, befand sich ein Ring aus Messingkugeln, jede ungefähr so groß wie eine Walnuss. Eine der Kugeln hatte sich gelockert. Ich beugte mich vor und zog sie fest. Wenn ich doch nur alles in meinem Leben genauso leicht wieder in Ordnung bringen könnte. Ich nahm einen Schluck von dem schwärzesten Tee, den ich seit Jahren getrunken hatte, und versuchte an Soraya zu denken, an den General und Khala Jamila, an den Roman, der fast fertig war. Ich versuchte den Straßenverkehr zu beobachten, der vorüberströmte, die Menschen, die sich in die kleinen Süßwarenläden hinein- und wieder herausdrängten. Versuchte der Qawa//-Musik zu lauschen, die aus dem Transistorradio erklang, das auf dem Nebentisch stand. Versuchte alles, um mich abzulenken. Aber ich sah immer nur Baba vor mir, wie er am Abend meiner Schulabschlussfeier, nach Bier riechend, neben mir in dem Ford saß, den er mir gerade geschenkt hatte, und sagte: Ich wünschte, Hassan hätte heute bei uns sein können.

Wie hatte er mich nur all die Jahre anlügen können? Und vor allem Hassan? Er hatte mich als kleinen Jungen auf seinen Schoß gesetzt, mir in die Augen geblickt und erklärt: Es gibt nur eine einzige Sünde. Und das ist der Diebstahl... Wenn du eine Lüge erzählst, stiehlst du einem anderen das Recht auf die Wahrheit. Hatte er nicht diese Worte zu mir gesagt? Und jetzt, fünfzehn Jahre nachdem ich ihn begraben hatte, erfuhr ich, dass Baba ein Dieb gewesen war. Und dazu noch ein Dieb der übelsten Sorte, denn die Dinge, die er gestohlen hatte, waren heilig: Mir hatte er das Recht genommen zu erfahren, dass ich einen Bruder hatte, Hassan hatte er seine Identität genommen und Ali seine Ehre. Sein nang. Sein namoos.

Immer wieder fragte ich mich, wie Baba es fertig gebracht hatte, Ali in die Augen zu blicken. Wie Ali es fertig gebracht hatte, Tag für Tag in dem Bewusstsein in diesem Haus zu leben, dass er auf die schlimmstmögliche Weise entehrt worden war, die man einem afghanischen Mann zufügen konnte. Und wie sollte ich dieses neue Bild von Baba mit dem Bild in Einklang bringen, das sich so lange in meinem Kopf eingeprägt hatte, das Bild von einem Mann in einem alten braunen Anzug, der die Einfahrt der Taheris hinaufhinkt, um für mich um Sorayas Hand zu bitten?

Hier ist ein weiteres Klischee, über das sich mein Dozent an der Universität gewiss abschätzig geäußert hätte: wie der Vater, so der Sohn. Aber es stimmte doch, oder etwa nicht? Im Grunde waren Baba und ich uns ähnlicher, als ich jemals gedacht hatte. Wir hatten beide die Menschen verraten, die ihr Leben für uns geopfert hätten. Und in dem Moment wurde mir noch etwas klar: Rahim Khan hatte mich nicht nur hierher gerufen, damit ich für meine Sünden büßte, sondern auch für Babas.

Rahim Khan hatte gesagt, dass ich immer zu streng mit mir selbst gewesen sei. Aber das bezweifelte ich. Es stimmte wohl, dass nicht ich Ali dazu gebracht hatte, auf die Landmine zu treten, und dass nicht ich die Taliban ins Haus geschickt hatte, um Hassan zu töten. Aber meine schrecklichen Schuldgefühle gegenüber Hassan hatten dazu geführt, dass ich ihn und Ali aus dem Haus getrieben hatte. War es da zu weit hergeholt, sich vorzustellen, dass sich die Dinge möglicherweise anders entwickelt hätten, wenn ich das nicht getan hätte? Vielleicht hätte Baba sie nach Amerika mitgenommen. Vielleicht hätte Hassan inzwischen ein eigenes Zuhause, einen Job, eine Familie, ein Leben in einem Land, wo sich niemand darum scherte, dass er ein Hazara war, wo die meisten Menschen nicht einmal etwas mit diesem Wort anfangen konnten. Vielleicht auch nicht. Aber vielleicht eben doch.

Ich kann nicht nach Kabul fahren, hatte ich zu Rahim Khan gesagt. Ich habe eine Frau in Amerika, ein Haus, eine Karriere und eine Familie. Aber wie könnte ich jetzt einfach von hier verschwinden und wieder nach Amerika zurückkehren, wo doch mein Handeln dazu geführt hatte, dass Hassan jegliche Möglichkeit genommen worden war, das zu besitzen, was ich besaß?

Hätte mich Rahim Khan doch nur nicht angerufen! Hätte er mich doch nur im Dunkeln über all diese Dinge gelassen! Aber er hatte mich angerufen. Und Rahim Khans Enthüllungen hatten vieles verändert. Sie hatten mich dazu gebracht, einzusehen, dass mein Leben lange vor dem Winter 1975, schon zu der Zeit, als mich noch die singende

Hazara-Frau stillte, ein einziger Teufelskreis aus Lügen, Verrat und Geheimnissen gewesen war.

Es gibt eine Möglichkeit, es wieder gutzumachen, hatte Rahim Khan gesagt. Eine Möglichkeit, aus diesem Teufelskreis auszubrechen.

Und diese Möglichkeit bot mir ein kleiner Junge. Ein Waisenkind. Hassans Sohn. Der irgendwo in Kabul war.

Auf der Fahrt in der Rikscha zurück zu Rahim Khans Wohnung fiel mir ein, dass Baba einmal gesagt hatte, mein Problem bestehe darin, dass immer jemand meine Kämpfe für mich ausgefochten habe. Jetzt war ich achtunddreißig Jahre alt. Ich bekam eine leichte Stirnglatze, mein Haar war von grauen Strähnen durchzogen, und in der letzten Zeit entdeckte ich immer mehr kleine Krähenfüße an den Augenwinkeln. Ich war jetzt älter, aber vielleicht noch nicht zu alt, um damit zu beginnen, meine Kämpfe selbst auszufechten. Wie sich herausgestellt hatte, hatte Baba bei vielen Dingen gelogen, aber was das anging, hatte er Recht gehabt.

Ich betrachtete erneut das runde Gesicht auf dem Polaroidfoto, das den Betrachter anblinzelte. Das Gesicht meines Bruders. Hassan hatte mich geliebt, auf eine Weise geliebt, wie es kein anderer jemals getan hatte oder jemals tun würde. Er war jetzt tot, aber ein Teil von ihm lebte weiter. In Kabul.

Rahim Khan betete gerade in einer Ecke des Zimmers sein namaz, als ich eintrat. Er war nur eine dunkle, nach Osten gebeugte Silhouette vor einem blutroten Himmel. Ich wartete, bis er geendet hatte.

Dann eröffnete ich ihm, dass ich nach Kabul fahren würde. Trug ihm auf, am Morgen die Caldwells anzurufen.

»Ich werde für dich beten, Amir jan«, gab er mir mit auf den Weg.

19

Wie so oft wurde mir wieder vom Autofahren übel. Als wir das von Kugeln durchlöcherte Schild mit der Aufschrift »The Khyber Pass Welcomes You« passierten, kam mir die Galle hoch. Mein Magen war in Aufruhr. Farid, mein Fahrer, warf mir einen strengen Blick zu. Von Mitleid war bei ihm nicht viel zu spüren. »Kann ich das Fenster aufmachen?«, fragte ich.

Er zündete sich eine Zigarette an und klemmte sie zwischen die beiden einzig verbliebenen Finger seiner linken Hand, mit der er das Lenkrad gepackt hielt. Die schwarzen Augen starr auf die Straße gerichtet, beugte er sich vor, langte nach dem Schraubenzieher, der zwischen seinen Füßen lag, und reichte ihn mir. Ich steckte ihn in das kleine Loch in der Tür, wo die Kurbel gesteckt hatte, und drehte die Scheibe herunter.

Farid warf mir wieder einen flüchtigen Blick zu, der kaum verhohlen Ablehnung zum Ausdruck brachte, und paffte an seiner Zigarette. Seit unserer Abfahrt von Jamrud Fort hatte er nicht mehr als ein Dutzend Wörter von sich gegeben.

»Tashakkor«, murmelte ich. Ich steckte den Kopf zum Fenster hinaus und ließ mir den kühlen Fahrtwind um die Nase wehen. Die mit ihren unzähligen Kurven durch die dünn besiedelte Landschaft am Khyber-Pass führende Straße entsprach noch ziemlich genau meiner Erinnerung. 1974 war ich mit Baba schon einmal durch diese Einöde aus Schiefer- und Kalkfelsen gefahren. Aus tiefen Schluchten erhoben sich gewaltige sonnenverbrannte Berge mit schroffen Spitzen. Alte Festungen, aus Lehmziegeln gemauert, thronten über den Felsen. Ich versuchte, die schneebedeckten Gipfel des Hindukusch im Norden zu fixieren, doch sobald sich mein Magen etwas beruhigt hatte, schleuderte der Wagen um eine weitere Kurve und brachte mich erneut zum Würgen.

»Versuch's mal mit einer Zitrone.«

»Was?«

»Zitrone. Gut gegen Kotzerei«, antwortete Farid. »Ich hab auf solchen Fahrten immer welche dabei.«

»Nay, danke.« Allein der Gedanke an noch mehr Säure schlug mir zusätzlich auf den Magen.

»Vielleicht nicht so schick wie amerikanische Medizin, wirkt aber trotzdem.« Farid kicherte. »Ist von meiner Mutter.«

Ich bedauerte die verpasste Gelegenheit, das Eis zwischen uns zu brechen. »Wenn dem so ist, probier ich's gern mal aus.«

Er angelte nach einer Papiertüte auf dem Rücksitz und kramte eine Zitronenhälfte hervor. Ich presste mir den Saft in den Mund und wartete ein paar Minuten. »Tatsächlich, ich fühle mich schon besser«, log ich. Höflichkeit geht in Afghanistan vor Wahrheitsliebe. Ich rang mir ein Lächeln ab.

»Altes watan/-Mittel. Raffinierte Medizin hat unsereins nicht nötig«, sagte er, und seine Stimme klang geradezu brüsk. Er schnippte die Asche von der Zigarette und betrachtete sich selbstgefällig im Rückspiegel. Er war ein Tadschike, ein schlaksiger dunkelhäutiger Mann mit wettergegerbtem Gesicht, schmalen Schultern und einem langen Hals mit vorstehendem Adamsapfel, der allerdings, vom Bart verdeckt, nur dann zu sehen war, wenn er den Kopf drehte. Er trug in etwa die gleiche Kleidung wie ich, oder richtiger formuliert war ich ähnlich gekleidet wie er: mit einer über einen grauen pirhan-tumban und eine Weste gehängten groben Wolldecke. Auf dem Kopf saß ein brauner pakol, leicht schräg nach dem Vorbild des tadschikischen Helden Ahmad Shah Massoud, den die Tadschiken vornehmlich als den »Löwen von Panjshir« bezeichneten.

Ich hatte Farid auf Vermittlung von Rahim Khan in Peshawar kennen gelernt. Durch Rahim Khan erfuhr ich auch, dass Farid erst neunundzwanzig war, obwohl er seiner grimmigen Miene und der tiefen Stirnfalten wegen gut und gern zwanzig Jahre älter aussah. In Mazar-e-Sharif zur Welt gekommen, war er im Alter von zehn Jahren mit seiner Familie nach Jalalabad gezogen. Mit vierzehn schloss er sich, wie sein Vater auch, dem Djihad gegen die Shorawi an. Zwei Jahre lang kämpften sie im Panjshir-Tal, dann wurde sein Vater von einem Helikopter unter Beschuss genommen und getötet. Farid hatte zwei Frauen und fünf Kinder, die noch lebten. Von Rahim Khan erfuhr ich, dass seine beiden jüngsten Töchter vor wenigen Jahren vor den Toren Jalalabads von einer Landmine getötet worden waren, von derselben Mine, der auch seine Zehen und die drei Finger der linken Hand zum Opfer gefallen waren. Danach war er mit seinen Frauen und den Kindern nach Peshawar umgezogen.

»Kontrolle«, knurrte Farid. Ich lehnte mich zurück, verschränkte die Arme über der Brust und vergaß für einen Moment meine Übelkeit. Grund zur Besorgnis gab es nicht. Die beiden pakistanischen Milizionäre kamen auf unseren schrottreifen Landcruiser zu, warfen einen flüchtigen Blick ins Innere und winkten uns weiter.

Farids Name stand ganz oben auf der Liste, die Rahim Khan und ich zur Planung meiner Reise zusammengestellt hatten. Darüber hinaus war zur Erinnerung auf ihr vermerkt: Dollar in Kaldar und Afghani eintauschen, landesübliche Kleidung und einen pakol anschaffen - Dinge, die ich während meiner jungen Jahre in Afghanistan ironischerweise nie getragen hatte -, das Polaroidfoto von Hassan und Suhrab einstecken und, was vielleicht am wichtigsten war, einen künstlichen Bart besorgen, schwarz und bis auf die Brust herabreichend, ganz im Sinne der Scharia beziehungsweise im Sinne ihrer Taliban'schen Auslegung. Rahim Khan kannte einen Perückenmacher in Peshawar, der sich auf die Herstellung solcher Barte spezialisiert hatte. Nachgefragt wurden sie vor allem von Kriegsberichterstattern aus dem Westen.

Rahim Khan hätte es lieber gesehen, wenn ich noch ein paar Tage länger geblieben wäre, um gründlicher planen zu können. Mir war es allerdings wichtig, so früh wie möglich aufzubrechen. Ich hatte Sorge, dass ich mir alles noch einmal anders überlegen würde. Womöglich hätte ich die Sache auf die lange Bank geschoben, in Frage gestellt, mir den Kopf zermartert und am Ende davon Abstand genommen. Ich fürchtete, dass ich, an mein angenehmes Leben in Amerika gewöhnt, aufstecken und es vorziehen würde, mich in den großen, breiten Fluss zurückzubegeben, um zu vergessen und all das, was ich in den letzten Tagen erfahren hatte, auf den Grund absinken zu lassen. Ich fürchtete, dass ich mich forttreiben lassen könnte von dem, was ich tun musste. Von Hassan. Von der Vergangenheit, die sich zurückgemeldet hatte. Und von dieser letzten Gelegenheit zur Versöhnung mit mir selbst. Also machte ich mich schleunigst auf den Weg. Soraya von meiner Rückkehr nach Afghanistan in Kenntnis zu setzen war ausgeschlossen. Hätte ich sie informiert, wäre sie mit dem nächsten Flugzeug nach Pakistan gekommen.

Kaum hatten wir die Grenze passiert, zeigten sich allenthalben Bilder der Armut. Die kleinen Ortschaften entlang der Straße waren in erbärmlichem Zustand; Lehmhäuser verfielen, und manche Hütten bestanden lediglich aus vier Holzpfosten und zerfetzten Tüchern, die als Dach herhalten mussten. Vor den Hütten jagten Kinder, in Lumpen gekleidet, einem Fußball hinterher. Ein paar Kilometer weiter sah ich eine Hand voll Männer auf der Ruine eines alten sowjetischen Panzers hocken, mit Umhängen, deren Saum im Wind flatterte. Hinter ihnen trug eine Frau in brauner Burkha einen schweren Tonkrug auf der Schulter und ging auf holprigem Pfad einer Reihe ärmlicher Lehmhütten entgegen.

»Seltsam«, sagte ich.

»Was?«

»Ich bin in meinem Heimatland und komme mir vor wie ein Tourist«, antwortete ich mit Blick auf eine kleine Herde ausgezehrter Ziegen. Farid lachte und schnippte seine Zigarette nach draußen. »Betrachtest du dieses Land immer noch als deine Heimat?«

»Ja, und das wird auch immer so sein«, antwortete ich in einem Ton, der nach Verteidigung klang, was mich selbst überraschte.

»Nach zwanzig Jahren in Amerika?« Farid riss energisch das Lenkrad herum, um einem Schlagloch von der Größe und Tiefe eines Waschzubers auszuweichen.

Ich nickte. »Ich bin in Afghanistan aufgewachsen.«

Farid kicherte wieder.

»Was soll das?«

»Nichts für ungut«, murmelte er. »Antworte. Was soll das Gekichere?«

Im Rückspiegel sah ich seine Augen aufblitzen. »Willst du's wirklich wissen?«, sagte er mit spöttischem Unterton. »Ich stelle mir vor: Wahrscheinlich wohnst du in einem großen ein- oder zweistöckigen Haus mit einem schönen Garten, den dein Gärtner mit Blumen und Obstbäumen bepflanzt hat. Das Ganze hübsch eingezäunt, versteht sich. Schon dein Vater hat einen amerikanischen Schlitten gefahren. Ihr hattet Dienstboten, wahrscheinlich Hazara, die das Haus geschmückt haben, wenn deine Eltern wieder mal eine ihrer schicken mehmanis feiern wollten, mit Freunden, die mit ihren Reisen durch Europa und Amerika geprahlt haben. Ich setze die Augen meines Erstgeborenen darauf, dass du hier und jetzt zum ersten Mal einen pakol trägst.« Grinsend zeigte er mir zwei Reihen frühzeitig faulender Zähne. »Stimmt's?«

»Warum sagst du das?«

»Du hast danach gefragt.« Er spuckte aus und deutete auf einen alten in Lumpen gekleideten Mann, der mit einem großen Sack voller Gras über einen Trampelpfad schlurfte. »Das ist das wahre Afghanistan, Aga Sahib. Das Afghanistan, wie ich es kenne. Du? Du bist hier immer nur Tourist gewesen. Du wusstest es nur nicht.«

Rahim Khan hatte mich gewarnt: Von denen, die im Land geblieben waren und in den Kriegen gekämpft hatten, war für mich kein herzliches Willkommen zu erwarten. »Tut mir Leid, das mit deinem Vater«, sagte ich. »Auch das mit deinen Töchtern und mit deiner Hand.«

»Dein Beileid bedeutet mir nichts«, sagte er kopfschüttelnd. »Warum bist du hergekommen? Um Babas Ländereien zu verkaufen? Das Geld einzusacken und schnell zur Mutter nach Amerika zurückzukehren?«

»Meine Mutter starb bei meiner Geburt«, sagte ich.

Er seufzte und steckte sich eine weitere Zigarette an. Ohne etwas zu sagen.

»Fahr rechts ran.«

»Was?«

»Fahr rechts ran, verdammt noch mal!«, wiederholte ich. »Mir wird schlecht.« Kaum waren die Räder zum Stehen gekommen, stürzte ich nach draußen.

Am späten Nachmittag hatten wir jenseits der kahlen, sonnenverbrannten Berghänge eine sehr viel grünere, kultiviertere Landschaft erreicht. Die Passstraße fiel hinter Landi Kotal, das Gebiet der Shinwari kreuzend, in Richtung Landi Khana ab. Bei Torkham waren wir nach Afghanistan eingereist. Kiefern säumten die Straße; es waren weniger als in meiner Erinnerung, und viele schienen verdorrt zu sein. Trotzdem war es gut, nach der anstrengenden Fahrt über den Khyber-Pass endlich wieder Bäume zu sehen. Wir näherten uns Jalalabad, wo ein Bruder Farids wohnte. Bei ihm würden wir die Nacht verbringen können.

Die Sonne war noch nicht untergegangen, als wir Jalalabad erreichten, die Hauptstadt von Nangarhar, berühmt für ihr Obst und das milde Klima. Wir passierten die aus festem Stein gebauten Häuser in der Stadtmitte. Anders als in meiner Erinnerung gab es hier nur noch wenige Palmen zu sehen, und von etlichen Gebäuden waren nur frei stehende Mauern und Berge von Schutt übrig geblieben.

Farid bog in eine enge, ungepflasterte Straße und parkte den Landcruiser neben einem trockenen Rinnstein. Ich stieg aus, reckte mich und atmete tief durch. Früher lag hier stets ein süßer Duft in der Luft, den der Wind von den bewässerten Zuckerrohrfeldern im Umkreis der Stadt herbeiwehte. Ich schloss die Augen und suchte nach diesem Duft, fand ihn aber nicht.

»Gehen wir«, sagte Farid ungeduldig. Wir setzten uns in Bewegung, kamen an entlaubten Pappeln und einer Reihe eingefallener Lehmmauern vorbei. Farid führte mich zu einem flachen baufälligen Haus und klopfte an die Brettertür.

Eine junge Frau machte auf. Sie trug einen weißen Schal um den Kopf gewickelt und hatte Augen so grün wie das Meer. Ihr Blick fiel zuerst auf mich. Sie erschrak. Doch als sie Farid sah, leuchteten ihre Augen auf. »Salaam alaykum, Kaka Farid!«

»Salaam, Maryam jan«, grüßte Farid und schenkte ihr, was er mir den ganzen Tag vorenthalten hatte, ein freundliches Lächeln. Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Die junge Frau trat zur Seite und beäugte mich argwöhnisch, als ich Farid ins Innere des kleinen Hauses folgte.

Die kahlen Wände ringsum waren, wie auch die tief hängende Decke, mit Lehm verputzt. Für Licht sorgten einzig und allein zwei Laternen, die in einer Ecke hingen. Wir zogen unsere Schuhe aus, um die Strohmatten am Boden zu schonen. Vor einer Wand hockten drei Jungen im Schneidersitz auf einer Matratze, über der eine verschlissene Wolldecke lag. Ein großer bärtiger Mann mit breiten Schultern stand auf, um uns zu begrüßen. Farid umarmte ihn, und die beiden tauschten Küsse auf die Wangen. Er stellte ihn mir als seinen älteren Bruder Wahid vor. »Er ist aus Amerika«, sagte er, an Wahid gewandt, und deutete mit dem Daumen auf mich. Dann begrüßte er die Jungen.

Wahid bat mich, Platz zu nehmen, und wir setzten uns an die Wand gegenüber den Jungen, die über Farid hergefallen waren und ihm auf die Schultern kletterten. Ungeachtet meiner Proteste, verlangte Wahid von einem von ihnen, eine Decke für mich zu holen, damit ich es auf dem Boden bequemer hätte. Maryam bekam den Auftrag, Tee zu servieren. Er erkundigte sich nach den Straßenverhältnissen und unserer Fahrt von Peshawar über den Khyber-Pass.

»Ich hoffe, Ihnen sind keine dozds in die Quere gekommen«, sagte er. Der Khyber war bekannt als Rückzugsgebiet für Banditen, die es auf Reisende abgesehen hatten. Ehe ich antworten konnte, zwinkerte er mit dem Auge und sagte laut genug, um im ganzen Raum gehört zu werden: »Aber ein dozd würde natürlich keine Zeit verschwenden auf ein so hässliches Auto wie das meines Bruders.«

Farid hatte den kleinsten der drei Brüder zu Boden gerungen und kitzelte ihn mit der gesunden Hand. Der Junge kicherte und trat mit den Beinen um sich. »Immerhin habe ich ein Auto«, bemerkte Farid. »Und wie geht es deinem Esel dieser Tage?«

»Mit dem fahr ich besser als du mit deiner Klapperkiste.«

»Khar khara mishnassah«, konterte Farid. Um einen Esel zu verstehen, muss man selbst ein Esel sein. Alle lachten, und ich stimmte mit ein. Nebenan waren Frauenstimmen zu hören. Ich konnte von meinem Platz aus den halben Raum jenseits des Durchgangs einsehen. Maryam schüttete Tee in eine Kanne und unterhielt sich mit einer älteren Frau in brauner hijab. Es war wahrscheinlich ihre Mutter.

»Was machen Sie beruflich, Amir Aga?«, fragte Wahid.

»Ich bin Schriftsteller«, antwortete ich und glaubte, ein Kichern von Farid gehört zu haben.

»Schriftsteller?« Wahid zeigte sich beeindruckt. »Schreiben Sie über Afghanistan?«

»Ja, auch. Aber nicht nur.« Mein letzter Roman, A Season for Ashes, handelte von einem Universitätsprofessor, der sich, nachdem er seine Frau mit einem seiner Studenten im Bett erwischt hatte, einer Clique von Bohémiens anschließt. Es war kein schlechtes Buch. Manche Kritiker hatten es für »gut« befunden, einer bezeichnete es sogar als »fesselnd«. Trotzdem geriet ich plötzlich in Verlegenheit und hoffte, dass sich Wahid nicht weiter danach erkundigte.

»Vielleicht sollten Sie wieder mal über Afghanistan schreiben«, sagte Wahid. »Erzählen Sie dem Rest der Welt, wie die Taliban unser Land zugrunde richten.« »Nun, dafür ... dafür bin ich wohl nicht der Richtige.«

»Aha.« Wahid nickte und errötete ein wenig. »Das wissen Sie natürlich selbst am besten. Es ist nicht an mir, Ihnen irgendwelche Vorschläge zu machen ... «

In diesem Augenblick kamen Maryam und die andere Frau mit einem Tablett herein, auf dem sie Tassen und eine Teekanne brachten. Ich stand respektvoll auf, legte eine Hand auf die Brust und verbeugte mich. »Salaam alaykum«, grüßte ich.

Die ältere Frau hatte die untere Gesichtshälfte mit ihrer hijab verdeckt. Auch sie verneigte sich und antwortete mit kaum hörbarer Stimme: »Salaam.« Zu einem Blickkontakt zwischen uns kam es nicht.

Ich blieb stehen, während sie Tee einschenkte, und setzte mich erst wieder, als sie auf bloßen Füßen lautlos nach nebenan zurückgegangen war. Der Tee war schwarz und sehr stark. Es blieb lange still. Schließlich brach Wahid das peinliche Schweigen.

»Was also führt Sie zurück nach Afghanistan?«

»Kommen nicht alle, lieber Bruder?«, sagte Farid und bedachte mich mit einem verächtlichen Blick.

»Bas!«, herrschte Wahid den jüngeren Bruder an.

»Es ist doch immer dasselbe«, fuhr Farid fort. »Sie verkaufen Grund und Boden, da ein Haus, hier eine Liegenschaft, kassieren das Geld und verkrümeln sich schnell wieder. Zurück nach Amerika, wo sie mit der Familie Urlaub in Mexiko machen und das Geld verjuxen.«

»Farid!«, blaffte Wahid, und seine Kinder, ja sogar Farid zuckten zusammen. »Hast du deine gute Erziehung vergessen? Du bist in meinem Haus! Amir Aga ist mein Gast, und ich lasse nicht zu, dass du so sprichst.«

Farid öffnete den Mund, um etwas zu sagen, besann sich aber eines anderen und schwieg, murmelte nur irgendetwas in seinen Bart und lehnte sich zurück. Sein auf mich gerichteter Blick war voller Vorwurf.

»Verzeihen Sie uns, Amir Aga«, sagte Wahid. »Schon als Kind war mein Bruder mit seinem Mund zwei Schritte weiter als mit dem Kopf.«

»Wenn hier jemand um Verzeihung bitten muss, dann bin ich es wohl«, entgegnete ich und lächelte bemüht. »Ich hätte ihm längst erklären sollen, weshalb ich nach Afghanistan gekommen bin. Verkaufsabsichten habe ich jedenfalls nicht. Ich bin nach Kabul unterwegs, um einen Jungen ausfindig zu machen.«

»Einen Jungen«, wiederholte Wahid.

»Ja.« Ich zog das Polaroidfoto aus meiner Hemdtasche. Hassans Bild vor Augen, kehrte meine Trauer über seinen Tod mit voller Wucht zurück. Ich musste wegsehen. Wahid nahm das Foto entgegen und betrachtete es. »Diesen Jungen?«

Ich nickte.

»Diesen Hazara-Jungen?« »Ja.«

»Was bedeutet er Ihnen?«

»Sein Vater stand mir sehr nahe. Das ist der Mann auf dem Foto. Er ist inzwischen gestorben.«

Wahid blinzelte mit den Augen. »Er war ein Freund von Ihnen?«

Spontan wollte ich die Frage bejahen, als ginge es auch mir darum, Babas Geheimnis zu hüten. Doch es war in dieser Hinsicht genug gelogen worden. »Er war mein Halbbruder.« Ich schluckte. Fügte hinzu: »Mein unehelicher Halbbruder.« Ich drehte die Teetasse in den Händen, spielte mit dem Henkel.

»Ich wollte nicht indiskret sein.«

»Das sind Sie auch nicht«, erwiderte ich. »Was haben Sie mit dem Jungen vor?«

»Ihn mit nach Peshawar nehmen. Da wohnen Leute, die sich um ihn kümmern werden.« Wahid gab mir das Foto zurück und legte mir seine große Hand auf die Schulter. »Sie sind ein ehrenhafter Mann, Amir Aga. Ein wahrer Afghane.« Ich wand mich innerlich.

»Ich bin stolz darauf, Sie heute Nacht zu Gast in meinem Haus zu haben«, sagte Wahid. Ich bedankte mich und riskierte einen Blick auf Farid. Er blickte nach unten und zupfte an den losen Enden der Strohmatratze.

Wenig später brachten Maryam und ihre Mutter zwei Schalen mit Gemüse-shorwa und zwei Fladenbrote herein. »Tut mir Leid, dass wir Ihnen kein Fleisch anbieten können«, sagte Wahid. »Fleisch können sich in dieser Zeit nur die Taliban leisten.«

»Die Suppe sieht köstlich aus.« Und sie war auch köstlich. Ich wollte mit Wahid und den Jungen teilen, doch Wahid sagte, dass die Familie schon gegessen habe. Farid und ich krempelten die Ärmel hoch, tunkten unser Brot in die dampfende shorwa und langten zu.

Beim Essen fiel mir auf, dass Wahids Söhne immer wieder neugierige Blicke auf meine digitale Armbanduhr warfen. Alle drei hatten ungewaschene Gesichter und ganz kurz geschnittene braune Haare unter ihren Kappen. Der Jüngste flüsterte dem Bruder etwas ins Ohr, worauf dieser nickte, ohne meine Uhr aus den Augen zu lassen. Der Älteste - ich schätzte sein Alter auf zwölf - schaukelte vor und zurück; auch er konnte sich anscheinend nicht satt sehen und starrte auf mein Handgelenk. Als ich mir nach dem Essen mit dem Wasser, das Maryam aus einem Tonkrug schüttete, die Hände wusch, bat ich Wahid um die Erlaubnis, seinen Söhnen ein hadia, ein Geschenk, machen zu dürfen. Er sagte Nein, doch weil ich darauf bestand, willigte er zögernd ein. Ich löste die Uhr vom Handgelenk und reichte sie dem jüngsten der drei Jungen. »Tashakor«, murmelte der.

»Darauf kann man ablesen, wie spät es an verschiedenen Orten der Welt ist«, erklärte ich. Die Jungen nickten höflich und begutachteten abwechselnd die Uhr. Doch bald war das Interesse an ihr verloren. Sie lag achtlos auf der Strohmatte.

»Das hättest du auch schon eher erzählen können«, sagte Farid später. Wir lagen Seite an Seite auf dem Strohlager, das Wahids Frau für uns gerichtet hatte. »Was?«

»Den Grund für deine Reise nach Afghanistan.« Seine Stimme klang sehr viel weniger barsch, als ich es von ihr gewohnt war.

»Du hast mich nicht danach gefragt«, antwortete ich. »Du hättest es mir sagen sollen.« »Du hast nicht danach gefragt.«

Er wälzte sich auf die Seite, legte den Kopf auf seinen angewinkelten Arm und sah mich an. »Ich könnte vielleicht dabei helfen, den Jungen zu finden.«

»Vielen Dank, Farid.«

»Tut mir Leid, dass ich etwas Falsches unterstellt habe.«

Ich seufzte. »Schwamm drüber. So falsch war's im Grunde gar nicht.«

Seine Hände sind auf dem Rücken zusammengebunden. Mit einem groben Strick, der ihm ins Fleisch der Handgelenke schneidet. Man hat ihm mit einem schwarzen Tuch die Augen verbunden. Er kniet auf der Straße, vor einem Rinnstein, in dem das Wasser steht. Der Kopf ist auf die Brust gesunken. Betend schaukelt er auf den Knien vor und zurück, scheuert sich dabei auf dem harten Boden die Haut auf. Auf der Hose bilden sich Blutflecken. Es ist später Nachmittag, und sein langer Schatten schwingt auf dem Schotter hin und her. Er murmelt etwas mit angehaltenem Atem. Ich trete einen Schritt näher heran. Tausendmal, murmelt er. Für dich - tausendmal. Er schaukelt vor und zurück. Er hebt den Kopf. Ich sehe eine blasse Narbe auf der Oberlippe. Wir sind nicht allein.

Zuerst sehe ich den Gewehrlauf. Dann den Mann dahinter. Er ist groß gewachsen, trägt eine Weste mit Fischgrätmuster und einen schwarzen Turban. Er blickt auf den Mann am Boden hinunter, die Augen leer und ohne jeden Ausdruck. Er geht einen Schritt zurück und hebt den Lauf. Hält die Mündung an den Hinterkopf des knienden Mannes. Auf dem Metall der Waffe scheint kurz das fahle Licht der Sonne auf. Dann ein ohrenbetäubender Knall.

Ich sehe den Gewehrlauf nach oben schnellen. Hinter der aus der Mündung aufsteigenden Rauchwolke sehe ich das Gesicht. Der Mann mit dem schwarzen Turban bin ich.

Ich erwachte mit einem Schrei, der mir in der Kehle stecken geblieben war.

Ich ging nach draußen, stand im matten Silberschein des Halbmondes und blickte hinauf in einen sprühenden Sternenhimmel. Zikaden zirpten, und durch die Bäume strich ein leichter Wind. Der Boden unter meinen bloßen Füßen war kühl, und plötzlich, zum ersten Mal seit unserer Einreise, hatte ich das Gefühl, wieder zu Hause zu sein. Nach all den Jahren stand ich wieder auf dem Boden meiner Vorfahren. Dies war der Boden, auf dem mein Urgroßvater seine dritte Frau geheiratet hatte, ein Jahr bevor er der verheerenden Cholera-Epidemie in Kabul zum Opfer fiel. Sie hatte ihm endlich einen Sohn zur Welt gebracht, was seinen ersten beiden Frauen nicht vergönnt gewesen war. Dies war der Boden, auf dem mein Großvater mit König Nadir Shah auf die Jagd gegangen war und einen Hirsch geschossen hatte. Meine Mutter lag hier begraben. Hier hatte ich um die Zuneigung meines Vaters geworben.

Ich lehnte mich an die mit Lehm verputzte Hausmauer. Das Gefühl der Verbundenheit mit diesem Land, das plötzlich in mir aufwallte, überraschte mich selbst, war ich doch lange genug weg gewesen, um zu vergessen und vergessen zu werden. Für die Leute, die hinter der Wand schliefen, an der ich lehnte, kam ich von einem Kontinent, der ihnen so fern war wie eine andere Galaxis. Ich hatte geglaubt, dieses Land vergessen zu haben. Doch so war es nicht. Eingehüllt in bleichen Mondschein, spürte ich Afghanistan unter meinen Füßen vibrieren. Vielleicht hatte auch Afghanistan mich am Ende doch nicht ganz vergessen.

Ich schaute nach Westen, in Richtung der Berge, hinter denen Kabul lag. Es gab sie noch, diese Stadt, und das nicht nur als Erinnerung oder in der Schlagzeile einer AP-Meldung auf Seite 15 des San Francisco Chronicle. Irgendwo hinter diesen Bergen im Westen schlief die Stadt, in der wir, mein Halbbruder und ich, unsere Drachen hatten steigen lassen. Dort irgendwo hatte der Mann mit den verbundenen Augen, der Mann aus meinem Traum, einen sinnlosen Tod erleiden müssen. Dort, jenseits dieser Berge, hatte ich einst eine Entscheidung getroffen. Und jetzt, ein Vierteljahrhundert später, war ich von dieser Entscheidung wieder eingeholt worden und auf heimatlichen Boden zurückgekehrt.

Ich wollte gerade ins Haus zurückgehen, als ich Stimmen hörte. Eine dieser Stimmen erkannte ich als die von Wahid.

»... bleibt nichts für die Kinder.«

»Auch wenn wir Hunger haben, wir sind keine Barbaren. Er ist Gast. Was hätte ich tun sollen?«, sagte er in gereiztem Ton.

»... morgen etwas auftreiben.« Sie war den Tränen nahe, wie es schien. »Was soll ich unseren Kindern ...«

Auf Zehenspitzen schlich ich davon. Ich ahnte jetzt, warum die Jungen so wenig Interesse an der Uhr gezeigt hatten. Sie hatten nicht auf die Uhr gestarrt, sondern auf meine Suppe.

Am frühen Morgen brachen wir auf und verabschiedeten uns. Ich bedankte mich bei Wahid für seine Gastlichkeit. Er deutete auf sein kleines Haus. »Es ist auch Ihr Haus«, sagte er. Seine drei Söhne standen in der Tür und beobachteten uns. Der Kleine trug die Uhr -sie baumelte an seinem dünnen Handgelenk.

Als wir abfuhren und ich im Rückspiegel meinen Gastgeber, von seinen Söhnen umringt, in der aufgewirbelten Staubwolke verschwinden sah, drängte sich mir der Gedanke auf, dass diese Jungen in einer anderen Welt ausreichend genährt und kräftig genug wären, um uns ein Stück weit zu begleiten.

Vor unserem Aufbruch, als ich sicher sein konnte, dass mich niemand sah, hatte ich -fast so wie vor sechsundzwanzig Jahren - ein Bündel zerknitterter Geldscheine unter eine der Matratzen gesteckt.

20

Farid hatte mich gewarnt. Das hatte er. Vergebens, wie sich herausstellte.

Wir fuhren über die holprige Straße, die sich von Jalalabad nach Kabul schlängelt. Als ich das letzte Mal auf dieser Straße, allerdings in Gegenrichtung, unterwegs gewesen war, hatte ich auf einem Lastwagen unter einer Plane gekauert. Fast wäre Baba damals von diesem bekifften, singenden Roussz'-Soldaten erschossen worden - Baba hatte mich in der Nacht fast zur Raserei gebracht, mir schreckliche Angst eingejagt und mich am Ende dann doch sehr stolz gemacht. Der Treck von Kabul nach Jalalabad, diese halsbrecherische Fahrt durch scharfe Kurven zwischen Felsen bergab, war jetzt nur noch Erinnerung, ein Überbleibsel aus zwei Kriegen. Vor zwanzig Jahren hatte ich Szenen des ersten Krieges mit eigenen Augen gesehen. Düstere Mahnmale säumten den Straßenrand: ausgebrannte alte sowjetische Panzer, umgekippte, durchgerostete Truppentransporter, ein zermalmter russischer Jeep, abgestürzt aus großer Höhe. Den zweiten Krieg hatte ich am Fernsehbildschirm miterlebt. Und jetzt sah ich das alles mit den Augen Farids.

Farid war in seinem Element. Scheinbar mühelos wich er den Schlaglöchern aus, die sich mitten auf der Fahrbahn aneinander reihten. Seit unserer nächtlichen Einkehr in Wahids Haus war er sehr viel gesprächiger geworden. Er hatte mich auf dem Beifahrersitz Platz

nehmen lassen und sah mich beim Sprechen immer wieder an. Ein- oder zweimal zeigte er sogar ein Lächeln. Während er mit seiner verstümmelten Hand am Lenkrad kurbelte, deutete er auf kleine aus Lehmhütten zusammengewürfelte Dörfer entlang des Wegs, wo vor Jahren Bekannte von ihm gewohnt hatten. Die meisten von ihnen, sagte er, seien tot oder in Flüchtlingslagern in Pakistan. »Und manchmal sind die Toten besser dran«, sagte er.

Er zeigte auf eine Ortschaft, von der kaum mehr als ein paar rußgeschwärzte, bröckelnde Mauern übrig geblieben waren. In einem Winkel lag schlafend ein Hund. »Da hat einmal ein Freund gewohnt«, sagte Farid. »Er hat Fahrräder repariert. Und gut tabla spielen konnte er. Die Taliban haben ihn und alle Angehörigen umgebracht und das Dorf niedergebrannt.«

Wir passierten die Ruinen; der Hund rührte sich nicht.

Früher hatte die Fahrt von Jalalabad nach Kabul rund zwei Stunden gedauert, vielleicht ein bisschen länger. Jetzt brauchten wir sechs Stunden. Und als wir endlich ankamen - wir hatten gerade den Mahipar-Damm hinter uns gelassen -, meinte Farid, mich vorwarnen zu müssen.

»Kabul hat sich sehr verändert«, sagte er. »So hört man.«

Farid warf mir einen Blick zu und erwiderte, dass etwas zu hören und zu sehen nicht dasselbe sei. Und er hatte Recht. Denn als sich die Stadt vor uns ausbreitete, schien es mir, nein, ich war mir sicher, dass er sich verfahren hatte. Er muss meine verdutzte Miene registriert haben - als Chauffeur war ihm dieser Ausdruck auf den Gesichtern derer, die Kabul lange Zeit nicht gesehen hatten, gewiss vertraut.

Er klopfte mir auf die Schulter. »Willkommen daheim«, grüßte er verdrossen.

Trümmer und Bettler. Wohin ich auch sah, das war es, was sich mir zeigte. Natürlich hatte es auch früher Bettler gegeben - eigens für sie hatte Baba immer ein paar Geldscheine in der Tasche gehabt; ich habe nie gesehen, dass er einen von ihnen hätte leer ausgehen lassen. Jetzt aber hockten sie in zerfetztem Sackleinen an jeder Straßenecke und streckten verdreckte Hände nach Almosen aus. Die meisten waren noch Kinder, dünn und mit verhärmten Gesichtern, manche kaum älter als fünf oder sechs. Einige saßen auf dem Schoß der verschleierten Mutter am Rand geschäftiger Straßenecken und riefen »Bakschisch!«. Und da war noch etwas, was mir erst nach einer Weile auffiel: Kaum eines von ihnen war in Begleitung eines erwachsenen Mannes. Väter gab es nach den Kriegen nur noch wenige in Afghanistan.

Wir fuhren auf der Jadeh Maywand, einer der ehemals verkehrsreichsten Straßen, in westlicher Richtung dem Stadtteil Karteh-Seh entgegen. Im Norden lag das knochentrockene Bett des Kabul-Flusses. Auf den Hügeln im Süden ragte die alte, verfallene Stadtmauer auf. Und gleich östlich davon thronte die Festung Bala Hissar - jene uralte Burg, die 1992 von Warlord Dostum okkupiert worden war - hoch oben auf einer Kuppe der Shirdarwaza-Kette, ebenjener Berge, von denen aus Gulbuddins Truppen zwischen 1992 und 1996 die Stadt mit Raketen beschossen und einen Großteil der Schäden angerichtet hatten, die ich nun vor mir sah. Die Shirdarwaza-Kette erstreckt sich bis weit nach Westen. Ich erinnerte mich an die Böller der Topeh chasht, der »Mittagskanone«, die von diesen Bergwänden widerhallten. Die Kanone donnerte jeden Tag Schlag zwölf und außerdem, um während des Ramadan bei Einbruch der Nacht das Ende der Fastenstunden anzuzeigen. Sie war damals überall in der Stadt zu hören.

»Auf der Jadeh Maywand war ich früher oft als Kind«, brummte ich vor mich hin. »Es gab jede Menge Geschäfte und Hotels. Neonreklame und Restaurants. In einem kleinen Laden neben dem alten Polizeipräsidium habe ich meine Drachen gekauft, bei einem alten Mann, der Saifo hieß.«

»Das Polizeipräsidium steht noch«, sagte Farid. »An Polizei fehlt es hier wahrhaftig nicht. Aber Drachen oder Läden, in denen man Drachen kaufen kann, wirst du hier und in ganz Kabul vergeblich suchen. Damit ist es vorbei.«

Die Jadeh Maywand hatte sich in eine breite Sandpiste verwandelt. Die Gebäude, die noch standen, drohten in sich zusammenzusacken. Dächer waren eingestürzt, und die Mauern steckten voller Granatsplitter. Ganze Häuserreihen lagen in Trümmern. Aus einem Schutthaufen sah ich ein von Kugeln durchsiebtes Reklameschild ragen: DRINK COCA

CO... konnte ich noch lesen. Ich sah Kinder in den Ruinen fensterloser Häuser zwischen Mauerresten spielen. Fahrradfahrer und Maultiergespanne kurvten im Zickzack um Trümmer, Kinder und streunende Hunde. Ein Schleier aus Staub hing über der Stadt; jenseits des Flusses stieg eine Rauchsäule in den Himmel. »Wo sind die Bäume?«, fragte ich.

»Die hat man im Winter verfeuert«, antwortete Farid. »Viele sind auch von den Shorawi gefällt worden.« »Warum?«

»Weil sich oft Scharfschützen dahinter versteckt haben.«

Ich wurde sehr traurig. Nach Kabul zurückzukehren war wie die Begegnung mit einem alten Freund, dem das Leben offenbar schwer zugesetzt hatte und der nun völlig verarmt und obdachlos war.

»Mein Vater hat in Shar-e-Kohna, der alten Stadt im Süden von hier, ein Waisenhaus gebaut«, sagte ich.

»Ich erinnere mich«, antwortete Farid. »Vor ein paar Jahren ist es zerstört worden.« »Halt doch bitte mal an«, sagte ich. »Ich möchte mir die Beine vertreten und mich ein bisschen umsehen.«

Farid parkte den Wagen in einer kleinen Seitenstraße gleich neben einem baufälligen, verlassenen Haus ohne Tür. »Das war einmal eine Apotheke«, murmelte Farid beim Aussteigen. Wir gingen zur Jadeh Maywand zurück und wandten uns nach rechts, Richtung Westen. »Was ist das für ein Gestank?«, fragte ich. Irgendetwas ließ meine Augen tränen.

»Diesel«, gab Farid zur Antwort. »Diesel?«

»Auf die Kraftwerke der Stadt ist kein Verlass. Es kommt immer wieder zu Stromausfällen. Darum behelfen sich die Leute mit eigenen Generatoren, die mit Diesel angetrieben werden.«

»Diesel. Weißt du noch, wonach es früher in dieser Gegend gerochen hat?«

Farid schmunzelte. »Nach Kebab.«

»Lamm-Kebab.«

»Lamm.« Farid ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. »So was bekommen in Kabul heutzutage nur die Taliban zu essen.« Er zupfte an meinem Ärmel. »Wenn man vom Teufel spricht...«

Da rollte ein Fahrzeug auf uns zu. »Bart-Patrouille«, flüsterte Farid.

Es war das erste Mal, dass mir Taliban zu Gesicht kamen. Ich hatte sie bislang nur im Fernsehen, im Internet, auf den Titelseiten von Zeitschriften oder Tageszeitungen gesehen. Jetzt aber stand ich ihnen kaum zwanzig Schritte gegenüber. Und ich wollte nicht wahr haben, dass es nackte Angst war, die da plötzlich in mir aufstieg, mir durch Mark und Bein ging und das Herz schneller schlagen ließ. Da waren sie. In all ihrer Herrlichkeit.

Der rote Toyota-Pick-up fuhr langsam an uns vorbei. Im Führerhaus hockte eine Hand voll ernst dreinblickender junger Männer mit geschulterten Kalaschnikows. Sie trugen allesamt Barte und schwarze Turbane. Einer von ihnen, ein dunkelhäutiger Mann Anfang zwanzig mit dichten zusammengekniffenen Augenbrauen, ließ eine Peitsche in der Hand rotieren und rhythmisch auf das Seitenblech des Wagens klatschen. Sein irrer Blick blieb plötzlich an mir hängen. Ich hatte mich in meinem ganzen Leben nicht so nackt gefühlt. Dann spie der Talib tabakbraunen Speichel aus und schaute zur Seite. Ich konnte aufatmen. Der Wagen rollte die Jadeh Maywand entlang und zog eine lange Staubwolke hinter sich her.

»Bist du nicht ganz bei Trost?«, zischte Farid. »Was?«

»Gaff diese Leute um Himmels willen nicht so an! Verstehst du mich? Niemals!« »Es war nicht meine Absicht«, entgegnete ich.

»Ihr Freund hat Recht, Aga. Einen tollwütigen Hund zu ärgern wäre weniger riskant«, tönte es plötzlich von hinten. Da saß ein alter barfüßiger Bettler auf den Stufen eines zerschossenen Hauseingangs. Er trug einen zerfetzten chapan und einen Turban, starrend vor Dreck. Das linke Lid hing schlaff über einer leeren Augenhöhle. Mit gichtiger Hand zeigte er in die Richtung, die der rote Pick-up eingeschlagen hatte. »Die machen hier ihre Runde. Sehen sich um und warten darauf, provoziert zu werden. Früher oder später findet sich immer einer, den sie sich vorknöpfen können. Dann haben die Hunde ihren Spaß.

Endlich keine Langeweile mehr, und jeder ruft: Allah-u-akbar! Und wenn ihnen ausnahmsweise einmal niemand querkommt, na, dann schlagen sie einfach wild um sich. Ist doch so, oder?«

»Merk dir das: Ist ein Talib in der Nähe, senk den Blick«, sagte Farid.

»Ihr Freund ist ein guter Ratgeber«, schmeichelte der alte Bettler, der plötzlich rasselnd zu husten anfing und in ein schmieriges Taschentuch spuckte. »Verzeihung, aber hätten Sie vielleicht ein paar Afghani für mich übrig?«, röchelte er.

»Bas. Lass uns gehen«, sagte Farid und zog mich am Arm.

Ich steckte dem Alten 100000 Afghani zu, umgerechnet ungefähr drei Dollar. Als er sich vorbeugte, um das Geld entgegenzunehmen, stieg mir der Gestank saurer Milch und ungewaschener Füße in die Nase, worauf sich mir der Magen umzudrehen drohte. Eilig steckte er das Geld weg und sah sich mit dem einen verbliebenen Auge argwöhnisch um. »Tausend Dank für Ihre Güte, Aga Sahib.«

»Wissen Sie, wo das Waisenhaus in Karteh-Seh ist?«, fragte ich.

»Westlich vom Darulaman-Boulevard. Es ist ganz leicht zu finden«, antwortete er. »Die Kinder sind von hier nach Karteh-Seh umquartiert worden, als das alte Waisenhaus von Raketen getroffen wurde. Mit anderen Worten, man hat sie aus dem Löwenkäfig befreit und dann zu den Tigern geworfen.«

»Danke für die Auskunft, Aga«, sagte ich und wandte mich ab.

»Das war wohl für Sie das erste Mal, nay?«

»Wie bitte?«

»Dass Sie einen Talib gesehen haben.«

Ich blieb ihm die Antwort schuldig. Der Alte nickte und zeigte grinsend ein paar faule, gelbe Zähne. »Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie sie in Kabul eingerollt sind. Was für ein freudiger Tag!«, sagte er. »Endlich Frieden! Ha ha, von wegen. Aber wie schon der Dichter sagte: Die Liebe schien grenzenlos, und dann kam der Streit.«

Ich musste schmunzeln. »Den ghazal kenne ich auch. Er ist von Hafis.«

»Allerdings«, antwortete der Alte. »Ich muss es wissen. Ich war Dozent für Literatur an der Universität.«

»Tatsächlich?«

Der Alte steckte die Fäuste unter die Arme. Und hustete. »Von 1958 bis 1996. Mein Fachgebiet war die Literatur von Hafis, Khayyam, Rumi, Beydel, Jami, Saadi. Ich war sogar einmal Gastdozent in Teheran, 1971 war das. Da habe ich eine Vorlesung über den Mystiker Beydel gehalten. Ich weiß noch, alle Zuhörer sind am Ende aufgestanden und haben geklatscht. Ha!« Er schüttelte den Kopf. »Aber Sie haben ja diese jungen Männer in dem Wagen gesehen. Was könnte denen schon am Sufismus gelegen sein?«

»Meine Mutter hat auch an der Universität gelehrt«, sagte ich.

»Und wie ist ihr Name?«

»Sofia Akrami.«

So getrübt das eine Auge auch war, es zeigte sich ein Leuchten darin. »Das Wüstengras lebt fort, mag auch die Frühjahrsblume blühen und verwelken. Ach, wie schön, so erhaben und elegisch.«

»Sie kannten meine Mutter?«, fragte ich und ging vor dem alten Mann in die Hocke.

»Nicht besonders gut, aber, ja, ich habe sie gekannt«, antwortete er. »Manchmal, wenn sich eine Gelegenheit bot, haben wir uns unterhalten. Das letzte Mal an einem Regentag, kurz vor den Abschlussprüfungen, da haben wir ein herrliches Stück Mandelkuchen miteinander geteilt. Mandelkuchen und dazu heißen Tee mit Honig. Sie war damals hochschwanger und umso schöner. Ich werde nie vergessen, was sie mir an diesem Tag anvertraut hat.«

»Was denn? Bitte, sagen Sie es mir.« Baba hatte Mutter immer nur in allgemeinen Worten beschrieben, die wenig besagten, in Sätzen wie »sie war eine große Frau«. Ich aber war stets auf Einzelheiten aus gewesen; mich interessierte viel mehr, in welcher Tönung ihr Haar im Sonnenlicht schimmerte, welche Eiskrem sie bevorzugte, was für Lieder sie vor sich hin summte oder ob sie womöglich an den Fingernägeln kaute. Baba hatte seine Erinnerungen an sie mit ins Grab genommen. Dass er sich so zugeknöpft gegeben hatte, war vielleicht dem schlechten Gewissen geschuldet, der Reue über sein Verhalten so kurz nach ihrem Tod. Oder vielleicht hatte ihn der Verlust allzu sehr geschmerzt, als dass es ihm möglich gewesen wäre, von ihr zu sprechen. Vielleicht war beides Grund für seine Verschlossenheit.

»Sie sagte: >Ich habe Angst.< Ich fragte, warum, und sie antwortete: >Weil ich so glücklich bin, Doktor Rasul. Schieres Glück ist beängstigend.< - >Wieso denn das?<, wollte ich wissen, und sie sagte: >Sie lassen einen nur dann so glücklich sein, wenn sie etwas von dir wollen.< ->Ach was<, sagte ich, >das ist doch dummes Zeug.<«

Farid nahm mich beim Arm. »Wir sollten jetzt gehen, Amir«, flüsterte er mir zu. Ich riss mich von ihm los. »Was sonst noch? Hat sie noch etwas gesagt?«

In der Miene des Alten zeigte sich Bedauern. »Ich wünschte mich erinnern zu können, schon allein Ihnen zuliebe. Aber alles andere habe ich vergessen. Ihre Mutter ist schon lange tot, und meine Erinnerungen sind so verschüttet wie die Räume in dieser Stadt. Tut mir Leid.«

»Aber es wird Ihnen doch noch irgendetwas einfallen, irgendeine Kleinigkeit.«

Der Alte lächelte. »Ich will versuchen, mich zu erinnern. Versprochen. Kommen Sie zurück, suchen Sie mich.«

»Danke«, sagte ich. »Vielen herzlichen Dank.« Es war mir ernst. Jetzt wusste ich, dass meine Mutter Mandelkuchen und heißen Tee mit Honig gemocht hatte, dass sie das Wort »schier« benutzte und sich wegen ihres Glücks Sorgen machte. Ich hatte von diesem alten Bettler auf der Straße mehr über meine Mutter erfahren als von Baba.

Auf dem Weg zurück zum Wagen mochte weder Farid noch ich kommentieren, was den meisten Nicht-Afghanen als ein allzu unwahrscheinlicher Zufall vorkommen würde, dass nämlich ein Bettler tatsächlich meine Mutter gekannt hatte. Doch wir beide wussten, dass in Afghanistan und besonders in Kabul solche Absonderlichkeiten durchaus an der Tagesordnung waren. Baba pflegte zu sagen: »Steck zwei x-beliebige Afghanen für zehn Minuten in ein Zimmer, und sie werden bald herausfinden, über welche Linien sie miteinander verwandt sind.«

Wir ließen den Alten hinter uns zurück. Ich war entschlossen, auf sein Angebot einzugehen und zurückzukommen, um nachzufragen, ob ihm weitere Geschichten über meine Mutter eingefallen seien. Doch ich sah ihn nie wieder.

Wir fanden das neue Waisenhaus im Norden von Karteh-Seh, am Ufer des ausgetrockneten Kabul-Flusses. Es war ein flaches kasernenartiges Gebäude mit zerschossenen Wänden und zugenagelten Fenstern. Farid hatte mir auf dem Weg hierher erklärt, dass von allen Vierteln in Kabul keines so sehr vom Krieg in Mitleidenschaft gezogen worden war wie Karteh-Seh. Davon konnte ich mich nun, da wir aus dem Wagen stiegen, mit eigenen Augen überzeugen. Aufgesprengte Straßen säumten die bizarren Mauerreste ausgebombter Häuser. Wir kamen an dem verrosteten Gerippe eines umgestürzten Autos vorbei, an einem halb im Schutt versunkenen Fernsehapparat ohne Bildschirm, an einer Wand, auf die mit schwarzer Farbe die Worte Zenda bad Taliban! gesprüht waren: Lang leben die Taliban!

Ein klein gewachsener, dünner Mann mit schütterem Haar und struppigem grauem Bart öffnete die Tür. Er trug ein abgewetztes Tweedjackett, eine einfache Strickmütze, und die

Brille, die auf die Nasenspitze heruntergerutscht war, hatte ein gesprungenes Glas. Die winzigen Augen kugelten hin und her wie schwarze Erbsen, den Blick mal auf mich, mal auf Farid gerichtet. »Salaam alaykum«, grüßte er.

»Salaam alaykum«, sagte ich und zeigte ihm das Polaroidfoto. »Wir suchen diesen Jungen.«

Er warf einen flüchtigen Blick auf das Bild. »Kenn ich nicht, tut mir Leid.« »Sie haben ja gar nicht richtig hingesehen, mein Freund«, sagte Farid. »Schauen Sie sich das Bild doch mal genauer an.« »Lotfan«, fügte ich hinzu. Bitte.

Der Mann nahm das Foto in die Hand. Studierte es. Und reichte es mir zurück. »Nay, tut mir Leid. Ich kenne jedes einzelne Kind in unserm Haus, aber das habe ich noch nie gesehen. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden, ich habe noch zu tun.« Er machte die Tür zu und schloss ab.

Ich klopfte mit den Knöcheln an. »Aga! Aga, bitte machen Sie auf. Wir wollen dem Jungen doch nicht schaden.«

»Wie gesagt, er ist nicht hier«, tönte es jenseits der Tür. »Gehen Sie jetzt bitte.«

Farid trat einen Schritt näher und legte seine Stirn an das Türblatt. »Freund, wir gehören nicht zu den Taliban«, sagte er leise und vorsichtig. »Der Mann, der mit mir gekommen ist, will den Jungen in Sicherheit bringen.«

»Ich komme aus Peshawar«, sagte ich. »Ein guter Freund von mir kennt ein amerikanisches Paar, das dort ein Heim für Kinder unterhält.« Ich spürte, dass der Mann hinter der Tür ausharrte und lauschte, dass er zögerte und zwischen Argwohn und Hoffnung schwankte. »Hören Sie, ich kannte Suhrabs Vater«, fuhr ich fort. »Sein Name war Hassan. Die Mutter hieß Farzana. Er nannte seine Großmutter Sasa. Er kann lesen und schreiben. Und gut mit der Schleuder umgehen. Für diesen Jungen gibt es Hoffnung, Aga, einen Ausweg. Bitte öffnen Sie die Tür.«

Auf der anderen Seite regte sich nichts.

»Ich bin sein Halbonkel«, sagte ich.

Es blieb noch eine Weile still. Dann klapperte ein Schlüssel im Schloss. Die Tür ging auf, und im Spalt zeigte sich das schmale Gesicht des Mannes. Sein Blick wanderte zwischen Farid und mir hin und her. »In einer Hinsicht irren Sie.«

»Nämlich?«

»Er kann fantastisch gut mit der Schleuder umgehen.« Ich lächelte.

»Er hat dieses Ding immer bei sich, trägt es im Hosenbund, wohin er auch geht.«

Er ließ uns schließlich eintreten und stellte sich mit dem Namen Zaman vor, als Leiter des Waisenhauses. »Gehen wir in mein Büro«, sagte er.

Wir folgten ihm durch düstere, schäbige Gänge, in denen ärmlich gekleidete Kinder auf nackten Füßen herumsprangen. Wir kamen an Räumen vorbei, wo in Ermangelung eines festen Bodens Filzteppiche ausgelegt und die Fenster statt mit Glasscheiben mit Plastikfolien verschlossen waren. Diese Räume standen voller Betten aus Metallgestellen, die meisten ohne Matratze.

»Wie viele Waisen wohnen hier?«, fragte Farid.

»Mehr, als dass wir für alle Platz hätten. Ungefähr zweihundertfünfzig«, antwortete Zaman über die Schulter hinweg. »Aber sie sind nicht etwa alle yateem. Viele haben nur ihre Väter im Krieg verloren. Die Mütter können aber nicht mehr für sie aufkommen, weil die Taliban verbieten, dass sie arbeiten. Also bringen sie ihre Kinder zu uns.« Er deutete mit ausgestreckter Hand ringsum und fügte betreten hinzu: »Hier ist es immerhin besser als auf der Straße, zumindest ein bisschen besser. Allerdings ist das Haus nicht gebaut worden, um darin zu wohnen; es war das Lager einer Teppichfabrik. Einen Warmwasserbereiter oder so etwas gibt es hier nicht, außerdem ist der Brunnen ausgetrocknet.« Er senkte die Stimme. »Damit ein neuer Brunnen gegraben werden kann, habe ich die Taliban um Geld gebeten, immer wieder, aber sie haben nur ihre Gebetsketten durch die Finger gleiten lassen und gemeint, dass es kein Geld gebe. Kein Geld.« Er kicherte. »Sie haben jede Menge Heroin, aber für einen Brunnen soll angeblich das Geld fehlen.«

Er zeigte auf eine an der Wand entlang aufgestellte Reihe von Betten. »Wir haben weder genug Betten noch ausreichend Matratzen. Schlimmer noch, es fehlt sogar an Decken.« Er machte uns auf ein kleines Mädchen aufmerksam, das mit zwei anderen Kindern Seilhüpfen spielte. »Sehen Sie dieses Mädchen? In diesem Winter mussten sich unsere Kinder die wenigen Decken teilen. Ihr Bruder ist gestorben, erfroren.« Er ging weiter. »Als ich das letzte Mal nach den Vorräten gesehen habe, gab es nur noch für knapp einen Monat Reis. Wenn der aufgebraucht ist, werden die Kinder ausschließlich Brot und Tee zu essen bekommen, morgens wie abends.« Mir fiel auf, dass an ein Mittagessen gar nicht zu denken war.

Er blieb stehen, wandte sich mir zu. »Das Haus bietet nur wenig Schutz; wir haben kaum Lebensmittel, viel zu wenig Kleider und kein sauberes Wasser. Nur an Kindern, die ihre Kindheit verloren haben, mangelt es nicht. Und das Tragische ist, dass ausgerechnet sie noch Glück hatten. Unsere Kapazitäten sind erschöpft. Tagtäglich muss ich Mütter abweisen, die uns ihre Kinder bringen.« Er trat einen Schritt auf mich zu. »Sie sagen, dass es für Suhrab Hoffnung gibt? Das würde ich mir sehr wünschen, Aga. Aber ... ich fürchte, Sie kommen zu spät.«

»Was soll das heißen?«

Zaman wich meinem Blick aus. »Folgen Sie mir.«

Vier kahle, rissige Wände, eine Matte auf dem Boden, ein Tisch und zwei Klappstühle: Das war das Büro des Heimleiters. Zaman nahm auf dem einen, ich auf dem anderen Stuhl Platz. Aus einem Loch in der Sockelleiste steckte eine graue Ratte den Kopf hervor und flitzte dann quer durch den Raum. Ich zuckte zurück, als sie an meinen Schuhen schnupperte. Dann interessierte sie sich für die von Zaman und huschte schließlich durch die Tür nach draußen.

»Sie fürchten, ich sei zu spät gekommen. Was meinen Sie damit?«, fragte ich.

»Darf ich Ihnen eine Tasse chai anbieten? Ich könnte eine Kanne aufgießen.«

»Nay, danke. Mir war's lieber, wir kämen gleich zur Sache.«

Zaman lehnte sich zurück und verschränkte die Arme auf der Brust. »Was ich zu sagen habe, wird Ihnen nicht gefallen, ganz abgesehen davon, dass die Sache auch sehr gefährlich werden könnte.«

»Für wen?«

»Für Sie. Mich. Und natürlich auch für Suhrab, wenn es denn nicht schon zu spät für ihn ist.«

»Ich muss Bescheid wissen«, sagte ich.

Er nickte. »Verstehe. Aber zuerst möchte ich Ihnen eine Frage stellen: Wie wichtig ist es für Sie, Ihren Neffen zu finden?«

Ich dachte zurück an die Schlägereien auf der Straße, bei denen Hassan immer für mich eingestanden hatte und er es oft gegen zwei, manchmal sogar gegen drei Jungen aufnehmen musste. Ich hatte zugesehen, wohl auch eingreifen wollen, war aber immer wieder zurückgeschreckt, zurückgehalten von irgendetwas.

Ich warf einen Blick in den Flur und sah eine Gruppe von Kindern im Kreis tanzen. Ein kleines Mädchen, dem das linke Bein unterhalb des Knies amputiert worden war, hockte auf einem verschlissenen Teppich, sah lächelnd zu und klatschte im Takt. Wie ich sah, beobachtete auch Farid die Kinder; seine verkrüppelte Hand hing seitlich herab. Ich erinnerte mich an Wahids Jungen und ... mir war plötzlich klar: Ich würde Afghanistan nicht verlassen, ohne Suhrab gefunden zu haben. »Sagen Sie mir, wo er ist«, sagte ich.

Zaman sah mir in die Augen. Dann nickte er, nahm einen Bleistift zur Hand und drehte ihn zwischen den Fingern. »Lassen Sie meinen Namen bitte unerwähnt.«

»Versprochen.«

Er tippte mit dem Bleistift auf den Tisch. »Versprochen oder nicht, ich fürchte, dass ich diesen Augenblick noch bereuen werde. Aber es muss wohl sein. Verflucht bin ich so oder so. Doch wenn für Suhrab etwas getan werden kann ... Ich sag's Ihnen, weil ich Ihnen glaube. Es scheint, Sie stecken selbst in Schwierigkeiten.« Er legte eine lange Pause ein. »Es gibt da einen Talib-Funktionär«, murmelte er schließlich. »Er kommt alle ein, zwei Monate zu Besuch und bringt Geld. Es ist nicht viel, aber besser als gar nichts.« Sein fahriger Blick wich immer wieder aus. »Meistens nimmt er sich ein Mädchen. Aber nicht immer.«

»Und das lassen Sie zu?«, meldete sich Farid zu Wort. Er kam um den Tisch herum und ging auf Zaman zu.

»Was bleibt mir anderes übrig?«, blaffte Zaman und rückte vom Tisch ab.

»Sie sind hier der Leiter«, sagte Farid. »Es ist Ihre Aufgabe, diese Kinder zu beschützen.«

»Mir sind die Hände gebunden.« »Sie verkaufen Kinder!«, bellte Farid.

»Farid, lass gut sein!«, sagte ich. Zu spät. Schon war mein Freund über Zaman hergefallen, der mitsamt seinem Stuhl nach hinten kippte. Von Farid überwältigt, schlug der Heimleiter verzweifelt um sich und stieß würgende Schreie aus. Mit strampelnden Beinen trat er eine Schublade aus dem Tisch, worauf sich ein Wust fliegender Blätter über den Boden verteilte.

Ich eilte herbei und sah, dass Farid dem kleinen Mann die Kehle zudrückte. Ich packte Farid mit beiden Händen bei den Schultern und versuchte, ihn zurückzuzerren. »Hör auf damit!«, brüllte ich, doch er ignorierte mich. Sein Gesicht war hochrot angelaufen und wutverzerrt. »Ich bring ihn um! Davon hältst du mich nicht ab. Ich bring ihn um!«, zischte er.

»Lass ihn los!«

»Ich bring ihn um!«, wiederholte er, und seine Stimme ließ keinen Zweifel aufkommen. Mir war klar, wenn ich nicht sofort einschreiten würde, wäre es um Zaman geschehen.

»Farid, die Kinder! Sie sehen zu«, sagte ich. Ich spürte, wie sich seine Schultern unter meinen Händen verkrampften, und glaubte schon, dass er Zamans Hals zerquetschen würde. Dann drehte er sich um und sah die Kinder in der Tür stehen, Hand in Hand und sprachlos. Manche hatten zu weinen angefangen. Ich spürte, wie sich Farids Muskeln entspannten. Er hob die Hände und stand auf, sah auf Zaman herab und spuckte ihm ins Gesicht. Dann ging er zur Tür und machte sie zu.

Zaman hustete und rang nach Luft, als er sich mühsam vom Boden erhob und die Mütze über den Kopf zog. Er betupfte die blutenden Lippen mit dem Ärmel seiner Jacke und wischte sich den Speichel von der Wange. Jetzt war auch das andere Brillenglas zersprungen. Er legte das Gestell ab und schlug die Hände vors Gesicht. Uber lange Zeit gab keiner von uns einen Ton von sich.

»Er hat Suhrab vor einem Monat mitgenommen«, krächzte Zaman schließlich, das Gesicht immer noch unter den Händen verborgen.

»Und so etwas nennt sich Direktor«, ereiferte sich Farid.

Zaman ließ die Schultern hängen. »Ich habe schon seit über sechs Monaten kein Gehalt mehr bekommen und bin mittellos, weil ich meine ganzen Ersparnisse in dieses Haus gesteckt habe. Alles, was ich je besessen oder geerbt habe, ist für dieses gottverlassene Heim drauf gegangen. Glauben Sie, ich hätte keine Angehörigen in Pakistan oder Iran? Auch ich hätte mich aus dem Staub machen können. Stattdessen bin ich geblieben. Wegen denen.« Er zeigte auf die Tür. »Wenn ich ihm ein Kind verweigerte, würde er zehn nehmen. Also habe ich ihm eines gegeben und überlasse es Allah, darüber zu urteilen. Ich schlucke meinen Stolz hinunter und nehme sein verfluchtes, dreckiges Geld an. Um zum Basar gehen und Lebensmittel für die Kinder kaufen zu können.«

Farid senkte den Blick.

»Was geschieht mit den Kindern, die er mitnimmt?«, fragte ich.

Zaman rieb sich die Augen mit Zeigefinger und Daumen. »Manche kommen zurück.« »Wer ist dieser Kerl? Wo finden wir ihn?«

»Gehen Sie morgen ins Ghazi-Stadion. Da werden Sie ihn in der Halbzeit sehen können. Er ist derjenige mit der schwarzen Sonnenbrille.« Er hob die kaputte Brille auf und drehte sie in den Händen. »Sie sollten jetzt gehen. Die Kinder ängstigen sich.«

Er geleitete uns nach draußen.

Als wir wegführen, sah ich Zaman im Seitenrückspiegel vor der Tür stehen. Eine Gruppe von Kindern hatte sich um ihn geschart. Sie hielten sich am Saum seines losen Hemdes fest. Ich sah, dass er die Brille wieder aufgesetzt hatte.

21

Wir überquerten den Fluss und fuhren in nördlicher Richtung über den bevölkerten Paschtunistan-Platz. Früher waren Baba und ich hier häufig ins Khyber-Restaurant eingekehrt, wo er dann für uns Kebab bestellt hatte. Das Gebäude stand noch, doch die Türen waren verriegelt und verrammelt, die Fenster eingeschlagen, und im Schild über dem Eingang fehlten die Buchstaben K und R.

In der Nähe des Restaurants bemerkte ich einen Leichnam. Es hatte eine Hinrichtung gegeben. Ein junger Mann baumelte in der Schlinge eines Seils, das von einem Balken herunterhing. Sein Gesicht war geschwollen und blau angelaufen; die Kleider, die er am letzten Tag seines Lebens trug, waren zerrissen und blutverschmiert. Kaum jemand nahm Notiz von ihm.

Wir fuhren schweigend über den Platz und steuerten auf das Wazir-Akbar-Khan-Viertel zu. Wohin man auch sah, überall lagen Schleier von Staub über der Stadt und ihren Häusern aus luftgetrockneten Lehmziegeln. Ein paar Straßenzüge nördlich des Paschtunistan-Platzes machte mich Farid auf zwei Männer aufmerksam, die an einer belebten Straßenecke standen und sich angeregt unterhielten. Einer der beiden balancierte auf einem Bein; von dem anderen war nur ein Stumpf übrig geblieben. Die Prothese hielt er wie ein Kind im Arm. »Weißt du, worum es da geht? Sie feilschen um das Bein.« »Er verkauft seine Prothese?«

Farid nickte. »Auf dem Schwarzmarkt kriegt man gutes Geld dafür. Und für die Kinder ist dann erst einmal wieder ein, zwei Wochen lang gesorgt.«

Zu meiner Überraschung hatten die meisten Häuser im Wazir-Akbar-Khan-Viertel noch intakte Dächer und Mauern, ja, sie befanden sich in durchaus gutem Zustand. Auch Bäume gab es noch, und auf den Straßen lag nicht annähernd so viel Schutt wie auf denen in Karteh-Seh. Die Verkehrsschilder waren ausgebleicht, verbeult und zerschossen, aber immerhin standen sie noch.

»Hier sieht's ja ganz manierlich aus«, bemerkte ich.

»Kein Wunder. Hier leben jetzt viele einflussreiche Leute.«

»Taliban?«

»Unter anderem, ja«, antwortete Farid. »Wer denn sonst noch?«

Wir fuhren eine breite Straße mit recht sauberen Gehsteigen und gepflegten Wohnhäusern zu beiden Seiten entlang. »Die Leute hinter den Taliban. Die eigentlichen Köpfe dieser Regierung, wenn man denn überhaupt von Regierung sprechen kann. Araber, Tschetschenen, Pakistani«, sagte Farid. Er zeigte nach Nordwesten. »Da drüben, die Straße

15 wird Sarak-e-Mehmana genannt.« Straße der Gäste. »Als solche gelten sie hier, als Gäste. Ich vermute, dass uns alle diese Gäste eines Tages auf den Teppich pissen werden.«

»Ich glaube, da ist es!«, sagte ich. »Da drüben!« Ich deutete auf eine unverwechselbare Stelle, die mir früher in meiner Kindheit und Jugend als Wegweiser gedient hatte. Wenn du dich jemals verirren solltest, pflegte Baba zu sagen, dann erinnere dich daran, dass am Ende unserer Straße ein rosafarbenes Haus steht. Dieses auffällige rosafarbene Haus mit dem steilen Dach stand immer noch.

Farid bog in die Straße ein. Nach Babas Haus brauchte ich nicht lange zu suchen.

Wir entdecken die kleine Schildkröte im Hof hinter dem Gestrüpp wild wuchernder Heckenrosen. Rätselhaß, wie sie dorthin gelangt ist, doch das kümmert uns nicht weiter, wir sind viel zu aufgeregt. Hassan hat eine zündende Idee, und wir bemalen den Panzer mit hellroter Farbe. So kann uns das Tier nicht so leicht im Gebüsch verloren gehen. Wir bilden uns ein, verwegene Forscher zu sein, die in einem fernen Dschungel auf ein riesiges prähistorisches Monstrum gestoßen sind und es mit nach Hause gebracht haben, um es der Welt zu zeigen. Wir stecken die Schildkröte in das kleine von Ali gebastelte Holzauto, das Hassan zum Geburtstag geschenkt bekommen hat, und stellen uns vor, das Auto wäre ein riesiger Käfig aus Eisen. Seht nur dieses Feuer speiende Ungeheuer! Wir marschieren durch das Gras, ziehen den Wagen hinter uns her, an Apfel- und Kirschbäumen vorbei, die sich für uns in mächtige Wolkenkratzer verwandeln, aus deren Fenstern Tausende von Köpfen hervorlugen, neugierig gemacht von unserem Spektakel. Wir ziehen über die kleine halbmondförmig geschwungene Brücke, die Baba zur Zierde in den Feigenbaumhain gebaut hat. Für uns ist sie eine große Hängebrücke, die zwei Städte miteinander verbindet, und der kleine Tümpel, den sie überspannt, ein tosendes Meer. Uber den himmelhoch aufragenden Stützen und Kabeln der Brücke versprühen explodierende Feuerwerkskörper ihr buntes Licht, und auf beiden Seiten entrichten uns bewaffnete Soldaten ihren Salut. Die kleine Schildkröte kegelt in dem Holzauto hin und her. Wir ziehen es über die mit roten Steinen gepflasterte Auffahrt vor dem schmiedeeisernen Tor und erwidern die Grüße der Staatsmänner aus aller Welt, die dort Spalier stehen und applaudieren. Uns, Hassan und Amir, den berühmten Abenteurern und erfolgreichen Forschungsreisenden, denen für ihre mutigen Unternehmungen ein Ehrenzeichen verliehen wird...

Zwischen den verwitterten Ziegelsteinen der Auffahrt wucherte Unkraut. Ich stand vor dem Tor meines Vaterhauses und kam mir vor wie ein Fremder. Die Hände auf die rostigen Eisenstäbe gelegt, dachte ich daran, wie ich als Kind unzählige Male durch dieses Tor gelaufen war, um Dinge zu besorgen, die aus heutiger Sicht belanglos, damals aber von großer Wichtigkeit waren.

Die Verlängerung der Auffahrt führte vom Tor in den Hof, wo Hassan und ich in dem Sommer, in dem wir Fahrrad fahren lernten, ein ums andere Mal gestürzt waren. Ich hatte dieses Wegstück sehr viel breiter in Erinnerung. Die Asphaltdecke war an mehreren Stellen aufgerissen, und aus den gezackten Spalten quoll Unkraut hervor. Die Pappeln, in denen Hassan und ich gehockt und unsere Blendspiegel auf die Häuser der Nachbarschaft gerichtet hatten, waren zum Großteil abgeholzt worden. Was davon noch übrig geblieben war, stand fast ohne Laub da. Die von uns so genannte Mauer des kränkelnden Maises gab es noch, doch von Mais, ob kränkelnd oder nicht, fehlte jede Spur. Der Anstrich blätterte ab und war an manchen Stellen ganz und gar verschwunden. Der Rasen hatte das gleiche Braun angenommen wie die Dunstglocke über der Stadt, abgesehen von den kahlen Flecken, die noch dunkler waren.

In der Auffahrt parkte ein Jeep, und der wirkte fehl am Platz, denn dahin gehörte Babas schwarzer Mustang. Jahrelang hatte mich an jedem Morgen das Brummen seines Achtzylindermotors aus dem Schlaf geholt. Mir fiel auf, dass der Jeep Ol verlor; der Fleck, der sich auf dem Asphalt ausgebreitet hatte, wirkte auf mich wie ein großer Rorschach-Tintenklecks. Hinter dem Jeep lag eine umgekippte Schubkarre. Von den Rosenbüschen, die Baba und Ali auf der linken Seite gepflanzt hatten, war nichts mehr zu sehen. Stattdessen nur Dreck und Unkraut.

Farid drückte zweimal auf die Hupe. »Es wäre besser, wir verschwinden. Sonst fallen wir noch auf«, warnte er.

»Nur eine Minute noch«, entgegnete ich.

Das Haus war bei weitem nicht die großzügige Villa, wie ich sie aus meiner Kindheit in Erinnerung hatte. Es sah sehr viel bescheidener aus. Das Dach war abgesackt, der Putz an zahllosen Stellen aufgerissen. Die Fensterscheiben des Wohnzimmers, der Diele und des Gästebadezimmers im Obergeschoss waren eingeschlagen und notdürftig mit durchsichtiger Plastikfolie geflickt oder mit Brettern vernagelt. Der einst weiße Anstrich hatte sich in ein gespenstisches Grau verfärbt, und an manchen Stellen kam darunter nacktes Ziegelgemäuer zum Vorschein. Die Stufen vorm Eingang waren zerbrochen. Wie so vieles andere in Kabul bot auch das Haus meines Vaters ein Bild verlorener Pracht.

Ich fand das Fenster zu meinem alten Schlafzimmer im Obergeschoss, vom Eingang aus betrachtet das dritte Fenster auf der Südseite des Hauses. Dahinter war von meinem Blickwinkel aus nichts als Schatten zu erkennen. Vor fünfundzwanzig Jahren hatte ich hinter ebendiesem Fenster gestanden, als dicke Regentropfen über die Scheiben rannen und das Glas von meinem Atem beschlug. Ich hatte damals zugesehen, wie Hassan und Ali ihre Habe in den Kofferraum von Vaters Auto luden.

»Amir«, rief Farid zum wiederholten Mal.

»Ich komme«, antwortete ich ungehalten.

Es drängte mich, das Haus von innen zu sehen. Ich wollte die Stufen hinaufsteigen, bis zu der Stelle, wo Ali von mir und Hassan immer verlangte hatte, dass wir unsere Schneestiefel auszogen. Ich wollte hineingehen und den Duft der Orangenschalen riechen, die Ali zusammen mit Sägespänen in den Ofen zu werfen pflegte. Mich an den Küchentisch setzen, Tee trinken und ein Stück naan dazu essen, den von Hassan gesungenen alten Hazara-Liedern lauschen.

Wieder Gehupe. Ich kehrte zurück zu dem Landcruiser, der am Gehweg parkte. Farid saß am Steuer und rauchte.

»Eins muss ich mir noch ansehen«, erklärte ich ihm.

»Würdest du dich bitte beeilen.«

»Gib mir zehn Minuten.«

»Wenn's denn sein muss.« Dann, als ich mich gerade abgewendet hatte: »Vergiss doch lieber alles. Das macht es leichter.« »Was würde dadurch leichter?«

»Alles Weitere«, antwortete Farid. Er schnippte die Zigarette aus dem Fenster. »Was willst du denn noch sehen? Erspar dir die Enttäuschung: Von dem, woran du dich erinnerst, ist nichts geblieben. Vergiss es.«

»Ich will aber nicht vergessen«, entgegnete ich. »Gib mir zehn Minuten.«

Es hatte uns, Hassan und mich, kaum einen Schweißtropfen gekostet, den Hügel unmittelbar nördlich von Babas Haus zu erklimmen. Wir jagten uns gegenseitig das letzte Stück nach oben, tollten herum oder setzten uns auf einen Felsvorsprung, der uns einen weiten Ausblick auf den Flughafen in der Ferne bot. Wir sahen Flugzeuge starten und landen. Und dann rannten wir wieder los.

Als ich jetzt endlich die zerklüftete Hügelkuppe erreichte, meinte ich mit jedem keuchenden Luftholen Feuer zu schlucken. Mein Gesicht war schweißnass. Ich hatte Seitenstechen und musste immer wieder stehen bleiben. Immerhin brauchte ich nicht lange, um den verlassenen Friedhof zu finden. Den alten Granatapfelbaum gab es immer noch.

Ich lehnte mich an den aus grauem Stein gemauerten Pfosten am Eingang zum Friedhof, auf dem Hassan seine Mutter begraben hatte. Das alte Tor, das schon damals nicht mehr in den Angeln gehangen hatte, war weg, und das Unkraut stand überall so hoch, dass die Grabsteine fast darin verschwanden. Auf der niedrigen Mauer, die das Feld umschloss, hockten zwei Krähen.

In seinem Brief hatte Hassan erwähnt, dass der Granatapfelbaum schon seit Jahren keine Früchte mehr trug. Angesichts der trockenen, entblätterten Zweige bezweifelte ich, dass dies je wieder der Fall sein würde. Ich dachte daran, wie oft wir auf diesen Baum geklettert waren, mit baumelnden Beinen rittlings auf seinen Ästen gehockt hatten, bestrahlt vom flackernden Sonnenlicht, das durch das Laub fiel. Mir war, als schmeckte ich das strenge Aroma von Granatäpfeln auf der Zunge. Ich ließ mich auf die Knie fallen und fuhr tastend mit den Händen über den Stamm. In der verwitterten Rinde war das, wonach ich suchte, nur noch vage auszumachen: »Amir und Hassan, die Sultane von Kabul.« Mit den Fingern folgte ich der Kontur jedes einzelnen Buchstabens und zupfte an den Rändern der kleinen Einschnitte.

Mit verschränkten Beinen saß ich am Fuß des Baums und blickte in südlicher Richtung über die Stadt meiner Kindheit. Damals ragten hinter den Mauern eines jeden Hauses Bäume auf. Der Himmel war weit und blau, und in der Sonne trocknete schimmernde Wäsche an den Leinen. Wenn man die Ohren spitzte, konnte man sogar die Rufe des Obsthändlers hören, der seinen Esel durch das Wazir-Akbar-Khan-Viertel trieb: Kirschen! Aprikosen! Weintrauben! Am frühen Abend konnte man das azan hören, die Aufforderung des Muezzin der Moschee in Shar-e-Nau zum Gebet.

Farid hupte. Ich sah ihn mit der Hand winken. Es war Zeit zu gehen.

Wir fuhren zurück zum Paschtunistan-Platz und begegneten wieder mehreren roten Pickups voller bärtiger junger Männer. Farid fluchte jedes Mal leise vor sich hin.

Ich zahlte für ein Zimmer in einem kleinen Hotel nahe dem Paschtunistan-Platz. Drei kleine Mädchen, zum Verwechseln ähnlich in ihren schwarzen Kleidern und weißen Schals, hingen an dem schmächtigen bebrillten Mann hinter dem Empfangsschalter. Er verlangte 75 Dollar, einen für dieses offensichtlich heruntergekommene Haus geradezu astronomischen Preis. Ich beschwerte mich nicht. Es macht schließlich einen Unterschied, ob man mit Beutelschneiderei ein Strandhaus auf Hawaii zu finanzieren oder die eigenen Kinder durchzufüttern versucht.

Es gab kein heißes Wasser, und die kaputte Kloschüssel war ohne Spülung. Das schmale Bett bestand aus einem Metallgestell, einer durchgelegenen Matratze und einer zerlumpten Decke. In der Ecke stand ein Holzstuhl. Die Scheibe des auf den Platz hinausgehenden Fensters war zerbrochen, nicht ersetzt worden. Als ich den Koffer absetzte, entdeckte ich an der Wand hinter dem Bett einen getrockneten Blutfleck.

Ich gab Farid Geld und schickte ihn los, etwas zum Essen zu holen. Er kehrte mit vier dampfenden Fleischspießen zurück, frischem naan und einer Schale weißem Reis. Wir setzten uns auf das Bett und langten mit großem Appetit zu. Eines hatte sich in Kabul dann doch nicht verändert: Der Kebab war so saftig und köstlich wie immer.

Ich schlief im Bett, Farid auf dem Boden, in eine Decke gewickelt, die mir der Hotelier zusätzlich in Rechnung stellte. Abgesehen vom Mond, der durch das zerbrochene Fenster leuchtete, gab es kein Licht. Farid hatte von unserem Wirt erfahren, dass Kabul seit zwei Tagen ohne Strom sei und der hauseigene Generator repariert werden müsse. Wir unterhielten uns noch eine Weile. Er erzählte von seiner Jugend in Mazar-e-Sharif und Jalalabad und berichtete von seiner und seines Vaters Teilnahme am Djihad und wie sie im Panjshir-Tal gegen die Shorawi angetreten waren. Sie hatten ohne Lebensmittel festgesessen und sich von Heuschrecken ernähren müssen. Er berichtete von dem Tag, an dem sein Vater von einem Hubschrauber aus beschossen und getötet wurde, von dem Tag, da seine zwei Töchter einer Landmine zum Opfer gefallen waren. Und er erkundigte sich nach Amerika. Ich erzählte ihm dann, dass man in den Läden dort zwischen fünfzehn bis zwanzig verschiedenen Müsli-Sorten auswählen könne, dass das Lammfleisch immer frisch, die Milch kalt, das Obst reichlich und das Wasser sauber und klar sei. Dass jeder Haushalt einen Fernseher und jeder Fernseher eine Fernbedienung habe und dass jeder, der es wünsche, eine Satellitenschüssel aufs Dach montieren könne, mit der sich über fünfhundert verschiedene Programme empfangen ließen.

»Fünfhundert?«, rief Farid.

»Fünfhundert.«

Für eine Weile sagte keiner von uns ein Wort. Ich war wohl gerade eingeschlafen, als Farid auf einmal zu kichern anfing. »Amir, hast du davon gehört, was Hodscha Nasreddin getan hat, als seine Tochter eines Tages nach Hause kam und sich darüber beschwerte, von ihrem Mann geschlagen worden zu sein?«, fragte er, und ihm war anzuhören, dass er grinste. Auch ich schmunzelte unwillkürlich. Es gab wohl auf der ganzen Welt keinen Afghanen, der nicht schon einmal Witze über diesen zerstreuten Hodscha gehört hatte.

»Was?«

»Er hat sie ebenfalls geschlagen und dann zurückgeschickt mit dem Auftrag, ihrem Mann zu sagen, dass mit ihm, dem Mullah, nicht zu spaßen sei: Wenn der Hurensohn seine Tochter schlüge, dann würde er, der Hodscha, seine Frau dafür schlagen.«

Ich lachte. Teils über den Witz, teils darüber, dass sich afghanischer Humor offenbar nie änderte. Es wurden Kriege geführt, das Internet war erfunden, ein Roboter war über die Oberfläche des Mars gerollt, und in Afghanistan erzählte man sich immer noch Witze über Hodscha Nasreddin. »Kennst du den, wie der Hodscha, einen schweren Sack auf den Schultern, auf seinem Esel reitet?«, sagte ich. »Nein.«

»Er wird auf der Straße von jemandem gefragt, warum er den Sack denn nicht dem Esel aufladen würde? Worauf er antwortet, dass das arme Tier mit ihm doch schon genug zu schleppen habe.«

Wir tauschten noch ein paar weitere Hodscha-Nasreddin-Witze aus, bis uns keine mehr einfielen, dann wurde es wieder still.

»Amir.« Farid schreckte mich aus dem Halbschlaf auf. »Ja?«

»Warum bist du hier? Was ist der eigentliche Grund?« »Das habe ich doch gesagt.« »Wegen des Jungen?« »Wegen des Jungen.«

Farid wälzte sich auf dem Boden herum. »Kaum zu glauben.« »Ich kann's manchmal selbst nicht glauben, dass ich hier bin.«

»Nein ... ich meine, warum ausgerechnet dieser Junge? Du bist den ganzen weiten Weg von Amerika gekommen ... für einen Shi'a7

Mit meiner guten Laune war es vorbei. Auch mit meiner Nachtruhe. »Ich bin müde«, sagte ich. »Lass uns schlafen.«

»Inshalla, ich hoffe, ich habe nichts Falsches gesagt«, murmelte Farid.

»Gute Nacht«, sagte ich und drehte mich zur Seite. Bald hallte Farids Schnarchen durch den kahlen Raum. Ich hatte die Hände auf der Brust gefaltet, starrte durch das eingeschlagene Fenster auf den Sternenhimmel und dachte, dass womöglich wahr sein mochte, was andere über Afghanistan sagten. Vielleicht war es tatsächlich ein Land, für das es keine Hoffnung gab.

Das Ghazi-Stadion füllte sich. Auf den Betontribünen wimmelten Tausende von Menschen. In den Gängen und auf den Stufen spielten Kinder Fangen. Ein Duft von Kichererbsen und scharfer Sauce hing in der Luft. Darunter mischten sich die Gerüche von Kot und Schweiß. Farid und ich kamen an Händlern vorbei, die Zigaretten, Pinienkerne und Gebäck feilboten.

Ein dürrer Junge in einem Jackett aus grob gewebter Wolle fasste mich beim Ellbogen und flüsterte mir etwas ins Ohr, fragte mich, ob ich an »sexy pictures« interessiert sei.

»Sehr sexy, Aga«, sagte er und sah sich mit aufmerksamen Augen um. Er erinnerte mich an das Mädchen, das mir vor ein paar Jahren im Rotlichtviertel von San Francisco Crack angeboten hatte. Der Junge schlug eine Seite des Jacketts auf und gestattete mir einen flüchtigen Blick auf seine »sexy pictures«: Postkarten mit Motiven aus indischen Spielfilmen, die rehäugig-schmachtende, aber vollständig angezogene Frauen in den Armen starker Männer zeigten. »So sexy«, wiederholte er.

»Nay, danke«, sagte ich und schob mich an ihm vorbei.

»Man wird ihn schnappen und verprügeln, so sehr, dass sich sein Vater im Grab umdreht«, murmelte Farid.

Im Stadion galt freie Sitzwahl, und es gab auch niemanden, der uns höflich zu unserem Rang oder unserer Reihe geführt hätte. Platzanweiser hatte es nicht einmal früher in den Tagen der Monarchie gegeben. Auf der Tribüne gleich links neben der verlängerten Mittellinie fanden wir zwei recht gute Plätze, wozu Farid allerdings eine gehörige Portion an Körpereinsatz aufbringen musste.

Ich erinnerte mich, wie grün das Spielfeld in den 70er Jahren gewesen war, als Baba mich zu Fußballspielen mitgenommen hatte. Statt eines gepflegten Rasens erstreckte sich jetzt ein Acker voller Löcher und Krater. Hinter dem Tor auf der Südseite fielen zwei besonders tiefe Löcher auf. Gras wuchs hier schon lange nicht mehr. Als die beiden Mannschaften schließlich aufs Spielfeld kamen - trotz der Hitze trugen alle Spieler lange Hosen - und zu spielen anfingen, konnte man vor all dem Staub, den sie aufwirbelten, kaum noch den Ball sehen. Mit Peitschen bewaffnet, zogen junge Taliban durch die Reihen und schlugen auf jeden ein, der zu laut zu jubeln wagte.

Kurz nachdem der Halbzeitpfiff ertönt war, rollten zwei verstaubte rote Pick-ups durch das weite Stadiontor, Pritschenwagen, wie ich sie seit meiner Ankunft in der Stadt schon mehrfach gesehen hatte. Die Menge der Zuschauer erhob sich. In dem einen Führerhaus saß eine Frau, gekleidet in eine grüne Burkha, in dem anderen ein Mann, dem die Augen verbunden waren. Beide Pritschenwagen fuhren langsam die gesamte Aschenbahn entlang; man wollte der Menge offenbar ausreichend Gelegenheit zum Gaffen geben. Die Leute reckten die Hälse, zeigten mit dem Finger auf die Wagen, stellten sich auf die Zehenspitzen. Ich warf einen Blick auf Farid und bemerkte, dass sein Kehlkopf auf und ab ging: Er murmelte mit angehaltenem Atem ein Gebet.

Die roten Wagen rollten nun, jeder in eine Staubwolke gehüllt, über das Spielfeld. Am anderen Ende angekommen, stieß ein dritter Wagen hinzu, mit einer Fracht, angesichts derer ich endlich verstand, was es mit den beiden Löchern hinter dem Tor auf sich hatte. Ein Raunen ging durch die Menge, als der Wagen entladen wurde.

»Willst du bleiben?«, fragte Farid mit ernster Miene.

»Nein«, antwortete ich. Am liebsten wäre ich Hals über Kopf davongerannt. »Aber wir müssen wohl bleiben.«

Zwei Taliban, Kalaschnikows über die Schultern gehängt, halfen dem Mann mit der Augenbinde von dem einen Pick-up. Die Frau in der Burkha wurde, kaum dass man sie von dem anderen Wagen gehoben hatte, schwach in den Knien und sank zu Boden. Die Soldaten richteten sie auf, doch sie fiel wieder hin. Als man sie abermals aufzuheben versuchte, fing sie zu schreien an und trat mit den Füßen um sich. Ich werde, solange ich lebe, diesen Schrei nicht vergessen können. So schrie wohl auch ein wildes Tier, das sich aus der zugeschnappten Falle zu befreien versucht. Zwei weitere Taliban eilten hinzu und halfen dabei, die Frau in eines der Löcher zu zwingen, worin sie bis zur Brust verschwand.

Der Mann mit der Augenbinde ließ sich wehrlos in das andere, für ihn ausgehobene Loch stecken. Von den beiden waren jetzt nur noch Oberkörper und Kopf zu sehen.

Neben dem Tor stand ein gedrungener Geistlicher mit weißem Bart und grauem Gewand. Er hielt ein Mikrofon in der Hand und räusperte sich. Auf den Tribünen war es still geworden, nur die Frau hinter ihm im Loch schrie ununterbrochen, während er mit näselnder, tremolierender Stimme ein langes Gebet aus dem Koran rezitierte. Ich erinnerte mich an Babas Worte, ausgesprochen vor langer Zeit: Man sollte auf die Barte dieser ganzen selbstgerechten Affen pinkeln. Sie tun nichts anderes, als ihre Gebetsperlen zu befingern und aus einem Buch aufzusagen, das in einer Sprache geschrieben ist, die sie nicht einmal verstehen. Gott stehe uns bei, sollte Afghanistan jemals in ihre Hände fallen.

Als er mit dem Gebet zu Ende war, räusperte sich der Geistliche ein weiteres Mal. »Brüder und Schwestern!«, rief er auf Farsi, und seine Stimme dröhnte durch das Stadion. »Wir sind heute hier, um die Scharia anzuwenden. Wir sind heute hier, um dem Recht zu genügen. Wir sind heute hier, weil der Wille Allahs und das Wort des Propheten Mohammed, Friede sei mit ihm, hier in Afghanistan, unserer geliebten Heimat, lebendig sind. Wir hören und befolgen, was Allah uns sagt, denn vor seiner Größe sind wir nur armselige, machtlose Wesen. Und was sagt uns Allah? Ich frage euch! Was sagt er uns? Allah sagt, dass Sünder gemäß ihrer Sünde zu bestrafen sind. Das sind nicht meine Worte noch die meiner Brüder. Dies sind die Worte Allahs!« Er deutete mit der freien Hand zum Himmel. Mir brummte der Schädel; die Sonne brannte unerträglich heiß.

»Sünder sind gemäß ihrer Sünde zu bestrafen!«, wiederholte der Geistliche ins Mikrofon. Es senkte die Stimme, betonte jedes einzelne Wort: »Und welche Strafe, Brüder und Schwestern, geziemt einem Ehebrecher? Wie sollen wir jene bestrafen, die die Heiligkeit der Ehe entehrt haben? Wie sollen wir mit denen verfahren, die in Gottes Antlitz spucken? Wie begegnen wir denen, die die Witwen im Hause Gottes mit Steinen bewerfen? Wir werden sie steinigen!« Er schaltete das Mikrofon aus. In der Menge machte sich Unruhe breit.

Farid schüttelte den Kopf. »Und so etwas nennt sich Muslim«, flüsterte er.

Aus dem Pick-up stieg nun ein großer, breitschultriger Mann. Sein Anblick ließ einige Zuschauer laut aufkreischen, und diesmal war keiner da, der sie mit der Peitsche zurechtwies. Der große Mann trug ein weißes Gewand, das in der Nachmittagssonne gleißend hell leuchtete. Der weite Saum flatterte im Wind, als er wie Jesus am Kreuz die Arme ausbreitete. Die Menge grüßend, drehte er sich langsam um die eigene Achse. Als er sich uns zuwandte, sah ich, dass er eine schwarze runde Sonnenbrille trug wie einst John Lennon.

»Das scheint unser Mann zu sein«, sagte Farid.

Der Talib mit der schwarzen Sonnenbrille trat auf den Steinhaufen zu, den man aus dem dritten Pick-up ausgeladen hatte. Er griff sich einen Stein und zeigte ihn der Menge. Das Gekreische verstummte wie auf Kommando, dafür war jetzt nur noch ein seltsames Sirren zu hören, und als ich mich umschaute, stellte ich fest, dass alle ein höhnisches Schnalzen von sich gaben. Der Talib sah auf absurde Weise wie ein Baseball-Pitcher aus, als er den Stein auf den Mann mit der Augenbinde schleuderte. Der wurde seitlich am Kopf getroffen. Die Frau schrie wieder auf. »Oh!«, machte die Menge. Ich schloss die Augen und schlug die Hände vors Gesicht. Jeden Wurf des Henkers quittierten die Zuschauer mit einem lauten »oh!« Das ging eine Weile so weiter. Als sie verstummten, fragte ich Farid, ob es vorbei sei. Er sagte, nein. Vermutlich hatte sich die Menge nur müde gebrüllt. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich mit zugekniffenen Augen dagesessen habe. Ich weiß nur noch, dass ich wieder aufblickte, als die Leute um mich herum fragten: »Mord? Mord?« Ist er tot?

Der Mann im Loch war entsetzlich zugerichtet; er schien nur noch aus Blut und Lumpen zu bestehen. Der Kopf hing schlaff vornüber. Daneben kauerte ein Mann, der ein Stethoskop in die Ohren geklemmt hatte und die Membran auf die Brust des Verurteilten gepresst hielt. Er wandte sich dann dem Mann mit der Lennon-Brille zu, nahm das Stethoskop ab und schüttelte den Kopf. Die Zuschauer stöhnten.

Der Henker trat wieder vor den Steinhaufen.

Als endlich die Hinrichtung vorbei und die blutigen Leichen - getrennt - auf die Ladeflächen der Pick-ups gehievt worden waren, rückten Männer mit Schaufeln an, um die Löcher zuzuschütten. Einer von ihnen versuchte vergeblich, die großen Blutlachen unkenntlich zu machen, indem er mit dem Fuß Erde darauf verteilte. Wenige Minuten später kehrten die Mannschaften aufs Spielfeld zurück. Die zweite Halbzeit wurde angepfiffen.

Unser Treffen sollte am selben Nachmittag um drei Uhr stattfinden. Dass diese Verabredung so schnell zustande gekommen war, hatte mich selbst überrascht. Ich hatte mit langwierigen Schwierigkeiten gerechnet, mit Befragungen und Ausweiskontrollen. Stattdessen zeigte sich mir wieder einmal, wie formlos selbst offizielle Angelegenheiten in Afghanistan abgewickelt wurden. Es genügte, einen der Peitsche schwingenden Taliban zu uns zu rufen und ihm zu sagen, dass wir den Mann in Weiß in einer persönlichen Sache zu sprechen wünschten. Farid erledigte das für mich. Der Mann mit der Peitsche nickte, rief dann einem jungen Mann auf dem Feld ein paar Wörter auf Paschto zu, die diesen auf den Talib mit der Sonnenbrille zueilen ließen, der noch hinter dem Tor stand und sich mit dem dicken Geistlichen unterhielt. Die drei sprachen miteinander. Ich sah, wie der Typ mit der Sonnenbrille zu uns hochblickte. Er nickte. Sagte dem Boten etwas ins Ohr. Der junge Mann leitete die Nachricht an uns weiter. Die Verabredung war perfekt. Drei Uhr.

22

Farid steuerte den Landcruiser in die Einfahrt eines großen Hauses im Wazir-Akbar-Khan-Viertel. Er parkte im Schatten der Weiden, die mit ihren Asten über die Mauern des Anwesens an der Sarak-e-Mehmana, der Straße der Gäste, hinausreichten. Wir blieben noch eine Weile im Wagen sitzen, lauschten dem Klick-klick des abkühlenden Motors und schwiegen. Farid rutschte auf seinem Platz hin und her und spielte mit den Schlüsseln, die noch im Zündschloss steckten. Ich sah ihm an, dass er mir etwas sagen wollte.

»Vielleicht sollte ich lieber im Auto warten«, sagte er schließlich, ohne mich anzuschauen und in einem Ton, der ein wenig nach Entschuldigung klang. »Das ist deine Angelegenheit. Ich ...«

Ich tätschelte seinen Arm. »Du hast schon sehr viel für mich getan, viel mehr, als ich erwartet habe. Du brauchst nicht mitzugehen.« In Wahrheit wäre mir seine Begleitung sehr lieb gewesen. Oder die von Baba. Trotz der Geschichten, die ich jüngst über ihn erfahren hatte, hätte ich ihn liebend gern an meiner Seite gehabt. Baba wäre einfach zur Tür hineingegangen, hätte verlangt, dem leitenden Beamten vorgestellt zu werden, und jedem, der sich ihm in den Weg gestellt hätte, auf den Bart gepinkelt. Aber Baba war längst tot, begraben auf dem für Afghanen reservierten Teil des kleinen Friedhofs in Hayward. Erst im vergangenen Monat hatten Soraya und ich ihm einen Strauß aus Margeriten und Freesien an den Grabstein gelegt. Ich war auf mich allein gestellt.

Ich stieg aus dem Auto und ging auf die große Holzpforte des Hauses zu. Ich drückte den Klingelknopf, hörte aber kein Klingeln - es gab immer noch keinen Strom. Ich musste also anklopfen. Einen Moment später hörte ich Stimmen, die einen kurzen Wortwechsel führten, dann machten mir zwei Männer, mit Kalaschnikows bewaffnet, die Tür auf.

Ich warf einen Blick zurück auf Farid, der hinterm Steuer saß, und formulierte mit den Lippen: Ich bin bald wieder da, war mir dessen aber beileibe nicht sicher.

Die Männer durchsuchten mich von Kopf bis Fuß, tasteten meine Hose ab und griffen mir zwischen die Beine. Der eine sagte irgendetwas auf Paschto, worauf beide kicherten. Sie ließen mich eintreten und führten mich durch einen kleinen Innenhof, über ein gepflegtes Rasenstück, vorbei an Geranien und kurz gehaltenen Büschen, die die Außenmauer säumten. Am anderen Ende des Hofes stand eine alte Wasserpumpe, die mit der Hand zu betreiben war. Ich erinnerte mich an den Brunnen vor Kaka Homayouns Haus in Jalalabad - die Zwillinge Fazila und Karima und ich hatten Dutzende von Kieselsteinen in den Schacht geworfen und auf das Plink in der Tiefe gelauscht.

Wir stiegen über ein paar Stufen und betraten ein großes spärlich geschmücktes Haus. An einer Wand in der Eingangshalle hing eine riesige afghanische Fahne. Die Männer führten mich über eine Treppe nach oben in einen Raum mit zwei minzgrünen Sofas und einem großformatigen Fernseher. An einer der Wände hing - festgenagelt - ein Gebetsteppich, auf dem eine leicht verzerrte Ansicht von Mekka abgebildet war. Der ältere der beiden Wächter forderte mich mit einem Wink seiner Waffe auf, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Ich setzte mich. Die beiden verließen das Zimmer.

Ich schlug die Beine übereinander. Stellte sie wieder nebeneinander und legte die schweißnassen Hände auf die Knie. Ob ich einen nervösen Eindruck machte? Ich faltete die Hände, war aber bald auch mit dieser Haltung nicht mehr einverstanden und verschränkte die Arme auf der Brust. Ich spürte das Blut in den Schläfen rauschen, fühlte mich ganz und gar einsam und verlassen. Gedanken schwirrten mir durch den Kopf, obwohl ich eigentlich an nichts denken wollte, zumal ich ahnte, dass ich mich in eine heillos verrückte Situation manövriert hatte. Tausende von Kilometern von meiner Frau entfernt, befand ich mich in einem Zimmer, das wie eine Arrestzelle anmutete, und wartete auf einen Mann, der kurz zuvor vor meinen eigenen Augen zwei Menschen getötet hatte. Wahnsinn. Schlimmer noch, es war unverantwortlich, riskierte ich doch, Soraya mit nur sechsunddreißig Jahren zur Witwe zu machen. Das bist nicht du, Amir, sagte eine Stimme in mir. Du hast doch im Grunde überhaupt keinen Mumm, was an sich nicht so schlimm ist, zumindest hast du dir in dieser Hinsicht nie etwas vorgemacht. Feige zu sein ist nicht weiter tragisch; viel wichtiger ist es, Vernunft walten zu lassen. Wenn aber ein Feigling vergisst, wer er ist... dann gnade ihm Gott.

Neben dem Sofa stand ein kleiner Beistelltisch mit x-förmigem Untergestell und walnussgroßen Messingkugeln, angeordnet als Ring, in dem sich die Metallbeine in der Mitte kreuzten. Einen solchen Tisch hatte ich schon einmal gesehen. Wo? Und dann fiel es mir ein: in der überfüllten Teestube in Peshawar, auf die ich damals, während meines nächtlichen Spaziergangs, zufällig gestoßen war. Auf dem Tisch stand eine Schale voll roter Weintrauben. Ich pflückte eine davon ab und warf sie mir in hohem Bogen in den Mund. Mit irgendetwas musste ich mich beschäftigen, um die Stimme in meinem Kopf zum Schweigen zu bringen. Die Traube war süß. Ich gönnte mir eine weitere - und konnte natürlich nicht ahnen, dass dies für lange Zeit mein letzter Bissen sein sollte.

Die Tür ging auf, und die beiden bewaffneten Männer kehrten zurück. Sie flankierten den groß gewachsenen Talib in Weiß, der immer noch die dunkle Lennon-Brille trug und aussah wie ein New-Age-Guru, nur mit muskulösen Schultern.

Er nahm mir gegenüber Platz und legte die Hände auf die Armlehnen. Für eine Weile saß er schweigend da, musterte mich und klopfte mit einer Hand aufs Polster. Mit der anderen spielte er mit den türkisblauen Perlen seiner Gebetskette. Er hatte eine schwarze Weste über das weiße Hemd gezogen und trug, wie mir auffiel, eine goldene Uhr am Handgelenk. Am linken Hemdsärmel war ein getrockneter Blutfleck. Es irritierte, ja, faszinierte mich, dass er sich nach der Hinrichtung nicht umgezogen hatte.

Manchmal hob er die freie Hand und fuhr mit seinen kräftigen Fingern durch die Luft, als streichelte er ein unsichtbares Maskottchen. Unter dem zurückrutschenden Ärmel traten Male auf dem Unterarm zum Vorschein, wie ich sie sonst nur bei Obdachlosen in den heruntergekommenen Seitenstraßen von San Francisco gesehen hatte.

Seine Haut war viel heller als die der beiden Wachen, fast bleich, und unterhalb des schwarzen Turbans glänzte Schweiß auf seiner Stirn. Auch sein Bart, der ihm bis auf die Brust herabhing, war ungewöhnlich hell.

»Salaam-u-alaykum«, sagte er.

»Salaam.«

»Gib dir keine Mühe«, entgegnete er. »Wie bitte?«

Mit flacher nach oben gestreckter Hand gab er einem der bewaffneten Männer einen Wink, und ehe ich mich's versah, hatte der mir den Bart heruntergerissen und warf ihn mit einem Kichern in die Luft. Der Talib grinste. »Immerhin einer von der besseren Sorte. Aber so ist dir doch bestimmt wohler, oder?« Er spreizte die Finger, schloss sie zur Faust und spreizte sie wieder. »Die heutige Show hat dir, inshallah, gefallen.«

»Sollte das eine Show gewesen sein?«, fragte ich und massierte mir die brennenden Wangen. Ich hoffte, dass meine Stimme nicht verriet, wie groß mein Schrecken war.

»Was wäre sehenswerter als öffentlich vollstreckte Gerechtigkeit, mein Bruder? Da ist alles drin: Dramatik, Spannung. Und das Beste ist, sie wirkt erzieherisch.« Er schnippte mit den Fingern. Der jüngere der beiden Leibwächter zündete ihm eine Zigarette an. Der Talib lachte. Murmelte etwas in seinen Bart. Seine Hände waren zittrig, und fast hätte er die

Zigarette fallen lassen. »Aber du hättest einmal mit mir in Mazar sein sollen. Im August 1998. Das war eine noch viel bessere Show!« »Ich kann Ihnen nicht ganz folgen.«

»Wir haben sie den Hunden überlassen, wenn du verstehst, was ich meine.« Ich ahnte, worauf er hinauswollte.

Er stand auf, ging um das Sofa herum, einmal, zweimal. Dann setzte er sich wieder. Er sprach sehr schnell. »Wir sind von Tür zu Tür gegangen, haben Männer und Jungen nach draußen gerufen und sie an Ort und Stelle erschossen, vor den Augen ihrer Familien. Die sollten zusehen und sich für immer daran erinnern, wer sie sind und wohin sie gehören.« Er geriet fast ins Keuchen. »Manchmal mussten wir die Türen eintreten und die Häuser stürmen. Und ... und dann habe ich mit dem Maschinengewehr draufgehalten, so lange, bis ich vor lauter Rauch nichts mehr sehen konnte.« Er beugte sich vor, als wollte er mir ein Geheimnis anvertrauen. »Du ahnst ja nicht, wie befreiend so was ist, in einem Raum voller Ziele zu stehen und die Kugeln zischen zu lassen, ganz ohne Hemmungen und in dem Wissen, etwas Gutes und Richtiges zu tun. Ein gottgefälliges Werk zu verrichten. Das ist unbeschreiblich.« Er küsste seine Gebetskette und drehte sich zur Seite. »Weißt du noch, Javid?«

»Ja, Aga Sahib«, antwortete der Jüngere. »Wer würde so etwas vergessen?« Ich hatte von dem Massaker in Mazar-e-Sharif aus den Zeitungen erfahren. Gleich nachdem sie Mazar als eine der letzten Städte eingenommen hatten, waren die Taliban über

die dort ansässigen Hazara hergefallen. Ich erinnerte mich, wie mir Soraya mit bleichem Gesicht die Zeitung mit dieser Meldung über den Frühstückstisch zugeschoben hatte.

»Von Tür zu Tür. Nur zum Essen und Beten haben wir kurze Pausen eingelegt«, fuhr der Talib fort. Er sprach wie von einer netten Party, an der er teilgenommen hatte. »Wir haben die Leichen auf den Straßen liegen lassen, und wenn irgendwelche Angehörigen versuchten, sie zu bergen, haben wir auch die erschossen. Wir haben sie tagelang auf den Straßen liegen lassen. Für die Hunde. Hundefleisch für Hunde.« Er drückte die Zigarette aus. Rieb sich die Augen mit zittriger Hand. »Du kommst aus Amerika?«

»Ja.«

»Wie geht's der Hure dieser Tage?«

Ich verspürte plötzlich Harndrang und hoffte, es noch eine Weile auszuhalten. »Ich suche nach einem Jungen.«

»Tun das nicht alle?«, antwortete er. Seine Leibwächter lachten. Der Konsum von Kautabak hatte ihre Zähne grün verfärbt.

»Wenn ich richtig informiert bin, lebt er hier bei Ihnen«, sagte ich. »Sein Name ist Suhrab.«

»Frage: Was willst du von diesem Hurensohn? Und warum bist du nicht hier, bei deinen muslimischen Brüdern, um deinem Land zu dienen?«

»Ich bin eine lange Zeit fort gewesen«, war alles, was mir zu sagen einfiel. Mir drohte der Schädel zu zerspringen. Ich presste die Knie zusammen, um nicht die Kontrolle über meine

Blase zu verlieren. Der Talib wandte sich den beiden Männern an der Tür zu. »Beantwortet das meine Frage?«, fragte er.

»Nay, Aga Sahib«, antworteten sie unisono und grinsten dabei.

Er richtete den Blick wieder auf mich. Zuckte mit den Schultern. »Sie sagen, das war keine Antwort.« Er zog an seiner Zigarette. »In meinen Kreisen gibt es Stimmen, die sind der Meinung, dass Hochverrat begeht, wer sein watan im Stich lässt, wenn es in Not ist und Hilfe braucht. Ich könnte dich dafür verhaften, ja sogar erschießen lassen. Macht dir das Angst?«

»Ich bin nur wegen des Jungen hier.«

»Macht dir das Angst?«

»Ja.«

»Das sollte es auch«, sagte er und lehnte sich auf dem Sofa zurück. Drückte die Zigarette aus.

Ich dachte an Soraya. Das beruhigte mich. Ich dachte an ihr sichelförmiges Muttermal, an den elegant geschwungenen Hals, die strahlenden Augen. Ich dachte an den Abend unserer Hochzeit, wie wir uns im Spiegel unter dem grünen Schleier gegenseitig betrachtet hatten, wie sie errötete, als ich ihr flüsternd meine Liebe gestand. Ich erinnerte mich, wie wir zu einem alten afghanischen Lied getanzt hatten, ausgelassen, im Kreis, vor aller Augen und stürmisch beklatscht - die Welt, ein verwischtes Bild aus Blumen, Abendkleidern, Smokings und lächelnden Gesichtern.

Der Talib sagte irgendetwas. »Pardon?«

»Ich fragte, ob du ihn sehen willst? Möchtest du ihn sehen, meinen Jungen?« Seine Oberlippe verzog sich zu einem höhnischen Grinsen, als er die beiden letzten Worte sagte. »Ja.«

Die Wache verließ den Raum. Ich hörte eine Tür quietschen. Hörte einen harschen Befehl auf Paschto. Dann Schritte und mit jedem Schritt ein Klingeln von Glöckchen. Ich fühlte mich an den Affen-Mann erinnert, dem Hassan und ich immer durch Shar-e-Nau hinterhergelaufen waren. Für eine Rupie hatte er uns zuliebe seinen Affen tanzen lassen, der Schellen um den Hals trug. Das hatte ganz ähnlich geklungen.

Dann öffnete sich die Tür, und der Wachmann kehrte zurück. Er trug ein Kofferradio -einen Ghetto-Blaster - auf der Schulter. Ihm folgte ein Junge in einem weiten saphirblauen pirhan-tumban.

Die Ähnlichkeit war kaum zu fassen. Ganz und gar irritierend. Rahim Khans Polaroid hatte diese Ähnlichkeit überhaupt nicht erkennen lassen.

Er hatte die gleiche schmächtige Gestalt wie sein Vater, das gleiche runde Mondgesicht, das gleiche spitz zulaufende kleine Kinn, die gleichen Ohrmuscheln, verdreht, wie sie waren. Es war das chinesische Puppengesicht aus meiner Kindheit, das Gesicht, das sich während jener Wintertage über den aufgefächerten Spielkarten zeigte, hinter dem Moskitonetz, wenn wir im Sommer auf dem Dach meines Vaterhauses schliefen. Sein Kopf war kahl geschoren, die Augen waren dunkel geschminkt, und die Wangen schimmerten unnatürlich rot. Als er mitten im Raum stehen blieb, hörten die Schellen, die an seinen Fußgelenken befestigt waren, zu klingeln auf.

Er sah mich an, hielt meinem Blick eine Weile stand, wich ihm dann aber aus. Er schaute nach unten auf seine nackten Füße.

Eine der Wachen drückte einen Knopf. Es erklang Paschto-Musik. Tabla, Harmonium, eine klagende dil-roba. Musik war letztlich wohl doch keine Sünde, solange sie den Taliban gefiel. Die drei Männer klatschten in die Hände.

»Wah wah! Mashallah!«, riefen sie.

Suhrab hob die Arme und drehte sich auf Zehenspitzen langsam und anmutig im Kreis, ging in die Knie, richtete sich wieder auf und kreiste wieder um die eigene Achse. Er verdrehte die kleinen Hände, schnippte mit den Fingern und wiegte den Kopf wie ein Pendel hin und her. Mit stampfenden Fußbewegungen ließ er die Schellen klingeln, synchron zum Schlag der tabla. Die Augen hielt er geschlossen.

»Mashallah!«, johlten sie. »Shahbas! Bravo!« Die beiden Wachen pfiffen und lachten. Der Talib in Weiß nickte mit dem Kopf im Takt zur Musik, den Mund halb geöffnet mit anzüglichem Grinsen.

Suhrab tanzte, bis die Musik verstummte. Die Schellen klingelten ein letztes Mal, als er zum Schlussakkord mit dem Fuß aufstampfte. Er erstarrte mitten in der Bewegung.

»Bia, bia, mein Junge«, sagte der Talib und rief Suhrab zu sich. Der Junge kam mit gesenktem Kopf. Der Talib legte die Arme um ihn und zog ihn zwischen seine Schenkel. »Nay, wie talentiert er ist, mein Hazara-Junge!«, feixte er und streichelte den Rücken des Jungen, betatschte ihn. Eine der Leibwachen stieß den Kollegen mit dem Ellbogen an und kicherte. Der Talib ließ sie abtreten.

»Ja, Aga Sahib«, sagten sie im Hinausgehen.

Der Talib drehte den Jungen in meine Richtung, schlang die Arme um seinen Bauch und legte ihm das Kinn auf die Schulter. Suhrab schaute zu Boden, warf aber immer wieder scheue, flüchtige Blicke auf mich. Der Mann fuhr kosend mit der Hand über den Bauch des Jungen, langsam auf und ab.

»Ich frage mich schon seit einer Weile«, sagte der Talib und beäugte mich über die Schulter des Jungen hinweg, »was wohl mit dem alten Babalu geschehen sein mag.«

Die Frage traf mich wie ein Hammerschlag zwischen den Augen. Ich spürte meinen Blutdruck absacken. Meine Beine wurden kalt. Wie taub.

Er lachte. »Hast du wirklich geglaubt, mich mit einem falschen Bart täuschen zu können? Falls du es noch nicht wusstest: Ich vergesse nie ein Gesicht. Niemals.« Er knabberte mit den Lippen an Suhrabs Ohr. »Wie ich gehört habe, ist dein Vater tot. Tststs. Ich hätte mich allzu gern mit ihm angelegt. Jetzt muss ich mit seinem schwächlichen Sohn vorlieb nehmen.« Er nahm die Sonnenbrille ab und fixierte mich mit seinen blutunterlaufenen Augen.

Ich wollte tief Luft holen, doch es gelang mir nicht. Ebenso vergeblich versuchte ich, mit den Augen zu zwinkern. Dieser Moment kam mir so surreal, nein, so absurd vor, dass ich wie gelähmt war und die Welt stillzustehen schien. Mein Gesicht brannte. Wie lautete noch der alte Spruch über den falschen Penny? So war meine Vergangenheit: Sie tauchte immer wieder auf, wie Falschgeld. Aus Angst, ihn aus der Tiefe heraufzubeschwören, hatte ich nie gewagt, seinen Namen auszusprechen. Und nun war er hier vor mir, leibhaftig, saß nach all den Jahren kaum drei Schritt von mir entfernt. »Assef«, entfuhr es mir.

»Amir jan.«

»Was machst du hier?«, sagte ich, obwohl mir klar war, dass diese Frage ausgesprochen töricht klingen musste; aber etwas anderes war mir nicht eingefallen.

»Ich?« Assef hob die Augenbrauen. »Ich bin hier in meinem Element. Die Frage ist: Was machst du hier?«

»Das habe ich dir schon gesagt«, antwortete ich. Meine Stimme zitterte. Ich wünschte, sie unter Kontrolle zu haben, wünschte, dass sich mir nicht der Magen zuschnürte. »Ist es der Junge?« »Ja.«

»Warum?«

»Ich kaufe ihn dir ab«, sagte ich. »Ich könnte dir Geld überweisen lassen.« »Geld?«, kicherte Assef. »Schon mal was von Rockingham gehört? Im Westen von Australien, paradiesisch. Das solltest du mal sehen, Meile um Meile schönster Strand.

Grünes Wasser, blauer Himmel. Meine Eltern wohnen dort, in einer Villa direkt am Meer. Hinterm Haus liegt ein Golfplatz mit einem kleinen See. Vater spielt jeden Tag. Mutter ist lieber auf dem Tennisplatz; Vater sagt, sie hat eine unschlagbare Rückhand. Sie besitzen ein afghanisches Restaurant und zwei Juwelierläden, die alle sehr gut laufen.« Er pflückte eine Traube und steckte sie Suhrab liebevoll in den Mund. »Wenn ich Geld brauche, überweisen sie mir welches.« Er drückte Suhrab einen Kuss in den Nacken. Der Junge verkrampfte sich und schloss die Augen. »Und überhaupt, ich habe nicht des Soldes wegen gegen die Shorawi gekämpft, mich auch nicht des Geldes wegen den Taliban angeschlossen. Willst du wissen, warum ich mich ihnen angeschlossen habe?«

Meine Lippen waren trocken geworden. Ich fuhr mit der Zunge darüber und stellte fest, dass auch sie ganz trocken war.

»Hast du Durst?«, fragte Assef grinsend.

»Nein.«

»Ich glaube, du bist durstig.«

»Mach dir um mich keine Sorgen.« In Wahrheit war es mir plötzlich viel zu heiß in diesem Zimmer. Der Schweiß trat mir aus den Poren und kitzelte auf der Haut. Träumte oder wachte ich? Saß ich wirklich Assef gegenüber?

»Wie du willst«, antwortete er. »Also, wo war ich stehen geblieben? Ach ja, wie ich zu den Taliban gekommen bin. Nun, wie du vielleicht noch weißt, war ich nie ein ausgesprochen religiöser Typ. Aber eines Tages hatte ich eine Epiphanie. Das war im Gefängnis. Willst du davon hören?« Ich antwortete nicht.

»Gut. Ich sag's dir«, erwiderte er. »Ich saß eine Zeit lang im Gefängnis von Poleh-Charkhi, das war 1980, kurz nach der Machtübernahme von Babrak Karmal. Wie ich da gelandet bin? Eines Nachts kam eine Gruppe von Parcnami-Soldaten in unser Haus marschiert. Die verlangten mit vorgehaltenen Pistolen von meinem Vater und mir, ihnen zu folgen. Einen Grund nannten sie nicht, und auf die Frage meiner Mutter wollten sie nicht antworten. Das war nicht besonders überraschend; man wusste schließlich, dass die Kommunisten keinen Stil haben. Die kamen ja aus armen, namenlosen Familien. Dieselben Hunde, die mir vor den Shorawi nicht das Wasser reichen konnten, drohten mir jetzt mit ihren Waffen. Sie trugen Parcrtami-Abzeichen am Kragen, faselten was vom Fall der Bourgeoisie und führten sich genau so auf, wie man es erwarten muss von Leuten, die einfach keinen Stil haben. Ähnliche Szenen haben sich überall abgespielt: Die Reichen wurden festgenommen und ins Gefängnis geworfen. Wir sollten für die Genossen als abschreckendes Beispiel herhalten.

Wie dem auch sei, man sperrte uns zu sechst in winzige Zellen, die kaum größer waren als ein Kühlschrank. Der Kommandant, ein Untier, das, halb Hazara, halb Usbeke, wie ein verwesender Esel stank, zerrte jede Nacht einen der Gefangenen aus der Zelle und prügelte auf ihn ein, bis er selbst in Schweiß ausbrach. Dann steckte er sich eine Zigarette an, ließ die Fingergelenke knacken und verschwand. In der nächsten Nacht knöpfte er sich jemand anders vor. Irgendwann war auch ich an der Reihe. Einen schlechteren Zeitpunkt hätte es nicht geben können. Schon seit drei Tagen pinkelte ich Blut. Nierensteine. Glaub mir, gemeinere Schmerzen gibt es nicht. Damit hatte auch meine Mutter zu tun, und ich erinnere mich, wie sie einmal sagte, dass sie lieber ein Kind zur Welt bringen würde als Nierensteine. Tja also, ich wurde rausgezerrt, und er trat auf mich ein. Wie in jeder Nacht trug er auch diesmal seine kniehohen Stiefel mit Stahlkappen, und die ließ er mich fühlen. Ich schrie und schrie, und er hörte nicht auf zu treten. Irgendwann traf er auch meine linke Niere, und auf einmal war der Stein raus. Einfach so. Was für eine Erleichterung!« Assef lachte. »Ich schrie >Allah-u-akbar<, und als er deswegen noch brutaler auf mich eintrat, fing ich zu lachen an. Das brachte ihn fast zum Wahnsinn, denn je fester er trat, desto lauter lachte ich. Ich lachte noch, als man mich zurück in die Zelle warf. Ich hörte gar nicht mehr auf zu lachen, denn ich wusste jetzt, Gott war auf meiner Seite. Er brauchte mich als sein Werkzeug.

Stell dir vor, ein paar Jahre später treffe ich diesen Kommandanten plötzlich auf dem Schlachtfeld wieder. Gottes Wege sind wirklich seltsam. Ich entdeckte ihn in einem Schützengraben bei Meymanah. Er war von einem Granatsplitter getroffen worden und blutete aus der Brust. Trug immer noch dieselben Stiefel. Ich fragte ihn, ob er sich an mich erinnerte. Fehlanzeige. Ich sagte ihm, was ich auch dir gesagt habe, nämlich, dass ich nie ein Gesicht vergesse. Dann habe ich ihm die Eier abgeschossen. Seitdem habe ich eine Mission zu erfüllen.«

»Was soll das für eine Mission sein?«, hörte ich mich fragen. »Ehebrecher steinigen? Kinder vergewaltigen? Frauen verprügeln, weil sie hohe Absätze tragen? Hazara massakrieren? Und das alles im Namen des Islam?« Die Worte sprudelten nur so aus mir hervor und waren gesagt, ehe ich mich bremsen konnte. Ich wünschte, sie zurücknehmen, sie verschlucken zu können. Aber sie waren draußen. Damit war eine Grenze überschritten, und mir schien, dass ich meine letzte Hoffnung, mit dem Leben davonzukommen, mit diesen Worten preisgegeben hatte.

Assef zeigte sich verwundert, allerdings nur einen kurzen Moment lang. »Wie ich sehe, könnte die Sache am Ende doch noch lustig werden«, höhnte er. »Nun, es gibt Dinge, die Verräter wie du einfach nicht verstehen.«

»Zum Beispiel?«

Assefs Brauen zuckten. »Zum Beispiel das Gefühl von Stolz auf das eigene Volk, auf seine Sitten und seine Sprache. Afghanistan ist wie ein wunderschönes Herrenhaus, das aber leider im Abfall versinkt. Jetzt müssen Leute ran, die diesen Abfall rausschaffen.«

»Und das macht euresgleichen in Mazar, verstehe ich das richtig? Ihr geht von Tür zur Tür und schafft den Abfall raus?«

»Genau.«

»Im Westen gibt es einen Ausdruck für so etwas«, sagte ich. »Man nennt es ethnische Säuberung.«

»Ach ja?« Assef zeigte sich amüsiert. »Ethnische Säuberung. Gefällt mir. Klingt gut.« »Ich will nur den Jungen, sonst nichts.«

»Ethnische Säuberung«, murmelte Assef, als versuchte er, die Wörter zu schmecken.

»Ich will den Jungen«, wiederholte ich. Suhrabs Augen huschten in meine Richtung -Augen wie die eines Schafs auf der Schlachtbank. Ich erinnerte mich, wie der Mullah zum Opferfest in unserem Hinterhof dem Schaf, das geschlachtet werden sollte, die Augen mit Mascara geschminkt und ihm einen Zuckerwürfel zu essen gegeben hatte, bevor er ihm das Messer an den Hals setzte. Ich glaubte, in Suhrabs Augen ein stilles Flehen zu erkennen.

»Verrate mir doch mal, warum«, sagte Assef und knabberte an Suhrabs Ohrläppchen. Schweiß trat ihm auf die Stirn.

»Das ist meine Sache.«

»Was willst du von ihm?«, fragte er. Und dann mit verschlagenem Grinsen: »Oder mit ihm.«

»Das ist abstoßend«, sagte ich.

»Woher weißt du das? Hast du es schon ausprobiert?« »Ich möchte ihn an einen Ort bringen, wo er es besser hat.« »Warum?«

»Das ist meine Sache«, antwortete ich. Mir war selbst ein Rätsel, wie ich so bestimmt sein konnte. Vielleicht dachte ich, dass es mir so oder so an den Kragen gehen würde.

»Aber genau das interessiert mich«, entgegnete Assef grinsend. »Mich interessiert, warum du wegen eines Hazara eine so weite Reise unternimmst. Was steckt dahinter? Wieso bist du hier?«

»Ich habe meine Gründe«, sagte ich.

»Na schön«, feixte Assef. Er versetzte Suhrab einen Stoß in den Rücken, worauf der Junge so fest mit der Hüfte gegen den Tisch prallte, dass dieser umkippte und die Weintrauben über den Boden kullerten. Suhrab stolperte und stürzte und verschmierte sein Hemd mit dem violetten Saft der Beeren. Die Beine des Tisches, die sich in dem Ring aus Messingkugeln kreuzten, zeigten nun zur Decke.

»Dann nimm ihn doch mit«, sagte Assef. Ich half Suhrab vom Boden auf und klopfte die zerdrückten Trauben von seiner Hose, die wie Muscheln an ihm klebten.

»Nimm ihn und geh«, sagte Assef und zeigte zur Tür.

Ich nahm Suhrab bei der Hand. Sie war klein, die Haut trocken und voller Schwielen. Die Finger bewegten und verschränkten sich mit den meinen. Im Geiste sah ich Suhrab auf dem Polaroidfoto wieder, wie er den Arm um Hassans Bein geschlungen hielt und mit dem Kopf an der Hüfte des Vaters lehnte. Beide hatten gelächelt. Die Schellen klingelten, als wir zur Tür gingen.

»Ich habe nicht gesagt, dass du ihn umsonst kriegst«, sagte Assef.

Ich drehte mich um. »Was willst du?« »Du musst ihn dir verdienen.« »Was willst du?«

»Wir haben noch eine offene Rechnung, du und ich«, antwortete Assef. »Du erinnerst dich doch, oder?«

Und ob. Nie würde ich den Tag vergessen, an dem Daoud Khan den König gestürzt hatte. Sooft ich Daoud Khans Namen hörte, sah ich Hassan vor mir, die Schleuder auf Assefs Gesicht gerichtet, drohend, dass man ihn demnächst womöglich nicht mehr Assef Goshkhor, Ohrenfresser, sondern Einäugiger Assef nennen würde. Ich erinnerte mich, wie neidisch ich auf Hassans Mut gewesen war. Assef hatte klein beigeben müssen, aber geschworen, dass er sich an uns beiden rächen würde. Hassan gegenüber hatte er dieses Versprechen schon eingelöst. Jetzt war ich dran.

»Also gut.« Ich wusste nichts anderes zu sagen. Betteln wollte ich nicht. Das hätte ihm diesen Moment zusätzlich versüßt.

Assef rief die beiden Wachen zurück in den Raum. »Hört mal her«, sagte er zu ihnen. »Wir, er und ich, haben noch eine alte Geschichte zu klären. Ihr macht gleich die Tür hinter euch zu und bleibt draußen, egal, was ihr hören werdet. Verstanden? Ihr bleibt draußen.«

Die Wachen nickten und warfen mir einen kurzen Blick zu. »Ja, Aga Sahib.«

»Wenn wir hier fertig sind, wird nur einer von uns diesen Raum lebend verlassen«, sagte Assef. »Wenn er es ist, hat er sich seine Freiheit verdient, und ihr lasst ihn passieren. Verstanden?«

Der ältere Wachmann trat von einem Bein aufs andere. »Aber Aga Sahib ...«

»Wenn er es ist, lasst ihr ihn passieren!«, blaffte Assef. Die beiden Männer zuckten zusammen. Auf dem Weg nach draußen packte einer von ihnen Suhrab am Kragen.

»Lasst ihn hier«, sagte Assef und grinste. »Er soll zusehen. In jungen Jahren kann man gar nicht genug Erfahrungen sammeln.«

Die Wachen gingen. Assef legte seine Gebetskette ab und langte in die Brusttasche seiner schwarzen Weste. Was er daraus zum Vorschein zog, überraschte mich nicht im Geringsten: einen Schlagring aus Edelstahl.

Er hat gegeltes Haar und trägt über den dicken Lippen einen dünnen Schnurrbart á la Clark Gable. Das Gel hat im Papier der grünen OP-Haube einen dunklen Fleck in Form des afrikanischen Kontinents gebildet. Daran erinnere ich mich genau. Daran und an das goldene Allah-Halskettchen. Er blickt auf mich herab und spricht in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Urdu, wie mir scheint. Er spricht sehr schnell, und ich sehe seinen Adamsapfel auf und ab hüpfen. Ich will ihn fragen, wie alt er ist - für seine Rolle in dieser ausländischen Seifenoper sieht er eigentlich viel zu jung aus -, stattdessen aber murmele ich vor mich hin: Ich glaube, ich habe ihm einen guten Kampf geliefert. Ich glaube, ich habe ihm einen guten Kampf geliefert.

Ich weiß nicht, ob ich Assef einen guten Kampf geliefert habe. Wahrscheinlich nicht. Wie auch? Es war mein erster Kampf überhaupt. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch kein einziges Mal mit der Faust zugeschlagen.

Manches von diesem Kampf mit Assef ist mir überaus lebendig in Erinnerung. Ich erinnere mich, dass er Musik eingeschaltet hatte, bevor er den Schlagring über die Finger streifte. Irgendwann löste sich der Gebetsteppich mit der eingewebten Mekka-Abbildung von der Wand und fiel mir auf den Kopf. Der Staub brachte mich zum Niesen. Ich erinnere mich, dass mir Assef Trauben ins Gesicht drückte, mir dabei seine feucht glänzenden Zähne zeigte und die blutunterlaufen Augen rollen ließ. Irgendwann verlor er den Turban, und seine blonden Locken fielen ihm bis auf die Schultern herab.

An das Ende erinnere ich mich natürlich auch. Das sehe ich in absoluter Klarheit vor mir. Solange ich lebe.

Ich sehe seinen Schlagring im Licht der tief stehenden Sonne blinken; wie kalt dieser sich bei den ersten Treffern anfühlte und wie rasch er dann von meinem Blut erwärmt wurde. Gegen die Wand geschleudert, spüre ich einen Nagel, an dem wahrscheinlich ein Bild gehangen hatte, in meinen Rücken stechen. Suhrab schreit. Tabla, Harmonium, eine dil-roba. Ich werde gegen die Wand geschleudert. Der Schlagring zerschmettert meinen Kiefer.

Ich würge an meinen Zähnen, schlucke sie runter, denke an die vielen Stunden, die ich für ihre Pflege aufgebracht habe. Pralle wieder gegen die Wand. Liege am Boden; von meiner aufgekratzten Oberlippe tropft Blut auf den fliederfarbenen Teppich. Schmerz schneidet mir durch den Bauch, und ich frage mich, ob ich jemals wieder werde Luft holen können. Meine Rippen knacken wie die Aste, mit denen Hassan und ich nach dem Vorbild Sindbads und in Ermangelung echter Schwerter gefochten haben. Suhrab schreit. Ich schlage mit dem Gesicht gegen den Rand der Fernsehkonsole. Da knackt wieder etwas, diesmal unter dem linken Auge. Musik. Suhrab schreit. Finger krallen sich in meine Haare, reißen mir den Kopf in den Nacken. Das Aufblitzen von Edelstahl. Es fliegt auf mich zu. Und wieder dieses Knacken. Meine Nase. Ich beiße vor Schmerz die Zähne zusammen, spüre, dass sie nicht mehr wie gewohnt aufeinander passen. Ich werde getreten. Suhrab schreit.

Ich weiß nicht mehr, an welcher Stelle ich damit angefangen habe, jedenfalls habe ich gelacht. Es tat mir weh zu lachen, im Gesicht, im Hals, in der Brust. Trotzdem lachte ich, und je mehr ich lachte, desto fester trat, schlug, kratzte er mich.

»Was gibt's da zu lachen?«, brüllte Assef mit jedem Schlag. Sein Geifer tropfte mir ins Auge. Suhrab schrie.

»Was gibt's da zu lachen?«, zeterte er. Wieder knackte eine Rippe, diesmal auf der linken Seite. Zum ersten Mal seit jenem Winter 1975 war ich im Frieden mit mir selbst. Ich lachte, weil mir klar wurde, dass ich im Unterbewusstsein immer auf diesen Moment gewartet hatte. Ich erinnerte mich daran, wie ich Hassan damals auf dem Hügel mit Granatäpfeln beworfen und ihn zu provozieren versucht hatte, wie er aber einfach nur reglos dagestanden hatte, wie ihm der rote Saft über das Hemd gelaufen war, als wäre es Blut, wie er mir schließlich einen Granatapfel aus der Hand genommen hatte, um ihn sich an der eigenen Stirn zu zerdrücken. Bist jetzt zufrieden? hatte er gekrächzt. Fühlst dich jetzt besser?

Ich war weder zufrieden gewesen, noch hatte ich mich besser gefühlt, ganz und gar nicht. Jetzt aber sehr wohl. Mein Körper war geschunden - wie schlimm, sollte ich erst später erfahren -, doch ich fühlte mich geheilt. Endlich geheilt. Ich lachte.

Dann das Ende. Ein Bild, das ich mit ins Grab nehmen werde:

Ich liege lachend am Boden, Assef rittlings auf meiner Brust, sein Gesicht eine Maske des Wahnsinns, gerahmt von einem Wust von Locken, die fast bis auf mein Gesicht herabhängen. Die eine Hand hält meinen Hals umklammert, die andere, die mit dem Schlagring, schwingt über die Schulter hoch. Er holt zum Schlag aus.

Dann: »Bas.« Eine dünne Stimme.

Wir merkten beide auf.

»Aufhören, bitte.«

Ich erinnerte mich an den Leiter des Waisenhauses, an seinen Hinweis, als er uns, Farid und mir, die Tür geöffnet hatte. Wie hatte er noch geheißen? Zaman? Er hat dieses Ding immer bei sich - so Zamans Worte -, trägt es im Hosenbund, wohin er auch geht.

»Aufhören.«

Tränen, mit Mascara vermischt, hatten schwarze Spuren im Rouge der Wangen hinterlassen. Seine Unterlippe zitterte. Er heulte Rotz und Wasser. »Bas«, schluchzte er.

Seine rechte Hand hielt über der Schulter das Geschossleder einer Schleuder gepackt, deren Gummistränge bis zum Zerreißen gespannt waren. In dem Leder schimmerte ein gelblicher Gegenstand. Ich zwinkerte das Blut aus meinen Augen und erkannte in diesem Geschoss eine der Messingkugeln aus dem Ring des Tischgestells. Suhrab zielte auf Assefs Gesicht.

»Aufhören, Aga. Bitte«, sagte er mit zitternder Stimme. »Hören Sie auf, ihm wehzutun.« Assefs Lippen bewegten sich stumm. Erst allmählich fand er Worte. »Was fällt dir ein?«, sagte er schließlich.

»Aufhören, bitte«, flehte der Junge, und aus den grünen Augen traten frische Tränen, die die Tusche von den Wimpern lösten.

»Leg das Ding weg, Hazara«, zischte Assef. »Leg es weg, sonst blüht dir was, und das wird dann nicht so schonend sein wie diese Vorzugsbehandlung eines alten Freundes.«

Die Tränen rannen. Suhrab schüttelte den Kopf. »Bitte, Aga«, sagte er. »Aufhören.«

»Leg das Ding weg.«

»Tun Sie ihm nicht weh.«

»Leg's weg.«

»Bitte.«

»Leg es weg!«

»Bas.«

»Leg es weg!« Assef löste die Hand von meiner Kehle und langte nach dem Jungen.

Mit einem deutlich hörbaren Swiiiit entspannte sich die Schleuder, als Suhrab das Geschossleder freigab. Dann war es Assef, der schrie. Er schlug die Hand vor das linke Auge. Zwischen den Fingern quoll Blut hervor. Blut und noch etwas, etwas Weißes, Geleeartiges. Glaskörperßüssigkeit, dachte ich. Ich hatte irgendwo davon gelesen. Glaskörperflüssigkeit.

Assef ließ sich auf den Teppich fallen, wälzte sich schreiend hin und her und hielt die Hand auf die blutende Augenhöhle gepresst.

»Weg hier!«, sagte Suhrab. Er nahm meine Hand. Half mir auf die Beine. Jeder Quadratzentimeter meines geschundenen Körpers brannte vor Schmerz. Hinter uns kreischte Assef.

»Raus! Holt sie raus!«, brüllte er.

Vorsichtig öffnete ich die Tür. Aus weit aufgerissenen Augen starrten mich die Wachen an, und ich fragte mich, wie ich wohl aussah. Mein Magen schmerzte bei jedem Atemzug. Einer der beiden Männer sagte etwas auf Paschto, und dann stürmten beide an uns vorbei, Assef zu Hilfe, der immer noch schrie: »Raus!«

»Bia!«, sagte Suhrab und zerrte an meiner Hand. Ich warf einen letzten Blick über die Schulter. Die Wachen kauerten über Assef und machten sich an seinem Gesicht zu schaffen. Jetzt begriff ich: Die Messingkugel steckte immer noch in der Augenhöhle.

Vor meinen Augen drehte sich alles, als ich, von Suhrab gestützt, über die Stufen nach unten wankte. Von oben tönten Assefs anhaltende Schreie, tierische Schreie. Wir schafften es nach draußen, ans Tageslicht. Ich sah Farid auf uns zuhasten.

»Bismillah! Bismillah!«, rief er, sichtlich entsetzt über meinen Anblick. Er schlang meinen Arm über seine Schulter und hob mich auf, trug mich im Laufschritt zurück zum Wagen. Ich glaube, vor Schmerzen gebrüllt zu haben. Ich sah, wie seine Sandalen auf das Pflaster stampften, gegen seine schwarzen, verhornten Fersen schlugen. Es war mir kaum möglich zu atmen. Dann lag ich plötzlich auf dem beigefarbenen gerippten Polster der Rückbank, blickte zum Dach des Landcruisers hinauf und registrierte das Ding-ding-ding, das auf eine noch nicht geschlossene Tür aufmerksam machte. Ich hörte Schritte, die um den Wagen liefen, einen kurzen Wortwechsel zwischen Farid und Suhrab. Dann schlugen die Türen zu, und der Motor heulte auf. Als der Wagen beschleunigte, fühlte ich eine kleine Hand auf der Stirn. Auf der Straße waren Stimmen zu hören. Es brüllte jemand. Ich sah Bäume am Fenster vorbeiwischen. Suhrab schluchzte. Farid stammelte immer noch: »Bismillah! Bismillah!«

Ungefähr zu diesem Zeitpunkt muss ich die Besinnung verloren haben.

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