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Am Vormittag des folgenden Tages kam Dominique Rühl-Brossard in Stephans Büro. Sie trug einen weißen Hosenanzug, einen violetten dünnen Schal und trotz der diesigen Witterung eine Sonnenbrille. In ihrer rechten Hand hielt sie eine Handtasche aus Krokodilleder. Die Kanzleiangestellte, die die Architektin in Stephans Mansardenzimmer geführt hatte, zog sich leise zurück.

»Ich hoffe, Sie haben einen guten Grund, wenn Sie mich vorzeitig aus Paris in Ihre kleine Stube zitieren«, eröffnete sie.

Sie nahm die Sonnenbrille ab und steckte sie in ihre Handtasche. Stephan wiederholte, dass die Staatsanwaltschaft ihre baldige Vernehmung wünsche und es ratsam sei, sich auf das Gespräch vorzubereiten.

»Sie wissen so viel oder so wenig wie ich oder Ihre kleine Freundin, die sich einen Ausflug nach Paris gegönnt hat und sich von mir dort nicht einmal verabschiedet, geschweige denn für meine Gastfreundschaft bedankt hat«, sagte sie barsch.

»Das tut mir leid, aber Marie sagte, Sie hätten noch geschlafen.« Er unterdrückte die Anmerkung, dass Dominique infolge ihres Alkoholkonsums am letzten Sonntagmorgen nicht ansprechbar gewesen wäre.

»Marie ist gewiss nicht undankbar«, setzte er versöhnlich hinzu und ärgerte sich, Dominiques Allüren zu bedienen. Er wusste, dass sie mit Menschen nach Belieben spielte, Abhängigkeiten schuf und ausnutzte und der von ihr erzwungenen Nähe kalte Zurückweisung folgen ließ. Dominique suchte Statisten und lebte von ihnen. Sie umgab sich mit Menschen, die sie bestätigten. Dass Marie vorschnell abgereist und sich Dominique nicht unterworfen hatte, traf sie, und der Umstand, dass Stephan sie förmlich in sein Büro bestellt hatte, erzürnte sie. Dominique fühlte sich nicht umworben. Also fühlte sie sich missachtet.

»Ist das so?«, fragte Dominique spitz zurück und musterte Stephans Büro. Sie verzog die Lippen zu einem kalten Lächeln.

»Hatte ich tatsächlich noch geschlafen?«, fragte sie rhetorisch und fixierte das kleine Fenster seines Büros. »Sie sollten vor Wintereinbruch das Fenster abdichten, Herr Rechtsanwalt. Was Sie sich hier leisten, ist der Baustandard aus der Mitte des letzten Jahrhunderts.«

Stephan spürte ihre Feindseligkeit, ihre demonstrierte und zur Waffe gewordene Kälte.

»Frau Rühl-Brossard …«, setzte er einladend an.

»Non!«, blitzte sie zurück. »Ich habe Sie nicht zuletzt deshalb als Anwalt gewählt, weil ich aus dem gefälligen, interessierten Wesen Ihrer Freundin geschlossen habe, dass Sie in gleicher Weise strukturiert sind. Aber ich habe mich offensichtlich sowohl in Ihnen als auch in Ihrer Freundin geirrt. Was ich sagen will: Ich erwarte, dass Sie – und nicht ich! – die offenen Fragen beantworten, Herr Knobel! Dafür bezahle ich Sie!«

Stephan verstand die Signale zu deuten. »Ich handele nur in Ihrem Interesse«, versicherte er und bediente sich der Worte, die er zu gebrauchen pflegte, wenn das Vertrauen des Mandanten zu ihm schwand, ohne dass er dafür einen Anlass gegeben hatte.

Er bat Frau Rühl-Brossard, Platz zu nehmen, doch sie zog es vor, stehen zu bleiben.

»Ich werde nicht lange bleiben, Herr Knobel, d’accord? – Fragen Sie, dann werde ich entscheiden.«

»Was entscheiden?«, fragte Stephan irritiert.

»Ob ich mich weiter von Ihnen vertreten lasse, Herr Knobel. Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen. Also gibt es kein Gespräch mit dem Staatsanwalt vorzubereiten. Wenn Sie eine solche Vorbereitung für erforderlich halten, haben Sie Zweifel an mir. Also sind Sie nicht der Richtige.«

»Dann müssen wir uns trennen«, erwiderte Stephan trocken und überspielte, dass ihn ihre Worte bestürzten.

»Verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte sie unerwartet weich. »Ich weiß, wovon ich spreche. Wenn ich in meinem Beruf mit Menschen umgeben würde, die alles hinterfragen und nicht bedingungslos hinter mir stehen, stünde ich heute nicht da, wo ich bin. Es gibt unverrückbare Parameter des Erfolges.«

Sie trat vor und reichte Stephan die Hand. Er war von der plötzlichen Trennung überrascht und suchte nach korrigierenden vermittelnden Worten, wollte sich erklären und um Vertrauen werben. Ihm stach ins Bewusstsein, dass er dieses Mandat wirtschaftlich brauchte und fürchtete, es leichtfertig verspielt zu haben. Es schadete, zu direkt zu sein.

»Irgendwann werden Sie mich verstehen, Herr Rechtsanwalt«, belehrte sie ihn aus dem Schatz ihrer reichen Lebenserfahrung. »Ich brauche einen Anwalt, der keine Fragen stellt, sondern sie beantwortet. Erstellen Sie Ihre Rechnung und schicken Sie sie mir nach Hause. Es wird keine Schwierigkeiten geben.«

»Ich werde das Mandat niederlegen«, bestätigte Stephan matt. Es verletzte ihn, wie sie ihn gönnerhaft abservierte. »Aber Sie sollten sich unbedingt einen Anwalt nehmen, Frau Rühl-Brossard! Es kann sein, dass der Staatsanwalt unangenehme Fragen stellt. Sie sollten vorbereitet sein.«

»Werde ich«, versicherte sie. »Ich habe schon einen Termin vereinbart.«

Es war offensichtlich, dass sich seine Mandantin schon gegen Stephan entschieden hatte. Warum hatte sie das Mandat nicht telefonisch gekündigt? Es wäre weniger demütigend gewesen.

»Wer wird Sie vertreten, wenn ich fragen darf?«

»Herr Löffke«, antwortete sie knapp.

»Löffke?«, staunte Stephan. »Sie hatten der Kanzlei Hübenthal damals den Rücken gekehrt, weil Sie unzufrieden waren. Die besseren Anwälte sitzen doch in Düsseldorf, oder irre ich?«, fragte er gereizt.

»Sie sind nicht souverän, Herr Knobel«, lächelte sie überlegen. »Im Geschäft müssen Sie immer wieder neue Wege gehen – und manchmal auch alte Wege neu beschreiten. Es ist wie in der Architektur: Kein Gedanke, keine Idee ist verboten. Nur so entsteht Neues.«

Dominique Rühl-Brossard wirkte eigenartig entrückt. Als sich Stephan erhob, um die Mandantin zu verabschieden, klopfte es an seine Bürotür, die zeitgleich von Hubert Löffke geöffnet wurde. Der bullige Kollege füllte im schwarzen Dreiteiler den Türrahmen. Er trug tadellos geputzte Lackschuhe, ein elegantes, modern geschnittenes weißes Hemd und eine korrekt gebundene rote Seidenkrawatte.

»Gnädige Frau, darf ich Sie in mein Büro begleiten«, säuselte er galant.

Frau Rühl-Brossard warf ihren Kopf nach hinten, schlug den violetten Schal über die Schulter und folgte bereitwillig.

»Darf ich fragen, ob Sie nach wie vor einen Latte Macchiato bevorzugen?«, erkundigte sich Löffke artig, indem er die Tür weit öffnete und seiner Mandantin den Vortritt ließ.

»Ich habe vorausschauend geordert, natürlich zusammen mit dem feinen englischen Gebäck, Frau Rühl-Brossard. Ganz wie in alten Zeiten«, übte er sich salbungsvoll in ihm sonst fremden Gepflogenheiten.

Dominique strebte entschlossenen Schrittes aus Stephans Büro.

Löffke blinzelte Stephan kurz an, als er sich abwandte.

»Tut mir leid, Kollege Knobel«, schnaufte er leise. »Es gilt freie Anwaltswahl. Sie kennen den Grundsatz.«

Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Anzug war zu warm.

 

Stephan blickte nachdenklich an die Decke seines Büros. Die alte Leuchtstoffröhre warf ihr künstliches Licht in den Raum. Er sah auf den Notizzettel, auf dem er die Fragen aufgeschrieben hatte, die er Dominique stellen wollte: Wer konnte bezeugen, dass Pierre, wie Dominique gegenüber Marie behauptet hatte, in letzter Zeit sonderbar geworden war, und wie zeigte sich dies? Warum war Pierres Zimmer in Paris erst vor Kurzem schwarz gestrichen worden und wie kam es dazu? Hatte Pierre jemals Interesse gehabt zu zelten? Wie erklärte sich Dominique, dass Pierre die fraglichen Briefe auf dem Computer geschrieben hatte? Hatte sie selbst nach Pierres Verschwinden den Computer intensiver benutzt, sodass man im Wesentlichen nur ihre Fingerabdrücke auf der Tastatur fand? Warum hatte Dominique nichts davon erzählt, dass Pierre angeblich schon häufiger für eine gewisse Zeit einfach verschwand? Wusste sie, wo er sich in dieser Zeit aufgehalten hatte? Besaß Pierre ein rotes Fahrrad?

Stephan hatte noch weitere Fragen, die zu stellen er sich vorbehalten hatte und auf den Kern zustießen: Hatte Dominique die Briefe selbst geschrieben? Hatte sie Marie am Ende nur nach Paris gelockt, damit sie Zeugin der angeblichen inneren Wandlung von Pierre sein konnte? Sollte sie Augenzeugin der schwarz gestrichenen Wände mit den aufgeklebten Katastrophennachrichten sein? War am Ende der Fund der Postkarte durch Marie seitens Dominique arrangiert worden, indem sie die Tür zu Pierres Zimmer etwas geöffnet und so den Sprung der Katze auf das Bett provoziert hatte, der den kalkulierten Tausch der Bettwäsche nach sich zog?

Stephan steckte den Notizzettel wieder in die Innenseite seines Sakkos. Er würde diese Fragen Dominique nicht mehr stellen müssen. Stephan sah auf die Uhr. Punkt zwölf. In einer halben Stunde hatte sich ein neuer Mandant angekündigt: Beratung in einer Nachbarschaftsstreitigkeit. Der von der Empfangssekretärin im Erdgeschoss gefertigte Vermerk enthielt das Kürzel BH. Das hieß: Mandant ist nicht vermögend, er kommt auf Beratungshilfeschein. Stephan lächelte bitter.

Als er am frühen Abend sein Büro abgeschlossen und dem Ausgang im nobel ausgestatteten Erdgeschoss zustrebte, fiel noch Licht aus Löffkes Büro in den Flur. Stephan tastete sich über die Marmorfliesen vor und spähte vorsichtig hinein. Löffke saß behäbig hinter seinem Schreibtisch und schien Stephan erwartet zu haben. Er schmauchte eine Zigarre.

»Wir haben die Gräfin wieder eingefangen«, dröhnte er stolz und lehnte sich zurück. »Sie wird jetzt mit allen Sachen nur noch zu mir kommen. Die Düsseldorfer sind raus. Habe alles klar gemacht.« Er schlug entspannt die Beine übereinander.

»Haben Sie sie auf den Termin mit Ylberi vorbereitet?«, fragte Stephan nüchtern.

»Ich weiß im Groben, worum es geht«, antwortete Löffke generös. Er blickte versonnen auf die auf seinem Tisch stehenden leeren Gläser, in denen Latte Macchiato serviert worden war. Auf dem kleinen Silbertablett lag noch etwas von dem feinen englischen Gebäck. Löffke beugte sich vor, wählte verzückt aus und führte ein Stück mit spitzen Fingern genussvoll in den Mund. »Sie wissen doch, dass die Staatsanwaltschaft alles beweisen muss«, sagte er mit gefüllten Backen. »Also wird meine Mandantin alle Fragen, deren Antwort sie belasten könnte, erst gar nicht beantworten. Ich rate sowieso immer dazu, nichts zu sagen. Wer nichts sagt, sagt nichts Falsches, also macht er auch nichts falsch. Das gilt für alle Strafverteidigungen.« Dann zog er wieder an der Zigarre.

»Ist das Ihre Taktik?«, wunderte sich Stephan. »Der Fall ist überaus kompliziert.«

»So kompliziert, dass er Sie überfordert hat, Knobel«, diagnostizierte Löffke arrogant. »Bei der Gräfin muss man klotzen. Also schlage ich voll drauf.«

»Das heißt?«, forschte Stephan.

»Ich fertige eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Staatsanwalt an«, verkündete Löffke stolz.

»Weshalb?«

»Weil er mit seiner Herrenart Madame Rühl-Brossard auf die Nerven geht. Der gute Mann scheint ein bisschen überengagiert. Man bestellt eine Frau Rühl-Brossard nicht einfach ein. Das macht man im Übrigen auch nicht als Anwalt mit Klientel dieses Formats«, belehrte Löffke.

»Es geht um ein Verbrechen«, hielt Stephan dagegen. »Ylberi macht nichts falsch. Und es sollte in Dominiques eigenem Interesse sein, die Wahrheit ans Licht zu bringen.«

»Es geht ums Geschäft, Knobel«, korrigierte Löffke. »Das wollen Sie einfach nicht lernen. Rechtlich richtig ist, was Geld bringt. Und auf Befindlichkeiten lasse ich mich ein. Ich bin doch sensibel, Knobel. Eine Frau Rühl-Brossard ist eben très fragile.« Er verdrehte kokettierend die Augen.

»Die Gräfin«, merkte Stephan gedehnt und zynisch an.

»Nein, die renommierte Architektin Dominique Rühl-Brossard«, stellte Löffke richtig.