Am nächsten Morgen wartete ich in meinem Zimmer darauf, dass Ali den Frühstückstisch in der Küche abräumte. Wartete darauf, dass er das Geschirr spülte und die Arbeitsflächen abwischte. Ich sah aus meinem Kinderzimmer und wartete, bis Ali und Hassan Richtung Basar gingen, um Lebensmittel einzukaufen, und dabei die leeren Schubkarren vor sich herschoben.

Dann zog ich zwei Briefumschläge mit Bargeld und meine Armbanduhr aus dem Haufen von Geschenken hervor und schlich hinaus. Ich blieb vor Babas Arbeitszimmer stehen und lauschte. Er war schon den ganzen Morgen dort drin und telefonierte. Auch jetzt redete er wieder mit jemandem, dabei ging es um eine Sendung Teppiche, die nächste Woche eintreffen sollte. Ich lief nach unten, durchquerte den Garten und betrat Alis und Hassans Hütte in der Nähe des Mispelbaumes. Ich hob Hassans Matratze in die Höhe und legte meine neue Uhr und eine Hand voll afghanischer Geldscheine darunter.

Dann wartete ich dreißig Minuten, ehe ich an Babas Tür klopfte und ihm die, wie ich hoffte, letzte Lüge in einer ganzen Reihe von schändlichen Lügen auftischte.

Durch das Fenster in meinem Kinderzimmer sah ich, wie Ali und Hassan die mit Fleisch, naan, Früchten und Gemüsen gefüllten Schubkarren die Auffahrt heraufschoben. Ich sah

Baba aus dem Haus treten und auf Ali zugehen. Ihre Münder formten Worte, die ich nicht hören konnte. Baba zeigte auf das Haus, und Ali nickte. Sie trennten sich. Baba kehrte ins Haus zurück; Ali folgte Hassan in ihre Hütte.

Wenige Augenblicke später klopfte Baba an meine Tür. »Komm ins Arbeitszimmer«, sagte er. »Wir werden uns alle zusammensetzen und diese Angelegenheit klären.«

Ich ging in Babas Arbeitszimmer und setzte mich auf eins der Ledersofas. Es dauerte eine gute halbe Stunde, bis Hassan und Ali dazukamen.

Sie hatten beide geweint, das konnte ich an ihren roten, geschwollenen Augen sehen. Sie standen vor Baba, hielten sich an den Händen, und ich fragte mich, wie es wohl kam, dass ich imstande war, einem anderen Menschen einen solchen Schmerz zuzufügen.

Baba redete gar nicht erst lange drum herum und fragte: »Hast du das Geld gestohlen? Hast du Amirs Uhr gestohlen, Hassan?«

Hassans Erwiderung bestand nur aus einem einzigen Wort, ausgesprochen mit einer schwachen, heiseren Stimme: »Ja.«

Ich zuckte zusammen, als hätte mich ein Schlag getroffen. Das Herz wurde mir schwer, und ich wäre beinahe mit der Wahrheit herausgeplatzt. Dann begriff ich: Das hier war Hassans letztes Opfer für mich. Wenn er Nein gesagt hätte, hätte Baba ihm geglaubt, weil wir alle wussten, dass Hassan niemals log. Und wenn Baba ihm geglaubt hätte, wäre ich der Beschuldigte gewesen; ich hätte eine Erklärung abgeben müssen, und es wäre herausgekommen, was ich getan hatte. Das hätte mir Baba nie und nimmer verziehen. Und das wiederum machte mir noch etwas klar: Hassan wusste es. Er wusste, dass ich damals in jener Gasse alles gesehen hatte, dass ich dort gestanden und nichts getan hatte. Er wusste, dass ich ihn im Stich gelassen hatte, und dennoch rettete er mich erneut, vielleicht zum letzten Mal. In diesem Moment liebte ich ihn, liebte ihn mehr, als ich jemals einen anderen Menschen geliebt hatte, und ich hätte ihm so gern gesagt, dass ich die Schlange im Gras war, das Ungeheuer im See. Ich war dieses Opfer nicht wert; ich war ein Lügner und ein Betrüger und ein Dieb. Und ich hätte es auch beinahe gesagt, wenn ich nicht tief in meinem Inneren froh gewesen wäre. Froh, dass all das hier bald vorüber sein würde. Baba würde sie entlassen, es würde wehtun, aber das Leben ging weiter. Und genau das wollte ich, ich wollte einen neuen Anfang machen. Wollte endlich wieder atmen können. Aber dann verblüffte mich Baba, indem er sagte: »Ich vergebe dir.«

Er wollte ihm vergeben? Aber Diebstahl war doch die eine unverzeihliche Sünde, die größte aller Sünden überhaupt. Wenn du einen Mann umbringst, stiehlst du ein Leben. Du stiehlst seiner Frau das Recht auf einen Ehemann, raubst seinen Kindern den Vater. Wenn du eine Lüge erzählst, stiehlst du einem anderen das Recht auf die Wahrheit. Wenn du betrügst, stiehlst du das Recht auf Gerechtigkeit. Es gibt keine erbärmlichere Tat als das Stehlen. Hatte mich Baba nicht auf seine Knie gehoben und mir diese Worte gesagt? Wie konnte er Hassan dann so einfach vergeben? Und wenn Baba das vergeben konnte, warum war er nicht imstande, mir zu verzeihen, dass ich nicht der Sohn war, den er sich immer gewünscht hatte? Warum ...

»Wir gehen weg von hier, Aga Sahib«, sagte Ali.

»Was?«, rief Baba, und alle Farbe wich aus seinem Gesicht.

»Wir können hier nicht mehr leben«, sagte Ali.

»Aber ich vergebe ihm, Ali, hast du das denn nicht gehört?«, fragte Baba.

»Das Leben hier ist für uns unmöglich geworden, Aga Sahib. Wir gehen von hier weg.« Ali zog Hassan an sich, legte den Arm um die Schulter seines Sohnes. Es war eine beschützende Geste, und ich wusste, vor wem Ali ihn beschützte. Ali blickte zu mir hinüber, und in seinem kalten, unversöhnlichen Blick sah ich, dass Hassan es ihm erzählt hatte. Er hatte ihm alles erzählt, über Assef und seine Freunde und was sie ihm angetan hatten, über den Drachen und über mich. Seltsamerweise war ich froh, dass jemand wusste, was für ein Mensch ich wirklich war; denn ich hatte genug von der Versteckspielerei.

»Das mit dem Geld oder der Uhr ist mir egal«, sagte Baba, der die Arme geöffnet hatte und dessen Handflächen zum Himmel zeigten. »Ich verstehe nur nicht, warum du das tust... was meinst du mit unmöglich?«

»Es tut mir Leid, Aga Sahib, aber wir haben bereits gepackt. Unsere Entscheidung ist gefallen.«

Als Baba sich erhob, war ein kummervoller Ausdruck auf seinem Gesicht. »Ali, habe ich nicht gut für dich gesorgt? Bin ich zu dir und Hassan nicht gut gewesen? Du bist der Bruder, den ich nie gehabt habe, Ali, das weißt du doch. Bitte geh nicht.«

»Macht es nicht schwerer, als es ohnehin schon ist, Aga Sahib«, sagte Ali. Sein Mund zuckte, und einen Moment lang glaubte ich, eine Grimasse zu sehen. Da begriff ich die Tiefe des Schmerzes, den ich verursacht hatte, die Größe des Leids, das ich über alle gebracht hatte, sodass nicht einmal Alis erstarrte Miene seinen Kummer verbergen konnte. Ich zwang mich, Hassan anzusehen, aber er hatte den Kopf tief gebeugt, seine Schultern waren nach vorn gesackt, und seine Finger spielten mit einem Faden, der sich aus dem Saum seines Hemdes gelöst hatte.

Babas Stimme hatte einen flehenden Tonfall angenommen. »Dann sag mir doch wenigstens, warum. Ich muss den Grund wissen!«

Aber Ali verriet Baba nichts. Er schwieg zu seinen Fragen genauso, wie er geschwiegen hatte, als Hassan den Diebstahl gestand. Ich werde niemals wirklich wissen, warum er es getan hat, doch ich konnte mir vorstellen, wie die beiden in dieser düsteren kleinen Hütte weinend dasaßen und Hassan ihn anflehte, mich nicht zu verraten. Aber ich konnte nicht ermessen, welche Beherrschung es Ali gekostet haben musste, dieses Versprechen zu halten.

»Werdet Ihr uns zur Bushaltestelle fahren?«

»Ich verbiete dir, das zu tun!«, brüllte Baba ungehalten. »Ich verbiete es dir, hörst du!«

»Bei allem Respekt, aber Ihr könnt mir gar nichts verbieten, Aga Sahib«, erwiderte Ali. »Wir arbeiten nicht mehr für Euch.«

»Wohin wirst du gehen?«, fragte Baba, und die Stimme brach ihm dabei. »In den Hazarajat.« »Zu deinem Cousin?«

»Ja. Werdet Ihr uns zur Bushaltestelle fahren, Aga Sahib?«

Und dann tat Baba etwas, was ich noch nie bei ihm gesehen hatte: Er weinte. Es jagte mir ein wenig Angst ein, einen erwachsenen Mann schluchzen zu sehen. Väter sollten eigentlich nicht weinen. »Bitte«, sagte Baba, aber Ali hatte sich schon zur Tür gewandt, und Hassan trottete hinter ihm her. Ich werde niemals vergessen, wie Baba dieses Wort aussprach, werde niemals den Schmerz in seiner Bitte vergessen, die Angst, die darin lag.

In Kabul regnete es selten im Sommer. Der klare Himmel erstrahlte in seinem Blau, und die Sonne glich einem Brandeisen, das einem den Nacken versengte. Bäche, in denen Hassan und ich den ganzen Frühling über Steine hatten springen lassen, trockneten aus, und Rikschas wirbelten Staub auf, wenn sie vorüberfuhren. Die Leute gingen für die zehn raka't des Mittagsgebets in die Moschee und zogen sich dann irgendwo in den Schatten zurück, um zu dösen und auf die Kühle des frühen Abends zu warten. Sommer hieß lange, verschwitzte Schultage in hoffnungslos überfüllten, schlecht belüfteten Klassenräumen: Tage, an denen wir lernten, Verse aus dem Koran aufzusagen, und uns mit den zungenbrecherischen arabischen Wörtern herumquälten. Hieß Fliegen in der Handfläche fangen, während der Mullah die Worte herunterleierte und eine heiße Brise den Gestank vom Klohäuschen herübertrug, das auf der anderen Seite des Schulhofs stand, und den Staub um den einsamen, altersschwachen Basketballkorb aufwirbelte.

Aber als Baba Ali und Hassan an jenem Nachmittag zur Bushaltestelle fuhr, regnete es. Gewitterwolken zogen auf, färbten den Himmel stahlgrau. Innerhalb von wenigen Minuten schüttete es nur so, und das ununterbrochene Rauschen des herabströmenden Wassers schwoll in meinen Ohren an.

Baba hatte ihnen angeboten, sie bis nach Bamiyan zu fahren, aber das hatte Ali abgelehnt. Durch das trübe, vom Regen nasse Fenster meines Zimmers beobachtete ich, wie Ali den einen Koffer, in dem all ihr Hab und Gut untergebracht war, zu Babas Wagen trug, der mit laufendem Motor draußen vor dem Tor stand. Hassan schleppte seine Matratze, die fest zusammengerollt und mit einem Seil umwickelt war, auf der Schulter. Am nächsten Tag entdeckte ich, dass er sein ganzes Spielzeug in der leeren Hütte zurückgelassen hatte. Es lag auf einem Haufen in einer Ecke, genau wie die Geburtstagsgeschenke in meinem Zimmer.

Regen rann über meine Fensterscheibe. Ich sah, wie Baba den Kofferraum zuschlug. Dann ging er, schon ziemlich nass, zur Fahrerseite hinüber, lehnte sich in den Wagen und sagte etwas zu Ali, der auf dem Rücksitz saß; vielleicht war es ein letzter Versuch, ihn zum Bleiben zu bewegen. Sie unterhielten sich eine Weile, bis Baba, der vornübergebeugt dastand, einen Arm auf das Dach des Wagens gelegt, völlig durchnässt war. Aber als er sich aufrichtete, da sah ich an seinen eingesackten Schultern, dass das Leben, wie ich es seit meiner Geburt gekannt hatte, vorüber war. Baba glitt hinter das Steuer. Die Scheinwerfer wurden eingeschaltet und schnitten parallele Schneisen aus Licht in den Regen. Wenn dies einer der Hindi-Filme wäre, die Hassan und ich uns so oft angeschaut hatten, dann wäre dies der Teil, in dem ich nach draußen renne und meine nackten Füße durch das aufspritzende Regenwasser platschen. Ich laufe hinter dem Wagen her und bringe ihn mit lauten Schreien zum Anhalten, zerre Hassan vom Rücksitz und sage ihm - während sich meine Tränen mit dem Regenwasser vermischen -, wie Leid, wie schrecklich Leid mir das alles tut. Und dann umarmen wir uns mitten im Wolkenbruch. Aber das hier war kein Hindi-Film. Es tat mir wohl Leid, aber weder weinte ich, noch rannte ich dem Wagen hinterher. Ich sah zu, wie Babas Auto losfuhr und den Menschen mitnahm, dessen erstes gesprochenes Wort mein Name gewesen war. Ich erhaschte einen letzten, verschwommenen Blick auf Hassan, der zusammengesunken auf dem Rücksitz saß, bevor Baba an der Straßenecke, an der wir so viele Male Murmeln gespielt hatten, nach links abbog.

Ich trat zurück und sah nur noch den Regen wie schmelzendes Silber die Fensterscheibe hinablaufen.

10

März 1981

Schräg gegenüber von uns saß eine junge Frau. Sie trug ein olivgrünes Kleid und hatte sich einen schwarzen Schal um das Gesicht gelegt, um sich gegen die Kälte der Nacht zu schützen. Sie begann jedes Mal hektisch zu beten, wenn der Lastwagen einen Satz machte oder durch ein Schlagloch holperte, und jedes Vibrieren und Rütteln des Wagens mündete in einem »Bismillah!«. Ihr Ehemann, ein kräftiger Mann in einer ausgebeulten Hose mit einem himmelblauen Turban auf dem Kopf, hielt ein Kleinkind im Arm und befingerte mit der freien Hand seine Gebetsperlen. Seine Lippen bewegten sich in einem stillen Gebet. Da waren noch andere, insgesamt ungefähr ein Dutzend, Baba und mich eingeschlossen, die wir mit unseren Koffern zwischen den Beinen zusammengepfercht auf der mit einer Plane abgedeckten Ladefläche eines alten russischen Lastwagens saßen.

Meine Eingeweide waren in Aufruhr, seit wir kurz nach zwei Uhr morgens Kabul verlassen hatten. Auch wenn Baba es mir nie offen sagte, so wusste ich doch, dass er die Übelkeit, die mich beim Autofahren immer wieder überfiel, nur als eine weitere meiner zahllosen Schwächen ansah - das verriet mir sein verlegener Gesichtsausdruck, als ich ein-oder zweimal stöhnte, weil sich mein Magen so schrecklich verkrampfte. Als mich der stämmige Kerl mit den Perlen - der Ehemann der betenden Frau - fragte, ob ich mich übergeben müsse, erwiderte ich: »Vielleicht.« Baba blickte zur Seite. Der Mann hob die Ecke der Plane in die Höhe und klopfte an die Scheibe des Führerhauses, um dem Fahrer zuzurufen, dass er anhalten solle. Aber Karim, ein dürrer dunkelhäutiger Mann mit scharfen Zügen und einem schmalen Schnurrbart, schüttelte den Kopf.

»Wir sind noch zu nah an Kabul«, gab er zurück. »Sag ihm, dass er seinen Magen an die Kandare nehmen soll.« Baba brummte etwas in sich hinein. Ich wollte ihm sagen, dass es mir Leid tat, aber plötzlich füllte sich mein Mund mit Magensaft, und ich schmeckte Galle hinten in meiner Kehle. Ich drehte mich um, hob die Plane und erbrach mich über die Seite des fahrenden Lastwagens. Hinter mir entschuldigte sich Baba bei den anderen Passagieren. Als wäre es ein Verbrechen, wenn einem beim Autofahren übel wurde. Als dürfte einem mit achtzehn Jahren nicht mehr schlecht werden. Ich übergab mich noch zwei weitere Male, ehe Karim sich überreden ließ anzuhalten - was er vor allem deshalb tat, damit ich ihm das Fahrzeug, mit dem er sich seinen Lebensunterhalt verdiente, nicht völlig verdreckte. Karim war ein Menschenschmuggler, was damals ein recht lukratives Geschäft war. Er fuhr Menschen aus dem von den Shorawi, den Kommunisten, besetzten Kabul in die relative Sicherheit Pakistans. Er brachte uns nach Jalalabad, das ungefähr 170 Kilometer südöstlich von Kabul liegt, wo sein Bruder, Toor, der einen größeren Lastwagen besaß, mit einer zweiten Flüchtlingsgruppe auf uns wartete, um uns alle über den Khyberpass nach Peshawar zu bringen.

Wir befanden uns ein paar Kilometer westlich von Mahipar und seinem Wasserfall, als Karim am Straßenrand anhielt. Mahipar - was »Fliegender Fisch« bedeutet - war eine hoch gelegene Bergkuppe mit einem steilen Abhang, von der aus man das Wasserkraftwerk überblicken konnte, das die Deutschen 1967 für Afghanistan gebaut hatten. Baba und ich waren auf dem Weg nach Jalalabad - der Stadt der Zypressen und der Zuckerrohrfelder, wo die Afghanen im Winter Urlaub machten - unzählige Male diese über 1000 Meter hoch gelegene und 40 Kilometer lange Passstrecke entlanggefahren.

Ich sprang von der Ladefläche des Lastwagens und taumelte zur staubigen Böschung am Straßenrand. Mein Mund hatte sich mit Magensaft gefüllt, ein Anzeichen dafür, dass das Gewürge gleich wieder losgehen würde. Ich stolperte zu dem Felsvorsprung hinüber, von dem aus man sonst das tiefe Tal überblicken konnte, das nun in Dunkelheit gehüllt dalag. Ich bückte mich, die Hände auf die Knie gestützt, und wartete auf die Galle. Irgendwo brach ein Ast, und der Schrei einer Eule ertönte. Der kalte Wind ließ die Zweige der Bäume knacken und fuhr in die Büsche, die den Abhang sprenkelten. Und von unten ertönte das Geräusch von Wasser, das durch das Tal stürzte.

Während ich so gebückt am Straßenrand stand, dachte ich daran, wie wir das Haus verlassen hatten, in dem ich mein ganzes Leben gewohnt hatte - als wären wir nur gerade einmal kurz weggegangen, um einen Happen zu essen: Mit kofta verschmierte Teller stapelten sich in der Spüle, die Wäsche lag im Weidenkorb in der Halle, die Betten waren ungemacht, Babas Geschäftsanzüge hingen im Schrank. An den Wänden des Wohnzimmers befanden sich noch die Gobelins, und die Bücher meiner Mutter standen immer noch in den voll gestopften Regalen in Babas Arbeitszimmer. Die Anzeichen unserer Flucht waren nur für einen sehr aufmerksamen Beobachter wahrnehmbar: Das Hochzeitsfoto meiner Eltern war verschwunden, ebenso wie das unscharfe Foto von meinem Großvater und König Nadir Shah, auf dem sie mit dem toten Hirsch zu sehen sind. Einige wenige Kleidungsstücke fehlten in den Schränken. Das in Leder gebundene Notizbuch, das mir Rahim Khan vor fünf Jahren geschenkt hatte, war auch nicht mehr da.

Am Morgen würde Jalaluddin - unser siebter Dienstbote in fünf Jahren - sicherlich glauben, dass wir spazieren gegangen oder zu einer kleinen Spritztour weggefahren waren. Wir hatten ihm nichts erzählt. Man konnte niemandem in Kabul mehr trauen; für Geld oder unter Androhung von Gewalt verrieten die Leute einander, der Nachbar den Nachbarn, das Kind die Eltern, der Bruder den Bruder, der Diener den Herrn, der Freund den Freund. Ich erinnerte mich an den Sänger Ahmad Zahir, der an meinem dreizehnten Geburtstag Akkordeon gespielt hatte. Er war mit Freunden mit dem Auto zu einem Ausflug aufgebrochen, und irgendjemand hatte seine Leiche später mit einer Kugel im Kopf am Straßenrand gefunden. Die rafiqs, die Genossen, waren überall, und sie hatten Kabul in zwei Gruppen gespalten: die, die heimlich lauschten, und die, die es nicht taten. Das Problem war, dass niemand wusste, wer zu welcher Gruppe gehörte. So konnte man beispielsweise, wenn man beim Anpassen des neuen Anzugs beim Schneider eine beiläufige Bemerkung fallen ließ, dafür in den Kerkern von Koteh-Sangi landen. Beschwerte man sich beim Metzger über die Ausgangssperre, saß man, ehe man sichs versah, hinter Gittern und blickte in den Lauf einer Kalaschnikow. Selbst am Abendbrottisch, im eigenen Heim, konnten die Menschen nicht einfach so drauflosreden - die rafiqs waren auch in den Klassenzimmern; sie hatten den Kinder beigebracht, ihre Eltern auszuspionieren: worauf es zu hören galt, wem man es sagen sollte.

Was hatte ich nur mitten in der Nacht auf dieser Straße zu suchen? Ich hätte im Bett sein sollen, unter meiner Decke, ein Buch mit Eselsohren neben mir auf dem Nachttisch. Das hier war nur ein Traum. Das konnte nur ein Traum sein. Morgen früh würde ich aufwachen und aus dem Fenster sehen, und es gäbe keine russischen Soldaten mit grimmigen Gesichtern mehr, die über die Gehsteige patrouillierten, keine Panzer, die durch die Straßen meiner Stadt rollten und ihre Türme wie anklagende Finger hin und her drehten, keine Trümmer, keine Ausgangssperren, keine russischen Truppentransporter, die sich ihre Wege durch die Basare bahnten.

Dann hörte ich, wie Baba und Karim hinter mir bei einer Zigarette die Regelung in Jalalabad besprachen. Karim versicherte Baba, dass sein Bruder einen großen Lastwagen »von hervorragender und erstklassiger Qualität« besitze und dass der Weg nach Peshawar für ihn bloße Routine darstelle. »Er könnte Sie mit geschlossenen Augen dorthin fahren«, behauptete Karim. Ich hörte, wie er Baba erzählte, dass sein Bruder und er die russischen und afghanischen Soldaten kannten, die an den Kontrollposten Dienst taten, dass sie eine Vereinbarung getroffen hatten, die »für beide Seiten profitabel« war. Das hier war kein Traum. Plötzlich heulte wie aufs Stichwort eine Mig über uns hinweg. Karim warf seine Zigarette weg und zog eine Pistole aus dem Gürtel. Richtete sie auf den Himmel und tat so, als würde er schießen, während er auf die Mig spuckte und sie verfluchte.

Ich fragte mich, wo Hassan wohl sein mochte. Und dann das Unvermeidliche: Ich erbrach mich auf ein Gewirr von Unkraut, und mein Würgen und Stöhnen ging im ohrenbetäubenden Donnern der Mig unter.

Zwanzig Minuten später erreichten wir den Kontrollposten in Mahipar. Unser Fahrer ließ den Lastwagen mit laufendem Motor stehen und sprang hinunter, um die sich nähernden Stimmen zu begrüßen. Füße stampften knirschend über Schotter. Worte wurden gewechselt, kurz nur und mit gedämpften Stimmen. Das Schnipsen eines Feuerzeugs. »Spassiba.«

Ein weiteres Schnipsen des Feuerzeugs. Jemand lachte - ein schrilles, meckerndes Lachen, das mich zusammenzucken ließ. Babas Hand umklammerte meinen Oberschenkel. Der lachende Mann stimmte ein Lied an, trug nuschelnd und mit einem starken russischen Akzent fürchterlich falsch ein altes afghanisches Hochzeitslied vor:

Ahesta boro, Mah-e-man, ahesta boro. Wandere langsam, mein schöner Mond, wandere langsam.

Stiefelabsätze klickten auf Asphalt. Jemand riss die Plane in die Höhe, die hinten über dem Lastwagen herunterhing, und drei Gesichter blickten uns an. Eins gehörte Karim, die anderen beiden Soldaten, von denen einer ein Afghane und der andere ein grinsender Russe mit dem Gesicht einer Bulldogge war, aus dessen Mundwinkel eine Zigarette hing. Hinter ihnen war ein knochenfarbener Mond am Himmel zu sehen. Karim und der afghanische Soldat unterhielten sich kurz auf Paschto. Ich bekam ein wenig davon mit - es ging wohl um Toor und darum, dass er Pech gehabt habe. Der russische Soldat streckte seinen Kopf weiter in den Lastwagen hinein. Er summte das Hochzeitslied und trommelte dabei mit den Fingern auf dem Rand der Klapptür. Sogar im düsteren Licht des Mondes war sein glasiger Blick erkennbar, der von einem Passagier zum nächsten wanderte. Trotz der Kälte standen ihm Schweißperlen auf der Stirn. Seine Augen verharrten bei der jungen Frau mit dem schwarzen Schal. Er sagte etwas auf Russisch zu Karim, ohne den Blick von ihr zu wenden. Karim gab eine kurze Antwort auf Russisch, die der Soldat mit einer noch kürzeren Erwiderung konterte. Der afghanische Soldat sagte auch etwas mit leiser, vernünftiger Stimme. Aber der russische Soldat rief etwas, was die beiden anderen zusammenzucken ließ. Ich spürte Babas Anspannung. Karim räusperte sich, senkte den Kopf. Erklärte, der Soldat wolle eine halbe Stunde mit der Dame hinten im Lastwagen.

Die junge Frau zog den Schal über ihr Gesicht und brach in Tränen aus. Das Kind, das auf dem Schoß des Mannes saß, begann ebenfalls zu weinen. Das Gesicht des Mannes war so blass geworden wie der Mond, der über uns schwebte. Er sagte Karim, er solle »den Herrn Soldaten Sahib« bitten, Erbarmen mit ihnen zu haben, vielleicht habe auch er eine Schwester oder eine Mutter, vielleicht habe auch er eine Frau. Der Russe hörte sich an, was Karim zu sagen hatte, und kläffte ein paar Worte.

»Das ist der Preis, den er fordert, um uns passieren zu lassen«, erklärte Karim. Er brachte es nicht fertig, dem Ehemann in die Augen zu sehen.

»Aber wir haben doch schon eine ziemlich große Summe bezahlt. Er bekommt eine Menge Geld«, sagte der Ehemann. Karim und der russische Soldat unterhielten sich wieder. »Er sagt... er sagt, dass jeder Preis auch eine Steuer hat.«

Das war der Moment, als Baba sich erhob. Nun war ich an der Reihe, seinen Oberschenkel zu umklammern, aber Baba schüttelte meine Hand ab und zog sein Bein weg. Als er stand, war das Mondlicht verschwunden. »Ich möchte, dass du diesen Mann etwas fragst«, sagte Baba. Er sprach die Worte zu Karim, richtete seinen Blick dabei aber auf den russischen Soldaten. »Frag ihn, ob er keine Scham besitzt.«

Sie wechselten einige Worte. »Er sagt, dass wir uns im Krieg befinden. Und im Krieg gebe es keine Scham.«

»Sag ihm, dass er sich da irrt. Krieg bedeutet nicht, dass wir keinen Anstand mehr haben können. Er fordert ihn sogar, mehr noch als in Friedenszeiten.«

Musst du immer den Helden spielen?, dachte ich mit pochendem Herzen. Kannst du es nicht einmal sein lassen? Aber ich wusste, dass er das nicht konnte - es lag einfach in seiner Natur, so zu handeln. Das Problem war nur, dass uns dieser Wesenszug alle umbringen würde.

Als der russische Soldat etwas zu Karim sagte, umspielte ein Lächeln seine Lippen. »Aga Sahib«, sagte Karim, »diese Roussi sind nicht wie wir. Respekt oder Ehre sind ihnen kein Begriff.«

»Was hat er gesagt?«

»Er sagt, dass es ihm genauso viel Vergnügen bereiten wird, Ihnen eine Kugel in den Kopf zu jagen, wie ...« Karim verstummte, nickte aber zu der jungen Frau hinüber, die die Aufmerksamkeit des Wachpostens geweckt hatte. Der Soldat warf die halb gerauchte Zigarette weg und zog seine Pistole aus dem Halfter. Hier also wird Baba sterben, dachte ich. Hier wird es passieren. Ich sprach ein stilles Gebet, das ich in der Schule gelernt hatte.

»Sag ihm, dass ich mich lieber von tausend seiner Kugeln durchlöchern lasse, als eine solche Unanständigkeit zu dulden«, erklärte Baba. Meine Gedanken kehrten zu jenem Wintertag vor sechs Jahren zurück. Wie ich hinter dieser Ecke verborgen in die Gasse hineinspähte. Kamal und Wali, die Hassan am Boden niederhielten. Assefs Gesäßmuskeln, die sich immer wieder anspannten, seine Hüften, die immer wieder vorwärts stießen. Was für ein erbärmlicher Held ich damals gewesen war, hatte mir Sorgen um den Drachen gemacht. Manchmal fragte ich mich, ob ich wirklich Babas Sohn war.

Der Russe mit dem Bulldoggen-Gesicht hob die Pistole.

»Baba, so setz dich doch bitte hin«, sagte ich und zog an seinem Ärmel. »Ich glaube, er will dich wirklich erschießen.«

Baba schlug meine Hand weg. »Habe ich dir denn gar nichts beigebracht?«, fuhr er mich an. Dann wandte er sich wieder dem grinsenden Soldaten zu. »Sag ihm, dass er mich besser mit diesem ersten Schuss erwischen soll, denn wenn ich nicht zu Boden gehe, werde ich ihn in Stücke reißen, verdammt sei sein Vater!«

Das Grinsen des russischen Soldaten erstarb auch dann nicht, als er die Übersetzung vernahm. Er entsicherte seine Waffe. Richtete den Lauf auf Babas Brust. Das Herz klopfte mir bis zum Hals, und ich vergrub mein Gesicht in den Händen.

Der Schuss ging los.

Das war es also. Ich bin achtzehn und allein. Ich habe niemanden mehr auf der Welt. Baba ist tot, und ich muss ihn begraben. Wo soll ich ihn begraben? Wo soll ich danach hin?

Aber meine sich überschlagenden Gedanken kamen zum Stillstand, als ich vorsichtig die Lider öffnete und Baba immer noch an derselben Stelle stand. Ich erblickte einen zweiten russischen Soldaten bei den anderen. Aus der Mündung seiner nach oben gerichteten Waffe stieg Rauch. Der Soldat, der vorgehabt hatte, Baba zu erschießen, hatte seine Waffe schon wieder in den Halfter gesteckt. Er scharrte mit den Füßen. Mir war noch nie so sehr nach Weinen und Lachen zugleich gewesen.

Der zweite russische Soldat, grauhaarig und beleibt, sprach in gebrochenem Farsi mit uns. Er entschuldigte sich für das Verhalten seines Kameraden. »Russland schickt sie hierher, damit sie kämpfen«, sagte er. »Aber es sind doch noch Kinder, und wenn sie hierher kommen, entdecken sie die Verlockungen der Drogen.« Er warf dem jungen Soldaten den reuevollen Blick eines Vaters zu, den sein ungezogener Sohn zur Verzweiflung treibt. »Der hier ist jetzt den Drogen verfallen. Ich versuche ihn zurückzuhalten, aber ...« Er winkte uns fort.

Wenige Sekunden später fuhren wir weiter. Ich hörte ein Lachen und dann die nuschelige, keinen Ton treffende Stimme des ersten Soldaten, der wieder das alte Hochzeitslied sang.

Wir fuhren ungefähr eine Viertelstunde, in der niemand ein Wort sprach, bis der Ehemann der jungen Frau plötzlich aufstand und ich Zeuge von etwas wurde, was schon viele andere vor ihm getan hatten: Er küsste Babas Hand.

Toor hatte Pech gehabt. Hatte ich das nicht bei dieser Unterhaltung in Mahipar aufgeschnappt?

Wir kamen eine Stunde vor Sonnenaufgang in Jalalabad an. Karim geleitete uns rasch aus dem Lastwagen in ein Haus an der Kreuzung zweier unbefestigter Straßen, die von flachen, einstöckigen Häusern, Akazien und geschlossenen Läden gesäumt wurden. Ich schlug den Kragen meines Mantels gegen die Kälte in die Höhe, als wir, unsere Habseligkeiten mitschleppend, zum Haus hinübereilten. Aus irgendeinem Grund erinnere ich mich an den Geruch von Rettich.

Als wir alle in dem schwach beleuchteten leeren Wohnzimmer standen, schloss Karim die Haustür von innen ab und zog die zerlumpten Tücher, die als Gardinen dienten, vor die Fenster. Dann atmete er einmal tief durch und eröffnete uns die schlechten Nachrichten: Sein Bruder Toor konnte uns nicht nach Peshawar bringen. Wie es schien, war der Motor seines Lastwagens in der letzten Woche kaputtgegangen, und Toor wartete immer noch auf die Ersatzteile.

»Letzte Woche?«, rief jemand. »Wenn Sie das gewusst haben, warum haben Sie uns denn dann hierher gebracht?«

Aus dem Augenwinkel bemerkte ich eine heftige Bewegung. Dann flitzte etwas Verschwommenes quer durch das Zimmer, und das Nächste, was ich sah, war Karim, der an die Wand gepresst dahing, und seine Füße, die in Sandalen steckten, baumelten ein paar Zentimeter über dem Boden. Und um seinen Hals lagen Babas Hände.

»Ich weiß, warum«, schnauzte Baba. »Weil er das Geld für seinen Teil der Strecke kassiert hat. Und mehr hat ihn nicht interessiert.« Karim gab kehlige, erstickte Laute von sich. Speichel tropfte ihm aus dem Mundwinkel.

»Lassen Sie ihn herunter, Aga, Sie bringen ihn ja um«, sagte einer der Passagiere.

»Genau das habe ich vor«, erklärte Baba. Was niemand der anderen im Raum wusste, war, dass Baba nicht scherzte. Karim lief rot an und begann mit den Beinen zu zucken.

Baba würgte ihn weiter, bis ihn die junge Mutter, auf die es der russische Soldat abgesehen hatte, anflehte, von ihm abzulassen.

Als Baba ihn schließlich losließ, fiel Karim zu Boden und wälzte sich nach Luft ringend hin und her. Es wurde still im Zimmer. Vor kaum einmal zwei Stunden hatte Baba sich angeboten, für die Ehre einer Frau, die er nicht einmal kannte, zu sterben. Und jetzt hatte er einen Mann beinahe zu Tode gewürgt, hätte es auch mit Vergnügen getan, wenn ihn dieselbe Frau nicht um Gnade gebeten hätte.

Nebenan ertönte ein dumpfes Krachen. Nein, nicht nebenan, unter uns. »Was ist das?«, fragte jemand. »Die anderen«, stieß Karim schwer atmend hervor. »Im Keller.«

»Wie lange warten die denn schon?«, fragte Baba, der sich mit gespreizten Beinen vor Karim aufgebaut hatte, der immer noch am Boden hockte.

»Zwei Wochen.«

»Ich dachte, der Wagen sei letzte Woche kaputtgegangen.«

Karim rieb sich die Kehle. »Könnte auch schon vor zwei Wochen passiert sein«, krächzte er.

»Wie lange?« »Wie lange was?«

»Wie lange dauert es, bis die Ersatzteile kommen?«, brüllte Baba, dass man die Wände bersten zu hören glaubte. Karim zuckte zusammen, sagte aber nichts. Ich war dankbar für das dämmerige Licht. Ich wollte den mörderischen Ausdruck auf Babas Gesicht nicht sehen.

Der Gestank von etwas Feuchtem, wie Schimmel, drang mir in die Nase, als Karim die Tür öffnete, hinter der die knarzenden Stufen zum Keller hinabführten. Wir stiegen sie einer nach dem anderen hinunter. Die Stufen stöhnten unter Babas Gewicht. Als ich in dem kalten Keller stand, kam es mir so vor, als würde ich in dem Dunkel von blinzelnden Augen beobachtet. Ich erblickte überall kauernde Gestalten; ihre Silhouetten wurden vom schwachen Licht einiger Petroleumlampen an die Wände geworfen. Ein leises Murmeln erfüllte den Raum, unterlegt von Wassertropfen, die irgendwo herabfielen, und einem weiteren, kratzenden Geräusch.

Baba seufzte hinter mir und ließ die Koffer fallen.

Karim versicherte uns, dass es nur noch eine Frage von wenigen Tagen sein konnte, bis der Lastwagen repariert war. Dann wären wir auf dem Weg nach Peshawar. Auf dem Weg in die Freiheit. In die Sicherheit.

Der Keller war für die nächste Woche unser Zuhause, und in der dritten Nacht entdeckte ich die Quelle der kratzenden Geräusche: Ratten.

Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, zählte ich ungefähr dreißig Flüchtlinge in dem Keller. Wir saßen Schulter an Schulter entlang der Wände, aßen

Cracker, Brot mit Datteln, Äpfel. In jener ersten Nacht beteten die Männer zusammen. Einer der Flüchtlinge fragte Baba, warum er sich ihnen nicht anschließen wolle. »Gott wird uns retten. Warum beten Sie nicht zu ihm?«

Baba nahm eine Prise von seinem Schnupftabak. Streckte die Beine aus. »Was uns retten wird, sind acht Zylinder und ein guter Vergaser.« Das ließ den Rest der Männer hinsichtlich der Frage nach Gott ein für alle Mal verstummen.

Erst später an jenem ersten Abend entdeckte ich, dass zwei der Leute, die sich mit uns versteckten, Kamal und sein Vater waren. Es war schon schlimm genug, Assefs Freund Kamal nur wenige Meter entfernt von mir im Keller sitzen zu sehen. Aber als er und sein Vater zu unserer Seite des Raumes herüberkamen und ich Kamais Gesicht sah, es wirklich sah ...

Er war dahingewelkt - es gab einfach keinen besseren Ausdruck dafür. Er schaute mich mit leerem Blick an, kein Zeichen des Erkennens ließ sich in seinen Augen ausmachen. Seine Schultern waren hochgezogen, und das Fleisch seiner Wangen hing herab, als wäre es zu erschöpft, sich an den Knochen darunter festzuhalten. Sein Vater, der ein Kino in Kabul besessen hatte, erzählte Baba, wie seine Frau vor drei Monaten von einer verirrten Kugel in die Schläfe getroffen und getötet worden war. Und dann erzählte er Baba von Kamal. Ich bekam nur einige Gesprächsfetzen mit: Hätte ihn nie allein gehen lassen sollen ... immer so ein hübscher Junge... vier von denen... versucht, sich zu wehren... Gott... über ihn hergefallen ... da unten geblutet... seine Hose... redet nicht mehr... starrt nur vor sich hin ...

Der Lastwagen werde nicht kommen, eröffnete uns Karim, nachdem wir eine Woche in dem von Ratten verseuchten Keller zugebracht hatten. Der Lastwagen lasse sich nicht mehr reparieren.

»Es gibt noch eine andere Möglichkeit«, fuhr Karim fort und erhob im einsetzenden Gejammer seine Stimme. Sein Cousin besitze einen Tankwagen und habe damit schon einige Male Menschen geschmuggelt. Der Wagen stehe hier in Jalalabad bereit und sei wohl groß genug für uns alle.

Alle außer einem älteren Ehepaar entschieden sich, das Wagnis einzugehen.

Wir fuhren noch in derselben Nacht los - Baba und ich, Kamal und sein Vater und die anderen. Karim und sein Cousin, ein Mann mit kantigem Gesicht und schütterem Haar namens Aziz, halfen uns, in den Tank zu klettern. Einer nach dem anderen stiegen wir auf die hintere Plattform des mit laufendem Motor dastehenden Tankwagens, kletterten eine Leiter hinauf und ließen uns in den Tank hinunter. Ich weiß noch, dass Baba schon halb die Leiter hinaufgestiegen war, als er plötzlich wieder zu Boden sprang und die Schnupftabakdose aus der Tasche zog. Er leerte die Dose und hob eine Hand voll Erde von der Mitte der unbefestigten Straße auf. Er küsste die Erde. Ließ sie in die Dose rieseln. Steckte die Dose in seine Brusttasche, direkt neben dem Herzen.

Panik.

Du öffnest den Mund. Öffnest ihn so weit, dass der Kiefer knackt... Du befiehlst den Lungen, Luft einzusaugen, sofort, du brauchst Luft, du brauchst sie sofort. Aber deine Atemwege ignorieren dich. Sie kollabieren, werden enger, ziehen sich zusammen, und plötzlich atmest du wie durch einen Strohhalm. Dein Mund schließt sich, und die Lippen formen einen Schmollmund, und du bringst nichts weiter zustande als ein ersticktes Krächzen. Deine Hände zappeln und zittern. Irgendwo ist ein Damm gebrochen, und eine Flut von kaltem Schweiß ergießt sich, durchnässt deinen Körper. Du würdest am liebsten schreien. Das tätest du auch, wenn du könntest. Aber um zu schreien, musst du atmen.

Panik.

Im Keller war es dunkel gewesen. Im Tank war es pechschwarz. Ich schaute nach rechts, nach links, nach oben, nach unten, bewegte die Hand vor den Augen, sah nicht die geringste Bewegung. Ich blinzelte, blinzelte erneut. Nichts. Mit der Luft stimmte auch etwas nicht, sie war so dick, beinahe fest. Seit wann ist Luft fest? Ich hätte am liebsten meine Hände ausgestreckt, die Luft in kleine Stücke zerbrochen und sie mir in die Luftröhre gesteckt. Und dann der Benzingestank. Meine Augen brannten von den Dämpfen, als hätte jemand die Lider zurückgeklappt und Zitronensaft darauf verrieben. Meine Nase fing bei jedem Atemzug Feuer. Ein Ort zum Sterben, dachte ich. Ein Schrei stieg in mir auf. Stieg und stieg ...

Und dann ein kleines Wunder. Baba zog an meinem Ärmel, und etwas leuchtete grün im Dunkeln. Licht! Babas Armbanduhr. Meine Augen wichen nicht mehr von diesen fluoreszierenden grünen Zeigern. Ich hatte solche Angst, sie zu verlieren, dass ich nicht einmal zu blinzeln wagte.

Langsam nahm ich meine Umgebung wahr. Ich vernahm Stöhnen und gemurmelte Gebete. Ich hörte das Weinen eines Babys, die leisen, beruhigenden Worte der Mutter. Jemand würgte. Ein anderer verfluchte die Shorawi. Der Wagen hüpfte von einer Seite zur anderen, auf und ab. Köpfe schlugen gegen Metall.

»Denk an etwas Schönes«, flüsterte mir Baba ins Ohr. »An einen glücklichen Moment.«

An etwas Schönes. An einen glücklichen Moment. Ich schickte meine Gedanken auf die Reise. Kam an ein Ziel:

Freitagnachmittag in Paghman. Apfelgrüne Wiesen, gesprenkelt mit blühenden Maulbeerbäumen. Hassan und ich stehen knöcheltief im wild wuchernden Gras, ich ziehe an der Schnur, die Spule dreht sich in Hassans schwieligen Händen, unsere Augen sind auf den Drachen am Himmel gerichtet. Wir wechseln kein Wort, nicht weil wir uns nichts zu sagen hätten, sondern weil wir nichts zu sagen brauchen - so ist das eben zwischen Menschen, für die der andere zu einer der ersten Erinnerungen im Leben gehört, die von derselben Brust getrunken haben. Eine Brise streicht durch das Gras, und Hassan lässt die Spule rollen. Der Drachen gerät ins Trudeln, stürzt, fängt sich wieder. Unsere Zwillingsschatten tanzen auf dem sanft wogenden Gras. Von irgendwoher auf der anderen Seite der niedrigen Backsteinmauer, am anderen Ende der Wiese, vernehmen wir Geplapper und Lachen und das Plätschern eines Springbrunnens. Und Musik, etwas Altes und Vertrautes, ich glaube, es ist Ya Mowlah mit seiner rubab. Irgendjemand ruft unsere Namen über die Mauer, sagt, es sei Zeit für Tee und Kuchen.

Ich wusste nicht mehr, in welchem Monat dies war oder in welchem Jahr. Ich wusste nur, dass diese Erinnerung in mir lebte, ein vollkommen konserviertes Stück einer guten Vergangenheit, ein bunter Tupfer auf der öden grauen Leinwand, zu der unser Leben geworden war.

An den Rest der Fahrt habe ich nur noch vereinzelte Erinnerungsfetzen, die kommen und gehen, meist Laute und Gerüche: Migs, die über uns hinwegfliegen, das Stakkato von Geschützfeuer, ein in der Nähe schreiender Esel, das Bimmeln von Glöckchen und das Blöken von Schafen, knirschender Schotter unter den Reifen des Lastwagens, ein Baby, das im Dunkeln wimmert, der Gestank von Benzin, Erbrochenem und Exkrementen.

Die nächste Erinnerung ist das blendende Licht des frühen Morgens, als wir aus dem Tank hinausklettern. Ich weiß noch, wie ich mein Gesicht dem Himmel zuwandte, mit zusammengekniffenen Lidern nach oben schaute, atmete, als gäbe es bald keine Luft mehr auf der Erde. Ich lag am Rand einer unbefestigten Straße neben einem steinigen Graben, blickte in den grauen Morgenhimmel hinauf und war dankbar für die Luft, dankbar für das Licht, dankbar, am Leben zu sein.

»Wir sind in Pakistan, Amir«, sagte Baba. Er stand neben mir und sah auf mich herunter. »Karim sagt, er wird uns einen Bus besorgen, der uns nach Peshawar bringt.«

Ich rollte mich auf der kühlen Erde auf den Bauch und erblickte unsere Koffer, die rechts und links von Babas Füßen standen. Durch das umgekehrte V seiner Beine sah ich den Tankwagen, der mit laufendem Motor am Straßenrand stand. Die anderen Flüchtlinge kletterten die Leiter hinunter. Dahinter erstreckte sich die unbefestigte Straße, lief zwischen Feldern hindurch, die unter dem grauen Himmel bleiernen Platten glichen, ehe sie hinter einer Hügelkette verschwand. Unterwegs führte sie an einem kleinen Dorf vorbei, das sich über einen sonnenverbrannten Abhang verteilte. Ich vermisste Afghanistan schon jetzt.

Meine Augen kehrten zu unseren Koffern zurück. Bei ihrem Anblick tat mir Baba Leid. Nach allem, was er aufgebaut und geplant, wofür er gekämpft, worüber er sich aufgeregt und wovon er geträumt hatte, war dies nun die Summe seines Lebens: ein enttäuschender Sohn und zwei Koffer.

Jemand schrie. Nein, es war kein Schreien. Es war ein Wehklagen. Ich sah, dass die Passagiere sich zu einem Kreis zusammengedrängt hatten, vernahm ihre aufgeregten Stimmen. Jemand äußerte das Wort »Dämpfe«. Ein anderer sagte es ebenfalls. Das Klagen verwandelte sich in ein Kreischen, das die Kehle zu zerreißen drohte.

Baba und ich eilten auf die Gruppe zu und schoben uns nach vorn durch. Kamais Vater saß dort, inmitten des Kreises, im Schneidersitz, schaukelte vor und zurück und küsste das aschfahle Gesicht seines Sohnes.

»Er will nicht atmen! Mein Junge will nicht atmen!«, schrie er. Kamais lebloser Körper lag im Schoß seines Vaters. Seine geöffnete, schlaffe rechte Hand hüpfte im Rhythmus der Schluchzer seines Vaters auf und ab. »Mein Junge! Er will nicht atmen! Warum hilft ihm Allah nicht, zu atmen?«

Baba kniete sich neben ihn und legte einen Arm um seine Schulter. Aber Kamais Vater schubste ihn weg, kam auf die Beine und stürzte sich auf Karim, der mit seinem Cousin in der Nähe stand. Dann ging alles so schnell, so überstürzt, dass man es kaum als Handgemenge bezeichnen konnte. Karim stieß einen überraschten Schrei aus und taumelte zurück. Ich sah einen Arm, der ausholte, ein Bein, das trat. Einen Moment später stand Kamais Vater mit Karims Pistole in der Hand da.

»Nicht schießen!«, schrie Karim.

Aber bevor irgendjemand etwas sagen konnte, steckte sich Kamais Vater den Lauf der Waffe in den eigenen Mund. Ich werde niemals das Echo dieses Schusses vergessen. Und das helle Aufblitzen und das umherspritzende Rot.

Ich krümmte mich und übergab mich am Straßenrand.

11

Fremont, Kalifornien, 80er Jahre

Baba liebte die Vorstellung von Amerika.

Tatsächlich dort zu leben brachte ihm ein Magengeschwür ein.

Ich erinnere mich noch daran, wie wir beide durch den Lake Elizabeth Park in Fremont spaziert sind, der ein paar Straßen weit von unserer Wohnung entfernt lag, den Jungen beim Baseballspielen zusahen und an kleinen Mädchen vorübergingen, die kichernd auf den Schaukeln des Spielplatzes saßen. Auf diesen Spaziergängen klärte mich Baba in langatmigen Vorträgen über seine politischen Anschauungen auf. »Es gibt nur drei echte Männer auf dieser Welt, Amir«, verkündete er und zählte sie an seinen Fingern auf: die Vereinigten Staaten von Amerika - der draufgängerische Retter -, Großbritannien und schließlich Israel. »Der Rest...« an dieser Stelle wedelte er mit der Hand und gab ein »Pffffffft« von sich, »das sind doch bloß tratschende alte Weiber.«

Das mit Israel brachte ihm den Zorn der Afghanen ein, die in Fremont lebten und ihm vorwarfen, projüdisch zu sein und de facto antiislamisch. Baba traf sich mit ihnen zu Tee und rowt-Kuchen im Park und machte sie mit seinen politischen Ideen verrückt. »Sie wollen einfach nicht begreifen«, erklärte er mir hinterher, »dass die Religion nichts damit zu tun hat.« Babas Ansicht nach stellte Israel eine Insel »echter Männer« in einem Meer von Arabern dar, die zu sehr damit beschäftigt waren, von ihrem Ol fett zu werden, anstatt sich um ihre eigenen Leute zu kümmern. »Israel macht dies, Israel macht das«, sagte Baba mit einem nachgeahmten arabischen Akzent. »Dann unternehmt doch was! Tut was! Ihr seid Araber, also helft den Palästinensern!«

Er verabscheute Jimmy Carter, den er als einen »Kretin mit Pferdegebiss« bezeichnete. 1980, als wir noch in Kabul waren, hatten die USA erklärt, sie würden die Olympischen Spiele in Moskau boykottieren. »Blabla!«, rief Baba damals empört, »Breschnew massakriert die Afghanen, und alles, was diesem Erdnussfresser einfällt, ist, dass er nicht in einem russischen Schwimmbecken plantschen will.« Baba glaubte, dass Carter, ohne es zu wollen, mehr für den Kommunismus getan habe als Leonid Breschnew. »Er ist nicht dafür geeignet, dieses Land zu lenken. Es ist so, als würde man einen Jungen, der nicht Fahrrad fahren kann, hinter das Steuer eines nagelneuen Cadillac setzen.« Was Amerika und die Welt brauchten, war ein starker Mann. Ein Mann, mit dem man rechnen musste, jemand, der zur Tat schritt und nicht bloß die Hände rang. Dieser Jemand war Ronald Reagan. Und als Reagan im Fernsehen auftrat und die Shorawi als »Reich des Bösen« bezeichnete, ging Baba hin und kaufte ein Bild des grinsenden Präsidenten, auf dem er beide Daumen in die Höhe streckte. Er steckte das Bild in einen Rahmen und hängte es in unserem Flur auf, hängte es an einen Nagel direkt neben das alte Schwarzweißfoto, auf dem er zu sehen ist, wie er König Zahir Shah die Hand schüttelt. Die meisten unserer Nachbarn in Fremont waren Busfahrer, Polizisten, Tankwarte und allein erziehende Mütter, die von der Fürsorge lebten - genau der Teil der amerikanischen Gesellschaft, der schon bald unter dem Kissen ersticken würde, das die »Reagonomics« ihm ins Gesicht drückte. Baba war der einzige Republikaner in dem Haus, in dem wir wohnten.

Aber der Smog der Bay Area brannte in seinen Augen, die Verkehrsgeräusche verursachten ihm Kopfschmerzen, und die Pollen brachten ihn zum Husten. Das Obst war nie süß genug, das Wasser nie sauber genug, und wo waren all die Bäume und offenen Felder? Zwei Jahre lang versuchte ich Baba zu überreden, einen Sprachkurs zu besuchen, um sein ungelenkes Englisch zu verbessern. Aber er winkte bloß verächtlich ab. »Etwa, damit ich >Esel< richtig schreiben kann und nach Hause gelaufen komme, um dir das glitzernde Sternchen zu zeigen, das mir der Lehrer gegeben hat?«, brummte er.

An einem Sonntag im Frühjahr des Jahres 1983 betrat ich einen kleinen Buchladen, der gebrauchte Taschenbücher verkaufte. Er befand sich neben dem indischen Kino, westlich von der Stelle, wo die Gleise der Cal-Trans den Fremont Boulevard überquerten. Ich erklärte Baba, dass ich in fünf Minuten wieder da sein würde, und er zuckte bloß mit den Schultern. Er arbeitete an einer Tankstelle in Fremont, und es war sein freier Tag. Ich sah, wie er lässig den Fremont Boulevard überquerte und einen Fast & Easy betrat, einen kleinen Lebensmittelladen, der von einem älteren vietnamesischen Ehepaar mit Namen Mr. und Mrs. Nguyen geführt wurde. Es waren grauhaarige freundliche Leute; sie litt an Parkinson, und er hatte kürzlich ein künstliches Hüftgelenk erhalten. »Er jetzt wie Sechs-Millionen-Dollar-Mann«, erklärte sie mir immer mit ihrem zahnlosen Lachen. »Erinnern Sie sich noch an Sechs-Millionen-Dollar-Mann, Amir?« An der Stelle setzte Mr. Nguyen ein finsteres Gesicht auf wie Lee Majors und tat so, als würde er in Zeitlupe laufen.

Ich blätterte gerade in einer zerlesenen Ausgabe eines Mike-Hammer-Krimis, als ich Schreie und das Splittern von Glas vernahm. Ich ließ das Buch fallen und rannte über die Straße. Als ich in den Laden kam, standen die Nguyens mit bleichen Gesichtern hinter ihrer Theke an die Wand gepresst, und Mr. Nguyen hatte die Arme um seine Frau geschlungen. Auf dem Boden lagen Orangen, ein umgeworfener Zeitschriftenständer, ein zerbrochenes Glas »Beef Jerky« und eine Menge Glassplitter, die sich direkt vor Babas Füßen befanden.

Es stellte sich heraus, dass Baba kein Bargeld für die Orangen bei sich gehabt und deshalb einen Scheck für Mr. Nguyen ausgestellt hatte. Daraufhin hatte Mr. Nguyen ihn gebeten, sich auszuweisen. »Er will meinen Führerschein sehen«, brüllte Baba in Farsi. »Seit fast zwei Jahren kaufen wir sein verdammtes Obst und füllen seine Taschen mit Geld, und der Hundesohn will meinen Führerschein sehen!«

»Baba, nimm das doch nicht persönlich«, erwiderte ich und lächelte den Nguyens zu. »Sie sind verpflichtet, nach einem Ausweis zu fragen.«

»Ich möchte Sie hier nicht haben«, sagte Mr. Nguyen und stellte sich vor seine Frau. Er zeigte mit seinem Stock auf Baba. Wandte sich dann an mich. »Sie sind netter junger Mann, aber Ihr Vater, der ist verrückt. Hier nicht mehr willkommen.«

»Hält er mich etwa für einen Dieb?«, fragte Baba mit lauter werdender Stimme. Es hatten sich einige Leute draußen versammelt. Sie starrten in den Laden. »Was für ein Land ist das hier? Die Leute trauen einander nicht!«

»Ich rufe Polizei«, erklärte Mrs. Nguyen, die hinter dem Rücken ihres Mannes hervorspähte. »Raus hier, oder ich rufe Polizei.«

»Bitte rufen Sie nicht die Polizei, Mrs. Nguyen. Ich werde ihn nach Hause bringen. Bitte rufen Sie nicht die Polizei, okay? Bitte!«

»Ja, bringen Sie ihn nach Hause. Gute Idee«, sagte Mr. Nguyen. Hinter den Gläsern seiner Bifokalbrille wichen seine Augen nicht für einen einzigen Moment von Baba. Ich führte meinen Vater durch die Tür. Auf dem Weg nach draußen trat er nach einer Zeitschrift. Nachdem ich ihm das Versprechen abgenommen hatte, dass er nicht wieder hineingehen würde, kehrte ich in den Laden zurück und entschuldigte mich bei den Nguyens. Erklärte ihnen, dass mein Vater gerade eine schwere Zeit durchmachte. Ich schrieb Mrs. Nguyen unsere Telefonnummer und unsere Adresse auf und bat sie, mich anzurufen, sobald sie wusste, auf welche Höhe sich der angerichtete Schaden belief. »Ich werde für alles bezahlen, Mrs. Nguyen. Es tut mir so Leid.« Mrs. Nguyen nahm den Zettel und nickte. Ich sah, dass ihre Hände schlimmer als gewöhnlich zitterten, und ich war wütend auf Baba, weil er einer alten Frau solche Angst eingejagt hatte.

»Mein Vater muss sich erst noch an das Leben in Amerika gewöhnen«, sagte ich zur Erklärung seines Verhaltens.

Ich hätte ihnen so gern erzählt, dass wir in Kabul einfach einen Zweig von einem Baum abbrachen und diesen als Kreditkarte benutzten. Hassan und ich hatten den Holzstock immer zum Bäcker mitgenommen. Der schnitt mit seinem Messer Kerben in unseren Stock; eine Kerbe für jedes naan, das er uns aus dem prasselnden Feuer des tandoor-Ofens hervorholte. Am Ende des Monats bezahlte ihn mein Vater je nach Zahl der Kerben im Stock. Das war alles. Keine Fragen. Kein Ausweis.

Aber das erzählte ich ihnen nicht. Ich bedankte mich bei Mr. Nguyen dafür, dass er nicht die Polizei gerufen hatte, und brachte Baba nach Hause. Er war eingeschnappt und rauchte auf dem Balkon, während ich einen Eintopf aus Reis und Hühnerhälsen zubereitete. Anderthalb Jahre war es nun her, dass wir aus der Boeing gestiegen waren, die uns aus Peshawar hergebracht hatte, und Baba hatte sich immer noch nicht richtig eingelebt.

An jenem Abend aßen wir schweigend. Nach zwei Bissen schob Baba seinen Teller weg.

Ich warf ihm einen Blick über den Tisch zu: die gesplitterten Nägel, schwarz vom Motoröl, die abgeschürften Knöchel, dazu die Gerüche der Tankstelle - Staub, Schweiß und Benzin - in seiner Kleidung. Baba war wie ein Witwer, der erneut heiratet, aber von seiner verstorbenen Frau nicht loskommt. Er vermisste die Zuckerrohrfelder von Jalalabad und die Gärten von Paghman. Er vermisste die Menschen, die in seinem Haus ein und aus gegangen waren, vermisste es, die belebten Gänge des Shor-Basars entlangzuschreiten und Menschen zu grüßen, die ihn kannten und seinen Vater und Großvater gekannt hatten,

Menschen, deren Vorfahren auch die seinen waren, deren Vergangenheit mit seiner eigenen verknüpft war.

Für mich war Amerika das Land, in dem ich meine Erinnerungen begraben konnte.

Für Baba dagegen ein Ort, an dem er um die seinen trauerte.

»Vielleicht sollten wir nach Peshawar zurückkehren«, sagte ich und beobachtete, wie die Eiswürfel in meinem Wasserglas herumschwammen. Wir hatten sechs Monate in Peshawar verbracht und darauf gewartet, dass der INS, die Einwanderungsbehörde der Vereinigten Staaten, uns die Visa ausstellte. Unsere schmuddelige Einzimmerwohnung roch nach dreckigen Socken und Katzenkot, aber wir waren umgeben von Menschen, die wir kannten - oder die zumindest Baba kannte. Er lud die ganze Etage von Nachbarn - die meisten von ihnen Afghanen, die auf ihre Visa warteten - zum Abendessen ein. Es war immer irgendjemand dabei, der seine tabla mitbrachte, und ein anderer sein Harmonium. Tee wurde aufgebrüht, und jeder, der meinte, singen zu können, sang, bis die Sonne aufging, die Moskitos aufhörten herumzuschwirren und die klatschenden Hände wehtaten.

»Dort warst du glücklicher, Baba. Es war mehr wie in der Heimat«, sagte ich.

»Peshawar war gut für mich. Aber nicht gut für dich.«

»Du arbeitest hier einfach zu viel.«

»Jetzt ist es ja nicht mehr so schlimm«, sagte er - vor einiger Zeit war er der Leiter der Tagesschicht der Tankstelle geworden. Ich hatte gesehen, wie er bei feuchter Witterung vor Schmerz zusammenzuckte und sich über die Handgelenke rieb. Wie ihm der Schweiß auf der Stirn ausbrach, wenn er nach dem Essen nach seinem Mittel gegen Magensäure griff. »Außerdem habe ich uns nicht um meinetwillen hierher gebracht, oder?«

Ich griff über den Tisch und legte meine Hand auf die seine. Meine saubere, weiche Studentenhand auf seine schmutzige, schwielige Arbeiterhand. Ich dachte an all die Lastwagen, Eisenbahnen und Fahrräder, die er mir in Kabul gekauft hatte. Und jetzt Amerika. Ein letztes Geschenk für Amir.

Nur einen Monat nach unserer Ankunft in den Vereinigten Staaten fand Baba Arbeit bei einer Tankstelle, nicht weit entfernt vom Washington Boulevard, deren Besitzer ein afghanischer Bekannter war - er hatte noch in der Woche unserer Ankunft begonnen, nach Arbeit zu suchen. Sechs Tage die Woche arbeitete Baba Zwölfstundenschichten, zapfte Benzin, bediente die Kasse, wechselte Ol, wusch Windschutzscheiben. Manchmal brachte ich ihm das Mittagessen vorbei und sah, wie er nach einem Päckchen Zigaretten im Regal suchte, während ein Kunde auf der anderen Seite der ölverschmierten Theke wartete, und Babas Gesicht wirkte im hellen Neonlicht abgespannt und bleich. Die Glocke über der Tür verkündete mit ihrem Dingdong, dass ich eintrat, und wenn Baba dann über seine Schulter blickte und winkte und lächelte, tränten ihm die Augen vor Müdigkeit.

Am selben Tag, als er eine Anstellung fand, gingen Baba und ich zu Mrs. Dobbins, der für uns zuständigen Mitarbeiterin im Sozialamt von San Jose. Mrs. Dobbins war eine übergewichtige Farbige mit funkelnden Augen, auf deren Wangen sich Grübchen zeigten, wenn sie lächelte. Sie hatte mir einmal erzählt, dass sie im Kirchenchor sang, und ich glaubte ihr - sie besaß eine Stimme, die mich an warme Milch und Honig denken ließ. Baba ließ den Stapel Essensmarken auf ihren Schreibtisch fallen. »Vielen Dank, aber ich nicht wollen«, sagte er. »Ich immer arbeiten. In Afghanistan immer arbeiten, in Amerika immer arbeiten. Danke vielmals auch, Mrs. Dobbins, aber ich nicht mögen Geld umsonst.«

Mrs. Dobbins blinzelte. Nahm die Essensmarken, blickte von mir zu Baba, als wollten wir ihr einen Streich spielen oder einen Ulk mit ihr veranstalten, wie Hassan immer zu sagen pflegte. »Ich mache diesen Job schon seit fünfzehn Jahren«, erklärte sie, »aber so etwas ist mir noch nicht untergekommen.« Und so beendete Baba diese demütigenden Essensmarken-Momente an den Kassen und verscheuchte eine seiner größten Ängste: dass ein Afghane sehen könnte, wie er mit Almosengeld Essen kaufte. Baba schritt aus dem Sozialamt wie ein Mann, der von einem Tumor geheilt worden war.

In jenem Sommer - es war das Jahr 1983 - bestand ich im Alter von zwanzig Jahren die Abschlussprüfung an der Highschool. Ich war bei weitem der älteste Schüler, der an jenem Tag auf dem Footballfeld seinen »Doktorhut« in die Höhe warf. Ich weiß noch, dass ich Baba in dem Gewimmel von Familien, Blitzlichtern und blauen Roben verlor. Ich entdeckte ihn schließlich in der Nähe der Zwanzigyardlinie, die Hände in die Taschen gestopft, die baumelnde Kamera vor der Brust. Er verschwand immer wieder hinter den Menschen, die sich zwischen uns bewegten: kreischende, in Blau gekleidete Mädchen, die sich umarmten, weinten, Jungen, die mit ihren Vätern, ihren Klassenkameraden in einer »High Five« die Handflächen zusammenschlugen. Babas Bart wurde langsam grau, sein Haar an den Schläfen dünner, und war er nicht in Kabul größer gewesen? Er trug seinen braunen Anzug - es war sein einziger Anzug, der Anzug, den er zu afghanischen Hochzeiten und Beerdigungen anzog - und dazu die rote Krawatte, die ich ihm im selben Jahr zum fünfzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Dann sah er mich und winkte. Lächelte. Er bedeutete mir, meinen »Doktorhut« aufzusetzen, und machte ein Foto von mir mit dem Uhrenturm der Schule im Hintergrund. Ich lächelte für ihn - in gewisser Weise war dies mehr sein Tag als meiner. Er kam auf mich zu, legte mir den Arm um den Nacken und drückte mir einen einzigen Kuss auf die Stirn. »Ich bin moftakhir, Amir«, sagte er. Stolz. Seine Augen leuchteten, als er es sagte, und es gefiel mir, einmal derjenige zu sein, dem dieser Blick galt.

An diesem Abend nahm er mich mit in ein afghanisches Kebab-Haus, wo er viel zu viel Essen bestellte. Er erzählte dem Besitzer, dass sein Sohn im Herbst aufs College gehen würde. Ich hatte vor der Abschlussprüfung kurz mit ihm darüber diskutiert und ihm erklärt, dass ich mir lieber Arbeit suchen würde - um ihm dabei zu helfen, etwas Geld zu sparen und dann vielleicht im folgenden Jahr aufs College zu gehen. Aber er hatte mir einen seiner glühenden Baba-Blicke zugeworfen, und die Worte verdunsteten mir auf der Zunge.

Nach dem Essen führte er mich in eine gegenüber vom Restaurant gelegene Bar. Es war dämmerig darin, und der säuerliche Biergeruch, den ich schon immer gehasst hatte, schien aus den Wänden zu dringen. Männer mit Baseballkappen und Tank-Tops spielten Billard, Zigarettenrauch hing in Wolken über den grünen Tischen, wirbelte zu den Neonlampen hinauf. Wir zogen Blicke auf uns, Baba in seinem braunen Anzug und ich in einer Hose mit Bügelfalten und einem Sportjackett. Wir setzten uns an die Bar, neben einen alten Mann, dessen ledernes Gesicht im blauen Glühen des Michelob-Schildes kränklich aussah. Baba zündete sich eine Zigarette an und bestellte uns Bier. »Heute Abend ich zu glücklich«, verkündete er, ohne das Wort an jemand Bestimmten zu richten, und doch wiederum an alle. »Heute Abend ich trinke mit meinem Sohn. Und einen für meinen Freund, bitte«, sagte er und tätschelte dem alten Mann den Rücken. Der alte Kerl tippte sich an die Kappe und lächelte. Er hatte keine Zähne mehr im Oberkiefer.

Baba trank sein Bier in drei Schlucken aus und bestellte ein weiteres. Er hatte drei getrunken, ehe ich mich dazu durchringen konnte, ein Viertel von meinem hinunterzuwürgen. In der Zwischenzeit hatte er dem alten Mann einen Scotch spendiert und einem Quartett von Billardspielern einen Krug Budweiser hinübergeschickt. Sie prosteten ihm zu. Jemand zündete ihm die Zigarette an. Baba lockerte die Krawatte und gab dem alten Mann eine Hand voll Vierteldollarmünzen. Er deutete zur Jukebox hinüber. »Sag ihm, er soll seine Lieblingslieder spielen«, wandte er sich an mich. Der alte Mann nickte und salutierte. Bald schon schallte Countrymusic durch die Bar, und Baba hatte eine Party in Gang gebracht.

Irgendwann rappelte sich Baba auf, hob sein Bier, verschüttete das meiste davon auf dem mit Sägemehl bestreuten Boden und schrie: »Scheiß auf die russisch!« Die ganze Bar lachte, dann folgte das Echo aus voller Kehle. Baba bestellte eine weitere Runde Krüge für alle.

Als wir uns auf den Heimweg machten, bedauerte jeder, dass er ging. Kabul, Peshawar, Hayward. Baba war eben Baba, dachte ich lächelnd.

Ich kutschierte uns in Babas altem ockergelbem Buick Continental nach Hause. Baba schlief unterwegs ein und schnarchte wie ein Vorschlaghammer. Er roch nach Tabak und Alkohol, süßlich und durchdringend. Aber er setzte sich auf, als ich den Wagen anhielt, und sagte mit heiserer Stimme: »Fahr weiter bis zum Ende des Blocks.«

»Aber warum denn, Baba?«

»Tu es einfach.« Er ließ mich am südlichen Ende der Straße parken. Dann griff er in seine Manteltasche und reichte mir einen Satz Schlüssel. »Da«, sagte er und zeigte auf den Wagen vor uns. Es war ein alter Ford, lang und breit war er, in einer dunklen Farbe, die ich im Mondlicht nicht zu erkennen vermochte. »Der Lack muss ausgebessert werden, und ich werde einen der Jungs von der Tankstelle neue Stoßdämpfer einsetzen lassen, aber er läuft.«

Fassungslos nahm ich die Schlüssel entgegen. Blickte von ihm zu dem Wagen.

»Du musst aufs College gehen«, sagte er. Ich ergriff seine Hand. Drückte sie. Tränen stiegen mir in die Augen, und ich war dankbar für die Schatten, die unsere Gesichter verbargen. »Vielen Dank, Baba.«

Wir stiegen aus und setzten uns in den Ford. Es war ein Grand Torino. Marineblau, sagte Baba. Ich fuhr ihn um den Block, probierte die Bremsen, das Radio, die Blinker aus. Dann parkte ich ihn auf dem Parkplatz unseres Wohnblocks und stellte den Motor ab. »Tashakkor, Baba jan«, sagte ich. Ich hätte gern noch mehr gesagt, hätte ihm gern erzählt, wie mich seine Freundlichkeit berührte, wie dankbar ich ihm für alles war, was er für mich getan hatte und immer noch tat. Aber ich wusste, dass ihn das verlegen machen würde. Also wiederholte ich stattdessen: »Tashakkor.«

Er lächelte und lehnte sich zurück, wobei er mit dem Kopf beinahe die Decke berührte. Wir sagten nichts mehr. Saßen einfach in der Dunkelheit da, lauschten dem Tink-Tink des abkühlenden Motors und dem Heulen der Sirenen in der Ferne. Dann drehte Baba mir den Kopf zu. »Ich wünschte, Hassan hätte heute bei uns sein können«, sagte er.

Zwei Stahlhände schlossen sich beim Klang von Hassans Namen um meine Luftröhre. Ich kurbelte das Fenster herunter. Wartete darauf, dass die Hände ihren Griff lockerten.

Am Tag nach meiner Abschlussfeier teilte ich Baba mit, dass ich mich im Herbst am Junior-College einschreiben würde. Er trank kalten schwarzen Tee und kaute auf Kardamomsamen herum, sein Geheimrezept gegen Kater-Kopfschmerzen.

»Ich glaube, ich werde als Hauptfach Englisch belegen«, erklärte ich. Innerlich verkrampfte ich mich und wartete auf seine Antwort.

»Englisch?«

»Kreatives Schreiben.«

Er dachte darüber nach. Nahm einen Schluck von seinem Tee. »Geschichten, wie? Du willst Geschichten erfinden.« Ich blickte auf meine Füße hinunter. »Bezahlen sie einen dafür, wenn man Geschichten erfindet?« »Wenn man gut ist«, sagte ich. »Und entdeckt wird.« »Wie wahrscheinlich ist es, dass du entdeckt wirst?« »Es kommt vor«, antwortete ich.

Er nickte. »Und was willst du tun, während du darauf wartest, entdeckt zu werden? Wie willst du Geld verdienen? Wie willst du, wenn du heiratest, deine khanum ernähren?«

Ich brachte es nicht fertig, meinen Blick zu heben und ihn anzusehen. »Ich ... ich werde schon Arbeit finden.«

»Oh«, sagte er. »Wah wah. Also, wenn ich dich richtig verstehe, willst du ein paar Jahre studieren, um einen Hochschulabschluss zu machen, und suchst dir dann einen chatti-Jdb, wie ich ihn habe, einen, den du schon heute mit Leichtigkeit bekommen könntest, um eine kleine Chance zu haben, dass dir dein Abschluss irgendwann einmal dabei helfen wird, >entdeckt< zu werden.« Er atmete tief durch und trank seinen Tee. Brummte etwas von Medizin, Jura und »richtiger Arbeit«.

Meine Wangen brannten, und ich fühlte mich schuldig, schuldig, dass ich mir auf Kosten seines Magengeschwürs, seiner schwarzen Fingernägel und seiner schmerzenden Handgelenke etwas gönnte. Aber ich entschied mich, nicht nachzugeben. Ich wollte keine

Opfer mehr für Baba bringen. Beim letzten Mal, als ich das getan hatte, hatte ich mich selbst verdammt.

Baba seufzte und warf sich dieses Mal eine ganze Hand voll Kardamomsamen in den Mund.

Manchmal setzte ich mich hinter das Steuer meines Fords, kurbelte die Fenster herunter und fuhr stundenlang durch die Gegend, von der East Bay zur South Bay, die Peninsula hinauf und wieder hinunter. Ich durchfuhr die rasterförmig angelegten, von Pyramidenpappeln gesäumten Straßen unserer Wohngegend in Fremont, wo Menschen, die niemals die Hände von Königen geschüttelt hatten, in flachen einstöckigen Häusern mit vergitterten Fenstern lebten, wo alte Wagen wie der meine Ol auf asphaltierte Auffahrten tropfen ließen. Zinngraue Maschendrahtzäune trennten die Gärten in unserem Viertel voneinander. Spielzeug, alte Reifen und Bierflaschen mit abblätternden Etiketten übersäten ungepflegte Vorgärten, in denen es sonst nichts weiter als nackte Erde gab. Ich fuhr an schattigen Parks vorbei, die nach Rinde rochen, und vorbei an Einkaufszentren, die groß genug waren, um dort fünf Buzkash /-Turniere gleichzeitig stattfinden zu lassen. Ich quälte den Torino die Hügel von Los Altos hinauf, schlich an Anwesen mit Panoramafenstern und silbernen Löwen vorbei, die schmiedeeiserne Tore bewachten, an Häusern mit Putten-Springbrunnen neben gepflegten Fußwegen, bei denen kein Ford Torino in der Auffahrt stand. Häuser, die Babas Haus im Wazir-Akbar-Khan-Viertel wie eine Dienstbotenhütte hätten aussehen lassen.

Samstagmorgens stand ich manchmal ganz früh auf und fuhr den Highway 17 in südlicher Richtung entlang, jagte den Ford die kurvenreiche Straße durch die Berge nach Santa Cruz hinauf. Ich parkte in der Nähe des alten Leuchtturms und wartete auf den Sonnenaufgang, saß in meinem Wagen und sah zu, wie vom Meer die Nebelbänke heranzogen. In Afghanistan hatte ich das Meer nur im Kino gesehen. Während ich dort im Dunkeln neben Hassan saß, wollte ich immer so gern wissen, ob es stimmte, was ich gelesen hatte, nämlich, dass die Meeresluft nach Salz riecht. Ich hatte Hassan versprochen, dass wir eines Tages an einem Strand entlanglaufen, unsere Füße in den Sand einsinken lassen und zuschauen würden, wie das Wasser von unseren Zehen zurückwich. Als ich das erste Mal den Pazifik sah, hätte ich beinahe geweint. Er war genauso riesig und blau wie die Ozeane in den Kinofilmen meiner Kindheit.

Manchmal parkte ich den Wagen am frühen Abend und stellte mich auf eine Freeway-Überführung. Das Gesicht an den Zaun gepresst, versuchte ich die blinkenden Rücklichter zu zählen, die sich unter mir vorwärts schoben, sich so weit erstreckten, wie meine Augen zu sehen vermochten. BMW. Saab. Porsche. Wagen, die ich in Kabul, wo die meisten Leute einen russischen Wolga, einen alten Opel oder einen iranischen Paikan fuhren, nie gesehen hatte.

Beinahe zwei Jahre waren seit unserer Ankunft in den Vereinigten Staaten vergangen, und ich staunte immer noch über die Größe dieses Landes, sein ungeheures Ausmaß. Hinter jedem Freeway lag ein weiterer Freeway, hinter jeder Stadt eine weitere Stadt, Hügel hinter Bergen und Berge hinter Hügeln und dahinter nur noch mehr Städte und noch mehr Menschen.

Lange bevor die Roussi-Armee nach Afghanistan einmarschiert war, lange bevor Dörfer in Brand gesteckt und Schulen zerstört wurden, lange bevor Minen wie Samen des Todes in die Erde gesteckt und Kinder in Steingräbern begraben worden waren, war Kabul für mich zu einer Geisterstadt geworden. Einer Stadt mit Hasenschartengeistern.

Amerika war anders. Amerika war ein Fluss, der dahinbrauste, ohne sich um die Vergangenheit zu scheren. Ich konnte in diesen Fluss hineinwaten, meine Sünden in ihm ertränken und mich von seinem Wasser weit wegtragen lassen. Dahin, wo es keine Geister gab, keine Erinnerungen, keine Sünden.

Allein aus diesem Grund nahm ich dieses Land bereitwillig an.

Im folgenden Sommer, dem Sommer des Jahres 1984 - der Sommer, in dem ich einundzwanzig wurde -, verkaufte Baba seinen Buick und kaufte sich für 550 Dollar einen schäbigen alten 71er Volkswagen von einem afghanischen Bekannten, der in Kabul an einer Oberschule Naturwissenschaften unterrichtet hatte. Die Köpfe der Nachbarn drehten sich nach uns um, als wir eines Nachmittags mit dem Bus die Straße hinaufgestottert kamen und er über den Parkplatz hinwegfurzte. Baba schaltete den Motor aus und ließ den Bus leise zu unserem Stellplatz ausrollen. Wir sanken in unsere Sitze, lachten, bis uns die Tränen über die Wangen liefen und - viel wichtiger - bis wir sicher sein konnten, dass die Nachbarn uns nicht mehr beobachteten. Der Bus war ein traurig anzusehender rostiger Schrotthaufen; die kaputten Fenster waren durch schwarze Müllbeutel ersetzt worden, die Reifen fast abgefahren und die Polster bis auf die Sprungfedern zerfetzt. Aber der alte Lehrer hatte Baba versichert, dass der Motor und das Getriebe noch in Ordnung seien, und was das anging, hatte der Mann nicht gelogen.

Samstags weckte mich Baba im Morgengrauen. Während er sich anzog, überflog ich die Kleinanzeigen in den Lokalzeitungen und kreiste die Anzeigen ein, die Garagenverkäufe ankündigten, wo also Privatleute in ihren Garagen Haushaltsgegenstände und Trödel verkauften. Wir planten unsere Strecke: zuerst Fremont, Union City, Newark und Hayward und dann San Jose, Milpitas, Sunnyvale und, wenn genug Zeit übrig war, auch noch Campbell. Baba fuhr den Bus, trank heißen Tee aus seiner Thermosflasche, und ich dirigierte ihn zu unseren Zielen.

Wir kauften Krimskrams, den die Leute nicht mehr haben wollten. Wir feilschten um alte Nähmaschinen, einäugige Barbiepuppen, Holztennisschläger, Gitarren mit fehlenden Saiten und alte Staubsauger von Electrolux. Bis zum Nachmittag hatten wir den hinteren Teil des VW mit altem Krempel gefüllt. Und sonntags fuhren wir dann morgens in aller Frühe nach San Jose zum Trödelmarkt, mieteten uns einen Platz und verkauften das Zeug mit einem kleinen Gewinn: Eine Schallplatte von Chicago, die wir am Vortag für einen Vierteldollar gekauft hatten, ging vielleicht für einen Dollar weg, oder wir bekamen vier Dollar für ein Fünfer-Set; eine klapprige alte Singer-Nähmaschine, die wir für zehn Dollar erstanden hatten, konnte nach einigem Handeln auch schon einmal 25 Dollar einbringen.

In dem Sommer mieteten afghanische Familien bereits einen ganzen Abschnitt des Trödelmarktes von San Jose. Afghanische Musik spielte in den Reihen des Abschnitts, wo gebrauchte Artikel verkauft wurden. Es gab einen unausgesprochenen Verhaltenscodex unter den Afghanen dort. Man begrüßte den Kerl auf der anderen Seite des Gangs, man lud ihn zu einem Häppchen Kartoffel-fro/am oder etwas qabuli ein und plauderte ein wenig. Man bot tassali an oder bekundete sein Beileid zum Tod eines Elternteils, gratulierte zur Geburt eines Kindes oder schüttelte traurig den Kopf, wenn sich die Unterhaltung Afghanistan und den Roussi zuwandte - was sie zwangsläufig irgendwann tat. Aber niemals kam die Sprache auf die Samstage. Denn dann hätte es passieren können, dass sich der nette Kerl auf der anderen Seite des Gangs als der Typ entpuppte, den man erst gestern an der Freeway-Abfahrt geschnitten hatte, um vor ihm bei einem viel versprechenden Garagenverkauf anzukommen.

Das Einzige, was in diesen Gängen mehr floss als der Tee, war afghanischer Klatsch und Tratsch. Hier auf dem Trödelmarkt trank man seinen grünen Tee mit Mandel-kolchas und erfuhr, wessen Tochter eine Verlobung gelöst und mit ihrem amerikanischen Freund durchgebrannt war oder wer früher in Kabul Parchami - ein Kommunist - gewesen war und wer ein Haus mit Schwarzgeld gekauft hatte, während er von der Fürsorge lebte. Tee, Politik und Skandale, das waren die Zutaten eines afghanischen Sonntags auf dem Trödelmarkt.

Ich verkaufte manchmal am Stand, wenn Baba die Reihen entlangschlenderte, die Hände respektvoll gegen die Brust gepresst und die Leute grüßend, die er aus Kabul kannte: Mechaniker und Schneider, die abgelegte Wollmäntel und zerkratzte Fahrradhelme verkauften, standen neben ehemaligen Botschaftern, arbeitslosen Chirurgen und Universitätsprofessoren.

An einem frühen Sonntagmorgen im Juli des Jahres 1984 kaufte ich zwei Tassen Kaffee an einer Bude, während Baba unseren Stand aufbaute, und als ich zurückkehrte, unterhielt er sich mit einem älteren, vornehm aussehenden Mann. Ich stellte die Becher auf die hintere Stoßstange, gleich neben den »Reagan/Bush '84«-Aufkleber.

»Amir«, sagte Baba und bedeutete mir, zu ihm zu kommen, »das hier ist General Sahib, Mr. Iqbal Taheri. Er war ein dekorierter General in Kabul. Er hat für das Verteidigungsministerium gearbeitet.«

Taheri. Warum kam mir der Name so bekannt vor?

Der General lachte wie ein Mann, der es gewöhnt ist, an feierlichen Anlässen teilzunehmen, wo er auf Kommando über die schlechten Witze wichtiger Leute zu lachen hat. Er besaß dünnes silbergraues Haar, das er aus seiner glatten gebräunten Stirn zurückgekämmt hatte, und er hatte weiße Büschel in seinen zottigen Augenbrauen. Er roch nach Eau de Cologne und trug einen stahlgrauen dreiteiligen Anzug, der vom vielen Bügeln schon ganz glänzend geworden war; die Goldkette einer Taschenuhr baumelte aus seiner Weste hervor.

»Welch eine vortreffliche Vorstellung«, sagte er mit einer tiefen, kultivierten Stimme. »Salaam.«

»Salaam, General Sahib«, sagte ich und schüttelte seine Hand. Seine schmalen Hände ließen seinen festen Griff gar nicht vermuten - es war fast so, als verberge sich Stahl unter der gepflegten Haut.

»Amir wird einmal ein großer Schriftsteller«, erklärte Baba. Ich blickte ihn überrascht an. »Er hat sein erstes Jahr am College beendet und in all seinen Kursen nur Bestnoten bekommen.«

»Am Junior-College«, verbesserte ich ihn.

»Mashallah«, sagte General Taheri. »Werden Sie über unser Land schreiben, Geschichtliches vielleicht? Wirtschaftsthemen?«

»Ich schreibe Erzählliteratur«, erwiderte ich und dachte an all die Kurzgeschichten, die ich in dem in Leder gebundenen Notizbuch gesammelt hatte, das mir Rahim Khan einmal geschenkt hatte. Warum bloß war mir das in Gegenwart dieses Mannes auf einmal so peinlich?

»Aha, ein Geschichtenerzähler also«, sagte der General. »Nun, die Menschen brauchen Geschichten, um sich in schwierigen Zeiten wie diesen abzulenken.« Er legte seine Hand auf Babas Schulter und wandte sich mir zu. »Wo wir gerade von Geschichten reden, Ihr Vater und ich haben einmal im Sommer in Jalalabad zusammen Fasane geschossen«, sagte er. »Es war ein herrlicher Tag. Wenn ich mich recht entsinne, hat sich das Auge Ihres Vaters auf der Jagd als ebenso gut erwiesen wie in geschäftlichen Dingen.«

Baba trat mit der Spitze seines Stiefels gegen einen Holztennisschläger. »Tolle Geschäfte.«

General Taheri brachte ein Lächeln zustande, das zugleich traurig und höflich war, seufzte einmal tief und tätschelte Baba die Schulter. »Zendagi migzara«, sagte er. Das Leben geht weiter. Er richtete seine Augen auf mich. »Wir Afghanen neigen zu einer gewissen Übertreibung, und ich habe schon oft gehört, dass man Männer fälschlicherweise als groß bezeichnet hat. Aber Ihr Vater gehört zu der Minderheit, der diese Auszeichnung gebührt, die diese Bezeichnung wirklich verdient hat.« Die kleine Ansprache klang in meinen Ohren so, wie sein Anzug aussah: oft benutzt und mit einem unnatürlichen Glanz versehen.

»Sie schmeicheln mir«, sagte Baba.

»Das tue ich ganz und gar nicht«, erwiderte der General, neigte den Kopf zur Seite und presste sich die Hand an die Brust, um seiner Demut Ausdruck zu verleihen, und wandte sich dann mir zu. »Jungen und Mädchen sollten das Vermächtnis ihrer Väter kennen. Wissen Sie Ihren Vater zu schätzen, Amir? Wirklich zu schätzen?«

»Balay, General Sahib, das tue ich«, antwortete ich.

»Dann gratuliere ich Ihnen, Sie sind schon auf dem halben Wege, ein Mann zu werden«, erklärte er ohne jeden Anflug von Humor oder Ironie, ein Kompliment von Menschen seines Schlages, die sich durch ihre beiläufige Arroganz auszeichnen.

»Padar jan, du hast deinen Tee vergessen.« Die Stimme einer jungen Frau. Sie stand hinter uns, eine Schönheit mit schmalen Hüften, samtigem, rabenschwarzem Haar, die eine geöffnete Thermosflasche und einen Styroporbecher in den Händen hielt. Ich blinzelte, mein Herz begann schneller zu schlagen. Sie hatte dichte schwarze Augenbrauen, die sich in der Mitte wie die ausgebreiteten Schwingen eines fliegenden Vogels berührten, und die anmutig geschwungene Hakennase einer Prinzessin aus dem alten Persien - vielleicht die der Tahmineh, Rostems Frau und Suhrabs Mutter aus dem Shahname. Ihre Augen, walnussbraun und von fächerförmigen Wimpern umrahmt, begegneten den meinen. Verharrten für einen Moment. Flogen davon.

»Du bist zu freundlich, Liebes«, sagte General Taheri. Er nahm ihr den Becher aus der Hand. Bevor sie sich zum Gehen wandte, sah ich, dass sie ein sichelförmiges Muttermal auf ihrer glatten Haut hatte, direkt über dem linken Kieferknochen. Sie ging zu einem mattgrauen Van hinüber und stellte die Thermosflasche hinein. Ihr Haar ergoss sich zu einer Seite, als sie sich inmitten der Kisten mit alten Schallplatten und Büchern hinkniete.

»Meine Tochter, Soraya jan«, sagte General Taheri. Er tat einen tiefen Atemzug, wie ein Mann, der eifrig darauf bedacht ist, das Thema zu wechseln, und blickte auf seine goldene Taschenuhr. »Tja, es ist Zeit aufzubauen.« Er und Baba küssten sich auf die Wange, und er ergriff meine Hand mit beiden Händen und schüttelte sie. »Viel Glück mit dem Schreiben«, sagte er und blickte mich an. Seine hellblauen Augen enthüllten keinen der Gedanken, die dahinter verborgen lagen.

Für den Rest des Tages kämpfte ich gegen das Verlangen an, zu dem grauen Van hinüberzublicken.

Auf dem Nachhauseweg fiel es mir schließlich ein. Taheri. Ich wusste doch, dass ich den Namen schon einmal gehört hatte.

»Hat es da nicht einmal einigen Klatsch über Taheris Tochter gegeben?«, fragte ich Baba und bemühte mich, betont beiläufig zu klingen.

»Du kennst mich doch«, erwiderte er und manövrierte den Bus langsam weiter in der Schlange der Fahrzeuge, die den Trödelmarkt verließen. »Wenn sich Gespräche in Klatsch und Tratsch verwandeln, gehe ich.«

»Aber es gab da mal so etwas, nicht wahr?«, bohrte ich nach.

»Warum fragst du?«, sagte er ausweichend.

Ich zuckte mit den Schultern und unterdrückte ein Lächeln. »Bin bloß neugierig, Baba.« »Wirklich? Ist das alles?«, fragte er. »Hat sie vielleicht Eindruck auf dich gemacht?« Ich verdrehte die Augen. »Du meine Güte, Baba.«

Er lächelte und bog vom Trödelmarkt auf die Straße ab. Wir fuhren in Richtung des Highways 680. Für eine Weile war es still im Wagen. »Ich habe nur gehört, dass es da mal einen Mann gegeben hat, und die Dinge ... sie sind nicht gut gelaufen.« Er sagte das mit so ernster Stimme, als hätte er mir gerade eröffnet, dass sie an Brustkrebs litt. »Oh.«

»Soweit ich weiß, ist sie ein anständiges Mädchen, fleißig und freundlich. Aber seither haben keine khastegars mehr an die Tür des Generals geklopft.« Baba seufzte. »Es mag unfair sein, aber es kommt manchmal vor, dass die Ereignisse weniger Tage oder vielleicht auch nur eines einzigen Tages genügen, um den Verlauf eines ganzen Lebens zu verändern, Amir.«

Als ich an dem Abend im Bett lag, dachte ich an Soraya Taheris sichelförmiges Muttermal, an ihre kleine Hakennase und wie sich ihre leuchtenden Augen für einen flüchtigen Moment in die meinen gesenkt hatten. Mein Herz geriet bei dem Gedanken an sie ins Stocken. Soraya Taheri. Meine Trödelmarkt-Prinzessin.

12

In Afghanistan ist yelda die erste Nacht des Monats Jadi, die erste Winternacht und die längste Nacht des Jahres. Hassan und ich blieben an diesem Abend der Tradition gemäß lange auf und steckten unsere Füße unter den kursi, während Ali Apfelschalen in den Ofen warf und uns alte Geschichten von Sultanen und Dieben erzählte, um diese längste aller Nächte zu überstehen. Es war Ali, der das alte Wissen um yelda an uns weitergab, das besagte, dass besessene Nachtfalter sich in Kerzenflammen stürzten und Wölfe auf der Suche nach der Sonne die Berge hinaufkletterten. Ali schwor, dass man, wenn man in der yelda-Nacht Wassermelone aß, im kommenden Sommer nicht durstig sein würde.

Später las ich in meinen Gedichtbüchern, dass yelda die Sternenlose Nacht war, in der Liebende unter Qualen Wache hielten, die endlose Nacht erduldeten und darauf warteten, dass die Sonne aufging und den geliebten Menschen mit sich brachte. Nachdem ich Soraya Taheri getroffen hatte, wurde jede Nacht der Woche zu einer yelda für mich. Und wenn der Sonntagmorgen kam, kletterte ich schon mit dem Gedanken an Sorayas braunäugiges Gesicht aus dem Bett. In Babas Bus zählte ich die Meilen, bis ich sie sehen würde, wie sie barfuß auf dem Boden kniete und die Kisten mit vergilbten Enzyklopädien zurechtschob. Ihre weißen Fersen hoben sich dabei vom Asphalt ab, und silberne Armreifen klimperten

an ihren schmalen Handgelenken. Ich dachte an den Schatten, den ihr Haar auf den Boden warf, wenn es von ihrem Rücken zur Seite rutschte und wie ein Samtvorhang herunterhing. Soraya. Prinzessin des Trödelmarktes. Morgensonne meiner yelda.

Ich erfand Entschuldigungen - die Baba mit einem schelmischen Grinsen akzeptierte -, um die Reihen entlangzulaufen und am Platz der Taheris vorbeizugehen. Ich winkte dem General zu, der ständig seinen glänzenden, zu oft gebügelten Anzug trug, und er winkte zurück. Manchmal stand er von seinem Klappstuhl auf, und wir plauderten über meine Schriftstellerei, den Krieg, wie der Handel lief. Und dabei musste ich immer meine ganze Willenskraft aufbringen, um meine Augen davon abzuhalten, sich zu lösen, davonzuwandern zu der Stelle, wo Soraya in ihrem Taschenbuch las. Wenn der General und ich uns verabschiedeten und ich davonging, versuchte ich, nicht zu schlurfen.

Manchmal saß sie allein da, während der General sich irgendwo in einer anderen Reihe aufhielt, um sich zu unterhalten, und ich ging vorüber, tat so, als kenne ich sie nicht, und brannte doch so sehr darauf, sie kennen zu lernen. Manchmal war auch eine beleibte Frau mittleren Alters mit blasser Haut und rot gefärbtem Haar bei ihr.

Ich schwor mir, dass ich noch vor dem Ende des Sommers mit ihr reden würde, aber das College begann wieder, die Blätter färbten sich rot und gelb und fielen herab, die Regenfälle des Winters zogen heran, und Babas Gelenke meldeten sich, die Blätter wurden wieder grün, und ich hatte immer noch nicht den Mut gefunden, ihr auch nur in die Augen zu blicken.

Das Frühlingssemester des Jahres 1985 ging im Mai zu Ende. Ich schloss all meine Kurse mit Erfolg ab, was ein kleines Wunder war, da ich im Unterricht meist nur dasaß und an Sorayas hübsche kleine Hakennase dachte.

Und dann, an einem heißen Sonntag in jenem Sommer, waren Baba und ich wieder einmal auf dem Trödelmarkt, saßen an unserem Stand und fächelten uns mit Zeitungen Luft zu. Trotz der Sonne, die sich wie ein Brandeisen in die Haut drückte, war der Markt an jenem Tag sehr gut besucht, und wir verkauften nicht schlecht - es war erst halb eins, und wir hatten bereits 160 Dollar verdient. Ich stand auf, streckte mich und fragte Baba, ob er eine Cola wolle. Er antwortete, dass ihm die sehr willkommen wäre.

»Nimm dich in Acht, Amir«, sagte er, als ich losgehen wollte.

»Wovor denn, Baba?«

»Ich bin kein ahmaq, also versuche nicht, mich für dumm zu verkaufen.« »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«

»Vergiss eins nicht«, sagte Baba und zeigte auf mich. »Ein paschtunischer Mann ist ein Paschtune durch und durch. Er hat nang und namoos.« Nang. Namoos. Ehre und Stolz. Die Dogmen paschtunischer Männer. Besonders, wenn es um die Keuschheit einer Frau geht. Oder einer Tochter.

»Ich will uns doch nur etwas zu trinken holen, das ist alles.«

»Bring mich nur nicht in Verlegenheit, mehr verlange ich nicht.«

»Werde ich nicht. Du liebe Güte, Baba.«

Baba zündete sich eine Zigarette an und begann sich wieder Luft zuzufächeln. Ich ging anfangs Richtung Getränkebude, bog dann aber am T-Shirt-Stand ab, wo man sich für fünf Dollar das Gesicht von Jesus, Elvis, Jim Morrison oder die von allen dreien auf ein weißes Nylon-T-Shirt drucken lassen konnte. Mariachi-Musik ertönte irgendwoher, und es roch nach sauer eingelegtem Gemüse und gegrilltem Fleisch.

Ich entdeckte den grauen Van der Taheris zwei Reihen von der unseren entfernt neben einem Stand, wo Mangos am Stiel verkauft wurden. Soraya war allein und las. Heute trug sie ein knöchellanges weißes Sommerkleid. Offene Sandalen. Ihr Haar war zurückgebunden und zu einem tulpenförmigen Knoten hochgesteckt. Eigentlich wollte ich einfach wie immer vorbeigehen und dachte auch, ich hätte es getan, aber plötzlich stand ich am Rande des weißen Tischtuchs der Taheris und starrte über Lockenstäbe und alte Krawatten zu Soraya hinüber. Sie blickte auf.

»Salaam«, sagte ich. »Tut mir Leid, dass ich Sie störe.«

»Salaam.«

»Ist der General Sahib heute hier?«, fragte ich. Meine Ohren brannten. Ich brachte es nicht fertig, ihr in die Augen zu sehen.

»Er ist dort langgegangen«, sagte sie. Zeigte nach rechts. Der Armreifen rutschte ihr bis zum Ellbogen herunter, Silber auf olivfarbener Haut.

»Könnten Sie ihm bitte sagen, dass ich hier gewesen bin, um meine Aufwartung zu machen?«, fragte ich.

»Das werde ich.«

»Vielen Dank«, erwiderte ich. »Ach, und mein Name ist Amir. Nur damit Sie es wissen. Um es ihm zu sagen. Dass ich hier gewesen bin, meine ich. Um ... um meine Aufwartung zu machen.«

»Ja.«

Ich trat von einem Fuß auf den anderen, räusperte mich. »Dann werde ich jetzt wieder gehen. Tut mir Leid, dass ich Sie gestört habe.« »Haben Sie nicht«, sagte sie.

»Oh. Gut.« Ich tippte mir zum Abschied mit dem Finger an die Stirn und brachte ein halbes Lächeln zustande. »Dann werde ich jetzt wieder gehen.« Hatte ich das nicht bereits gesagt? »Rhoda hafez.«

»Khoda hafez.«

Ich tat einen Schritt. Hielt inne. Drehte mich um. Sagte es, bevor ich überhaupt eine Chance hatte, die Nerven zu verlieren: »Darf ich fragen, was Sie da lesen?« Sie blinzelte. Ich hielt den Atem an.

Plötzlich spürte ich, wie sich die Augen sämtlicher afghanischer Landsleute auf diesem Trödelmarkt auf uns richteten. Sie verstummten plötzlich - so bildete ich es mir zumindest ein. Lippen erstarrten mitten im Satz. Köpfe drehten sich. Augen verzogen sich interessiert zu schmalen Schlitzen.

Was ging da vor sich?

Bis zu diesem Moment hätte man unsere Begegnung als respektvolle Erkundigung interpretieren können, ein Mann, der den Verbleib eines anderen Mannes zu erfahren suchte. Aber ich hatte ihr eine Frage gestellt, und wenn sie sie beantwortete, dann würden wir ... nun, wir würden miteinander plaudern. Ich, ein mojarad, ein allein stehender junger Mann, und sie eine unverheiratete junge Frau. Dazu noch eine mit einer Vergangenheit. Das war schon so etwas wie Klatschfutter und das köstlichste obendrein. Die Giftzungen würden sich in Bewegung setzen. Und sie würde das meiste davon abkriegen, nicht ich -ich war mir sehr wohl der afghanischen Doppelmoral bewusst, die mein Geschlecht seit Jahrhunderten begünstigte. Es würde nicht etwa heißen: Hast du gesehen, wie er mit ihr geplaudert hat? Sondern: Aufgepasst! Hast du gesehen, wie sie ihn gar nicht mehr gehen lassen wollte? Was für eine lochak!

Für afghanische Verhältnisse war meine Frage dreist. Damit hatte ich mich entblößt und wenig Zweifel an meinem Interesse an ihr gelassen. Aber ich war ein Mann und hatte damit nichts weiter riskiert als ein verletztes Ego. Verletzungen solcher Art heilten. Aber ein kaputter Ruf ließ sich nicht so leicht wiederherstellen. Würde sie wohl auf meine Kühnheit eingehen?

Sie drehte das Buch, sodass ich auf den Einband blicken konnte. Sturmhöhe. »Haben Sie es gelesen?«, fragte sie.

Ich nickte. Ich konnte das Pochen meines Herzens hinter meinen Augen spüren. »Es ist eine traurige Geschichte.«

»Von traurigen Geschichten kommen gute Bücher«, sagte sie. »Das stimmt.«

»Wie ich hörte, schreiben Sie selbst.«

Woher wusste sie das? Hatte ihr Vater es ihr erzählt? Hatte sie ihn vielleicht sogar gefragt? Aber ich verwarf beide Szenarien sofort wieder. Väter und Söhne konnten sich frei über Frauen unterhalten. Aber kein afghanisches Mädchen - zumindest kein anständiges und mohtaram afghanisches Mädchen - fragte ihren Vater über einen jungen Mann aus. Und kein Vater, ganz besonders kein Paschtune mit nang und namoos, würde mit seiner Tochter über einen mojarad reden - es sei denn, der fragliche Kerl wäre ein khastegar, ein Freier, der sich ehrenhaft verhalten und seinen Vater geschickt hatte, um an die Tür zu klopfen.

Ich traute meinen Ohren nicht, als ich mich fragen hörte: »Würden Sie gern einmal eine meiner Geschichten lesen?« »Sehr gern«, erwiderte sie.

Ich spürte, wie sie ein Unbehagen überkam, sah es in ihren Augen, die unruhig hin und her zu wandern begannen. Möglicherweise hielt sie Ausschau nach dem General. Was der wohl sagen würde, wenn er mich dabei erwischte, wie ich mich eine so unangemessen lange Zeit mit seiner Tochter unterhielt?

»Vielleicht werde ich Ihnen einmal eine mitbringen«, sagte ich. Ich wollte noch etwas hinzufügen, als die Frau, die ich gelegentlich mit Soraya gesehen hatte, den Gang entlang auf uns zukam. Sie trug einen Plastikbeutel voller Früchte. Als sie uns sah, wanderten ihre Augen zwischen Soraya und mir hin und her. Sie lächelte.

»Amir jan, wie schön, Sie zu sehen«, sagte sie und leerte die Tüte auf dem Tischtuch aus. Auf ihrer Stirn glänzte eine feine Schweißschicht. Ihr rotes Haar, das wie ein Helm frisiert war, glitzerte im Sonnenlicht - an manchen Stellen, wo ihr Haar dünn geworden war, schimmerte die Kopfhaut durch. Sie hatte kleine grüne Augen, die in einem kohlrunden Gesicht verborgen lagen, überkronte Zähne und kleine Wurstfinger. Ein goldener Allah ruhte auf ihrer Brust, die Kette lag in den Hautfalten ihres Halses verborgen. »Ich bin Jamila, Soraya jans Mutter.«

»Salaam, khala jan«, sagte ich verlegen - wie so oft, wenn ich mit Afghanen zu tun hatte -, weil sie mich kannte und ich keine Ahnung gehabt hatte, wer sie war.

»Wie geht es Ihrem Vater?«, sagte sie.

»Gut, vielen Dank.«

»Sie haben doch bestimmt schon viel von Ihrem Großvater, Ghazi Sahib, gehört? Dem Richter. Sein Onkel und mein Großvater waren Cousins«, sagte sie. »Wir sind also eigentlich verwandt.« Sie schenkte mir ein Zahnkronenlächeln, und ich bemerkte, dass die rechte Seite ihres Mundes ein wenig herabhing. Ihre Augen wanderten wieder zwischen Soraya und mir hin und her.

Ich hatte Baba einmal gefragt, warum General Taheris Tochter noch nicht verheiratet war. Keine Freier, hatte Baba gesagt. Keine angemessenen Freier, hatte er hinzugefügt. Aber mehr wollte er nicht sagen - Baba wusste, wie verheerend sich leeres Geschwätz auf die Heiratsaussichten einer jungen Frau auswirken konnte. Afghanische Männer, besonders solche aus angesehenen Familien, waren wankelmütige Wesen. Ein Flüstern hier, eine Anspielung dort, und sie stoben davon wie aufgeschreckte Vögel. Und so hatte eine Hochzeitsfeier nach der anderen stattgefunden, und niemand hatte ahesta boro für Soraya gesungen, niemand hatte ihre Handflächen mit Henna bemalt, niemand hatte einen Koran über ihren Kopfschmuck gehalten, und es war General Taheri zugefallen, bei jeder Hochzeitsfeier mit ihr zu tanzen.

Und jetzt war da diese Frau, diese Mutter, mit ihrem herzzerreißend erwartungsvollen schiefen Lächeln und der kaum versteckten Hoffnung in den Augen. Ich zuckte ein wenig zusammen angesichts der machtvollen Position, die mir gewährt worden war, und das nur, weil ich in der genetischen Lotterie gewonnen hatte, die mein Geschlecht bestimmte.

Ich vermochte nie in den Augen des Generals zu lesen, aber über seine Frau wusste ich eins ganz gewiss: Sollte ich einen Widersacher bei dieser Angelegenheit haben - welcher Natur auch immer »diese Angelegenheit« sein mochte -, so wäre es ganz bestimmt nicht sie.

»Setzen Sie sich, Amir jan«, forderte sie mich auf. »Soraya, bachem, hol ihm einen Stuhl. Und wasche einen der Pfirsiche. Sie sind süß und frisch.«

»Nein, vielen Dank«, sagte ich. »Ich sollte mich auf den Weg machen. Mein Vater wartet.«

»Ach ja? Wie schade«, sagte Khanum Taheri, offensichtlich beeindruckt, dass ich mich für die höfliche Variante entschieden und das Angebot abgelehnt hatte. »Dann nehmen Sie zumindest das hier.« Sie warf eine Hand voll Kiwis und einige Pfirsiche in eine Papiertüte und bestand darauf, dass ich sie nahm. »Richten Sie Ihrem Vater viele Grüße von mir aus. Und kommen Sie bald wieder einmal vorbei.«

»Das werde ich. Vielen Dank, Khala jan«, sagte ich. Aus dem Augenwinkel heraus sah ich, dass Soraya zur Seite blickte.

»Ich dachte, du wolltest uns zwei Colas holen«, sagte Baba und nahm mir die Tüte mit dem Obst aus der Hand. Er bedachte mich mit einem Blick, der ernst und schelmisch zugleich war. Ich wollte gerade etwas erfinden, aber er biss in einen Pfirsich und winkte abwehrend mit der Hand. »Schon gut, Amir. Vergiss aber nicht, was ich dir gesagt habe.«

In jener Nacht dachte ich im Bett daran, wie das gesprenkelte Sonnenlicht in Sorayas Augen getanzt hatte, und an die zarten Vertiefungen über ihrem Schlüsselbein. Ich ging unsere Unterhaltung in meinem Kopf immer wieder durch. Hatte sie gesagt: Wie ich hörte, schreiben Sie selbst oder: Wie ich hörte, sind Sie Schriftsteller? Ich war mir nicht sicher. Ich wälzte mich im Bett herum und starrte zur Decke hinauf - wie sollte ich nur die kommenden sechs schweren, endlosen yelda-Nächte überstehen, bis ich sie endlich wiedersah?

So ging es einige Wochen weiter. Ich wartete, bis sich der General zu einem Spaziergang aufmachte, und schritt dann am Stand der Taheris vorbei. Wenn Khanum Taheri da war, bot sie mir Tee und ein kolcha an, und wir unterhielten uns über das Kabul der Vergangenheit, über Menschen, die wir kannten, über ihre Arthritis. Sie hatte zweifellos bemerkt, dass mein Auftauchen immer mit der Abwesenheit ihres Mannes zusammenfiel, aber sie ließ es sich nie anmerken. »Oh, wie schade, Sie haben Kaka gerade verpasst«, sagte sie nur. Es gefiel mir sogar, wenn Khanum Taheri da war, und das nicht nur wegen ihrer freundlichen Art; Soraya war viel lockerer, redseliger, wenn sich ihre Mutter in der Nähe aufhielt. Als ob deren Anwesenheit alles, was zwischen uns geschah, legitimierte - wenn auch nicht in der gleichen Weise, wie es die Gegenwart des Generals getan hätte. Khanum Taheri als unsere Anstandsdame machte unsere Treffen wenn nicht klatschsicher, so doch weniger klatschenswert, auch wenn das beinahe schon einschmeichelnde Verhalten, das sie mir gegenüber an den Tag legte, Soraya ganz offensichtlich peinlich war.

Eines Tages standen Soraya und ich allein an ihrem Stand und unterhielten uns. Sie erzählte mir von ihrem Studium am Ohlone Junior-College in Fremont.

»Ich möchte einmal Lehrerin werden«, sagte sie.

»Wirklich?«, fragte ich. »Warum?«

»Das wollte ich schon immer. Als wir noch in Virginia gewohnt haben, habe ich die Englisch-Prüfung für Nicht-Muttersprachler bestanden und unterrichte jetzt einmal in der Woche einen Kurs in der Stadtbibliothek. Meine Mutter ist auch Lehrerin gewesen, sie hat an der Zarghoona-Mittelschule für Mädchen in Kabul Farsi und Geschichte unterrichtet.«

Ein spitzbäuchiger Mann mit einer Sherlock-Holmes-Mütze auf dem Kopf bot drei Dollar für einen Satz Kerzenhalter, der eigentlich fünf Dollar wert war, aber Soraya willigte ein. Sie ließ das Geld in eine kleine Bonbondose zu ihren Füßen fallen und blickte mich schüchtern an. »Ich würde Ihnen gern eine kleine Geschichte erzählen«, sagte sie, »aber sie ist mir ein bisschen peinlich.«

»Nur zu. Erzählen Sie.«

»Eigentlich ist sie irgendwie albern.«

»Bitte tun Sie mir den Gefallen.«

Sie lachte. »Also, als ich in Kabul ins vierte Schuljahr ging, da stellte mein Vater eine Frau namens Ziba ein, die im Haus helfen sollte. Sie hatte eine Schwester im Iran, in Mashad, und da Ziba Analphabetin war, bat sie mich ab und zu, ihrer Schwester einen Brief zu schreiben. Und wenn die Schwester antwortete, las ich Ziba ihre Briefe vor. Eines Tages fragte ich sie, ob sie gern lesen und schreiben lernen würde. Sie blickte mich mit ihrem strahlenden Lächeln an, bei dem sie immer tausend Fältchen um die Augen bekam, und erwiderte, dass das ganz wunderbar wäre. Also setzten wir uns, wenn ich mit meinen Hausaufgaben fertig war, an den Küchentisch, und ich brachte ihr das Alef-beh bei. Ich weiß noch, wie ich manchmal von meinen Hausaufgaben aufblickte und Ziba in der Küche beobachtete, wie sie das Fleisch im Topf wendete und sich dann mit einem Bleistift hinsetzte, um ihre eigenen Hausaufgaben zu machen, die ich ihr am Abend vorher gegeben hatte. Jedenfalls konnte Ziba innerhalb eines Jahres Kinderbücher lesen. Wir saßen draußen im Garten, und sie las mir - langsam zwar, aber korrekt - die Geschichten von Dara und Sara vor. Sie fing an, mich Moalema Soraya zu nennen, Lehrerin Soraya.« Sie lachte wieder. »Ich weiß, dass es kindisch klingt, aber als Ziba ihren ersten Brief schrieb, da wusste ich, dass ich unbedingt Lehrerin werden wollte. Ich war so stolz auf sie, und ich hatte das Gefühl, etwas wirklich Wertvolles getan zu haben, verstehen Sie?«

»Ja«, log ich. Ich dachte daran, wie ich meine Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, ausgenutzt hatte, um Hassan lächerlich zu machen. Wie ich ihn bei schwierigen Wörtern, die er nicht kannte, aufgezogen hatte.

»Mein Vater möchte, dass ich Jura studiere, meine Mutter lässt immer wieder Bemerkungen über ein Medizinstudium fallen, aber ich werde auf jeden Fall Lehrerin. Das wird hier zwar nicht besonders gut bezahlt, aber es ist genau das, was ich möchte.«

»Meine Mutter war auch Lehrerin«, sagte ich.

»Ich weiß«, erwiderte sie. »Das hat mir meine Mutter erzählt.« Dann wurde sie rot, weil sie damit ausgeplaudert hatte, dass »Amir-Gespräche« zwischen ihnen stattfanden, wenn ich nicht da war. Ich musste mich ungeheuer beherrschen, um mir ein Lächeln zu verkneifen.

»Ich habe Ihnen etwas mitgebracht.« Ich fischte die zusammengerollten Seiten aus meiner Gesäßtasche. »Wie versprochen.« Ich reichte ihr eine meiner Kurzgeschichten.

»Oh, du hast es also nicht vergessen«, sagte sie und strahlte förmlich. »Vielen Dank!« Mir blieb kaum genug Zeit, zu registrieren, dass sie mich zum ersten Mal mit »tu« angesprochen hatte und nicht mit dem förmlichen »shoma«, denn ihr Lächeln erstarb. Die Farbe wich aus ihrem Gesicht, und ihre Augen richteten sich auf etwas hinter meinem Rücken. Ich drehte mich um. Blickte in das Antlitz von General Taheri.

»Amir jan. Unser angehender Geschichtenerzähler. Was für ein Vergnügen«, sagte er mit einem schwachen Lächeln.

»Salaam General Sahib«, sagte ich mit schweren Lippen.

Er schritt an mir vorbei auf seinen Stand zu. »Was für ein wundervoller Tag, nicht wahr?«, sagte er, den Daumen in die Brusttasche seiner Weste eingehakt, die andere Hand in Sorayas Richtung ausgestreckt. Sie reichte ihm die Seiten.

»Es heißt, es soll noch in dieser Woche Regen geben. Kaum zu glauben, oder?« Er ließ die zusammengerollten Seiten in den Abfalleimer fallen. Wandte sich mir zu und legte eine sanfte Hand auf meine Schulter. Wir gingen ein paar Schritte zusammen.

»Wissen Sie, Amir, ich mag Sie. Sie sind ein anständiger Junge, davon bin ich überzeugt, aber«, er seufzte und vollführte eine Bewegung mit der Hand, »selbst anständige Jungen benötigen hin und wieder eine kleine Gedächtnisstütze. Also ist es meine Pflicht, Sie daran zu erinnern, dass Sie sich auf diesem Trödelmarkt unter Ihresgleichen befinden. Wissen Sie, jeder hier ist ein Geschichtenerzähler.« Er lächelte und entblößte dabei seine perfekten Zähne. »Richten Sie Ihrem Vater meine Hochachtung aus, Amir jan.« Er ließ die Hand sinken. Lächelte aufs Neue.

»Was ist los?«, fragte Baba und kassierte gleichzeitig.

»Nichts«, erwiderte ich. Ich setzte mich auf einen alten Fernseher. Dann erzählte ich es ihm trotzdem.

»Ach, Amir«, seufzte er.

Wie sich herausstellte, kam ich gar nicht dazu, allzu lange über das nachzugrübeln, was passiert war.

Denn ein paar Tage später bekam Baba eine Erkältung.

Es begann mit einem trockenen Husten und einem leichten Schnupfen. Den Schnupfen überwand er, aber der Husten blieb. Er hustete ständig in sein Taschentuch, stopfte es sich dann wieder in die Tasche. Ich redete auf ihn ein, sich untersuchen zu lassen, aber er winkte ab. Er hasste Ärzte und Krankenhäuser. Meines Wissens war Baba in seinem ganzen Leben nur ein einziges Mal zum Arzt gegangen, und zwar, als er sich in Indien mit Malaria angesteckt hatte. Zwei Wochen später dann erwischte ich ihn dabei, wie er blutigen Schleim in die Toilette hustete.

»Wie lange geht das schon so?«, fragte ich.

»Was gibt es zum Abendessen?«, erwiderte er. »Ich bringe dich zum Arzt.«

Obwohl Baba inzwischen einer der Manager der Tankstelle war, hatte der Besitzer ihm keine Krankenversicherung angeboten, und Baba hatte in seinem Leichtsinn nicht darauf bestanden. Also brachte ich ihn zum Bezirkskrankenhaus in San Jose. Ein junger Assistenzarzt kümmerte sich um uns. Er war käsebleich und hatte verschwollene Augen. »Er sieht jünger aus als du und kränker als ich«, brummte Baba. Der Arzt schickte uns nach unten zum Röntgen. Als die Schwester uns wieder hereinrief, war er dabei, ein Formular auszufüllen.

»Nehmen Sie das mit nach vorn«, sagte er, als er fertig war. »Was ist das?«, fragte ich. »Eine Uberweisung.« »Wohin?«

»Zum Lungenspezialisten.« »Ist es denn etwas Ernstes?«

Er warf mir einen flüchtigen Blick zu. Schob seine Brille zurecht. Begann wieder zu kritzeln. »Er hat einen Fleck auf der rechten Lunge. Die sollen sich das mal ansehen.« »Einen Fleck?«, sagte ich, und das Zimmer wurde plötzlich zu klein, die Luft zu dick. »Krebs?«, fügte Baba gleichgültig hinzu.

»Möglich. Jedenfalls sollte es abgeklärt werden«, murmelte der Arzt.

»Können Sie uns nicht mehr sagen?«, fragte ich.

»Im Augenblick nicht. Lassen Sie erst mal eine CT machen, und gehen Sie zu einem Lungenspezialisten.« Er reichte mir die Uberweisung. »Ihr Vater raucht, sagten Sie?« »Ja.«

Er nickte. Blickte von mir zu Baba und wieder zurück. »Man wird Sie in den nächsten zwei Wochen anrufen.«

Ich hätte ihn gern gefragt, wie ich in den nächsten zwei Wochen mit einem solchen Verdacht leben sollte. Wie sollte ich da essen, arbeiten, studieren? Wie konnte er mich einfach so nach Hause schicken?

Ich nahm die Überweisung und gab sie bei der Aufnahme ab. In jener Nacht wartete ich, bis Baba eingeschlafen war, und faltete dann eine Decke auseinander. Ich benutzte sie als Gebetsteppich. Den Kopf auf den Boden geneigt, sagte ich halb vergessene surrahs aus dem Koran auf - Verse, die uns der Mullah in Kabul hatte auswendig lernen lassen - und bat einen Gott um seine Güte, von dem ich nicht einmal sicher war, dass er überhaupt existierte. Auf einmal beneidete ich den Mullah, beneidete ihn um seinen Glauben und seine Gewissheit.

Zwei Wochen vergingen, und niemand rief an. Und als ich mich beim Krankenhaus meldete, erklärte man mir, dass ihnen keine Überweisung vorliege. Ob ich sie wirklich abgegeben hätte? Man werde mich spätestens in drei Wochen zurückrufen. Ich machte ihnen die Hölle heiß und handelte die drei Wochen auf eine für die Computertomographie herunter und zwei für den Lungenspezialisten.

Der Besuch beim Lungenspezialisten verlief gut, bis Baba Dr. Schneider fragte, woher er ursprünglich stamme. Russland, erwiderte Dr. Schneider. Baba drehte beinahe durch.

»Entschuldigen Sie uns, Herr Doktor«, sagte ich und zerrte meinen Vater zur Seite. Dr. Schneider lächelte und trat mit dem Stethoskop in der Hand zurück.

»Baba, ich habe Dr. Schneiders biografische Daten im Wartezimmer gelesen. Er ist in Michigan geboren. Michigan! Er ist Amerikaner, ein ganzes Stück mehr Amerikaner, als du und ich jemals sein werden.«

»Es ist mir egal, wo er geboren wurde, er ist Roussi«, sagte Baba und zog dabei eine Grimasse, als handelte es sich um ein Schimpfwort. »Seine Eltern waren Roussi, seine Großeltern waren Roussi. Ich schwöre beim Antlitz deiner Mutter, dass ich ihm den Arm brechen werde, wenn er versucht, mich anzufassen.«

»Dr. Schneiders Eltern sind vor den Shorawi geflohen, willst du das denn nicht verstehen? Sie sind geflohen!«

Aber Baba wollte nichts davon hören. Manchmal glaubte ich, das Einzige, was er genauso liebte wie seine verstorbene Frau, war Afghanistan, sein dahingeschiedenes Land. Ich hätte vor Verzweiflung laut schreien können. Stattdessen seufzte ich und wandte mich Dr. Schneider zu. »Tut mir Leid, Herr Doktor. Das wird nicht funktionieren.«

Der nächste Lungenspezialist, ein Dr. Amani, war Iraner und fand Babas Zustimmung. Dr. Amani, ein leise sprechender Mann mit einem schiefen Schnurrbart und grauer Haarmähne, erklärte uns, dass er sich die Ergebnisse der Computertomographie angesehen habe und einen Eingriff vornehmen müsse, der sich Bronchoskopie nannte, um ein Stück der Lungenmasse für eine pathologische Untersuchung zu entnehmen. Der Eingriff sollte in der folgenden Woche stattfinden. Ich dankte ihm, als ich Baba aus dem Sprechzimmer führte, und dachte mit Schrecken an eine weitere Woche bangen Wartens. Wenn doch nur Soraya bei mir gewesen wäre!

Wie sich herausstellte, hatte der Krebs, wie der Teufel, viele Namen. Babas Krebs nannte sich Haferzellkarzinom. Fortgeschrittenes Stadium. Inoperabel. Baba bat Dr. Amani um eine Prognose. Dr. Amani biss sich auf die Unterlippe, benutzte das Wort ernst. »Die Chemotherapie ist natürlich eine Möglichkeit«, sagte er. »Aber das wäre nur palliativ.«

»Was bedeutet das?«, fragte Baba.

Dr. Amani seufzte. »Es bedeutet, dass es nichts am Ergebnis ändern, es nur hinauszögern würde.«

»Das ist eine klare Antwort, Dr. Amani. Ich danke Ihnen dafür«, sagte Baba. »Aber eine Chemotherapie kommt für mich nicht in Frage.« Er hatte denselben entschlossenen Ausdruck auf dem Gesicht wie an dem Tag, als er den Stapel Essensmarken auf Mrs. Dobbins' Schreibtisch geworfen hatte.

»Aber Baba ...«

»Wage es nicht, meine Ansichten in der Öffentlichkeit in Frage zu stellen, Amir. Niemals. Für wen hältst du dich?«

Der Regen, von dem General Taheri auf dem Trödelmarkt gesprochen hatte, war ein paar Wochen zu spät dran, aber als wir aus Dr. Amanis Praxis traten, spritzten vorbeifahrende Wagen schmutziges Wasser auf die Gehsteige. Baba zündete sich eine Zigarette an. Er rauchte den ganzen Weg bis zu unserer Wohnung. Als er den Schlüssel in die Tür zum Treppenhaus steckte, sagte ich: »Ich wünschte, du würdest noch einmal über die Chemotherapie nachdenken, Baba.«

Baba steckte die Schlüssel ein und zog mich aus dem Regen unter die gestreifte Markise des Gebäudes. Er drückte mir die Knöchel der Hand, die die Zigarette hielt, gegen die Brust. »Bas! Ich habe meine Entscheidung getroffen.«

»Und was ist mit mir, Baba? Was soll ich tun?«, sagte ich, und die Tränen stiegen mir in die Augen.

Ein angewiderter Ausdruck erschien auf seinem regennassen Gesicht. Es war der gleiche Ausdruck, der immer auf seinem Gesicht aufgetaucht war, wenn ich als Kind hinfiel, mir die Knie aufschlug und zu weinen begann. Es war das Weinen, das ihn damals hervorgelockt hatte, und so war es auch jetzt wieder. »Du bist zweiundzwanzig Jahre alt, Amir! Ein erwachsener Mann! Du ...«, er öffnete den Mund, schloss ihn wieder, öffnete ihn erneut, überlegte noch einmal. Über uns trommelte der Regen auf die Markise. »Was mit dir geschieht, fragst du? All die Jahre habe ich versucht, dir etwas beizubringen, damit du diese Frage niemals stellen musst.«

Er öffnete die Tür. Drehte sich wieder zu mir um. »Und noch etwas. Niemand wird hiervon erfahren, hörst du? Niemand. Ich will kein Mitleid.« Dann verschwand er ins düstere Treppenhaus. Den Rest des Tages verbrachte er kettenrauchend vor dem Fernseher. Ich wusste nicht, was oder wem er zu trotzen versuchte. Mir? Dr. Amani? Oder vielleicht dem Gott, an den er nie geglaubt hatte.

Für eine Weile vermochte selbst der Krebs Baba nicht vom Trödelmarkt fern zu halten. Samstags saß er am Steuer des Busses, wenn wir die Garagenverkäufe abklapperten, und ich dirigierte ihn, und sonntags boten wir die erworbenen Dinge zum Verkauf an. Messinglampen. Baseballhandschuhe. Skijacken mit kaputten Reißverschlüssen. Baba begrüßte Bekannte aus der alten Heimat, und ich feilschte mit Käufern um einen Dollar oder auch zwei. Als ob irgendetwas davon eine Rolle gespielt hätte. Als ob der Tag, an dem ich Waise werden würde, nicht mit jedem Geschäft, das ich tätigte, näher rückte.

Manchmal spazierten General Taheri und seine Frau vorbei. Der General, ganz Diplomat, begrüßte mich mit einem Lächeln und umschloss meine Hand wie immer mit beiden Händen. Aber da war eine neue Zurückhaltung in Khanum Taheris Benehmen. Eine Zurückhaltung, die nur von ihrem verlegenen schiefen Lächeln und den verstohlenen entschuldigenden Blicken gebrochen wurde, die sie mir zuwarf, wenn die Aufmerksamkeit des Generals einmal abgelenkt war.

Ich erinnere mich an diese Zeit als eine Phase, in der viele Dinge zum ersten Mal geschahen: Ich hörte Baba zum ersten Mal im Badezimmer stöhnen. Ich fand zum ersten Mal Blut auf seinem Kissen. Und zum ersten Mal in den drei Jahren, seit denen er an der Tankstelle arbeitete, meldete er sich krank.

Als in jenem Jahr Halloween vor der Tür stand, wurde Baba an den Samstagen um die Nachmittagszeit immer so müde, dass er hinter dem Steuer wartete, während ich ausstieg und um den Trödel feilschte. Als Thanksgiving kam, war er schon kurz vor Mittag erschöpft. Und als Schlitten in den Vorgärten auftauchten und die Douglastannen Schnee aus der Spraydose trugen, blieb Baba zu Hause, und ich fuhr den VW-Bus allein die Peninsula hinauf und hinunter.

Manchmal ließen afghanische Bekannte auf dem Trödelmarkt Bemerkungen über Babas Gewichtsverlust fallen. Anfangs waren sie schmeichelhaft. Einige erkundigten sich sogar, welche Diät er mache. Aber die Fragen und Komplimente hörten auf, als er weiter abnahm. Und weiter abnahm. Als seine Wangen einfielen. Seine Schläfen einsanken. Und seine Augen immer tiefer in ihren Höhlen saßen.

An einem kühlen Sonntag dann, kurz nach dem Neujahrstag, verkaufte Baba gerade einem stämmigen Filipino einen Lampenschirm, während ich im VW nach einer Decke kramte, die ich Baba über die Beine legen wollte.

»He, Mann, der Typ hier braucht Hilfe!«, rief der Filipino plötzlich erschrocken. Ich drehte mich um und sah Baba am Boden liegen. Seine Arme und Beine zuckten.

»Komak!«, rief ich. »Zu Hilfe!« Ich rannte auf Baba zu. Schaum trat ihm aus dem Mund, lief in seinen Bart. In seinen nach oben verdrehten Augen sah man nur noch das Weiße.

Leute eilten auf uns zu. Ich hörte, wie jemand das Wort »Anfall« aussprach. Ein anderer schrie: »Ruf einen Krankenwagen!« Ich hörte dahineilende Schritte. Der Himmel verdunkelte sich, als sich eine Menschenmenge um uns versammelte.

Der Schaum wurde rot. Baba biss sich auf die Zunge. Ich kniete mich neben ihn, packte seine Arme und redete beruhigend auf ihn ein. Ich bin ja da, Baba, sagte ich zu ihm, ich bin ja da, alles wird gut, ich bin bei dir. Als hätte ich die Krämpfe mit meinen Worten aus ihm herauslocken können. Sie überreden können, meinen Baba in Ruhe zu lassen. Ich spürte etwas Feuchtes auf meinen Knien. Sah, dass sich Babas Blase entleert hatte. Schhh, Baba jan, ich bin ja da. Dein Sohn ist bei dir.

Der Arzt mit dem grauen Bart und dem kahlen Kopf zog mich aus dem Zimmer. »Ich möchte die CT-Aufnahmen Ihres Vaters mit Ihnen durchgehen«, sagte er. Er befestigte die Seiten auf einem erleuchteten Schaukasten im Flur und deutete mit dem Radiergummiende seines Bleistifts auf die Bilder von Babas Krebs, ganz wie ein Polizist, der der Familie des Opfers Fotos des Mörders zeigt. Die Bilder von Babas Gehirn sahen wie Querschnitte einer riesigen Walnuss aus, die von großen grauen Punkten durchlöchert war.

»Wie Sie sehen können, hat der Krebs Metastasen gebildet«, sagte er. »Ihr Vater wird Steroide nehmen müssen, um die Schwellung in seinem Gehirn zu verringern, und auch Antiepileptika. Und ich würde eine palliative Strahlentherapie empfehlen. Wissen Sie, was das bedeutet?«

Ich nickte. Ich war inzwischen mit den Fachausdrücken der Krebstherapien nur allzu gut vertraut.

»Also schön«, sagte er. Kontrollierte seinen Piepser. »Ich muss jetzt gehen, aber Sie können mich ja rufen lassen, wenn Sie irgendwelche Fragen haben.« »Vielen Dank.«

Ich verbrachte die Nacht auf einem Stuhl neben Babas Bett.

Am nächsten Morgen war das Wartezimmer am Ende des Flurs voll gestopft mit Afghanen. Der Metzger aus Newark. Ein Ingenieur, der mit Baba an seinem Waisenhaus gearbeitet hatte. Sie strömten hintereinander ins Zimmer und machten Baba mit gedämpften Stimmen ihre Aufwartung. Wünschten ihm eine baldige Genesung. Baba war wach. Angeschlagen und erschöpft, aber wach.

Am späten Morgen kamen General Taheri und seine Frau. Soraya folgte ihnen. Wir warfen einander einen kurzen Blick zu und schauten gleich wieder zur Seite. »Wie geht es Ihnen, mein Freund?«, fragte General Taheri und nahm Babas Hand.

Baba deutete auf den Infusionsschlauch, der an seinem Arm hing. Lächelte schwach. Der General erwiderte das Lächeln.

»Sie hätten sich nicht die Mühe machen sollen. Keiner von Ihnen«, krächzte Baba. »Das ist doch keine Mühe«, versicherte Khanum Taheri.

»In keiner Weise«, ergänzte der General. »Viel wichtiger ist, ob Sie etwas benötigen? Irgendetwas? Scheuen Sie sich nicht, mich zu fragen, so wie Sie einen Bruder fragen würden.«

Ich erinnerte mich an etwas, was Baba einmal über die Paschtunen gesagt hatte. Wir mögen dickköpfig sein, und ich weiß, dass wir viel zu stolz sind, aber in der Stunde der Not gibt es nichts Besseres, als einen Paschtunen zur Seite zu haben, das kannst du mir glauben.

Baba schüttelte den Kopf. »Ihr Kommen allein hat meinen Augen Glanz verliehen.« Der General lächelte, drückte Babas Hand und wandte sich an mich: »Wie geht es Ihnen, Amir jan? Benötigen Sie etwas?«

Die Art und Weise, wie er mich ansah, die Freundlichkeit in seinen Augen ... »Nein, vielen Dank, General Sahib. Ich ...« Plötzlich schnürte mir etwas die Kehle zu, und Tränen stiegen mir in die Augen. Ich stürzte aus dem Zimmer.

Ich weinte im Flur, neben dem Glaskasten, wo ich am Abend zuvor das Antlitz des Mörders gesehen hatte.

Babas Tür öffnete sich, und Soraya trat aus dem Zimmer. Sie blieb neben mir stehen. Sie trug ein graues Sweatshirt und Jeans. Ihre Haare waren offen. Ich hätte so gern Trost in ihren Armen gefunden.

»Es tut mir so Leid, Amir«, sagte sie. »Wir wussten alle, dass etwas nicht stimmt, aber wir hatten ja keine Ahnung, dass es so etwas ist.«

Ich wischte mir mit dem Ärmel über die Augen. »Er wollte nicht, dass es jemand erfährt.«

»Brauchst du irgendetwas?«

»Nein.« Ich versuchte zu lächeln. Sie legte ihre Hand auf meine. Unsere erste Berührung. Ich ergriff die Hand. Zog sie an meine Wange, legte sie auf meine Augen. »Du solltest besser wieder hineingehen. Sonst wird dein Vater mir noch zu Leibe rücken.«

Sie lächelte und nickte. »Das sollte ich wohl.« Sie wandte sich ab, um zu gehen.

»Soraya?«

»Ja?«

»Ich bin froh, dass du gekommen bist. Es ... es hat mir unendlich viel bedeutet.«

Die Ärzte entließen Baba zwei Tage später. Sie zogen einen Spezialisten hinzu, einen so genannten Strahlenonkologen, um Baba zu einer Strahlentherapie zu überreden. Baba lehnte ab. Sie versuchten mich zu überreden, ihn zu überreden. Aber ich hatte den Ausdruck auf Babas Gesicht gesehen. Ich bedankte mich bei ihnen, unterschrieb die notwendigen Formulare und brachte Baba in meinem Ford Torino nach Hause.

An jenem Abend lag er unter einer Wolldecke auf dem Sofa. Ich brachte ihm heißen Tee und geröstete Mandeln. Schlang meine Arme um seinen Rücken und zog ihn in eine sitzende Position. Es ging viel zu leicht; sein Schulterblatt fühlte sich unter meinen Fingern wie der Flügel eines Vogels an. Ich zog ihm die Decke wieder bis zur Brust hoch, wo die Rippen seine dünne, bleiche Haut dehnten.

»Kann ich sonst noch etwas für dich tun, Baba?«

»Nein, bachem. Danke.« Bachem. Kind.

Ich setzte mich neben ihn. »Dann möchte ich dich bitten, etwas für mich zu tun. Wenn du nicht zu erschöpft bist.« »Was denn?«

»Ich möchte, dass du General Taheri für mich um die Hand seiner Tochter bittest.« Babas trockene Lippen spannten sich zu einem Lächeln. Ein Fleckchen Grün auf einem welken Blatt. »Bist du dir da auch ganz sicher?«

»So sicher war ich mir in meinem ganzen Leben noch nicht.« »Du hast es also gut durchdacht?« »Balay, Baba.«

»Dann gib mir das Telefon. Und mein kleines Notizbuch.« Ich blinzelte. »Jetzt?« »Wann denn sonst?«

Ich lächelte. »Na schön.« Ich reichte ihm das Telefon und das kleine schwarze Notizbuch, in das Baba die Nummern seiner afghanischen Freunde gekritzelt hatte. Er schlug die Seite mit der Nummer der Taheris auf. Wählte. Hielt den Hörer ans Ohr. Mein Herz drehte Pirouetten.

»Jamila jan? Salaam alaykum«, sagte er. Er nannte seinen Namen. Verstummte. »Viel besser, vielen Dank. Es war überaus liebenswürdig von Ihnen, mich im Krankenhaus zu besuchen.« Er lauschte eine Weile. Nickte. »Ich werde es mir merken, vielen Dank. Ist der General Sahib daheim?« Pause. »Vielen Dank.«

Seine Augen huschten zu mir herüber. Aus irgendeinem Grund war mir danach zu lachen. Oder zu schreien. Ich hob die Hand an den Mund und biss in den Ballen. Baba lachte leise durch die Nase.

»General Sahib, Salaam alaykum ... Ja, viel besser ... Balay... Sehr freundlich von Ihnen. General Sahib, ich rufe an, um zu fragen, ob ich Ihnen und Khanum Taheri morgen früh einen Besuch abstatten dürfte. Es geht um eine ehrenwerte Angelegenheit... Ja ... Elf Uhr passt mir gut. Bis morgen dann. Khoda hafez.«

Er legte auf. Wir blickten einander an. Ich begann zu kichern. Baba stimmte mit ein.

Baba befeuchtete sein Haar und kämmte es nach hinten. Ich half ihm in ein sauberes weißes Hemd und knotete die Krawatte für ihn. Zwischen dem Kragenknopf und Babas Hals war eine Lücke von ungefähr fünf Zentimetern. Ich dachte an all die Lücken, die Baba hinterlassen würde, wenn er fort war, und zwang mich, an etwas anderes zu denken. Er war nicht fort, noch nicht. Und heute war ein Tag für gute Gedanken. Das Jackett seines braunen Anzugs - der, den er zu meiner Abschlussfeier getragen hatte -, hing an ihm herunter; zu viel von Baba war einfach verschwunden, um es noch zu füllen. Ich musste ihm die Ärmel hochkrempeln. Ich bückte mich und band ihm die Schnürsenkel zu.

Die Taheris lebten in einem einstöckigen Haus in einer Wohngegend in Fremont, in der viele Afghanen lebten. Das Haus besaß Erkerfenster, ein Giebeldach und eine umzäunte Vorderveranda, auf der ich mehrere Blumentöpfe mit Geranien erblickte. Der graue Van des Generals parkte in der Einfahrt.

Ich half Baba aus dem Ford und schlüpfte wieder hinter das Steuer. Er lehnte sich ins Fenster auf der Beifahrerseite. »Fahr wieder nach Hause. Ich werde dich in einer Stunde anrufen.«

»Gut, Baba«, erwiderte ich. »Viel Glück.« Er lächelte.

Ich fuhr davon. Im Rückspiegel humpelte Baba die Einfahrt der Taheris hinauf, um eine letzte väterliche Pflicht zu erfüllen.

Ich lief im Wohnzimmer unserer Wohnung auf und ab wie ein Tier im Käfig und wartete auf Babas Anruf. Fünfzehn Schritte lang. Zehneinhalb Schritte breit. Was, wenn der General Nein sagte? Was, wenn er mich hasste? Ich lief immer wieder in die Küche, um auf die Uhr am Herd zu schauen.

Um kurz vor zwölf läutete das Telefon. Es war Baba.

»Nun?«

»Der General hat angenommen.«

Ich stieß einen Schwall Luft aus. Setzte mich hin. Meine Hände zitterten. »Wirklich?« »Ja, aber Soraya jan möchte erst noch mit dir reden. Sie ist oben in ihrem Zimmer.« »In Ordnung.«

Baba sagte etwas zu jemanden, und ein Doppelklicken ertönte in der Leitung, als er auflegte.

»Amir?« Sorayas Stimme. »Salaam.«

»Mein Vater hat zugestimmt.«

»Ich weiß«, sagte ich. Nahm den Hörer in die andere Hand. Lächelte. »Ich bin so glücklich, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«

»Ich bin auch glücklich, Amir. Ich ... ich kann kaum glauben, dass das hier wirklich passiert.«

Ich lachte. »Das geht mir genauso.«

»Hör zu«, sagte sie. »Ich muss dir etwas sagen. Es gibt etwas, das du wissen solltest, bevor ...«

»Was es auch sein mag, es ist mir egal.«

»Du musst es aber wissen. Ich möchte nicht, dass wir mit irgendwelchen Geheimnissen beginnen. Und es wäre mir lieber, wenn du es von mir hörst.«

»Wenn du dich dann besser fühlst, erzähle es mir. Aber es wird nichts ändern.« Es folgte eine lange Pause am anderen Ende, ehe sie begann:

»Als wir in Virginia wohnten, bin ich mit einem afghanischen Mann weggelaufen. Ich war damals achtzehn ... rebellisch ... dumm, und ... er hatte mit Drogen zu tun ... Wir haben beinahe einen ganzen Monat zusammengelebt. Sämtliche Afghanen in Virginia haben über uns geredet. Padar hat uns schließlich gefunden. Er tauchte an der Wohnungstür auf und ... hat mich gezwungen, mit ihm nach Hause zurückzukehren. Ich war hysterisch. Habe gekreischt. Gebrüllt. Ihm gesagt, dass ich ihn hasse ... Jedenfalls kehrte ich nach Hause zurück und ...« Sie begann zu weinen. »Entschuldige.« Ich hörte, wie sie den Hörer hinlegte. Sich die Nase putzte. »Tut mir Leid«, sagte sie mit heiserer Stimme, als sie wieder am Apparat war. »Als ich nach Hause zurückkam, erfuhr ich, dass meine Mutter einen Schlaganfall erlitten hatte, die rechte Seite ihres Gesichts war gelähmt und ... ich fühlte mich so schrecklich schuldig. Das hatte sie nicht verdient. Padar ist kurze Zeit später mit uns nach Kalifornien gezogen.«

Es folgte Stille.

»Wie stehen du und dein Vater heute zueinander?«, fragte ich.

»Wir hatten immer schon unsere Meinungsverschiedenheiten, die haben wir auch heute noch, aber ich bin ihm sehr dankbar, dass er mich damals von dort weggeholt hat. Er hat mich gerettet, das weiß ich inzwischen.« Sie schwieg für einen Augenblick, ehe sie hinzufügte: »Macht dir das, was ich dir erzählt habe, etwas aus?«

»Ein bisschen schon«, erwiderte ich. Ich war ihr eine ehrliche Antwort schuldig, wie ich fand. Ich konnte sie nicht anlügen und ihr erklären, dass mein Stolz, mein ißikhar, durch die Tatsache, dass sie schon einmal mit einem Mann zusammen gewesen war, während ich noch niemals mit einer Frau geschlafen hatte, nicht getroffen war. Es störte mich schon ein wenig. Aber ich hatte in den Wochen, bevor ich Baba bat, mit dem General zu sprechen, oft und lange darüber nachgedacht. Und am Ende lief es für mich immer nur auf die eine Frage hinaus: Wie sollte ausgerechnet ich jemanden für seine Vergangenheit bestrafen?

»Ist es so schlimm für dich, dass du deine Meinung nun geändert hast?«

»Nein, Soraya. Ganz und gar nicht«, sagte ich. »Nichts von dem, was du gesagt hast, ändert irgendetwas. Ich möchte, dass wir heiraten.«

Sie brach erneut in Tränen aus.

Ich beneidete sie. Ihr Geheimnis war heraus. Ausgesprochen. Erledigt. Ich öffnete den Mund und hätte ihr beinahe erzählt, wie ich Hassan im Stich gelassen, wie ich gelogen, ihn fortgetrieben und eine vierzigjährige Beziehung zwischen Baba und Ali zerstört hatte. Aber das tat ich nicht. Ich befürchtete, dass Soraya Taheri in vielerlei Hinsicht ein besserer Mensch war als ich. Auf jeden Fall war sie mutiger.

13

Als wir am nächsten Abend vor dem Haus der Taheris ankamen - zur lafz, der Zeremonie des »Wortgebens« -, musste ich den Ford auf der anderen Straßenseite abstellen. Die Einfahrt war schon mit Wagen zugeparkt. Ich trug einen marineblauen Anzug, den ich mir am Tag zuvor gekauft hatte - gleich nachdem ich Baba vom khastegari abgeholt und wieder nach Hause gebracht hatte. Ich überprüfte im Rückspiegel den Sitz meiner Krawatte.

»Du siehst khoshteep aus«, sagte Baba. Schmuck.

»Danke, Baba. Geht es dir gut? Fühlst du dich auch wohl genug?«

»Wohl genug? Dies ist der glücklichste Tag meines Lebens, Amir«, sagte er und lächelte erschöpft.

Ich vernahm Geplapper hinter der Tür, Lachen und leise gespielte afghanische Musik - es klang wie ein klassisches ghazal von Ustad Sarahang. Ich läutete. Ein Gesicht spähte durch die Vorhänge des Dielenfensters und verschwand wieder. »Sie sind da!«, hörte ich eine Frauenstimme rufen. Das Geplapper verstummte. Jemand stellte die Musik ab.

Khanum Taheri öffnete die Tür. »Salaam alaykum«, sagte sie strahlend. Sie hatte eine frische Dauerwelle und trug ein elegantes, knöchellanges, schwarzes Kleid. Als ich in die Diele trat, wurden ihre Augen feucht. »Sie haben kaum das Haus betreten, und schon muss ich weinen, Amir jan«, sagte sie. Ich drückte ihr einen Kuss auf die Hand, wie Baba es mir am Abend zuvor eingeschärft hatte.

Sie führte uns durch einen hell erleuchteten Flur ins Wohnzimmer. An den mit Holz vertäfelten Wänden erblickte ich Fotos von Menschen, die meine neue Familie sein würden: eine junge Khanum Taheri mit aufgebauschtem Haar und der General vor den Niagarafällen. Khanum Taheri in einem nahtlosen Kleid, der General in einem Jackett mit schmalem Revers und schmaler Krawatte, das Haar voll und schwarz; eine winkende und lachende Soraya, die gerade in eine Holzachterbahn steigt und deren Zahnspange im Sonnenlicht glitzert. Ein Foto des Generals - sehr schneidig in seiner Uniform -, auf dem er dem König von Jordanien die Hand schüttelt. Ein Foto von Zahir Shah.

Das Wohnzimmer war mit ungefähr zwei Dutzend Gästen voll gestopft, die auf Stühlen entlang der Wände saßen. Als Baba eintrat, standen alle auf. Wir gingen im Zimmer umher - Baba immer ganz langsam voran und ich direkt hinter ihm -, schüttelten Hände und begrüßten die Gäste. Der General, der wieder seinen grauen Anzug trug, und Baba umarmten sich und tätschelten einander den Rücken. Sie sagten ihre »Salaams« mit respektvoll gedämpfter Stimme.

Der General hielt mich auf Armeslänge entfernt und lächelte wissend, ganz so, als wollte er sagen: »Das ist jetzt der richtige - der afghanische - Weg, es zu tun, bachem.« Wir küssten einander dreimal auf die Wange.

Baba und ich saßen in dem überfüllten Zimmer nebeneinander, gegenüber vom General und seiner Frau. Babas Atmung war ein wenig unregelmäßig geworden, und er wischte sich andauernd mit einem Taschentuch den Schweiß von Stirn und Kopf. Er bemerkte, dass ich ihn ansah, und brachte ein angestrengtes Grinsen zustande. »Alles in Ordnung«, sagte er lautlos.

Soraya war der Tradition entsprechend nicht anwesend.

Es folgten einige Augenblicke, die gefüllt waren mit oberflächlicher Konversation und Geplapper, bis der General sich räusperte. Da wurde es still im Zimmer, und alle blickten respektvoll auf ihre Hände hinab. Der General nickte Baba zu.

Baba räusperte sich ebenfalls. Als er zu sprechen begann, vermochte er nicht in ganzen Sätzen zu reden, ohne zwischendurch Luft zu holen. »General Sahib, Khanum Jamila jan ... mit großer Demut sind mein Sohn und ich ... heute in Ihr Haus gekommen. Sie sind ... ehrenwerte Leute ... stammen aus vornehmen und angesehenen Familien ... und stolzen Geschlechtern. Ich komme mit nichts weiter als dem größten ihtiram ... der größten Achtung für Sie, den Namen Ihrer Familie ... und das Andenken Ihrer Vorfahren.« Er verstummte. Schnappte nach Luft. Wischte sich die Stirn. »Amir jan ist mein einziger Sohn ... mein einziges Kind ... und er ist ein guter Sohn gewesen. Ich hoffe ... er erweist sich Ihrer Güte würdig. Ich bitte Sie, Amir jan und mir die Ehre zu erweisen ... und meinen Sohn in Ihre Familie aufzunehmen.«

Der General nickte höflich.

»Wir fühlen uns geehrt, den Sohn eines Mannes, wie Sie es sind, in unserer Familie willkommen zu heißen«, sagte er. »Ihr Ruf eilt Ihnen voraus. Ich war Ihr demütiger Bewunderer in Kabul und bin es bis zum heutigen Tag. Wir fühlen uns geehrt, dass sich unser beider Familien vereinen werden.

Amir jan, was dich angeht, so heiße ich dich als Sohn, als Ehemann meiner Tochter, die mein Augenstern ist, in meinem Haus willkommen. Dein Schmerz wird unser Schmerz sein, deine Freude unsere Freude. Ich hoffe, dass du Khala Jamila und mich als deine zweiten Eltern ansehen wirst, und ich bete für dein Glück und das unserer lieblichen Soraya. Ihr beide habt unseren Segen.«

Alle applaudierten, und sämtliche Köpfe wandten sich dem Flur zu. Das war der Moment, auf den ich gewartet hatte.

Soraya tauchte an seinem Ende auf. Sie trug ein atemberaubendes weinrotes, traditionelles afghanisches Kleid mit langen Ärmeln und Goldverzierungen. Baba ergriff meine Hand und drückte sie. Khanum Taheri brach erneut in Tränen aus. Soraya kam langsam auf uns zu, gefolgt von einer Prozession junger Frauen aus ihrer Verwandtschaft.

Sie küsste die Hände ihres Vaters und setzte sich schließlich mit gesenktem Blick neben mich.

Der Applaus schwoll an.

Der Tradition gemäß hätte Sorayas Familie die Verlobungsfeier - die Shirini-khori oder Zeremonie des Essens der Süßigkeiten - ausgerichtet. Dann wäre eine Verlobungszeit von mehreren Monaten gefolgt. Im Anschluss daran die von Baba bezahlte Hochzeit.

Wir stimmten alle darin überein, dass Soraya und ich auf die Shirini-khori verzichten sollten. Jeder kannte den Grund, daher musste erst gar nicht ausgesprochen werden, dass Baba so viele Monate nicht mehr zu leben hatte.

Während der Hochzeitsvorbereitungen gingen Soraya und ich kein einziges Mal allein zusammen aus - da wir noch nicht verheiratet waren, nicht einmal eine Shirini-khori gehabt hatten, wurde es als unschicklich angesehen. Also musste ich mich damit zufrieden geben, in Begleitung von Baba zum Abendessen ins Haus der Taheris zu gehen. Soraya am Abendbrottisch gegenüberzusitzen. Mir vorzustellen, wie es sein würde, ihren Kopf auf meiner Brust zu spüren, ihr Haar zu riechen. Sie zu küssen. Mit ihr zu schlafen.

Baba gab 35000 Dollar, beinahe die Ersparnisse seines ganzen Lebens, für die aroussi, die Hochzeitsfeier, aus. Er mietete einen großen afghanischen Festsaal in Fremont - der Mann, dem er gehörte, kannte Baba aus Kabul und gab ihm einen erheblichen Rabatt. Baba bezahlte für die chilas, unsere passenden Trauringe, und für den Diamantring, den ich aussuchte. Er kaufte meinen Smoking und meinen traditionellen grünen Anzug für die nika, die Zeremonie des Schwurs.

Trotz all der fieberhaften Vorbereitungen, die für den Hochzeitsabend getroffen wurden - das meiste davon zum Glück von Khanum Taheri und ihren Freundinnen -, entsinne ich mich bloß noch an einige wenige Augenblicke.

Ich erinnere mich noch an unsere nikah. Wir saßen um einen Tisch, Soraya und ich waren in Grün gekleidet - die Farbe des Islam, aber auch die Farbe des Frühlings und des Neuanfangs. Ich trug einen Anzug, Soraya (die einzige Frau am Tisch) ein langärmliges Kleid mit Schleier. Baba, General Taheri (dieses Mal in einem Smoking) und mehrere von Sorayas Onkeln waren ebenfalls anwesend. Soraya und ich hielten voll feierlichem Respekt die Köpfe gesenkt und warfen einander nur Blicke von der Seite zu. Der Mullah befragte die Zeugen und las aus dem Koran. Wir sprachen unsere Gelübde. Unterzeichneten die Papiere. Einer von Sorayas Onkeln aus Virginia, Sharif jan, Khanum Taheris Bruder, stand auf und räusperte sich. Soraya hatte mir erzählt, dass er seit mehr als zwanzig Jahren in den Vereinigten Staaten lebte. Er arbeitete für die Einwanderungsbehörde und hatte eine amerikanische Frau. Außerdem war er Dichter. Ein kleiner Mann mit einem vogelähnlichen Gesicht und locker liegendem Haar. Er las ein sehr langes Gedicht vor, das er Soraya gewidmet und auf Hotel-Briefpapier notiert hatte. »Wah wah, Sharif jan.'«, riefen alle, als er geendet hatte.

Ich erinnere mich noch, wie ich - inzwischen in meinem Smoking - mit Soraya an der Hand, die einen weißen pari mit Schleier trug, auf die Bühne trat. Baba humpelte neben mir her, der General und seine Frau gingen neben ihrer Tochter. Eine Prozession von Onkeln, Tanten und Cousins folgte uns, als wir durch den Saal und ein Meer von applaudierenden Gästen schritten und in die Blitzlichter der Fotoapparate blinzelten. Einer von Sorayas Cousins, Sharif jans Sohn, hielt einen Koran über unsere Köpfe, während wir langsam voranschritten. Das Hochzeitslied, ahesta boro, ertönte aus den Lautsprechern -das gleiche Lied, das der russische Soldat am Kontrollposten von Mahipar in jener Nacht gesungen hatte, als Baba und ich Kabul verließen:

Verwandele den Morgen in einen Schlüssel, und wirf ihn in den Brunnen, Wandere langsam, mein schöner Mond, wandere langsam.

Lass die Morgensonne vergessen, im Osten aufzugehen. Wandere langsam, mein schöner Mond, wandere langsam.

Ich erinnere mich noch, wie ich auf dem Sofa saß, das wie ein Thron auf der Bühne stand, und Sorayas Hand in der meinen hielt, während uns ungefähr dreihundert Gesichter anblickten. Wir vollführten das Ayena Masshaf, bei dem sie uns einen Spiegel gaben und einen Schleier über unsere Köpfe warfen, damit wir allein sein und das Spiegelbild des anderen betrachten konnten. Als ich Sorayas lächelndes Gesicht in diesem kurzen Augenblick der Ungestörtheit unter dem Schleier in dem Spiegel sah, flüsterte ich ihr zum ersten Mal zu, dass ich sie liebte. Auf ihren Wangen erglühte ein Rot, das an Henna erinnerte.

Ich sehe bunte Platten mit chopan kabob, sholeh-goshti und Orangen-Wildreis vor mir. Ich sehe einen lächelnden Baba zwischen uns auf dem Sofa. Ich erinnere mich an einen Kreis von Männern, die, in Schweiß gebadet, den traditionellen attan tanzen, hüpfen, sich immer schneller zum wilden Tempo der tabla drehen, bis beinahe alle vor Erschöpfung aus dem Kreis ausscheiden. Ich erinnere mich daran, wie ich mir wünschte, Rahim Khan wäre hier. Und ich erinnere mich noch daran, dass ich mich fragte, ob auch Hassan geheiratet hatte. Und wenn ja, wessen Gesicht er wohl unter dem Schleier im Spiegel gesehen hatte? Wessen mit Henna bemalte Hand er wohl gehalten hatte?

Gegen zwei Uhr morgens wechselte die Feier vom Bankettsaal zu Babas Wohnung. Wieder floss der Tee, und Musik spielte, bis die Nachbarn die Polizei riefen. Später in jener Nacht, als die Sonne nur noch eine Stunde vom Aufgang entfernt und die Gäste endlich gegangen waren, lagen Soraya und ich das erste Mal beieinander. Ich hatte mein ganzes Leben mit Männern verbracht. In jener Nacht entdeckte ich zum ersten Mal die Zärtlichkeit einer Frau.

Soraya war diejenige, die vorschlug, dass es das Beste wäre, wenn sie bei Baba und mir einzog.

»Ich dachte, es wäre dir lieber, wenn wir uns eine eigene Wohnung nehmen«, sagte ich.

»Wo Kaka jan so krank ist?«, erwiderte sie. Ihre Augen sagten mir, dass das nicht die richtige Weise war, eine Ehe zu beginnen. Ich küsste sie. »Ich danke dir.«

Soraya kümmerte sich hingebungsvoll um meinen Vater. Sie bereitete ihm am Morgen Toast und Tee zu und half ihm aus dem Bett. Sie verabreichte ihm seine Schmerzmittel, wusch seine Kleidung, las ihm jeden Nachmittag den internationalen Teil der Zeitung vor. Sie kochte ihm sein Lieblingsgericht, Kartoffel-snorwa, obwohl er kaum mehr als ein paar Löffel voll zu essen vermochte, und machte jeden Tag einen kleinen Spaziergang mit ihm um den Block. Und als er bettlägerig wurde, da drehte sie ihn jede Stunde auf die Seite, damit er sich nicht wund lag.

Eines Tages, als ich mit Babas Morphiumpillen aus der Apotheke nach Hause zurückkehrte und die Tür aufschloss, sah ich, wie Soraya schnell etwas unter Babas Decke schob. »Hej, das habe ich gesehen! Was macht ihr zwei denn da?«, sagte ich.

»Nichts«, erwiderte Soraya lächelnd.

»Lügnerin.« Ich hob Babas Decke an. »Was ist denn das?«, fragte ich, obwohl ich, als ich das in Leder gebundene Buch sah, wusste, was vor sich ging. Ich fuhr mit den Fingern über die mit Gold abgesteppten Kanten. Erinnerte mich an das Feuerwerk an jenem Abend, als Rahim Khan es mir geschenkt hatte. An den Abend meines dreizehnten Geburtstages. An die zischenden Raketen, die in roten, grünen und gelben Feuersträußen explodierten.

»Es ist unglaublich, wie du schreibst«, sagte Soraya.

Baba hob mühsam den Kopf vom Kissen. »Ich habe sie dazu angestiftet. Ich hoffe, es macht dir nichts aus.«

Ich gab Soraya das Notizbuch zurück und verließ das Zimmer. Baba konnte es nicht ausstehen, wenn ich weinte.

Einen Monat nach der Hochzeit kamen die Taheris, General Sahib und Khanum Jamila, Sharif, seine Frau Suzy und mehrere von Sorayas Tanten zum Abendessen zu Besuch. Soraya bereitete sabzi challow zu - Reis mit Spinat und Lamm. Nach dem Essen tranken wir alle grünen Tee und spielten in Vierergruppen Karten. Soraya und ich spielten mit Sharif und Suzy am Couchtisch, neben dem Sofa, wo Baba unter einer Wolldecke lag. Er sah zu, wie ich mit Sharif scherzte, wie Soraya und ich die Finger ineinander schlangen, sah zu, wie ich ihr eine Locke, die sich gelöst hatte, aus dem Gesicht strich. Ich sah ihn innerlich lächeln, ein Lächeln, das an den weiten Nachthimmel Kabuls erinnerte, an die Nächte, wenn die Pappeln zitterten und der Gesang der Grillen in den Gärten ertönte.

Kurz vor Mitternacht bat uns Baba, ihm ins Bett zu helfen. Soraya und ich legten seine Arme um unsere Schultern und schlangen die unseren um seinen Rücken. Als wir ihn hingelegt hatten, bat er Soraya, die Nachttischlampe auszuschalten. Bat uns, uns vorzubeugen, und gab uns beiden einen Kuss.

»Ich komme später mit dem Morphium und einem Glas Wasser, Kaka jan«, sagte Soraya.

»Nicht heute Nacht«, sagte er. »Heute Nacht ist da kein Schmerz.«

»In Ordnung«, erwiderte sie. Sie zog ihm die Decke bis zum Kinn hoch. Wir schlossen die Tür.

Baba wachte nicht mehr auf.

Sie füllten die Parkplätze der Moschee in Hayward. Auf dem kahlen Rasenplatz hinter dem Gebäude parkten die Autos in engen, improvisierten Reihen. Die Leute mussten bis zu drei oder vier Straßenblöcke weit fahren, um einen Platz zu finden.

Der Teil der Moschee, der den Männern vorbehalten war, bestand aus einem großen, rechteckigen Raum, der mit afghanischen Teppichen und dünnen Matratzen bedeckt war, die in parallel angeordneten Reihen lagen. Männer kamen nacheinander herein, zogen am Eingang die Schuhe aus und setzten sich im Schneidersitz auf die Matratzen. Aus einem Lautsprecher ertönte der Sprechgesang eines Mullahs, der surahs aus dem Koran vortrug. Ich saß an der Tür, der für die Familie des Verstorbenen vorgesehenen Stelle. General Taheri saß neben mir.

Durch die geöffnete Tür konnte ich die lange Reihe der Autos sehen, die ankamen. Das Sonnenlicht glitzerte auf den Windschutzscheiben. Den Autos entstiegen Männer in dunklen Anzügen, Frauen in schwarzen Kleidern, die Köpfe mit den traditionellen weißen hijabs bedeckt.

Während Worte aus dem Koran im Raum widerhallten, dachte ich an die alte Geschichte über Baba, in der er in Belutschistan mit einem Schwarzbären ringt. Baba hatte sein ganzes Leben lang mit Bären gerungen. Seine junge Frau verloren. Einen Sohn allein groß gezogen. Sein geliebtes Heimatland, sein watan, verlassen. Armut. Demütigung. Am Ende war er auf einen Bären getroffen, den er nicht zu bezwingen vermochte. Aber selbst da hatte er zu seinen eigenen Bedingungen verloren.

Nach jeder Gebetsrunde stellten sich Gruppen von Trauernden hintereinander auf und grüßten mich auf ihrem Weg hinaus. Ich schüttelte ihnen pflichtbewusst die Hände. Viele von ihnen kannte ich kaum. Ich lächelte höflich, dankte ihnen für ihre Wünsche, lauschte, was auch immer sie über Baba zu sagen hatten.

»... hat mir dabei geholfen, das Haus in Taimani zu bauen ...«

»... segne ihn ...«

»... niemanden, an den ich mich wenden konnte, und er hat mir Geld geliehen ...« »... kaum gekannt... aber hat mir Arbeit besorgt...« »... wie ein Bruder für mich ...«

Während ich ihnen zuhörte, wurde mir klar, wie viel von dem, was ich war, was ich darstellte, von Baba und den Spuren, die er im Leben anderer Leute hinterlassen hatte, bestimmt worden war. Mein ganzes Leben lang war ich »Babas Sohn« gewesen. Jetzt war er fort. Baba konnte mir den Weg nicht mehr weisen; ich würde ihn von nun an allein finden müssen.

Der Gedanke jagte mir schreckliche Angst ein.

Zuvor hatte ich am Grab in dem kleinen muslimischen Teil des Friedhofs zugesehen, wie sie Baba in das Loch hinabließen. Der Mullah und ein anderer Mann begannen sich darüber zu streiten, welcher Vers des Koran am Grab gesprochen werden sollte. Die Diskussion hätte noch hitziger werden können, wenn nicht General Taheri eingeschritten wäre. Der Mullah wählte einen Vers und trug ihn vor, wobei er seinen Widersacher mit bösen Blicken bedachte. Ich sah zu, wie sie die erste Schaufel Erde in das Grab fallen ließen. Dann ging ich. Schritt auf die andere Seite des Friedhofs. Setzte mich in den Schatten eines Roten Ahorns.

Nun hatten alle Trauergäste Baba die letzte Ehre erwiesen, und die Moschee war bis auf den Mullah, der das Mikrofon ausstöpselte und den Koran in ein grünes Tuch hüllte, leer. Der General und ich traten in die späte Nachmittagssonne hinaus. Wir schritten die Stufen hinunter, vorbei an Männern, die in Gruppen zusammenstanden und rauchten. Ich vernahm Gesprächsfetzen. Es ging um ein Fußballspiel in Union City, das am nächsten Wochenende stattfand, ein neues afghanisches Restaurant in Santa Clara. Das Leben ging bereits weiter, ließ Baba zurück.

»Wie geht es dir, bachem?«, fragte General Taheri.

Ich biss die Zähne zusammen. Hielt die Tränen zurück, die den ganzen Tag zu fließen gedroht hatten. »Ich werde Soraya suchen«, sagte ich. »In Ordnung.«

Ich ging zur Frauenseite der Moschee. Soraya stand mit ihrer Mutter und ein paar Frauen, an die ich mich noch vage von unserer Hochzeitsfeier erinnerte, auf den Stufen. Ich bedeutete ihr herüberzukommen.

»Können wir ein paar Schritte gehen?«, fragte ich.

»Natürlich.« Sie nahm meine Hand.

Wir gingen schweigend einen gewundenen Kiesweg entlang, der von niedrigen Hecken gesäumt wurde. Wir setzten uns auf eine Bank und beobachteten ein älteres Ehepaar, das einige Reihen entfernt neben einem Grab kniete und einen dicken Strauß Tausendschönchen an den Grabstein legte. »Soraya?«

»Ja?«

»Ich werde ihn vermissen.«

Sie legte ihre Hand auf meinen Schoß. Babas chila glitzerte an ihrem Ringfinger. Hinter ihr konnte ich sehen, wie Babas Trauergäste über den Mission Boulevard davonfuhren. Bald schon würden auch wir uns auf den Rückweg machen, und Baba würde zum ersten Mal ganz allein sein.

Soraya zog mich an sich, und endlich ließ ich den Tränen freien Lauf.

Da Soraya und ich keine Verlobungszeit gehabt hatten, erfuhr ich viele Dinge über die Taheris erst, nachdem ich in ihre Familie eingeheiratet hatte. Zum Beispiel, dass der General einmal im Monat an einer furchtbaren Migräne litt, die beinahe eine Woche lang anhielt. Wenn der Kopfschmerz kam, ging der General in sein Zimmer, zog sich aus, löschte das Licht, schloss die Tür ab und kam erst wieder heraus, wenn der Schmerz nachgelassen hatte. Niemandem war es erlaubt, das Zimmer zu betreten, niemand durfte klopfen. Irgendwann tauchte er mit verschwollenen, blutunterlaufenen Augen wieder auf, trug seinen grauen Anzug und roch nach Schlaf und Bettlaken. Ich erfuhr von Soraya, dass Khanum Taheri und er schon so lange sie sich erinnern konnte in getrennten Zimmern schliefen. Ich erfuhr, dass er manchmal kleinlich war, zum Beispiel, wenn er einen Bissen von dem qurma probierte, das seine Frau vor ihn hingestellt hatte, um dann einen Seufzer auszustoßen und es wegzuschieben. »Ich werde dir etwas anderes zubereiten«, sagte Khanum Taheri darauf für gewöhnlich, er aber ignorierte sie und aß schmollend Brot und Zwiebeln. Das machte Soraya wütend und brachte ihre Mutter zum Weinen. Soraya erklärte mir, dass er Antidepressiva nahm. Ich erfuhr, dass die Familie von der Fürsorge lebte und er in den USA noch kein einziges Mal versucht hatte, sich Arbeit zu suchen - er zog es vor, von der Regierung ausgestellte Schecks einzulösen, statt sich mit Arbeit zu erniedrigen, die für einen Mann von seinem Rang unangemessen war. Den Trödelmarkt betrachtete er als Hobby, als eine Möglichkeit, sich mit anderen Afghanen zu treffen. Der General glaubte, dass Afghanistan über kurz oder lang befreit und die Monarchie wieder hergestellt werden würde. Dann würde man auch seine Dienste wieder benötigen. Und so legte er jeden Tag seinen grauen Anzug an, zog seine Taschenuhr auf und wartete.

Ich erfuhr, dass Khanum Taheri - die ich jetzt Khala Jamila nannte - einmal in Kabul für ihre wundervolle Stimme berühmt gewesen war. Auch wenn sie das Singen nie zum Beruf gemacht hatte, hatte sie doch das Talent dazu gehabt. Ich erfuhr, dass sie Volkslieder singen konnte, ghazals, sogar raga, was für gewöhnlich eine Männerdomäne war. Aber sosehr der General die Musik auch liebte - er besaß eine beachtliche Sammlung von Aufnahmen klassischer ghazals, auf denen afghanische und Hindi-Sänger zu hören waren -, so war er doch der Ansicht, dass man das Singen besser denen überlassen sollte, die ein weniger hohes Ansehen genossen. Es war eine seiner Bedingungen vor der Hochzeit gewesen, dass seine Frau niemals in der Öffentlichkeit auftreten würde. Soraya erzählte mir, dass ihre Mutter sehr gern bei unserer Hochzeit gesungen hätte - ein einziges Lied nur -, dass der General ihr aber nur einen seiner Blicke zugeworfen hatte und die Angelegenheit damit erledigt gewesen war. Khala Jamila spielte einmal in der Woche Lotto und sah sich jeden Abend im Fernsehen Johnny Carson an. Sie verbrachte die Tage im Garten, kümmerte sich um ihre Rosen, Geranien, Kartoffeln und Orchideen.

Durch meine Hochzeit mit Soraya gerieten die Rosen, Geranien, Kartoffeln und Orchideen und Johnny Carson in den Hintergrund. Ich war die neue Freude in Khala Jamilas Leben. Im Gegensatz zum General mit seinem reservierten und diplomatischen Verhalten - er verbesserte mich nicht, als ich fortfuhr, ihn »General Sahib« zu nennen -machte Khala Jamila kein Geheimnis daraus, wie sehr sie mich anbetete. Zum einen lauschte ich ihrer eindrucksvollen Liste von Leiden, denen der General schon lange keine Aufmerksamkeit mehr schenkte. Soraya gestand mir, dass seit dem Schlaganfall ihrer Mutter jedes Flattern in ihrer Brust ein Herzanfall war, jedes schmerzende Gelenk chronischer Rheumatismus und jedes Zucken des Auges ein weiterer Schlaganfall. Ich weiß noch, wie Khala Jamila mir gegenüber das erste Mal einen Knoten im Nacken erwähnte. »Ich werde meine Seminare morgen schwänzen und dich zum Arzt fahren«, erklärte ich, woraufhin der General lächelte und sagte: »Dann kannst du dich gleich exmatrikulieren lassen, bachem. Das Krankenblatt deiner Khala ist wie das Werk von Rumi: Es umfasst mehrere Bände.«

Aber es lag nicht nur daran, dass sie ein Publikum für ihre Krankenmonologe gefunden hatte. Ich bin der festen Überzeugung, dass ich, wenn ich nach einer Waffe gegriffen hätte und Amok gelaufen wäre, mir immer noch ihrer unerschütterlichen Liebe hätte sicher sein können. Denn ich hatte ihr Herz von seinem schwersten Leiden erlöst. Ich hatte ihr die größte Angst genommen, die eine afghanische Mutter haben kann: dass kein ehrenwerter khastegar um die Hand ihrer Tochter anhalten würde. Dass ihre Tochter allein alt werden würde, ohne Ehemann, ohne Kinder. Jede Frau brauchte einen Ehemann. Selbst wenn er die Lieder in ihr zum Verstummen brachte.

Und schließlich erfuhr ich, von Soraya, auch die Details der Geschehnisse in Virginia.

Wir waren auf einer Hochzeit. Sorayas Onkel Sharif, der, der bei der Einwanderungsbehörde arbeitete, verheiratete seinen Sohn mit einem afghanischen Mädchen aus Newark. Die Hochzeit fand in demselben Saal statt, in dem Soraya und ich sechs Monate zuvor unsere aroussi gefeiert hatten. Wir standen inmitten einer Gruppe von Gästen und sahen zu, wie die Braut von der Familie des Bräutigams die Ringe entgegennahm, als wir die Unterhaltung zweier Frauen mittleren Alters mit anhörten, die mit den Rücken zu uns standen.

»Was für eine hübsche Braut«, sagte die eine. »Sieh sie doch nur an. So maghbool wie der Mond.«

»Ja«, stimmte die andere zu. »Und rein dazu. Tugendhaft. Keine Liebschaften.«

»Ich weiß. Es war schon gut, dass der Junge nicht seine Cousine geheiratet hat.«

Auf dem Nachhauseweg brach Soraya in Tränen aus. Ich fuhr den Ford an den Straßenrand und parkte unter einer Laterne am Fremont Boulevard.

»Ist doch schon gut«, sagte ich und schob ihr Haar zurück. »Die können uns doch egal sein.«

»Es ist aber so verdammt unfair«, stieß sie hervor. »Vergiss es einfach.«

»Ihre Söhne besuchen Nachtclubs, um Frauen aufzureißen, schwängern ihre Freundinnen, haben uneheliche Kinder, und kein Mensch verliert auch nur ein verdammtes Wort darüber. Oh, es sind ja bloß Männer, die ihren Spaß haben! Ich begehe einen einzigen Fehler, und plötzlich redet jeder über nang und namoos, und ich muss es mir für den Rest meines Lebens unter die Nase reiben lassen.«

Ich wischte ihr eine Träne von der Wange, genau über ihrem Muttermal.

»Ich habe dir das bisher noch nicht erzählt«, sagte Soraya und tupfte sich die Augen ab, »aber mein Vater ist an jenem Abend mit einer Pistole aufgetaucht. Er hat... ihm... gesagt, dass er zwei Kugeln in der Trommel habe, eine für ihn und eine für sich selbst, wenn ich nicht nach Hause käme. Ich habe geschrien, habe meinen Vater furchtbar beschimpft, ihm erklärt, dass er mich nicht bis in alle Ewigkeit einschließen könne, dass ich wünschte, er wäre tot.« Frische Tränen tropften zwischen ihren Lidern hervor. »Ich habe ihm tatsächlich gesagt, dass ich wünschte, er wäre tot.

Als er mich nach Hause brachte, schloss mich meine Mutter in die Arme und weinte auch. Sie sagte Dinge, die ich nicht verstehen konnte, weil sie so schrecklich undeutlich sprach. Mein Vater ging mit mir nach oben in mein Zimmer und setzte mich vor den Spiegel der Frisierkommode. Er reichte mir eine Schere und bat mich mit ruhiger Stimme, mir die Haare abzuschneiden. Er sah mir dabei zu.

Ich bin wochenlang nicht aus dem Haus gegangen. Und als ich es schließlich tat, da vernahm ich überall, wohin ich auch ging, Flüstern, ich glaubte es zumindest. Das war vor vier Jahren und dreitausend Meilen weit entfernt, und ich höre es immer noch.«

»Die kümmern uns einen feuchten Dreck«, sagte ich.

Sie gab einen Laut von sich, der halb Schluchzen, halb Lachen war. »Als ich dir an dem Tag, als dein Vater bei uns war und um meine Hand anhielt, diese Dinge gesagt habe, da war ich mir sicher, dass du es dir anders überlegen würdest.«

»Oh nein, auf keinen Fall, Soraya.«

Sie lächelte und nahm meine Hand. »Welch ein Glück, dass ich dich gefunden habe. Du bist so anders als all die übrigen afghanischen Männer, die ich getroffen habe.« »Lass uns nicht mehr darüber reden, in Ordnung?« »In Ordnung.«

Ich küsste sie auf die Wange und fuhr wieder los. Unterwegs fragte ich mich, warum ich wohl anders war. Vielleicht lag es daran, dass ich von Männern erzogen worden war. Ich war nicht mit Frauen aufgewachsen und hatte so niemals Erfahrungen aus erster Hand mit der Doppelmoral machen können, mit der die afghanische Gesellschaft Frauen manchmal behandelte. Vielleicht lag es auch daran, dass Baba ein so ungewöhnlicher afghanischer Vater gewesen war, ein Liberaler, der nach seinen eigenen Regeln gelebt hatte, ein Alleingänger, der die Sitten und Gebräuche der Gesellschaft, in der er lebte, missachtete oder annahm, wie es ihm gefiel.

Aber ich glaube, dass der Hauptgrund, warum mir Sorayas Vergangenheit egal war, darin lag, dass ich meine eigene hatte. Ich wusste sehr gut darüber Bescheid, wie es war, wenn man etwas schrecklich bedauerte.

Kurz nach Babas Tod zogen Soraya und ich in ein kleines Apartment in Fremont, nicht weit von des Generals und Khala Jamilas Haus entfernt. Sorayas Eltern schenkten uns zum Einzug ein braunes Ledersofa und ein Service von Mikasa. Der General machte mir ein zusätzliches Geschenk: eine brandneue IBM-Schreibmaschine. Er hatte eine Notiz mit einigen Worten in Farsi in den Karton geschoben.

Amir jan,

ich hoffe, du wirst auf diesen Tasten viele Geschichten entdecken.

General Iqbal Taheri

Ich verkaufte Babas VW-Bus und bin bis heute auf keinem Trödelmarkt mehr gewesen. Ich fuhr jeden Freitag zu Babas Grab, und manchmal lag da ein frischer Strauß Freesien am Grabstein, und dann wusste ich, dass Soraya da gewesen war.

Soraya und ich begannen uns an die Routine - und die kleinen Wunder - des Ehelebens zu gewöhnen. Wir teilten Zahnbürsten und Socken, reichten einander die Zeitung. Sie schlief auf der rechten Seite des Betts, ich bevorzugte die linke. Sie mochte weiche Kissen, ich mochte feste. Sie aß ihr Müsli trocken, wie einen Snack, und ich gab Milch dazu.

In jenem Sommer wurde ich an der San Jose State University angenommen, wo ich im Hauptfach Englisch studierte. Ich begann in einem Möbellager in Sunnyvale als Wachmann zu arbeiten und übernahm die Spätschicht. Der Job war furchtbar langweilig, besaß aber einen beachtlichen Vorteil: Wenn um sechs Uhr abends alle nach Hause gingen und sich die Schatten zwischen die Reihen der mit Plastik überzogenen Sofas schlichen, die bis zur Decke gestapelt waren, nahm ich meine Bücher heraus und lernte. Und in jenem nach Pine Sol duftenden Büro begann ich auch meinen ersten Roman.

Soraya nahm im folgenden Jahr ebenfalls ihr Studium an der San Jose State University auf und schrieb sich zum großen Bedauern ihres Vaters für ein Lehramtsstudium ein.

»Ich weiß wirklich nicht, warum du deine Talente so vergeudest«, sagte der General eines Abends beim Essen. »Wusstest du, dass sie in der Highschool nur Einsen gehabt hat, Amir jan?« Er wandte sich ihr zu. »Ein intelligentes Mädchen wie du könnte doch Anwältin werden, Politologin. Und, inshallah, wenn Afghanistan wieder frei ist, könntest du dabei helfen, die neue Verfassung zu entwerfen. Es wird einen Bedarf an jungen, talentierten Afghanen wie dir geben. Sie würden dir bei deinem Familiennamen vielleicht sogar einen Ministerposten anbieten.«

Ich konnte sehen, dass Soraya sich zurückhielt. Ihr Gesicht wirkte angespannt.

»Ich bin kein Kind mehr, Padar. Ich bin eine verheiratete Frau. Außerdem werden sie auch Lehrer brauchen.«

»Unterrichten kann doch jeder.«

»Ist noch etwas Reis da, Madar?«, fragte Soraya.

Nachdem sich der General entschuldigt hatte, weil er sich mit einigen Freunden in Hayward treffen wollte, versuchte Khala Jamila Soraya zu trösten. »Er meint es doch nur gut«, sagte sie. »Er möchte, dass du Erfolg hast.«

»Damit er bei seinen Freunden mit seiner Anwaltstochter angeben kann. Wieder ein neuer Orden für den General«, sagte Soraya. »Red nicht so dummes Zeug!«

»Erfolg!«, zischte Soraya. »Zumindest bin ich nicht wie er und sitze herum, während andere Leute gegen die Shorawi kämpfen. Er wartet doch nur darauf, dass sich der Staub legt, damit er vortreten und seine feine kleine Regierungsstellung zurückverlangen kann. Unterrichten mag nicht gut bezahlt sein, aber es ist nun einmal das, was ich tun möchte! Mein Herz hängt daran, und es ist übrigens ein ganzes Stück besser, als von der Fürsorge zu leben!«

Khala Jamila biss sich auf die Zunge. »Wenn er dich das jemals sagen hört, wird er nie wieder mit dir reden.«

»Kein Sorge«, stieß Soraya hervor und warf ihre Serviette auf den Teller. »Ich werde seinem kostbaren Ego schon keinen Schaden zufügen.«

Im Sommer des Jahres 1988, ungefähr ein halbes Jahr bevor die Sowjets sich aus Afghanistan zurückzogen, beendete ich meinen ersten Roman, eine Vater-Sohn-Geschichte, die in Kabul spielt. Ich schrieb ihn beinahe vollständig auf der Schreibmaschine, die mir der General geschenkt hatte. Ich schickte einige Kapitel an rund ein Dutzend Agenturen und war verblüfft, als ich an einem Augusttag beim Offnen der Post den Brief einer New Yorker Agentur in den Händen hielt, in dem sie mich baten, ihnen das komplette Manuskript zuzusenden. Ich schickte es gleich am nächsten Tag ab. Soraya küsste die sorgfältig verpackten Seiten, und Khala Jamila bestand darauf, es einmal unter dem Koran hindurchzureichen. Sie erklärte mir, dass sie ein nazr für mich ablegen würde, ein Gelübde, ein Schaf schlachten zu lassen und das Fleisch an die Armen zu verteilen, wenn mein Buch angenommen werden sollte.

»Bitte kein nazr, Khala jan«., sagte ich und küsste ihr Gesicht. »Die zakat ist völlig ausreichend. Und den Armen ist mit Geld sicherlich mehr gedient. Bitte lass kein Schaf schlachten.«

Sechs Wochen später rief ein Mann namens Martin Greenwalt aus New York an und erkundigte sich, ob er mich vertreten dürfe. Ich erzählte Soraya davon. »Aber bloß weil ich jetzt einen Agenten habe, heißt das ja noch lange nicht, dass das Buch auch veröffentlicht wird. Erst wenn Martin den Roman verkauft, werden wir feiern.«

Einen Monat später rief Martin an und teilte mir mit, dass ich schon bald der Autor eines veröffentlichten Romans sein würde. Als ich Soraya davon erzählte, stieß sie einen Freudenschrei aus.

An jenem Abend kamen Sorayas Eltern zur Feier des Tages zum Essen. Khala Jamila brachte kqfta mit - Fleischbällchen und Reis - und zum Dessert Schokoladen-ferni. Der General erklärte mir mit einem feuchten Glanz in den Augen, dass er sehr stolz auf mich sei. Nachdem General Taheri und seine Frau gegangen waren, feierten Soraya und ich mit einer teuren Flasche Merlot, die ich auf dem Nachhauseweg gekauft hatte - der General hieß es nicht gut, wenn Frauen Alkohol tranken, und daher tat es Soraya in seiner Gegenwart nicht.

»Ich bin so stolz auf dich«, sagte sie und hob ihr Glas, um mit mir anzustoßen. »Kaka wäre auch stolz auf dich gewesen.«

»Ich weiß«, sagte ich und wünschte mir, er könnte mich jetzt sehen.

Später am Abend, nachdem Soraya, die Wein immer müde machte, schon eingeschlafen war, stand ich auf dem Balkon und atmete die kühle Sommerluft ein. Ich dachte an Rahim Khan und an die ermunternden Zeilen, die er mir nach der Lektüre meiner ersten Geschichte geschrieben hatte. Und ich dachte an Hassan. Eines Tages, inshallah, wirst du ein großartiger Schrißsteller sein, hatte er einmal gesagt, und die Menschen auf der ganzen Welt werden deine Geschichten lesen. Es gab so viel Gutes in meinem Leben. So viel Glück. Womit hatte ich das nur alles verdient?

Der Roman erschien im folgenden Jahr, im Sommer 1989, und der Verlag schickte mich auf eine Lesereise in fünf Städte. Ich wurde zu einer kleinen Berühmtheit in der afghanischen Gemeinde. In dem Jahr beendeten die Shorawi ihren Rückzug aus Afghanistan. Es hätte eigentlich eine herrliche Zeit für alle Afghanen sein sollen. Stattdessen tobte der Krieg weiter - dieses Mal kämpften Afghanen gegeneinander: die Mudjaheddin gegen die von den Sowjets eingesetzte Marionettenregierung von Najibullah. Und afghanische Flüchtlinge strömten weiter nach Pakistan. Das war das Jahr, in dem der Kalte Krieg endete, das Jahr, in dem die Berliner Mauer fiel. Das Jahr des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Und über diesen ganzen Ereignissen wurde Afghanistan vergessen. Und General Taheri, dessen Hoffnungen nach dem Abzug der Sowjets erwacht waren, machte sich wieder daran, seine Taschenuhr aufzuziehen.

Das war auch das Jahr, in dem Soraya und ich zu versuchen begannen, ein Kind zu bekommen.

Die Vorstellung von der Vaterschaft löste einen Wirbel von Empfindungen in mir aus. Ich empfand sie als beängstigend, belebend, entmutigend und aufregend zugleich. Ich fragte mich, was ich wohl für einen Vater abgeben würde. Ich wollte genauso sein wie Baba und doch wieder ganz anders als er.

Aber ein Jahr verging, und nichts geschah. Mit jeder Menstruation wurde Soraya frustrierter, ungeduldiger, gereizter. Inzwischen waren Khala Jamilas anfänglich subtile Andeutungen zu offenen Fragen geworden, wie zum Beispiel, wenn sie sagte: »Kho dega!« Also: »Wann werde ich denn ein alahoo für mein kleines nawasa singen können?« Der General, durch und durch Paschtune, stellte nie irgendwelche Fragen - denn das hätte bedeutet, auf einen sexuellen Akt zwischen seiner Tochter und einem Mann anzuspielen, auch wenn der fragliche Mann schon seit vier Jahren mit ihr verheiratet war. Aber seine Augen lebten auf, wenn uns Khala Jamila wegen eines Babys neckte.

»Manchmal dauert es eben eine Weile«, sagte ich eines Nachts zu Soraya.

»Ein Jahr ist keine Weile, Amir!«, erwiderte sie schroff, was gar nicht ihre Art war. »Irgendetwas stimmt nicht, da bin ich mir sicher.« »Dann lass uns zum Arzt gehen.«

Dr. Rosen, ein beleibter Mann mit einem rundlichen Gesicht und kleinen ebenmäßigen Zähnen, sprach mit einem leichten osteuropäischen Akzent. Er hatte eine Leidenschaft für Eisenbahnen - seine Praxis war voll gestopft mit Büchern über die Geschichte der Eisenbahn, mit Modelllokomotiven, Gemälden von Zügen, die auf Gleisen zwischen grünen Hügeln und über Brücken dahinrollten. Auf einem Schild über seinem Schreibtisch stand: »Das Leben ist ein Zug. Steigen Sie ein.«

Er entwarf einen Plan für uns. Ich kam als Erster an die Reihe. »Männer sind nicht kompliziert«, sagte er und trommelte mit den Fingern auf seinen Mahagoni-Schreibtisch. »Die Genitalien eines Mannes sind wie sein Verstand: simpel, sehr wenige Überraschungen. Aber die Damen sind da schon anders ... nun, der liebe Gott hat sich eben Gedanken gemacht, als er Sie und Ihre Geschlechtsgenossinnen erschuf.« Ich fragte mich, ob er diese Bemerkungen wohl bei allen Paaren anbrachte, die zu ihm kamen.

»Da sind wir ja richtige Glückspilze«, sagte Soraya.

Dr. Rosen lachte. Es klang beinahe echt. Aber nur beinahe. Er gab mir einen Laborzettel und ein Plastikgefäß und Soraya eine Überweisung für eine Reihe von Blutuntersuchungen.

Wir schüttelten einander die Hände. »Willkommen an Bord«, sagte er, als er uns hinausbegleitete.

Ich schnitt glänzend ab.

Und bei Soraya jagte in den nächsten Monaten ein Test den anderen: Basal-Körpertemperatur-Messungen, Bluttests für jedes nur erdenkliche Hormon, Urintests, ein so genannter Gebärmutterhalsabstrich, Ultraschall, noch mehr Bluttests und noch mehr Urintests. Soraya unterzog sich einem Verfahren, das sich Hysteroskopie nannte, dabei sah sich Dr. Rosen mit einem Hysteroskop in ihrer Gebärmutter um. Er fand nichts. »Alles an Ort und Stelle«, verkündete er und zog sich mit einem schnappenden Geräusch die Latexhandschuhe von den Händen. Als die Tests vorüber waren, eröffnete er uns, dass er keine Erklärung dafür hatte, warum wir keine Kinder bekommen konnten. Offenbar war das gar nicht so ungewöhnlich.

Dann folgte die Behandlungsphase. Wir versuchten es mit einem Medikament und einer Reihe von Spritzen, die sich Soraya selbst gab. Als das fehlschlug, riet uns Dr. Rosen zur künstlichen Befruchtung. Wir erhielten ein höfliches Schreiben unserer Krankenkasse, in dem man uns viel Glück wünschte, es aber bedauerte, dass man für diese Kosten nicht aufkommen könne.

Wir benutzten den Vorschuss für meinen Roman, um dafür zu bezahlen. Die künstliche Befruchtung erwies sich als eine langwierige, umständliche, frustrierende und letztendlich erfolglose Angelegenheit. Nach monatelangem Herumsitzen in Wartezimmern und der Lektüre von Zeitschriften wie Good Housekeeping und Readers Digest, nach endlosen kalten und sterilen Untersuchungsräumen, die nur von Neonlampen beleuchtet waren, der wiederholten Demütigung, jedes Detail unseres Liebeslebens mit einem völlig Fremden diskutieren zu müssen, Unmengen von Spritzen und Sonden und Probeentnahmen, kehrten wir wieder zu Dr. Rosen und seinen Eisenbahnen zurück.

Er saß uns gegenüber, trommelte mit den Fingern auf seinen Schreibtisch und benutzte zum ersten Mal das Wort »Adoption«. Soraya weinte auf dem ganzen Nachhauseweg.

Soraya eröffnete ihren Eltern die Neuigkeit an dem Wochenende nach unserem letzten Besuch bei Dr. Rosen. Wir saßen auf Klappstühlen im Garten der Taheris, grillten Forellen und tranken Joghurt-dog/j. Es war ein früher Märzabend im Jahr 1991. Khala Jamila hatte ihre Rosen und ihre frisch gepflanzte Heckenkirsche gegossen, und der Duft vermischte sich mit dem Geruch der gar werdenden Fische. Schon zweimal hatte sie sich aus ihrem Stuhl vorgebeugt, um Soraya über das Haar zu streichen und zu sagen: »Gott weiß, was das Beste für uns ist, bachem. Vielleicht sollte es einfach nicht sein.«

Soraya blickte immer wieder auf ihre Hände hinunter. Ich wusste, dass sie müde war, dieser ganzen Dinge müde. »Der Arzt hat gesagt, wir sollten über eine Adoption nachdenken«, murmelte sie.

General Taheris Kopf zuckte hoch. Er schloss den Deckel des Grills. »Hat er das?«

»Er sagte, es sei eine Möglichkeit«, erwiderte Soraya.

Wir hatten uns schon zu Hause über eine Adoption unterhalten. Soraya wurde von widersprüchlichen Gefühlen geplagt. »Ich weiß, dass es albern ist und vielleicht auch eitel«, kam sie im Auto, auf dem Weg zum Haus ihrer Eltern, noch einmal darauf zu sprechen. »Aber ich kann einfach nicht anders. Ich habe immer davon geträumt, dass ich das Baby einmal in dem Bewusstsein in den Armen halten würde, dass mein Blut es neun Monate lang versorgt hat, dass ich eines Tages in seine Augen blicken und voller Erstaunen dich oder mich in ihm sehen würde, dass das Baby heranwachsen und dein oder mein Lächeln haben würde. Aber ohne all das ... Ist das falsch?«

»Nein«, erwiderte ich.

»Bin ich egoistisch?«

»Nein, Soraya.«

»Denn wenn du es wirklich gern tun würdest...«

»Nein«, sagte ich. »Wenn wir es tun, dann sollten wir keinerlei Zweifel haben und uns absolut einig sein. Sonst wäre es dem Kind gegenüber nicht fair.« Sie lehnte den Kopf ans Fenster und sagte nichts mehr.

Nun saß der General neben ihr. »Bachem, diese ... Adoptionssache ... also, ich weiß nicht so recht, ob das etwas für uns Afghanen ist.« Soraya blickte mich erschöpft an und seufzte.

»Zum einen werden die Kinder größer und wollen wissen, wer ihre biologischen Eltern sind«, sagte er. »Und das kann man ihnen schwerlich vorwerfen. Manchmal verlassen sie das Zuhause, in dem du dich jahrelang abgeschunden hast, um für sie zu sorgen, und suchen nach den Menschen, die ihnen das Leben geschenkt haben. Blut besitzt eine ganz besondere Macht, bachem, das solltest du nie vergessen.«

»Ich möchte nicht mehr darüber reden«, sagte Soraya.

»Eins lass mich noch sagen«, erwiderte er. Ich befürchtete, dass er sich langsam warm redete; wir würden wohl einen der kleinen Vorträge des Generals zu hören bekommen. »Nimm doch nur einmal Amir jan hier. Wir alle kannten seinen Vater, ich weiß, wer sein Großvater in Kabul war und sein Urgroßvater vor ihm. Ich könnte hier sitzen und Generationen seiner Vorfahren zurückverfolgen, wenn du mich darum bitten würdest. Das ist der Grund, warum ich, als sein Vater - er möge in Frieden ruhen - für seinen Sohn um deine Hand anhielt, nicht gezögert habe. Und du kannst mir glauben, dass sein Vater nicht zugestimmt hätte, um deine Hand zu bitten, wenn er nicht gewusst hätte, wessen Nachkomme du bist. Blut besitzt eine ganz besondere Macht, bachem, und bei einer Adoption weißt du nicht, wessen Blut du dir in dein Haus holst. Wenn du Amerikanerin wärest, würde es keine Rolle spielen. Die Leute hier heiraten aus Liebe, der Familienname und die Vorfahren spielen dabei überhaupt keine Rolle. Und so adoptieren sie auch -solange das Baby nur gesund ist, sind alle glücklich. Aber wir sind Afghanen, bachem.«

»Ist der Fisch nicht langsam gar?«, fragte Soraya. General Taheris Augen verweilten auf ihr. Er tätschelte ihr Knie. »Freu dich einfach darüber, dass du gesund bist und einen guten Ehemann hast.«

»Wie ist deine Meinung, Amir jan?«, fragte Khala Jamila.

Ich stellte mein Glas auf das Fenstersims, wo eine ganze Reihe Geranien in Blumentöpfen stand, von denen Wasser herabtropfte. »Ich stimme General Sahib zu.« Der General nickte beruhigt und wandte sich wieder dem Grill zu.

Wir alle hatten unsere Gründe, die gegen eine Adoption sprachen. Soraya hatte ihre, der General seine, und ich hatte diesen einen: dass vielleicht irgendetwas, irgendjemand irgendwo entschieden hatte, mir die Vaterschaft aufgrund der Dinge, die ich getan hatte, zu versagen. Vielleicht war das meine Strafe und vielleicht sogar eine gerechte dazu. Vielleicht sollte es einfach nicht sein, hatte Khala Jamila gesagt. Oder vielleicht sollte es eben genau so sein.

Einige Monate später benutzten wir den Vorschuss meines zweiten Romans als Anzahlung für ein hübsches viktorianisches Haus mit zwei Schlafzimmern in Bernal Heights, einem Stadtteil von San Francisco. Es hatte ein Spitzdach, Holzböden und einen winzigen Garten, an dessen Ende sich eine Sonnenterrasse und eine Vertiefung zum Grillen befanden. Der General half mir dabei, die Terrasse auf Hochglanz zu bringen und die Wände zu streichen. Khala Jamila beklagte, dass wir beinahe eine Stunde von ihnen entfernt wohnen würden, vor allem weil sie glaubte, dass Soraya so viel Liebe und Unterstützung wie nur möglich nötig habe - ohne sich bewusst zu sein, dass gerade ihr gut gemeintes, aber übertriebenes Mitgefühl Soraya zu einem Umzug bewogen hatte.

Manchmal, wenn Soraya ruhig neben mir schlief, lag ich wach im Bett, horchte auf die Tür mit dem Insektengitter, die im Wind aufschwang und wieder zufiel, auf das Zirpen der Grillen im Garten. Und ich konnte geradezu die Leere in Sorayas Leib spüren, wie ein lebendes, atmendes Ding. Diese Leere hatte sich in unsere Ehe geschlichen, in unser Lachen und in unser Liebesspiel. Und in der Nacht spürte ich in der Dunkelheit unseres Zimmers, wie sie von Soraya aufstieg und sich zwischen uns legte. Zwischen uns schlief. Wie ein neugeborenes Kind.

14

Juni 2001

Ich legte den Hörer auf die Gabel und starrte lange Zeit auf den Apparat. Erst als Aflatoon mich mit einem Kläffen aufschreckte, bemerkte ich, wie ruhig es im Zimmer geworden war. Soraya hatte den Ton des Fernsehers ausgeschaltet.

»Du siehst blass aus, Amir«, sagte sie, auf dem Sofa liegend, das uns ihre Eltern zum Einzug in unsere erste Wohnung geschenkt hatten. Sie hatte die Beine unter den abgenutzten Kissen vergraben, während Aflatoon seinen Kopf an ihren Brustkasten schmiegte. Sie war halb damit beschäftigt, sich eine Dokumentation über Wölfe in Minnesota anzusehen, und halb damit, Aufsätze zu korrigieren - sie unterrichtete schon seit sechs Jahren an derselben Schule. Nun setzte sie sich auf, und Aflatoon sprang vom Sofa herunter. Es war der General, der unserem Cockerspaniel den Namen Aflatoon gegeben hatte - das Farsi-Wort für Plato -, weil man, wie er behauptete, wenn man ganz tief und lange genug in die verschleierten schwarzen Augen des Hundes blickte, hätte schwören können, dass ihn kluge Gedanken beschäftigten.

Da war nun ein Scheibchen Fett, eine bloße Andeutung, unter Sorayas Kinn. Die letzten zehn Jahre hatten die Kurven ihrer Hüften ein wenig gepolstert und ein paar aschgraue Strähnen in ihr rabenschwarzes Haar gewoben. Aber mit ihren Augenbrauen, die an Vögel im Flug erinnerten, und ihrer Nase, die so elegant geschwungen war wie ein Buchstabe aus alten arabischen Schriften, hatte sie immer noch das Gesicht einer Ballprinzessin.

»Du siehst blass aus«, wiederholte Soraya und legte den Papierstapel, den sie in der Hand hielt, auf den Tisch.

»Ich muss nach Pakistan.«

Jetzt stand sie auf. »Nach Pakistan?«

»Rahim Khan ist sehr krank.« Bei diesen Worten ballte sich etwas in meinem Innern zur Faust.

»Kakas alter Geschäftspartner?« Sie hatte Rahim Khan nie kennen gelernt, aber ich hatte ihr von ihm erzählt. Ich nickte.

»Oh«, sagte sie. »Das tut mir Leid, Amir.«

»Wir standen uns einmal sehr nah«, sagte ich. »Als Kind war er der erste Erwachsene für mich, den ich als Freund betrachtete.« Ich sah die beiden vor mir, Baba und Rahim Khan, wie sie im Arbeitszimmer Tee tranken und anschließend, am Fenster sitzend, rauchten, während eine Brise den Duft der Heckenrosen aus dem Garten ins Zimmer trug und den Rauch ihrer Zigaretten kräuselte.

»Ich erinnere mich noch daran, wie du mir von ihm erzählt hast«, sagte Soraya. Sie verstummte für einen Augenblick, ehe sie fragte: »Wie lange wirst du weg sein?« »Ich weiß es noch nicht. Er will mich sehen.« »Ist es nicht...«

»Nein, es ist nicht gefährlich. Mir wird nichts geschehen, Soraya.« Ich wusste, dass sie genau das hatte einwenden wollen - fünfzehn Jahre Ehe hatten uns in Gedankenleser verwandelt. »Ich werde einen Spaziergang machen.«

»Soll ich dich begleiten?«

»Nein, ich gehe lieber allein.«

Ich fuhr zum Golden Gate Park und ging am Spreckels Lake am nördlichen Rand des Parks spazieren. Es war ein wunderschöner Sonntagnachmittag, die Sonne glitzerte auf dem Wasser, wo Dutzende von Spielzeugbooten, von einer frischen San-Francisco-Brise angetrieben, dahinsegelten. Ich setzte mich auf eine Parkbank, sah einem Mann zu, der mit seinem Sohn Football spielte und ihm erklärte, dass es besser war, den Ball nicht von der Seite, sondern über die Schulter hinweg zu werfen. Als ich aufblickte, entdeckte ich am Himmel zwei Drachen - rot mit langen blauen Schwänzen. Sie tanzten hoch oben über den Bäumen am westlichen Ende des Parks.

Ich dachte an eine Bemerkung, die Rahim Khan, kurz bevor er auflegte, gemacht hatte. Ganz beiläufig, als wäre es ihm im letzten Moment noch eingefallen. Ich schloss die Augen und sah ihn am anderen Ende der Leitung vor mir, sah die leicht geöffneten Lippen, den zur Seite geneigten Kopf. Und wieder deutete etwas in seinen schwarzen, unergründlichen Augen auf ein unausgesprochenes Geheimnis zwischen uns hin. Bloß dass ich nun die Gewissheit besaß, dass er es wusste. Meine Vermutung war also all die Jahre richtig gewesen. Er wusste Bescheid über Assef, den Drachen, das Geld, die Uhr mit den Zeigern, die wie Blitze aussahen. Er hatte es immer gewusst.

Komm. Es gibt eine Möglichkeit, es wieder gutzumachen, hatte Rahim Khan kurz vor dem Auflegen gesagt. Beiläufig, als wäre es ihm im letzten Moment noch eingefallen.

Eine Möglichkeit, es wieder gutzumachen.

Als ich nach Hause kam, sprach Soraya am Telefon mit ihrer Mutter. »Wird nicht lange dauern, Madarjan. Eine Woche, vielleicht zwei... Ja, du und Padar, ihr könnt so lange bei mir wohnen ...«

Der General hatte sich vor zwei Jahren die rechte Hüfte gebrochen. Er hatte wieder einmal an einem seiner Migräneanfälle gelitten, war verschlafen und benommen aus seinem Zimmer herausgekommen und über einen Teppich gestolpert. Sein Schrei hatte Khala Jamila aus der Küche zu ihm eilen lassen. »Es klang wie ein jaroo, ein Besenstiel, der in der Mitte durchbricht«, erzählte sie immer wieder gern, obwohl der Arzt erklärt hatte, dass es sehr unwahrscheinlich sei, dass sie irgendetwas in der Art gehört haben könnte. Die zerschmetterte Hüfte des Generals - und all die sich daraus ergebenden Komplikationen, die Lungenentzündung, die Blutvergiftung, der verlängerte Aufenthalt in der Privatklinik -hatte Khala Jamilas langjährigen Monologen über den Zustand ihrer Gesundheit ein Ende bereitet. Und neue über den General hervor gerufen. Sie erzählte jedem, der bereit war, ihr zuzuhören, dass die Ärzte ihnen gesagt hätten, dass seine Nieren kurz vor dem Versagen stünden. »Aber die haben noch nie afghanische Nieren gesehen, nicht wahr?«, sagte sie stolz. Am lebendigsten ist mir aus jener Zeit in Erinnerung geblieben, wie Khala Jamila am Krankenbett des Generals wartete, bis er eingeschlafen war, um ihm dann Lieder vorzusingen, die ich noch aus Kabul kannte, wo sie in Babas knarzendem alten Radio erklungen waren.

Die Gebrechlichkeit des Generals - und die Zeit - hatten die Dinge zwischen ihm und Soraya verändert. Sie unternahmen gemeinsame Spaziergänge, gingen manchmal samstags zusammen essen, und ab und zu setzte sich der General in ihren Unterricht. Dann saß er ganz hinten im Raum, in seinem glänzenden alten grauen Anzug, den Stock über den Schoß gelegt, und lächelte. Manchmal machte er sich sogar Notizen.

In jener Nacht lagen Soraya und ich im Bett. Sie hatte den Rücken an meine Brust gepresst, ich das Gesicht in ihr Haar vergraben. Ich erinnerte mich an die Zeit, als wir Stirn an Stirn dalagen, einander in Erinnerung an das Vorangegange küssten und leise miteinander redeten, über winzige gekrümmte Zehen redeten, über ein erstes Lächeln, erste Worte, erste Schritte, bis uns die Augen zufielen. Wir taten es manchmal noch, bloß dass wir nun über die Schule oder mein neues Buch sprachen, über ein lächerliches Kleid kicherten, das irgendjemand auf einer Party getragen hatte. Wir genossen es immer noch, miteinander zu schlafen, fanden immer noch Gefallen aneinander, aber manchmal verspürte ich eine große Erleichterung, wenn es vorüber war und ich einschlafen und für eine Weile die Nutzlosigkeit dessen, was wir gerade getan hatten, vergessen durfte. Auch wenn sie es nie sagte, so wusste ich doch, dass Soraya manchmal ebenso empfand. In jenen Nächten rollte sich jeder auf seine Seite des Betts und ließ sich von seinem Retter davontragen. Sorayas Retter war der Schlaf. Meiner, wie immer, ein Buch.

In der Nacht nach Rahim Khans Anruf lag ich im Dunkeln wach und folgte mit den Augen den parallelen silbernen Linien an der Wand, die das Mondlicht hervorrief, das durch die Jalousien drang. Irgendwann, vielleicht kurz vor Anbruch der Morgendämmerung, muss ich wohl eingeschlafen sein. Und ich träumte von Hassan, der durch den Schnee lief, der den Saum seines grünen chapan hinter sich herzog, unter dessen schwarzen Gummistiefeln der Schnee knirschte. Er rief mir über die Schulter zu: Für dich -tausendmal!

Eine Woche später saß ich auf meinem Fensterplatz eines Flugzeugs der Pakistani International Airlines und sah zu, wie zwei uniformierte Arbeiter der Fluglinie die Bremskeile von den Rädern wegzogen. Das Flugzeug rollte vom Flughafengebäude fort, und bald schon waren wir in der Luft, bahnten uns unseren Weg durch die Wolken. Ich ließ den Kopf ans Fenster sinken. Wartete vergeblich auf den Schlaf.

15

Drei Stunden nachdem das Flugzeug in Peshawar gelandet war, saß ich auf dem zerfetzten Rücksitz eines verqualmten Taxis. Mein Fahrer, ein kettenrauchender verschwitzter kleiner Mann, der sich als Gholam vorstellte, fuhr lässig und rücksichtslos, entging mehrmals nur um Haaresbreite einem Zusammenstoß und fand dabei noch die Zeit, mich mit einem unaufhörlichen Wortschwall zu bedenken, der aus seinem Mund hervorquoll:

»... schrecklich, was in Ihrem Land geschieht, yar. Afghanen und Pakistani sind doch wie Brüder, nicht wahr? Muslime müssen doch anderen Muslimen helfen, damit...«

Ich schaltete ab, nickte bloß ab und zu höflich mit dem Kopf. Ich erinnerte mich noch ziemlich gut an Peshawar, da ich ja 1981 mehrere Monate mit Baba hier gelebt hatte. Wir fuhren in westlicher Richtung auf der Jamrud Road, vorbei an den Truppenunterkünften der ehemaligen Kolonialmacht mit ihren großzügigen, von hohen Mauern umgebenen Häusern. Das rege Treiben der Stadt, das an mir vorüberzog, erinnerte mich an eine geschäftigere, belebtere Version des Kabul, das ich kannte, besonders des kocheh-morgha, des Hühner-Basars, wo Hassan und ich uns immer in Chutney getunkte Kartoffeln und Kirschsaft gekauft hatten. Die Straßen waren voll gestopft mit Fahrradfahrern, herumlaufenden Fußgängern und Rikschas, die laut knatternd blaue Rauchwolken ausstießen - und alle schlängelten sie sich durch ein Labyrinth von Straßen und Gassen. Bärtige in dünne Decken gehüllte Händler verkauften an kleinen dicht aneinander gedrängten Ständen Lampenschirme aus Tierhaut, Teppiche, bestickte Schals und Kupfergefäße. Die Stadt explodierte förmlich in einer Fülle von Geräuschen: das Geplärr von Hindi-Musik, das Knattern der Rikschas und die bimmelnden Glocken der Pferdekarren vermischten sich mit den Schreien der Händler und klangen mir in den Ohren. Schwere Gerüche - angenehme und nicht so angenehme - drangen durch das Beifahrerfenster: Das würzige Aroma von in Teig getauchtem, frittiertem Gemüse und dem nihari, dem mit frischem Ingwer zubereiteten Lammfleisch, das Baba so geliebt hatte, verschmolz mit dem durchdringenden Geruch von Abgasen, dem Gestank von Fäulnis, Abfall und Kot.

Kurz hinter den roten Steingebäuden der Universität von Peshawar gelangten wir in eine Gegend, die mein geschwätziger Fahrer als Afghanenviertel bezeichnete. Ich erblickte Läden, in denen Süßigkeiten verkauft wurden, und andere, die Teppiche anboten, es gab Kebab-Buden, Kinder mit dreckigen Händen, die mit Zigaretten handelten, winzige Restaurants - auf deren Fenster Landkarten von Afghanistan gemalt waren - und dazwischen, in kleinen Seitenstraßen, Niederlassungen von Hilfsorganisationen. »Viele Ihrer Brüder leben in dieser Gegend, yar. Sie eröffnen Läden, aber die meisten von ihnen sind sehr arm.« Er schnalzte mit der Zunge und seufzte. »Jetzt sind wir gleich da.«

Ich dachte an meine letzte Begegnung mit Rahim Khan im Jahre 1981 zurück. Er war an dem Abend unserer Flucht aus Kabul gekommen, um sich zu verabschieden. Ich weiß noch, dass Baba und er sich in der Halle umarmten und leise weinten. Als Baba und ich in den Vereinigten Staaten ankamen, waren er und Rahim Khan in Verbindung geblieben. Sie telefonierten vier- oder fünfmal im Jahr, und manchmal reichte Baba den Hörer an mich weiter. Das letzte Mal hatte ich kurz nach Babas Tod mit Rahim Khan gesprochen. Die Nachricht war bis nach Kabul gedrungen, und er hatte angerufen. Wir hatten uns erst ein paar Minuten unterhalten, als die Verbindung zusammenbrach.

Der Fahrer hielt vor einem schmalen Gebäude an einer belebten Ecke, an der Kreuzung zweier sich dahinschlängelnder Straßen. Ich bezahlte, nahm meinen Koffer und schritt auf die mit feinen Schnitzarbeiten verzierte Tür zu. Die Läden an den Holzbalkonen des Gebäudes waren geöffnet. Von vielen hing Wäsche herunter, die in der Sonne trocknete. Ich stieg die knarrenden Stufen in den ersten Stock hinauf und ging einen düsteren Flur entlang, bis ich an der letzten Tür auf der rechten Seite angekommen war. Überprüfte noch einmal die Adresse auf dem Zettel in meiner Hand. Klopfte.

Ein Wesen aus Haut und Knochen, das vorgab, Rahim Khan zu sein, öffnete die Tür.

Ein Dozent eines Kurses für Kreatives Schreiben an der San Jose State University hatte einmal über Klischees gesagt: »Meiden Sie sie wie die Pest.« Und lachte dann über seinen eigenen Witz. Der Kurs stimmte mit ein, aber ich fand schon immer, dass Klischees zu Unrecht kritisiert wurden; denn oft treffen sie den Nagel auf den Kopf. Doch die Tauglichkeit einer abgedroschenen Redensart wird überschattet von ihrer Wahrnehmung als Klischee. Zum Beispiel die Wendung »um den heißen Brei herumreden«. Nichts hätte die ersten Momente meines Wiedersehens mit Rahim Khan treffender beschreiben können.

Wir saßen auf zwei dünnen Matratzen, die an einer Wand gegenüber dem Fenster lagen, das auf die laute Straße hinausging. Sonnenlicht fiel ins Zimmer und warf einen Streifen Licht auf den afghanischen Teppich, der den Boden bedeckte. Zwei Klappstühle lehnten an einer Wand, und ein kleiner kupferner Samowar stand in der gegenüberliegenden Ecke. Ich schenkte uns Tee daraus ein.

»Wie hast du mich gefunden?«, fragte ich.

»Es ist nicht so schwer, Menschen in Amerika zu finden. Ich habe mir eine Karte von den USA gekauft und in verschiedenen Städten in Nordkalifornien die Auskunft angerufen«, sagte er. »Es ist auf eine ganz wundervolle Weise seltsam, dich als einen erwachsenen Mann zu sehen.«

Ich lächelte und ließ drei Zuckerwürfel in meinen Tee fallen. Ich erinnerte mich noch daran, dass er den seinen schwarz und bitter trank. »Baba hatte nicht mehr die Möglichkeit, es dir zu sagen, aber ich habe vor fünfzehn Jahren geheiratet.« In Wahrheit hatte der Krebs in Babas Gehirn ihn zu der Zeit schon vergesslich und gleichgültig gemacht.

»Du bist verheiratet? Mit wem denn?«

»Ihr Name ist Soraya Taheri.« Ich dachte daran, wie sie sich nun zu Hause um mich sorgte. Ich war froh, dass sie nicht allein war. »Taheri... wessen Tochter ist sie?«

Ich erklärte es ihm. Seine Augen leuchteten auf. »Oh ja, jetzt erinnere ich mich. Ist General Taheri nicht mit Sharif jans Schwester verheiratet? Wie war noch einmal ihr Name ...?«

»Jamila jan.«

»Balay!«, sagte er lächelnd. »Ich habe Sharif jan einmal vor langer Zeit in Kabul getroffen, bevor er nach Amerika gegangen ist.«

»Er arbeitet schon seit Jahren bei der Einwanderungsbehörde, kümmert sich um eine Menge afghanische Fälle.«

»Haiiii«, seufzte er. »Habt ihr Kinder, Soraya jan und du?«

»Nein.«

»Oh.« Er schlürfte seinen Tee und fragte nicht weiter. Rahim Khan hatte immer schon ein wunderbares Gespür für Menschen gehabt.

Ich erzählte ihm eine Menge von Baba, von seiner Arbeit, dem Trödelmarkt und wie er am Ende friedlich eingeschlafen war. Ich erzählte ihm von meinem Studium und meinen Büchern - inzwischen hatte ich vier Romane veröffentlicht. Als er das hörte, lächelte er und erklärte mir, dass er niemals daran gezweifelt habe. Ich erzählte ihm von den Kurzgeschichten, die ich in das lederne Notizbuch geschrieben hatte, das er mir einst schenkte, aber er konnte sich nicht mehr daran erinnern.

Die Unterhaltung wandte sich zwangsläufig den Taliban zu.

»Ist es wirklich so schlimm, wie es überall heißt?«, fragte ich.

»Nay, schlimmer. Viel schlimmer«, sagte er. »Sie lassen kein menschenwürdiges Leben zu.« Er deutete auf eine Narbe über seinem rechten Auge, die einen krummen Weg durch seine buschige Augenbraue schnitt. »Ich habe mir 1998 ein Fußballspiel im Ghazi-Stadion angesehen. Kabul gegen Mazar-e-Sharif, glaube ich, und den Spielern war es übrigens nicht gestattet, kurze Hosen zu tragen. Erregung öffentlichen Ärgernisses, nehme ich an.« Er stieß ein erschöpftes Lachen aus. »Wie auch immer, jedenfalls erzielte Kabul ein Tor, und ich begann laut zu jubeln. Plötzlich kam so ein junger bärtiger Kerl auf mich zu, der in den Gängen patrouillierte. Gerade mal achtzehn war er, wenn's hochkommt, und er stieß mir den Kolben seiner Kalaschnikow gegen die Stirn. >Wenn du das noch mal machst, schneide ich dir die Zunge raus, du alter Esel<, sagte er.« Rahim Khan rieb mit einem knotigen Finger über die Narbe. »Ich war alt genug, um sein Großvater zu sein, und da saß ich und entschuldigte mich bei diesem Hundesohn, während mir das Blut über das Gesicht strömte.«