4.
»Von ungefähr habe ich Sie nicht mit in die Robotkartei genommen«, fuhr er fort. »Die Bilder, Berichte, Verdachtsmomente und Berechnungsergebnisse, die Sie jetzt sehen und hören werden, sind uns seit etwa drei Wochen bekannt. Wir hätten längst zugeschlagen, wenn es uns möglich gewesen wäre. Es handelt sich um einen Fall, bei dem die Bundeskriminalpolizei nicht weitergekommen ist, einen typischen GWA-Fall also. Wir bearbeiten ihn praktisch vom ersten Tage an. Im FBI-Hauptquartier hat man begriffen, daß dabei keine Lorbeeren zu ernten sind. Ergänzend möchte ich Ihnen noch sagen, daß nicht nur die Sicherheit der USA, sondern die der gesamten Erde auf dem Spiel steht.«
Ich hörte Hannibal erregt ausatmen. Selbst gab ich mich betont gleichmütig. Dies war aber nur Maske. Auch in mir brannte die Frage, was die förmliche Einleitung mitsamt den vorangegangenen Sicherheitsmaßnahmen zu bedeuten hatten. Der Alte war sonst dafür bekannt, daß er einen Agenten nur in den allernotwendigsten Worten mit einer Aufgabe vertraut machte. Hier handelte er gegen seine Grundsätze.
Er erhob sich und trat an das Steuer-Schaltgerät mit seinen unzähligen Kontrollampen, Skalen, Schaltern und Bildflächen. Von dort aus wurde das Elektronengehirn gesteuert.
Er zog ein schmales Magnetband aus der Tasche. Es war offensichtlich in anderen Abteilungen vorbereitet worden.
Reling schaltete. Zwei grüne Lampen leuchteten auf. Abgesehen von dem Summen einiger Gebläse arbeitete das GWA-Supergehirn lautlos.
Reling legte die Mikrobandspule in die Abtastautomatik. Von nun an hatten wir zu warten. Das Licht wurde abgeblendet. Unsere Sessel schwangen herum.
Vor uns lag die wandfüllende Bildfläche, auf der das erscheinen würde, was das Gehirn wußte.
»Passen Sie genau auf«, forderte uns der Chef auf. »Sie werden später Fotokopien der wichtigsten Daten erhalten. Ehe Sie das Hauptquartier verlassen, müssen die Kopien vor meinen Augen vernichtet werden.«
Ich beobachtete die Bildfläche, auf der plötzlich Schriftzeichen erschienen. Das Gehirn hatte also unter seinen vielen Millionen Daten schon die richtigen herausgesucht. Erledigen Sie so etwas einmal in zwanzig Sekunden! Aber nicht nur ein einzelnes Aktenstück, sondern einen weitverzweigten Vorgang, in dem alles enthalten sein muß, was zu dem betreffenden Fall gehört.
»Betrifft Einsatz der Agenten HC-9 und MA-23 zur besonderen Verwendung«, konnte ich lesen. »HC, laut Kartei Captain Thor Konnat, MA-23 laut Kartei Hannibal Othello Xerxes Utan.«
Das Robotgehirn äußerte sich vorerst in weiteren Schriftzeichen:
»Zunächst das Material für die beiden genannten Agenten in chronologischer Folge. Vorfall ›Duster‹ vom 23. April 2002.«
Vorfall »Duster«? Was war das?
Ich beugte mich gespannt nach vorn.
Die Schrift verschwand. Jetzt tauchten auf dem Bildschirm gewaltige Gebäudekomplexe auf, die zu einer Fabrik mit ausgedehnten Laboratorien zu gehören schienen.
Der Computer schaltete auf akustische Information um. Die »Stimme« klang unpersönlich.
»Sie sehen die staatlichen Laboratorien ›Hilltown‹ zur Erzeugung und Neuentwicklung bakteriologischer Waffen«, erklärte der Automat.
Ich atmete heftig. Hilltown also! Die geheimnisvollste Anlage in den Staaten – irgendwo in einer Wüste des Südwestens. Ich wußte ungefähr, welche grauenhaften Dinge dort erforscht und teilweise fabriziert wurden.
Das Bild wechselte ständig. Wir sahen Gebäude und Sicherheitseinrichtungen; schließlich einen langgestreckten Flachbau.
»Forschungslabor 22-B. Speziell eingerichtet zur Züchtung von Kulturen, die aus künstlich erzeugten Mutationen weiterentwickelt wurden, aber auch von solchen, die nicht von der Erde stammen.«
Bei diesen Angaben schloß ich die Augen. Mutationen von Viren, die man kaum in ihrer normalen Form bekämpfen konnte, waren in diesen Labors gezüchtet worden.
Der Alte schaute mich prüfend an. Ich konnte es trotz des Dämmerlichtes gut erkennen.
»Was bedeutet das?« flüsterte ich heiser.
»Warten Sie ab.«
Das Bild blendete in das Innere des Labors um. Wir sahen große Säle, Brutschränke und Wissenschaftler, die sich in ihren Schutzkleidungen schwerfällig bewegten.
Schließlich tauchten Kellerräume auf, in denen ebenfalls Brutschränke und Regale mit Erregerkulturen aufgestellt waren. Die dort beschäftigten Menschen glichen gepanzerten Ungeheuern. Ich bemerkte sofort, daß sie über ihren normalen Schutzanzügen nochmals Kombinationen trugen, die sie gegen radioaktive Strahlungen schützten. Sie trugen Helme und schienen über ein autarkes Lebenserhaltungssystem zu atmen.
»Warum Strahlschutzkleidung?« fragte Hannibal verstört. »Seit wann trägt man die in bakteriologischen Labors?«
Der Alte erwiderte nichts, doch dafür klangen wieder die metallischen Laute des Robotgehirns auf.
»Zuchtlabor 13-L-1. Geheimste Forschungsstätte des Werkes. Sie sehen das Virus-Lunaris in dreimillionenfacher Vergrößerung.«
Ein kreisförmiges Bild tauchte auf. Es war, als sähe man in eines der modernsten Elektronenmikroskope. Ich erkannte ein Gewimmel von sechseckigen Kleinstlebewesen, die trotz der enormen Vergrößerung kaum zu erkennen waren.
»Das Virus-Lunaris, vor einem Jahr in einem der Mondbergwerke entdeckt. Es handelt sich um eine außerirdische Lebensform, die man jedoch auch in den modernen Labors der Erde züchten kann. Das Virus-Lunaris ist das gefährlichste Kleinstlebewesen, das der Wissenschaft jemals bekannt wurde. Es ist unempfindlich gegen das absolute Vakuum. Bei etwa minus zweihundertzehn Grad Celsius tritt eine Erstarrung ein, die sich bei nachfolgender Erwärmung wieder löst. Hitzeunempfindlich bis zu Temperaturen von plus fünfhundertzweiunddreißig Grad Celsius. Das Virus verbreitet und vermehrt sich ungeheuer rasch, sobald es mit der irdischen Atmosphäre in Berührung kommt. Versuche mit anderen Gaszusammensetzungen haben bewiesen, daß der Erreger auch in einer Methanatmosphäre lebensfähig ist. Eine Sauerstoffatmosphäre wie die der Erde ist jedoch sein günstigstes Ausbreitungsfeld.«
Das Bild wechselte. Ein anderer Ausschnitt erschien. Darauf schimmerten die teuflischen Kleinstlebewesen in strahlend blauen Farben.
»Die Kontrastfärbung ist gelungen«, fuhr das Gigantengehirn monoton fort. »Zuchtlabor 13-L-1 ist absolut luftleer gepumpt worden, um eine unwillkommene Verbreitung des Virus zu verhindern. Die ausgedehnten Versuchsreihen haben zwei bemerkenswerte Eigenschaften des Virus ergeben. Sobald es mit der normalen Luft in Berührung kam, breitete es sich schnell aus verseuchte dabei das Versuchsgebiet. Nach etwa zehn Stunden konnte aber festgestellt werden, daß die vorher so vitalen Viren abstarben. Die letzten Experimente bewiesen, daß dieser Vorgang in der zweiten Eigenschaft des Virus begründet liegt.«
Ein neues Bild zeigte einen Landstrich, auf dem nichts mehr blühte und grünte. Die Bäume waren schwarz, tot und verdorrt. Kein Gräschen lebte mehr. Es war, als erblickte man eine Landschaft aus der Unterwelt.
»Sie sehen das Versuchsgelände, über dem verseuchter Staub abgeblasen wurde. Das Virus-Lunaris ist von Natur aus ein Gammastrahler. Seine Radioaktivität steigert sich bei dem Expansionsvorgang explosionsartig bis zu Werten von vierhundertzwanzig Röntgeneinheiten. Der Erreger scheint alle in ihm wohnende radioaktive Energie innerhalb von zehn Stunden abzugeben. Dies wird als Ursache für sein Absterben angesehen.«
Ich stöhnte unterdrückt und krampfte die Hände um die Sessellehne. Unfaßlich! Ich wollte und konnte es nicht glauben.
Der Computer fuhr mit seinem Bericht fort. Monoton kamen die genauen Daten über diese höllische Lebensform aus den Lautsprechern. Wir wurden immer wieder mit Bildern aus Landschaften konfrontiert, die mit dem Virus »behandelt« worden waren. Demnach stand es fest, daß sich die Viren, die in nur zwei Kubikzentimeter Staub enthalten waren, nach dem Eintritt in die sauerstoffreiche Atmosphäre so enorm und rasch vermehrten, daß sie in einem Zeitraum von etwa zehn Stunden eine Fläche von hundert Quadratkilometer vernichteten.
Dann starben sie plötzlich ab. Ihr grausiges Werk war auf die sehr starke Radioaktivität zurückzuführen, doch lag der sekundäre Wirkungsbereich in dem fast schlagartigen Auftreten einer Seuche, die auf der Erde vollkommen unbekannt war.
Ich sah befallene Versuchstiere. Sie hatten sich in unförmig aufgeblähte Kolosse verwandelt. Ihre schwammig gewordenen Körper waren mit faustdicken Blasen übersät. Die Beulen zerplatzten nach kurzer Zeit und sonderten eine weißliche Flüssigkeit ab.
»Das Virus-Lunaris wäre auch tödlich, wenn es nicht die Eigenschaft einer natürlichen Radioaktivität besäße«, erklärte das Gehirn so kalt und sachlich, wie es nur eine Maschine kann.
»Die Lunaris-Seuche greift nicht nur Menschen, sondern auch Tiere an. Pflanzen werden davon nicht berührt. Für die Vernichtung der Flora sorgt die Radioaktivität. Bei einer bakteriologischen Kriegsführung könnte es mit Hilfe einiger Viren-Staubbomben leicht gelingen, einen Kontinent von der Größenordnung Asiens im Zeitraum von zehn Stunden in eine totale Wüste zu verwandeln. Die von dem Virus abgegebene Radioaktivität nimmt nach wenigen Tagen wieder ab. Es entstehen keinerlei Spaltprodukte mit hohen Halbwertszeiten. Eine Verseuchung der Atmosphäre ist keinesfalls zu befürchten. Die Vorteile dieser bakteriologischen Waffe liegen klar auf der Hand. Totale Ausrottung von Mensch und Tier – totale Abtötung der gesamten Flora. Soweit der Bericht über die Wirkungsweise des Virus-Lunaris.«
Die schrecklichen Bilder verschwanden endlich. Die Robotstimme verstummte. Es war wie eine Erlösung.
Ich war schweißgebadet. Mein Verstand weigerte sich, das Entsetzliche als Realität aufzunehmen. Leutnant Utan war leichenblaß. Auf seiner Stirn perlten ebenfalls Schweißtropfen.
Der Chef unterbrach die Vorführung und wandte uns sein Gesicht zu. Es verriet nichts von seinen Gefühlen.
»Fassen Sie sich, meine Herren! Der Computer hat Ihnen nur vorgeführt, was wir in ihm verankert haben. Wir alle wissen, daß diese nichtirdische Lebensform die furchtbarste Waffe ist, über die Menschen jemals verfügt haben. Dagegen verblaßt selbst die Kohlenstoffbombe. Unser Kalter Krieg mit dem ›Asiatischen Staatenbund‹ machte die Entwicklung von Waffen erforderlich, deren eventuelle Anwendung uns die Gewißheit gibt, daß wir dabei nicht die Erde und die gesamte Menschheit vernichten. Dies wäre bei C-Bombenexplosionen der Fall. Bakteriologische Kampfstoffe werden auch in Großasien entwickelt dessen können sie sicher sein! Man ist immerhin so klug geworden, einzusehen, daß ein eventueller Atomkrieg das menschliche Leben erlöschen ließe. Also sucht man nach Ausweichlösungen; nach Vernichtungsmitteln, die keinen Weltuntergang hervorrufen, die aber trotzdem einen Kontinent in Stunden abtöten können mit allem, was darauf läuft, kriecht und fliegt. Das, meine Herren, sind die Tatsachen, denen wir ins Auge sehen müssen. Kommen wir nun zum Fall ›Duster‹, von dem das Gehirn anfänglich gesprochen hat.«
Der Riesenautomat nahm seine Berichterstattung wieder auf. Die Bildfläche blieb jedoch vorläufig dunkel und zeigte nichts.
»Am 23. April 2002 wurden drei namhafte Wissenschaftler der staatlichen Laboratorien in Hilltown getötet. In der Nacht vom 22. zum 23. April gelang es mehreren noch unbekannten Agenten in das Zuchtlabor einzudringen und eine Kultur des Virus-Lunaris zu entwenden. Die Radarüberwachung hatte den Anflug des Flugschraubers nicht feststellen können.
Es muß ermittelt werden, auf welchem Wege die Agenten in das streng bewachte Werk hineinkamen. Die Lösung dieser Frage wird den Agenten HC-9 und MA-23 als zusätzliche Aufgabe übertragen. Der Flugschrauber konnte darüber hinaus wieder starten, ohne daß eine rechtzeitige Abwehr erfolgte.
Es steht fest, daß von der Maschine Virusstaub abgelassen wurde. Der sich ausbreitende Erreger verseuchte die gesamte Umgebung. Zum Glück tragen die Wissenschaftler und Laboranten auch während der Nacht ihre schweren Virus- und Strahlschutz-Kombinationen. Sie entgingen dadurch dem Verderben. Die drei Wissenschaftler, die als Gäste von der Boston-University gekommen waren, hatten ihre Schutzanzüge abgelegt. Es ist für einen Ungeübten fast unmöglich, in dem groben Material eines solchen Anzuges einzuschlafen. Da das Gästehaus einige Kilometer von dem Geheimlabor entfernt liegt, wäre den Männern normalerweise nichts passiert. Aber der Staub, der kurz nach dem Start des fremden Flugschraubers über das Gelände wehte, brachte den drei Besuchern die Luna-Seuche und damit den Tod.
Sie sehen jetzt Aufnahmen, die von der Geheimen Bundeskriminalpolizei drei Stunden nach der Katastrophe gemacht wurden.«
Ich fühlte nur noch Grauen und Entsetzen, obwohl ich mir eingebildet hatte, ich wäre ein harter und empfindungsloser GWA-Spezialist.
Meine Augen weiteten sich, als das Werk wieder auftauchte. Schwarz – tot, von Radioaktivität verbrannt. Das umliegende Land war eine Wüste mit abgestorbenen Bäumen, Büschen und Gräsern.
Dann sah ich die drei Menschen, die sich in jener Nacht ohne Schutzanzüge im Werk aufgehalten hatten. Sie glichen aufgedunsenen Ungeheuern. Männer in Schutzanzügen versuchten den Kranken zu helfen.
Kalt, sachlich und mitleidlos fuhr das Gehirn fort:
»Dies ist ein Beispiel von der Wirkungsweise des Virus-Lunaris auf hochstehende, lebende Organismen. Die Diebe wollten mit dem Abblasen des Staubes eine sofortige Verfolgung verhindern. Die Nachforschungen der GWA beweisen, daß es sich bei dem Vorfall ›Duster‹ um ein planmäßiges Verbrechen handelte, das mit größter Konsequenz durchgeführt wurde. Die Folgerungen, die sich aus dem Diebstahl eines Zuchtbehälters ergeben, liegen auf der Hand. Noch nie war die Menschheit so gefährdet wie jetzt.«
Endlich verschwanden die grauenhaften Szenen. Das Licht blendete wieder auf. Ratlos blickte ich auf den Chef, der mit leiser Stimme erklärte:
»Der Anschlag auf das Werk war ein voller Erfolg. Jetzt liegt es an uns, die Attentäter zu finden und sie mitsamt dem Brutkasten unschädlich zu machen. Konnat, Sie erhalten hiermit Vollmachten, wie sie ein GWA-Spezialist noch niemals bekommen hat. Wenn Sie hundert Millionen Dollar benötigen, dann genügt Ihr Scheck, und die Summe wird ohne Gegenfrage ausgezahlt. Wenn Sie fünfzig Atom-U-Boote anfordern, so werden die Boote auslaufen. Sollten Sie bei Ihren Nachforschungen feststellen, daß höchste Persönlichkeiten in die Affäre verwickelt sind, so werden diese Leute bis zur endgültigen Klärung spurlos verschwinden. Sie brauchen in keinem Falle bei mir oder in Washington besondere Genehmigungen einzuholen. Begreifen Sie die Bedeutung der Maßnahme, Konnat, die ich Ihnen soeben mitgeteilt habe?«
Seine Augen schienen zu glühen. Der Atem kam stoßweise. Ungläubig sah ich auf den Mann, der über mehr Vollmachten verfügte, als der Präsident der Staaten.
»Konnat, wenn es Ihnen nicht gelingt, die Kulturen zurückzubringen, oder sie zu vernichten, wird man mit einem Angriffskrieg beginnen! Muß ich Ihnen sagen, daß man drüben nur wartet, bis man eine solche Waffe in den Händen hält? Eine Waffe, die den eigenen Fortbestand garantiert, die aber zur totalen Vernichtung des Gegners führt?«
Ich war deprimiert. Mit einer solchen Entwicklung hatte ich nicht gerechnet.
Hannibal hatte seine Fassung schneller wiedergewonnen. Sein Gesicht war maskenstarr.
»Okay, fangen wir an, Chef! Haben Sie Anhaltspunkte, auf die Sie uns ansetzen können?«
»Ja, die haben wir. Es sind inzwischen drei Wochen vergangen. Wir haben die Zeit nicht ungenutzt verstreichen lassen. Konnat, Sie werden noch in der kommenden Nacht verhaftet. Man wird Sie wegen Hochverrat anklagen. Sie sind von nun an Dr. Tensin, Doktor Bob Tensin. Sie haben unerlaubt und mit verbrecherischen Absichten ein physikalisches Labor unterhalten. Sie sind vermögend. Sie sind Kernphysiker. Ihre Kenntnisse haben Sie sich in den staatlichen Atomwerken von ›Hellgate Point‹ erworben, ehe Sie aus dem Staatsdienst ausschieden. Sie haben sich damit beschäftigt, einen Photonenreflektor zu entwickeln, der als Abwehrwaffe gegen überschallschnelle Raketengeschosse und Flugzeuge dienen kann. Ferner lassen sich durch den dabei entstehenden Strahldruck beliebige Staubmengen über weite Landstriche blasen.
Nun, Dr. Bob Tensin, meinen Sie nicht auch, daß man sich in Asien für einen solchen Reflektor interessieren könnte? Damit wäre es beispielsweise einfach, mikroskopisch feine Staubmengen von einem U-Boot aus in die höchsten Luftschichten über den USA zu blasen. Man könnte uns mit dem Virus-Lunaris verseuchen. Ortungssicherer als jede Rakete! Unser Frühwarnsystem wäre zwecklos geworden. Was halten Sie davon, Doktor?«
Ich verstand! Ich begriff blitzartig. Es war unheimlich, auf welche Ideen Reling kam.
»Einverstanden, Sir. Ich bin Dr. Tensin. Hat es den Mann einmal gegeben? Wie sah er aus? Was wußte und was konnte er wirklich? Kann ich die technischen Unterlagen über einen Photonenreflektor einsehen?«
»Alles vorhanden. Dr. Tensin hat gelebt. Spezialagent TS-19 erschoß ihn. Sie fliegen heute noch zu seinen ehemaligen Labors. Alles ist vorbereitet. Dort werden Sie von zwei Beamten der Geheimen Bundeskriminalpolizei verhaftet und nach Washington zurückgebracht. Ich werde die Verhandlung vor dem Obersten Bundesgerichtshof so beschleunigen, daß Sie sofort abgeurteilt werden. Niemand wird etwas wissen; nur ich bin informiert. Erwarten Sie keine sanfte Behandlung. Hoffen Sie auch nicht auf das versteckte Augenzwinkern eines Kameraden. Niemand darf ahnen, daß Sie Captain Thor Konnat sind. Sie sind ein Verbrecher, ein Hochverräter und ein Saboteur an der Menschheit. Die Unterlagen bekommen Sie sofort. Das Robotgehirn wird Sie genauestens unterweisen. Wenn Sie verurteilt sind, wird Ihre Aufgabe beginnen. Sind unsere Gegner Agenten des ›Asiatischen Staatenbundes‹, dann wird man auf Sie größten Wert legen. Schleichen Sie sich ein. Spielen Sie mit. Ihr Gehirn ist präpariert. Daher wird Sie niemand ausfragen können. Sie sind und bleiben Dr. Tensin. Ist soweit alles klar, Konnat?«
»Alles klar«, bestätigte ich.
»Meine Aufgabe, Chef?« fragte Hannibal.
»Sie werden zusammen mit Konnat verhaftet werden«, erklärte General Reling. »Sie traten bislang als Chefpilot einer Mondrakete auf. Das können wir einplanen. In Luna-City sind insgesamt zweihundertvierundachtzig Kilogramm Plutonium gestohlen worden. Wir haben den wirklichen Täter gefaßt; von nun an werden Sie der Gauner sein.«
»Herrlich, wie ich mich fühle«, äußerte Hannibal. »Wie geht’s weiter?«
»Der angebliche Dr. Tensin ist Ihr Freund. An ihn haben Sie das entwendete Plutonium geliefert, da er es für seine Experimente benötigte. Sie haben ihm das Material bei jeder Reise in kleinen Mengen mitgebracht. Genaue Anweisungen darüber erhalten Sie noch. Es darf nirgends eine Lücke entstehen. Sie werden sich bei Ihrem Freund aufhalten und mit ihm verhaftet werden. Die Geheime Bundeskriminalpolizei besitzt bereits alle Unterlagen und Beweismittel. In den Labors steht der fast fertige Photonenstrahler. Das Plutonium wird auch gefunden werden. Sie, Konnat, werden das Gerät in die Luft sprengen, sobald die Beamten des FBI ankommen. Ergeben Sie sich rechtzeitig, damit Sie nicht erschossen werden. Ich kann Ihnen nicht helfen. Das wäre alles. Noch Fragen?«
Zum Teufel – und ob ich noch Fragen hatte!
Nun, mein Wissensdurst wurde gestillt. Fünf Stunden lang saßen wir im Vorführsaal der Robotkartei beisammen und spielten Punkt für Punkt durch. Alle Möglichkeiten wurden mit der bekannten Gründlichkeit der GWA erwogen, abgemessen und berücksichtigt.
Als wir wieder in das Büro des Alten zurückkehrten, waren wir erschöpft. In unseren Köpfen schwirrten zahlreiche Daten, die abwechselnd von den Bildern verdrängt wurden, die wir gesehen hatten.
Wir konnten zwei Stunden schlafen. Dann startete die Maschine. Es war ein Turbobomber mit zusätzlichen Staustrahltriebwerken, die erst bei sechshundert km/h zu arbeiten begannen. Die Maschine gehörte der GWA. An Bord befand sich jener Pilot, den ich bereits beim Flug zum Chef kennengelernt hatte. Er stellte keine Fragen.
Mit achtfacher Schallgeschwindigkeit rasten wir an den Grenzen der oberen Stratosphäre nach Westen. Die Zeiten der sogenannten »schnellen« Bomber der taktischen Luftwaffe mit nur zweieinhalbfacher Schallgeschwindigkeit waren lange vorbei.
Unsere Maschine überbrückte die Entfernung von dreieinhalbtausend Kilometern in zwanzig Minuten. Unser Ziel lag im westlichen Nevada; unmittelbar in dem Landstrich, den man »Großes Nevadabecken« nennt.
Dort befand sich auch der neue Raumflughafen, auf dem die Raketen zur Versorgung der beiden amerikanischen Raumstationen starteten. Neuerdings war man dazu übergegangen, die planmäßigen Mondschiffe ebenfalls von den »Nevada-Fields« aus starten zu lassen. Vor zwanzig Jahren wäre es ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, da man damals noch nicht über die neuen chemischen Treibstoffe und Atomstrahltriebwerke verfügte. Heute waren wir soweit, mit einer verhältnismäßig kleinen Zweistufen-Rakete den Mond direkt anfliegen zu können. Früher waren die Moon-Liner von der Kreisbahn der Raumstation aus gestartet.
Wir umflogen den Raumhafen in einem so weiten Bogen, daß wir eine peinliche Kontrolle nicht zu befürchten brauchten. Geortet wurden wir ohnehin.
Unter uns tauchte der Walker-See auf. An seinem nördlichen Ufer lag die kleine Stadt Schurz.
Das war unser Ziel. Etwas weiter westlich begannen schon die Ausläufer der Sierra Nevada; dahinter erstreckte sich Kalifornien.
Der Flug war reibungslos verlaufen. Als die Maschine mit wirbelnden Rotorkränzen auf den kahlen Felsboden hinabsank, war es schon dunkel.
Wir stiegen aus, verabschiedeten uns und schritten auf das große Gebäude zu, das sich dicht an einen felsigen Abhang schmiegte. Dieses einsam gelegene Haus hatte sich Dr. Tensin als Domizil ausgewählt. Es war unbewacht. Kein Mensch begegnete uns. Der Chef hatte dafür gesorgt, daß uns niemand beobachten konnte.
»Unter meiner Kopfhaut juckt es«, meinte Hannibal, als wir eintraten und das Licht einschalteten. »Wenn das gutgeht, will ich …!«
»Hannibal der Große heißen«, vollendete ich den Satz. »Halte jetzt keine Wahlreden, sondern konzentriere dich auf deine Aufgabe. Wo ist die Tasche mit der Sprengladung? Sie wird hochgehen, sobald die Männer vom FBI auftauchen. Der Photonenreflektor muß vernichtet werden. Die Unterlagen haben wir ohnehin.«
Wir wußten, wohin wir zu gehen hatten. Wir öffneten die getarnte, zu den Kellerräumen hinunterführende Tür. Von dort aus erreichten wir die natürlichen Höhlen, in denen Dr. Tensin eigenmächtig und entgegen den internationalen Bestimmungen experimentiert hatte.
Die Einrichtung war beeindruckend; die Geräte auf dem neuesten Stand. Ich prüfte sie durch und sah mir das unförmige Gebilde an, das nahezu vollendet in dem Labor stand. Der Reflektor sollte einen Strahlschub von sechshundertzwanzigtausend Megapond haben. Das hatte unser Robotgehirn behauptet.
Ich brachte die Sprengladung an und zog die Leitung durch den Keller hindurch bis hinauf ins Haus.
Wir warteten in fieberhafter Erregung und lauschten auf des Brummen von Motoren. Wenn alles planmäßig verlief, mußten sie jetzt da sein. Wir hörten sie aber erst, als sie sich schon dicht vor der Tür befanden.
Sekunden später flog sie mit einem Teil der Hauswand in die Luft. Ein starker Lautsprecher klang auf.
»Doktor Tensin, wir sind darüber informiert, daß Sie sich im Haus aufhalten. Wir kennen auch Ihre versteckten Labors. Hier Major Gary von der Geheimen Bundeskriminalpolizei. Ich fordere Sie auf, mit erhobenen Händen aus dem Haus zu kommen. Ein Fluchversuch ist zwecklos. Wir haben das Gebäude umstellt und auch den Notausgang gesperrt. Ich bewillige Ihnen drei Minuten Bedenkzeit. Sollten Sie bis dahin nicht kapitulieren, werde ich den Feuerbefehl geben.«
Als der Lautsprecher verstummte, begann Hannibal zu grinsen.
»Das ist aber ein netter Zeitgenosse! Warten wir die drei Minuten ab?«
»Logisch«, brummte ich. »Könnte Verdacht erregen, wenn wir zu schnell herauskommen.«
Wir warteten sogar noch etwas länger. Plötzlich begann es zu krachen. Einige Explosionsgarben aus schweren Maschinenkarabinern peitschten durch das Loch in die Vorhalle hinein. Dort detonierten die Geschosse. Unmittelbar danach brüllte die Stimme erneut:
»Das war die letzte Warnung! Kommen Sie heraus, oder wir holen Sie.«
Hannibal gähnte seelenruhig. Ich drückte auf den Zündkontakt. Tief im Berg grollte dumpf eine Detonation auf. Sie gab mir die Gewißheit, daß der Strahler zerstört war. Draußen blieb alles still.
»Hier spricht Doktor Tensin. Wir ergeben uns. Schießen Sie nicht.«
Zwei Minuten später waren wir verhaftet. Der Major stellte mit Genugtuung fest, daß er auch Hannibal gefaßt hatte. Er stand als »Michael Hollak« ebenfalls auf der Fahndungsliste. Unter diesem Namen sollte Hannibal die Mondrakete geflogen haben.
Wir gaben uns wortkarg, verweigerten jede Aussage und lachten herausfordernd, als die FBI-Beamten hustend aus dem Labor zurückkamen.
»Sie hätten sich beeilen müssen, mein Lieber«, sagte ich ironisch zu dem Major. Er starrte mich wütend an.
»Ihnen wird das Lachen vergehen, Doktor Tensin! Ich bringe sie sofort nach Washington. Wir haben achtzehn Kilogramm Plutonium gefunden. Wollten Sie Atombomben fabrizieren? Natürlich, was sonst! Für wen wollten Sie die Kernwaffen herstellen? Wer ist Ihr Auftraggeber? Wer finanzierte Ihre Labors?«
Ich zerrte an meinen Handschellen. Woher die Pressefotografen so schnell gekommen waren, konnte ich mir vorstellen. Ich lächelte arrogant in die Kameraobjektive.
Wunderbar! Das hatte ich dem Chef zu verdanken! Schon in den Frühausgaben aller großen Weltzeitungen würde mein Bild zu sehen sein.
Drei Stunden später flogen wir mit einer Polizeimaschine ab. Es war ein Großtransporter, der mit nur dreifacher Schallgeschwindigkeit flog. Trotzdem dauerte die Reise nicht lange. Infolge der Ereignisse legte ich innerhalb von wenigen Stunden den Weg zweimal zurück.
Das unglaublich komplizierte und doch so machtvolle Räderwerk der Geheimen-Wissenschaftlichen-Abwehr war angelaufen. Es lief sogar schon auf vollen Touren; doch das wußten die FBI-Leute nicht.
Wir wurden verhört und nochmals verhört. Die Beweise waren erdrückend. Langsam und widerwillig gab ich meine »Schandtaten« zu. Auch Hannibal wurde überführt.
Kurz nach Tagesanbruch wurden unsere Akten an die Staatsanwaltschaft weitergegeben.