6.
Hannibal sagte kein Wort, sondern blickte mich nur ruhig an. Wir hatten genug Theater gespielt. Ehe wir nicht allein waren und ernsthaft miteinander diskutieren konnten, hatte es keinen Sinn, weitere Gespräche zu führen.
Fernsehen, Stereofunk und die Spätausgaben der internationalen Presse brachten unseren Fall sicherlich in großer Aufmachung. Mehr hatten wir nicht in die Wege leiten können.
Ich musterte den zweimotorigen Turbobomber, der mit ausgefahrenen Rotorkränzen auf dem Dach stand. Auch große Maschinen wurden seit etwa zehn Jahren grundsätzlich so konstruiert, daß sie wie Hubschrauber starten und landen konnten. Das Problem der dafür notwendigen Sekundärtriebwerke war einwandfrei gelöst worden. Die im Außenring der Rotoren angeordneten Staustrahltriebwerke waren technisch durchkonstruiert und von hoher Schubleistung. Der erforderliche Luftstau wurde bei einer Rotordrehzahl von 587 Umdrehungen erreicht. Der Wert war je nach Durchmesser der gegenläufigen Hubkränze variabel.
Dieser Bomber war eine »Martin-XB-1298«. Es handelte sich um ein veraltetes Modell, das nur die fünffache Schallgeschwindigkeit erreichte. An dem hochaufragenden Seitenleitwerk bemerkte ich die Initialen »GWA« mit dem charakteristischen Atommodell.
Die Maschine diente als Passagierflugzeug. An Stelle der Bombenschächte war eine Kabine eingebaut worden, die notfalls sechs Personen aufnehmen konnte.
Vor der XB-1298 beobachtete ich zwei unauffällig gekleidete Männer. Ihre Gesichter wurden von den lebensecht wirkenden Biosynthfolien bedeckt. Wenn sich GWA-Schatten direkt in ihrer Eigenschaft als ZBV-Agenten zeigen mußten, waren sie verpflichtet, die Masken zu tragen.
Major Garry salutierte und ließ sich von den GWA-Leuten die Auslieferungsbestätigung unterschreiben. Von da an befanden wir uns in der Obhut der eigenen Leute. In dem einen Mann erkannte ich jenen Oberst Miller, der mir im Gerichtssaal das Angebot gemacht hatte.
Meine Handschellen wurden überprüft. Man forderte uns auf, in die Maschine zu steigen. In dem schlanken Rumpf, kurz vor den scharfgepfeilten Stummeltragflächen, öffnete sich eine ovale Kabinentür. Nachdem ich den Raum betreten hatte, setzte ich mich in einen Schaumstoffsessel.
Ich konnte nach vorn zur Pilotenkanzel sehen. Dort befand sich nur ein Mann. Der Co-Pilot fehlte noch. Hannibal folgte und schimpfte über einen der Beamten, der ihn angeblich zu fest am Oberarm ergriffen hatte.
»Zerbrechen Sie mir nicht die Knochen«, beschwerte er sich.
Die Männer winkten noch einmal nach draußen, ehe sie die Kabinentür schlossen und sicherten. Sie nahmen ebenfalls Platz. Einer von ihnen sprach in das Verbindungsmikrophon zum Pilotenraum.
»Start frei. Gehen Sie sofort auf hunderttausend Fuß Höhe und halten Sie den vorgeschriebenen Kurs.«
Der Pilot bestätigte. Unmittelbar darauf begannen die Anlasser der beiden Strahlturbinen zu summen.
Das Geräusch steigerte sich zu einem schrillen Heulton, der in ein dumpfes Donnern überging. als der Pilot den Brennstoff in die Brennkammern einspritzte. Er zündete, und die Turbos liefen.
Über uns begannen sich die kleinen und doch hubstarken Rotorkränze zudrehen. E-Motoren bewirkten die Anlaufperiode. Als die Umdrehungsgeschwindigkeit hoch genug war, um den vorgeschriebenen Staudruck in den mitschwingenden Triebwerken zu gewährleisten, zündeten sie ebenfalls. Das Donnern der beiden Hauptturbinen mäßigte sich zum Leerlaufsurren.
Leicht hob die Maschine von der Dachpiste ab. Nur mit Hilfe der wirbelnden Doppelkränze stieg sie in die Luft und nahm gleichzeitig Fahrt auf. Erst etliche hundert Meter über dem FBI-Hauptquartier begannen die Haupttriebwerke mit stärkerer Schubleistung zu arbeiten. Von diesem Moment an verwandelte sich der Hubschrauber in einen Turbobomber.
Die Beschleunigung war so enorm, daß die Hubkränze bereits nach wenigen Augenblicken eingefahren werden konnten. Sie klappten zusammen und verschwanden in dem aerodynamisch verkleideten Rückenwulst. Zwei Minuten später durchstieß der leichte Bomber noch während des Steigfluges die Schallmauer. Wir verließen Washington. Der weite Himmel nahm uns auf.
In der Maschine war es still geworden. Das Geräusch unserer eigenen Triebwerke konnten wir nicht mehr hören. Der Schall blieb weit hinter uns zurück. Trotzdem konnte ich feststellen, daß der Pilot noch nicht auf volle Geschwindigkeit gegangen war.
Als ich mich gerade umdrehen wollte, tauchte er in der schmalen Verbindungstür auf. Er mußte die Robotsteuerung eingeschaltet haben. In der Hand hielt er eine Plastikmaske. Zu meiner größten Überraschung erkannte ich den Alten, der die Maschine also höchstpersönlich gestartet hatte.
Der Chef blickte uns verhalten schmunzelnd an und gab seinem Kollegen einen Wink. Das mußte demnach der eigentliche Pilot sein.
Wortlos schritt er nach vorn und verschwand im Cockpit.
»Ich wollte nicht erkannt werden«, sagte General Reling gemütlich. »Miller, nehmen Sie ihnen endlich die Handschellen ab. Wir haben keine Zeit mehr für solche Scherze.«
Hannibal hielt »Miller« die Hände hin.
»Wird aber auch Zeit, Chef! Wenn ich gewußt hätte, was uns alles bevorsteht, hätte ich mich rechtzeitig krank gemeldet.«
»Halten Sie Ihren Mund, Hollak«, brummte der Alte. »Ich bin nicht hier, um mir Ihre seltsamen Argumente anzuhören.«
Auch meine Handschellen wurden gelöst. Anschließend holte Miller eine schwere Tasche.
»Unsere Spezialausrüstung?« erkundigte ich mich.
»Ja. Wir fliegen nur mit dem dritten Teil unserer Geschwindigkeit. Weit über uns steht ein Ionosphären-Atombomber, der uns unablässig in seinem Radargerät hat. Seit etwa drei Minuten werden wir von einer fremden Maschine verfolgt. Es muß sich um ein Privatflugzeug handeln, das die Fahrt unserer Maschine halten kann. Wissen Sie, was das bedeutet?«
Mein Atem ging schneller. Meine Blicke huschten zwischen dem Alten und der Aktentasche hin und her.
»Etwa dieser Mister Thomason, der mir durch den Anwalt einen Gruß ausrichten ließ?« fragte ich gespannt.
»Was dachten Sie? Den Burschen haben wir bereits unter die Lupe genommen. Wir wissen alles über ihn. Mein Verdacht wurde bestätigt. Alles läuft bestens. Unsere Mittelchen haben ihre Wirkung nicht verfehlt, Dr. Tensin! Die Fische haben prompt angebissen, zumal Sie Ihnen einen recht fetten Köder hingeworfen haben. Sie haben bisher hervorragend gespielt.«
Ich atmete erleichtert auf. Nur gut, daß der Alte über diesen Thomason informiert war.
»Sie haben den Anwalt überwachen lassen?«
»Nicht nur das! In seiner Kabinengondel war sogar ein Mikro-Sprechfunksender eingebaut, der uns alles vermittelte, was in dem Wagen gesprochen wurde. Noch bevor Ihnen die freundlichen Grüße ausgerichtet wurden, wußten wir, wie das Spiel aussah. Der Anwalt hat übrigens einen Scheck über zehntausend Dollar bekommen. Hat er Ihnen das auch gesagt?«
»So ein Gauner«, murmelte Hannibal.
»Augenblicklich vollkommen gleichgültig«, fuhr Reling fort. »Tensin, die schriftlichen Forschungsunterlagen über den Strahler befinden sich in Ihren angeblichen Laboratorien, und zwar in dem Versteck, das von den FBI-Leuten nicht entdeckt wurde. Sie sind doch orientiert?«
Natürlich war ich das. Wir hatten es lange genug einstudiert.
»Gut. Die Unterlagen sind einwandfrei, bis auf einige Abänderungen, die aber nur sehr schwer festzustellen sind. Auf Grund dieser Dokumente wird man allerdings niemals einen Photonenstrahler bauen können. Kommen wir auf die beiden Agenten zurück, mit denen sich Tensin vor etwa vier Wochen zum letztenmal unterhalten hat und von denen Sie in der Verhandlung behaupteten, es hätte sich um Industrielle gehandelt.«
Miller reichte mir Fotografien von den beiden Männern. Ich konnte mich erinnern, die Aufnahmen bereits gesehen zu haben.
»Betrachten Sie die Bilder genau. Der kleine Schwarzhaarige ist Donald Ferason. Der Grobknochige nennt sich Hank Gutris. Es ist gut, daß wir die Burschen trotz der vollständigen Beweise nicht gleich verhaftet haben. Sie gehören zu einem Spionagering, dessen Zentrale wahrscheinlich in Kalifornien liegt. Ohne Zweifel sind sie Agenten des ›Großasiatischen-Staatenbundes‹. Offiziell allerdings sind sie Inhaber einer Firma in Salt Lake City und befassen sich mit dem Großverleih von Hubschraubern und schnellen Reiseflugzeugen. Sie haben also eine sehr gute Operationsbasis und können zu jeder Zeit in der Gegend herumfliegen. Denn sie haben immer plausibel klingende Ausreden zur Hand. Sie erproben die Maschinen, verstehen Sie?«
Allerdings, ich verstand sehr gut. Die Agenten saßen demnach in unmittelbarer Nachbarschaft der Nevada-Fields, in deren Nähe sich auch die wichtigen, neuerbauten Fabriken zur Herstellung moderner Raumschiffe befanden.
Was hatten sie nun aber mit unserem Fall zu tun? Wo war die Verbindung zwischen ihrem Aufgabenbereich, dem Physiker Dr. Tensin und den verschwundenen Virenkulturen?
General Reling schien meine Gedanken zu ahnen. Er blickte auf die Uhr.
»Wir haben keine Zeit zu verlieren. Hören Sie also zu. Die beiden Burschen bilden das eine Ende des Fadens, der zu der Spionagezentrale mit dem unbekannten Chef und damit zu den verschwundenen Viren-Kulturen führt. Sie wissen aus den Angaben des Großcomputers, daß in den staatlichen Laboratorien ein junger Bakteriologe beschäftigt war, der seit jener Unglücksnacht spurlos verschwunden ist. Er hatte in der fraglichen Zeit Dienst im Zuchtlabor. Der Mann heißt Dr. Fresko. Hier ist sein Bild.«
Wir besahen uns intensiv die Aufnahme. Allmählich merkten wir, worauf der Alte hinaus wollte.
»Durch unsere pausenlose Arbeit haben wir ermittelt, daß Dr. Fresko schon Wochen vor der Katastrophe mit den beiden Agenten verhandelt hat, dir Ihre Spur bedeuten.«
Hannibal pfiff durch die Zähne.
»So hängt das zusammen«, murmelte ich. »Weiter!«
»Weil ich mir über den inneren Zusammenhang schon vor Tagen klar war, mußten Sie die Rolle von Dr. Tensin übernehmen. Sie haben also ein stichhaltiges Motiv, nach Ihrer erfolgreichen Flucht die beiden Männer aufzusuchen, die nicht nur mit Tensin, sondern auch mit Dr. Fresko in Verbindung gestanden haben. Fresko ist – wie gesagt – seit der Unglücksnacht verschwunden. Wir haben allen Grund anzunehmen, daß er durch seine Angaben den verwegenen Diebstahl ermöglicht hat. Er wird es auch gewesen sein, der den verseuchten Staub aus der Agentenmaschine abgeblasen hat. Dr. Fresko war nicht unter den Toten. Diese Tatsache läßt die Schlußfolgerung zu, daß er zusammen mit den Agenten untergetaucht ist. Nur er wußte soviel über das Virus, daß er es wagen konnte, den gefährlichen Staub fachgerecht abzublasen. Man wird Fresko mitgenommen haben, da man seine Kenntnisse benötigt. Zur Zeit sind wir noch damit beschäftigt, sein Vorleben zu durchleuchten. Die ermittelten Daten müssen Ihnen jedoch vorerst genügen. Über die beiden Agenten in Salt Lake City können Sie an Fresko herankommen. Wie Sie vorgehen, ist Ihre Angelegenheit. Weitere Hinweise, kann ich Ihnen nicht geben. Wie ich bereits ausführte, sind unsere Anhaltspunkte äußerst dürftig. Sie sind GWA-Schatten ›Zur besonderen Verwendung‹. Sie haben nach eigenem Ermessen zu handeln, sobald Sie den Kontakt aufgenommen haben. Alles klar?«
Hannibal und ich hatten noch einige Fragen. Der Alte beantwortete sie nach bestem Wissen.
»Miller, nehmen Sie Ihre Maske ab, damit Sie von Tensin und Hollak jederzeit erkannt werden können«, befahl er abschließend.
Miller zog die Biohaut vom Gesicht und lächelte uns an. Wir betrachteten ihn eingehend und wunderten uns gar nicht mehr über die ebenfalls sehr ungewöhnliche Maßnahme. Der Alte schien alles auf eine Karte zu setzen. Es war in der Geschichte der GWA nur äußerst selten vorgekommen, daß sich einige Mitarbeiter persönlich kennenlernten.
»Das ist Leutnant TS-19, der den echten Dr. Tensin im Zuge seiner Aufgabe erschossen hat. Er ist also genauestens über den Physiker und seine Forschungen orientiert. Außerdem kennt er auch die Agenten. Er wird Ihr Verbindungsmann sein, der sich immer in Ihrer Nähe aufhält. Sie können mit ihm über Ihren Mikrosender in Verbindung treten. Kennzeichen sind Ihre gegenseitigen Kodenummern, die Sie bei jeder Sendung zu nennen haben. Zusätzlich haben Sie noch das GWA-Stichwort des betreffenden Tages zu senden. TS-19 ist Ihnen unterstellt. Er wird Ihre Forderungen ohne Gegenfrage ausführen. Mit seiner GWA-Marke kann er das jederzeit erwirken. Denken Sie an Ihre Vollmachten, Tensin, die ich im Robotgehirn zu Ihrer Rückendeckung festgehalten habe.«
Der Alte sprach mich grundsätzlich mit meinem angenommenen Namen an. Er hatte noch nicht einmal »Konnat« gesagt.
Der Summer klang auf. Die kleine Bildfläche der Bordverbindung erhellte sich. Der Pilot meldete sich.
»Es wird Zeit, Sir. Wir nähern uns dem Absprunggebiet.«
»Danke! Los, Tensin, verstauen Sie Ihre Ausrüstung. Miller, helfen Sie Ihren Kollegen und beeilen Sie sich. Ich werde in der Zwischenzeit ein neues Verbrechen Tensins vorbereiten.«
Er schaute mich düster an und runzelte die Augenbrauen. Was sollte das wieder heißen? Darüber hatten wir noch nicht gesprochen.
Ich zog mich rasch aus. TS-19 wühlte in seiner Tasche herum und holte meinen Mikrosender hervor.
Er mußte an meinem Körper so angebracht werden, daß er auch bei einer genauen Untersuchung nicht gefunden werden konnte.
Ich hielt Miller mein rechtes Bein hin. Kritisch betrachtete er die tiefe Narbe in meinem Oberschenkel dicht unterhalb des Hüftknochens. Ehemals war das eine harmlose Schußwunde gewesen, die eine geringfügige und unregelmäßig geformte Vertiefung hinterlassen hatte. Dann hatten die GWA-Chirurgen das Wundmal entdeckt – und ich war ihr Patient geworden.
Es war nur eine kleine Operation gewesen. Bei diesem Eingriff hatten sie mir die verheilte Verletzung wieder aufgeschnitten, um sie zu einem quadratischen Loch zu erweitern, in das ein Mikro-Transistorensender von den Ausmaßen eines Spielwürfels gut hineinpaßte. Die Wunde war anschließend durch Gewebeplastik sauber abgedeckt worden; doch das Loch im Beinmuskel blieb mir für immer erhalten.
»Sehr gut«, murmelte Miller. »Eine der besten Operationen, die ich je gesehen habe. Kommen Sie bequem an die Sendetaste heran, wenn Sie in die Hosentasche greifen?«
»Schon tausendmal probiert. Machen Sie schon.«
Das Wunderwerk aus den Spezialwerkstätten der GWA verschwand in dem Versteck. Es drückte etwas, doch das Gefühl ließ gleich wieder nach. Sorgfältig kontrollierte er die haardünne Antenne, die dicht unter meiner Beinhaut bis zum Fuß hinablief. Er verband das Ende mit dem Sender und träufelte dann die Biomasse in die Wunde, bis das Loch mit dem Sender vollständig verdeckt war. Darüber wurde ein steriler Hautgewebestreifen gelegt, der jedoch so natürlich wirkte, daß man nur mit einer starken Lupe die winzigen Berührungsfelder feststellen konnte. Ich wartete einige Augenblicke, bis sich das Material verdichtet hatte und elastisch wurde.
»In Ordnung, tadellos«, sagte Miller. »Die Mikrobatterie ist frisch. Die Aufladung wird durch Ihre Körperelektrizität erfolgen, sobald Sie eine gewisse Menge Strom verbraucht haben. Es handelt sich um das neueste Gerät. Also keine Angst, daß die Energie nachlassen könnte. Es arbeitet auf Sup-Ultra-Kurzwelle, die erst wenigen Forschern bekannt ist. Ihre Sendungen können daher nicht abgehorcht werden. Schade, daß Sie nicht auch empfangen können, doch dafür wäre der verfügbare Rauminhalt nun doch zu klein gewesen. Testen wir das Gerät.«
Er nahm seinen winzigen Empfänger aus der Tasche. Ich begann auf die Stelle an meinem Bein zu drücken, wo sich unter der Biomasse der Sendekontakt befand. Wegen der kleinen Morsetaste benötigte ich ein sehr gutes Fingerspitzengefühl.
Ich funkte mein Erkennungszeichen und vernahm gleichzeitig die hohen Pfeiftöne, die aus seinem Empfänger kamen.
»Einwandfrei«, lachte er leise. »Ihre Reichweite liegt zwischen hundertsechzig und zweihundert Meilen. Das genügt vollkommen. Hier sind Ihre anderen Ausrüstungsgegenstände. Ich werde Hollak behilflich sein. Er hat es schwerer als Sie.«
Das stimmte, denn Hannibal verfügte über kein Schußloch im Bein. Ihm wurde der winzige Würfel unter der linken Achselhöhle eingebaut. Über die Stelle kamen Gewebeplastikstreifen, die mit einem echten Haarwuchs versehen waren.
Der Kleine fluchte und meinte, nun brauche er wieder eine Woche, bis er sich an den ständigen Druck gewöhnt hätte.
Ich hatte inzwischen meine Spezialuhr um das linke Handgelenk gelegt. Es war eine schöne, unauffällige Uhr, der man es nicht ansah, daß sie aus einer winzigen Sprühdüse jene Säure ausspeien konnte, die sogar besten Stahl in kochende Materie verwandelte. Es handelte sich um eine Notwehrwaffe, die höchstens für drei Sprühschüsse geeignet war. Es genügten winzigste Mengen, um das Gesicht eines Gegners zu vernichten.
Anschließend griff ich nach dem Zigarettenpäckchen, das nur halb gefüllt war und einen sehr zerknautschten Eindruck machte. In ihm befanden sich auch drei Zigaretten, die nur an einem winzigen Zeichen zu unterscheiden waren. Innerhalb des Tabaks steckten je drei rote Kügelchen, die winzige Mengen jenes grauen Pulvers enthielten, das unsere Wissenschaftler Thermonital nannten. Thermonital ist ein Wirkstoff, der dem altbekannten Thermit gleicht. Er entzündet sich, sobald er mit dem Sauerstoff der Luft in Berührung kommt und entwickelt beim Abbrennen eine Hitze von zwölftausend Grad. Wir brauchen die Kügelchen notfalls nur zu zerschlagen. Unter zwölftausend Hitzegraden zerfloß selbst massives Gestein.
Das waren nur einige Dinge, die zu den Spezialausrüstungen eines GWA-Agenten gehörten. Die Wissenschaft stand Pate bei immer neuen Entwicklungen. Nicht umsonst nannten wir uns »Wissenschaftliche-Abwehr«.
Ich verstaute die Gegenstände in meinen Taschen. Hannibal folgte meinem Beispiel. Zuletzt ergriffen wir die Schulterhalfter mit den plump wirkenden, kurzläufigen Thermo-Rak-Pistolen. Sie stellten die gefährlichsten Waffen dar, die außer atomaren Waffen jemals hergestellt waren. Mit diesen Pistolen waren nur höhere Beamte der Geheimen Bundeskriminalpolizei und die aktiven ZBV-Schatten der GWA ausgerüstet. Sie standen nicht einmal dem Heer zur Verfügung.
Ich öffnete das Doppelmagazin und kontrollierte die Füllung, die in der Normalausführung aus fünfundzwanzig Geschossen bestand. Diese Pistolen schossen nicht mehr mit normalen Patronen. Infolgedessen erfolgte auch kein Hülsenauswurf. Die Projektile waren nichts anderes als winzige Raketen. Die fünf Zentimeter langen Rak-Geschosse, Kaliber sechs Millimeter, wurden elektrisch gezündet und erreichten ihren Brennschluß, 1,020 Meter von der Mündung entfernt. Die Endgeschwindigkeit betrug bei V-1,020 genau 2,784 Meter pro Sekunde. Die Auftreffenergie betrug zum Zeitpunkt E-1,020 exakt 834 Meterkilopond. Das entsprach dem Wert einer Spezial-Großwild-Magnumbüchse direkt an der Mündung.
Thermo-Rak-Pistolen entwickelten keinen Rückschlag. Die Abgasentlüftung der Treibladung geschah nahe der Laufmündung. Sie schossen sehr genau und konnten auf Dauerfeuer umgestellt werden.
»Nehmen Sie die Waffen an sich«, sagte Miller knapp. »Wenn Sie gefragt werden, woher Sie sie haben, so behaupten Sie, Sie hätten sie den GWA-Beamten abgenommen, die Sie in der Transportmaschine erschossen haben.«
Ich traute meinen Ohren nicht.
»Wie war das? Wen soll ich erschießen?«
»Den Chef, den Piloten und mich. Sehen Sie …!« Er deutete nach hinten. Hastig drehte ich mich um. In diesem Augenblick bemerkte ich erst den Alten, der höchstpersönlich drei bewegungslose Körper aus dem kleinen Laderaum in die Kabine geschleppt hatte. Sie sahen aus, als wären sie mit Thermo-Rak-Pistolen erschossen worden. Der Chef bestätigte meine Vermutung.
»Sehen Sie mich nicht so entgeistert an. Sie wollen doch fliehen, nicht wahr? Dazu müssen zuerst einmal die Begleitbeamten beseitigt werden. Erfinden Sie eine glaubwürdige Erklärung, wie es Ihnen gelingen konnte, einem der Männer die Waffe zu entreißen. Die Toten sind Verbrecher, die bei einem Ausbruchsversuch in der Mondstrafanstalt erschossen wurden. In Ihrer Waffe müssen später drei Geschosse fehlen. Denken Sie daran, wenn Sie landen.«
»Wir sind über dem Absprunggebiet«, teilte der Mann im Cockpit mit.
»Fertig, Tensin«, befahl der Chef. »Sie verschwinden mit der Maschine und fliegen nach Salt Lake City. Sie wissen, wo Sie zu landen haben. Dort steht ein kleines Landhaus, in dem zufällig der Besitzer anwesend ist. Alles arrangiert. Überwältigen Sie ihn und nehmen Sie sich seinen Flugschrauber. Den Bomber lassen Sie stehen. Er wird planmäßig gefunden werden. Machen Sie sich auf eine Großfahndung gefaßt. Passen Sie auf, daß Sie nicht von Polizeibeamten erschossen werden. Sie gelten als Mörder von GWA-Agenten. Sie sollten wissen, was das bedeutet! Man wird Sie ohne Mitleid jagen, doch das kann für Ihre Aufgabe nur vorteilhaft sein. Wir springen jetzt ab. Noch Fragen?«
Nein, ich hatte keine Fragen mehr. Innerlich beschäftigten mich jedoch viele Überlegungen. In fieberhafter Eile stieg der Alte in seinen druckfesten Höhenpanzer, schloß die Helmkappe und öffnete die Ventile der Sauerstoffatmung. Ich kontrollierte den Sitz der breiten Gurte und die wichtigen Fallschirme, die speziell für Absprünge aus der oberen Stratosphäre konstruiert worden waren.
Die drei Männer zischten durch die Druckschleuse hinaus. Sie verschwanden als wirbelnde Pünktchen. Ich wußte, daß man sie unten erwarten würde.
»Ich bin seit vier Jahren bei der GWA, doch solche Maßnahmen habe ich noch niemals erlebt«, unterbrach Hannibal das Schweigen, das seit dem Absprung unserer Begleiter eingetreten war.
Ich hatte mich in den Pilotensitz gesetzt und die plastische Reliefkarte eingeschaltet. Auf dem Bildschirm tauchte das Gebiet auf, das wir in dreißigtausend Meter Höhe überflogen. Automatisch wurde unsere derzeitige Position durch ein farbiges Kreuz markiert, das mit der weiterfliegenden Maschine über die Reliefkarte wanderte.
Wir befanden uns demnach bereits über dem Staat Colorado. Nördlich von uns lag Denver, südlich Pueblo. Deutlich waren die gewaltigen Gebirgsketten der Park- und Sawatch-Range zu sehen.
»Ungesunde Gegend für Fallschirmabsprünge«, meinte Hannibal. »Ist die fremde Maschine noch hinter uns?«
»Ja. Die Meldung kam kurz vor dem Absprung durch. Der Atombomber hängt dreißig Meilen über uns, wo ein normales Triebwerk infolge der dünnen Luft längst nicht mehr arbeiten kann. Dort beginnt der Bereich der Atom- und Raketen-Strahltriebwerke.«
»Wem sagst du das«, fuhr er mich an. »Du benimmst dich mir gegenüber wie ein Dozent, der seinen Zuhörern eine Vorlesung hält. Gut, die haben uns also laufend in ihrem Radargerät. Fangen wir an. Es wird Zeit.«
Ich preßte die Zähne zusammen und koppelte für einige Augenblicke den Robot-Steuerautomaten ein.
Nachdem wir unsere »Opfer« auf die vorgeschriebenen Plätze gesetzt oder gelegt hatten, damit später keine Verdachtsmomente auftauchen konnten, schaltete ich die Robotsteuerung wieder ab.
Hannibal schwang sich in den Sessel des zweiten Piloten. Die Anschnallgurte schnappten automatisch um unsere Körper. In dem Augenblick meinte der Kleine:
»Also los, Langer. Bedenke, daß wir zwar in einer Druckkabine sitzen, aber keine Druckanzüge tragen. Wenn jetzt etwas passiert, ein winziger Riß nur, so pfeift unsere komprimierte Atmosphäre in das Vakuum hinaus, und unser Blut beginnt zu kochen. Kannst du dir vorstellen, wie es ist, wenn man eine explosive Dekompression erlebt?«
Allmählich wurde mir der Zwerg mit den seltsamen Vornamen und dem skurrilen Humor sympathisch. Ich war überzeugt, daß wir bei unserem Einsatz ein gutes Team sein würden.
Ich stieß die Schubhebel der beiden Triebwerke nach vorn. Von der plötzlichen Beschleunigung wurden wir in die Sessel gepreßt. Sehr scharf schwenkte ich auf den neuen Kurs, der uns direkt nach dem nicht mehr weit entfernten Salt Lake City im Staate Utah bringen mußte. Langsam drückte ich den Knüppel nach vorn. Der leichte Bomber ging mit irrsinniger Fahrt in den Sturzflug über.
Ich beobachtete sorgfältig die Fernthermometer der Außenzelle, die beim Eindringen in die dichtere Atmosphäre sofort nach oben kletterten. Der Luftreibungswiderstand stieg sprunghaft. Die Kühlanlagen begannen zu arbeiten.
In zwanzig Kilometer Höhe fing ich die Maschine ab. Dann rasten wir mit rotglühenden Flügelkanten und einer noch heller glühenden Bugnase nach Nordwest.
»Allerhand«, murmelte der Zwerg. Auf seine Lippen schlich sich schon wieder das bekannte Grinsen. »Du riskierst etwas. Fünffache Schallgeschwindigkeit ist erst ab achtzehn Meilen erlaubt. Wir dampfen ganz schön.«
»Mach mich nicht nervös mit deinen unpassenden Bemerkungen, sonst unterläuft mir noch eine Fehlschaltung.«
Er lachte über meine Zurechtweisung. Ich begann zu überlegen.