Die zweite Nacht
Es war dunkel.
Milia lag mit Schmerzen im Bett. Schmerzen, die krampfartig vom Unterleib aufstiegen. Sie hatte das Gefühl zu ersticken. Hatte das Gefühl, eine Faust bohre sich ihr in den Unterleib. Ihr Körper war gelähmt, der Kopf schwer. Sie öffnete die Augen, sah nichts. Der Schmerz breitete sich aus, verflog und hinterließ eine dumpfe Erinnerung.
Nach neun Monaten war nun der Zeitpunkt gekommen.
Erneut befielen sie Schmerzen. Der Bauch krampfte sich zusammen. Und da erschien ihr ihre Großmutter. Warum war Umm Jûsuf all die Jahre aus ihrem Gedächtnis wie weggewischt gewesen? Und warum tauchte sie ausgerechnet an diesem Tag wieder auf?
Das weiße Haar hinten im Nacken zu einem Dutt zusammengeschlungen, saß sie bewegungsunfähig im Bett und schwieg. Ein alter Kater schlich umher, traute sich nicht, zu ihr aufs Bett zu springen.
Hasîba Haddâd, auch Umm Jûsuf genannt, starb, als Milia dreizehn Jahre alt war. Mit ihrem Tod verschwand sie aus dem Gedächtnis der Enkelin, in das sie ohnehin nicht eingegangen war. Aber warum tauchte sie ausgerechnet an diesem Tag wieder auf? Und warum der Kater?
Milia erwachte aus dem Schlaf. Sie öffnete die Augen. Es war ein strahlend heller Morgen. Sie setzte sich auf und tastete, wie sie es immer tat, mit den Füße nach den Pantoffeln. Da sprang plötzlich ein Kater zwischen ihren Beinen auf. Die Pantoffeln hatten sich in einen Kater verwandelt, der wie angestochen davonrannte. Milia lief ihm nach, drängte ihn im Zimmer in eine Ecke, stellte sich auf ihn, hörte ein geröcheltes Miauen. Da sah sie ihre Großmutter Hasîba, die eigentlich Habîsa hieß.
Warum Abu Saîd seine Tochter Habîsa, also »eingesperrt«, genannt hatte, konnte sich Saada nicht erklären. Vielleicht, weil seine Mutter so hieß. Aber warum hatte man der Mutter solch einen Namen gegeben? Fest steht jedenfalls, dass Milias Großmutter sich in Hasîba umbenannt hat und dass alle den neuen Namen akzeptierten. Nur ihre Schwiegertochter nicht. Noch über den Tod der Alten hinaus nannte Saada sie unbeirrt Habîsa und brachte Jûsuf damit jedes Mal gegen sich auf. Sie solle das gefälligst lassen, wies er sie mit bebender Stimme zurecht. Saada aber war Saada.
»Ich will sie Oma Hasîba nennen«, sagte Milia zu ihrer Mutter.
»Nenne sie, wie du willst, mein Kind. Aber sie heißt Habîsa. Gott hat sie erlöst. Und damit auch uns und den Kater.«
Was war mit dem Kater geschehen? Hatte Saada ihn wirklich vierundzwanzig Stunden nach dem Tod ihrer Schwiegermutter vergiftet? An die Tränen ihres Vaters hatte Milia keine Erinnerung. Davon wusste sie nur aus Saadas Erzählungen.
»Um den Kater hat er mehr geweint als um seine Mutter.«
Der Kater hieß Pascha. Hasîba hatte ihm diesen Namen gegeben, weil er etwas von einem türkischen Pascha hatte, wie sie fand. Blondes Fell, braune Augen, einen langen Schnurrbart und pummelig wie ein Schaf. Er war alt und durch eine Augenkrankheit, wahrscheinlich den grünen Star, halb blind. Aber nicht infolge seiner Sehschwäche stolperte er, so glaubte Saada, sondern weil er schon recht senil war. Er sei altersschwachsinnig und kaum mehr bei Sinnen. Statt wie Katzen sonst ein würdiges Verhalten an den Tag zu legen, urinierte und kotete er überall hin. Deshalb stank es im ganzen Haus erbärmlich. Saada wollte ihn davonjagen. Aus Mitleid mit der kranken Mutter aber setzte Jûsuf durch, dass das Tier unter seinem persönlichen Schutz im Haus blieb.
»Ich flehe dich an. Mutter verliert den Verstand!«
»Ist doch längst schon passiert!«
»Gott vergebe dir deine Gehässigkeit, Frau! Von heute an putze ich dem Kater hinterher.«
»Und wer putzt deiner Mutter hinterher?«
»Nicht so laut. Sie hört dich noch!«
Hasîba im Bett hörte alles, sagte aber nichts. Sie hatte sich »in die Wüste des Schweigens begeben, aus der es kein Zurück gab«. Milia hatte keine Ahnung, von wem diese Metapher stammte. Bestimmt von der Nonne. Sie hatte Hasîbas Schweigen nämlich »Wüste« genannt. Am Ende hätten alle Heiligen, so sagte die Nonne, die Wüste gewählt. Schwester Mîlâna war die einzige Person, die Hasîba Respekt entgegenbrachte und sich ehrfürchtig vor ihr verneigte. Wann immer sie zu Besuch kam, ging sie als Erstes zu der alten Frau ans Bett. Sie wischte ihr mit einem ölgetränkten Stück Watte über die Stirn und drückte ihr einen Kuss auf den Kopf, ohne den geringsten Ekel vor dem Geruch zu zeigen, den die spröde Haut der Alten ausdünstete.
»Soll das heißen, dass Oma schon ans Bett gefesselt war, als ich geboren wurde?«, fragte Milia.
»Nein, mein Kind. Als du kamst, war sie bei bester Gesundheit. Sie schlief in dem Bett hier neben dem, in dem ich dich zur Welt gebracht habe. Aber sie hielt sich kaum im Haus auf, sondern war immer unterwegs. Und eines Tages, du warst ungefähr fünf Monate alt, brachte man sie heim. Sie sei auf der Straße hingefallen, hieß es. Und so, bewegungsunfähig, blieb sie dann, bis sie starb.«
»Und als sie starb, wo habe ich da geschlafen?«
»Du hast bei ihr im Zimmer geschlafen. Aber wir haben dafür gesorgt, dass du nichts mitbekommst. Weder du noch deine Brüder. Bis auf Salîm. Salîm kam zu uns ins Zimmer und sagte: ›Oma ist eiskalt.‹ Ich bin sofort aufgesprungen. Dein Vater blieb wie erstarrt liegen. Ich musste ihn anschreien, damit er mitkommt. Wir haben euch Kinder zu meiner Mutter gebracht und erst wieder geholt, als alles vorbei war und der Kater unter der Erde lag.«
Milia hatte keine Erinnerung an ihre Großmutter. Alle Bilder, die ihr von der alten Frau vorschwebten, entstammten den Erzählungen ihrer Mutter. Eine bruchstückhafte Geschichte, zusammengereimt aus Wortfetzen und zu Bildern geworden, die einen gewissen Teil ihrer Träume beherrschten.
»Ich muss aus diesem Traum raus!«, sagte Milia.
Sie stand auf, öffnete die Zimmertür und rief den Kater. Der Kater rannte fluchtartig unter das Bett und fing an zu miauen. Sie kniete sich hin und lockte ihn. Der alte Kater hob den Kopf und ging in Kampfstellung, bereit, jeden Moment anzugreifen. Die kleine Milia wich erschrocken zurück. Der Kater hockte unter ihrem Bett im Lîwân. Die Großmutter beobachtete das Geschehen mit geöffneten Augen. Den Kopf auf den Knien auf zwei übereinandergestapelten Kissen abgelegt, saß sie wie zusammengeklappt im Bett, reglos, außerstande, den Oberkörper aufzurichten.
Warum schlief sie in der Position?
Milia sah von ihr nur den Rücken, die gequetscht helle Wange auf dem Kissen und weißen Schaum, der sich um die geschlossenen Lippen sammelte. So brachte Umm Jûsuf ihre letzten drei Lebensjahre zu.
Eines Morgens erwachte Jûsuf und fand seine Mutter in dieser seltsamen Haltung vor. Sie wolle von nun an vorgebeugt schlafen, um den Tod fernzuhalten, erklärte sie.
»Wenn ich auf dem Rücken schlafe, kommt der Todesengel Âzrâel und zieht mir die Seele aus dem Mund.«
Hasîba glaubte, dass sie sterben würde, wenn sie auf dem Rücken lag, und dass sie dem Tod nur entrinnen könne, wenn sie sich zu einer Kugel machte. Den Kreis könne der Tod unmöglich durchbrechen, weil das Leben rund sei. Das soll sie, wie Jûsuf behauptete, gesagt haben. Doch keiner glaubte ihm. Denn wie hätte eine geistig verwirrte alte Frau zu derart philosophischen Gedankengängen fähig sein sollen?
Sie starb aber doch. Kalt hockte sie im Bett. Den Oberkörper vorgeklappt, das Gesicht auf den beiden übereinandergeschichteten Kissen ruhend, die Beine angewinkelt und einen Blutfaden am Ohr. Hätte Saada nicht geistesgegenwärtig ihren Mann aufgefordert, mit anzupacken und die Tote ausgestreckt auf den Rücken zu legen, dann hätte Hasîba, in der Haltung erstarrt, in keinen Sarg mehr gepasst.
Milia lockt den Kater. Er setzt zum Sprung an, kommt stattdessen aber, in einer Zickzack-Linie, torkelnd unter dem Bett hervor und kriecht in den Pantoffel.
»Nein, nicht!«, rief Milia.
Mansûr stand an ihrem Bett. Es war fünf Uhr und noch nicht dunkel. Milia hatte sich ins Bett gelegt, weil ihr der Bauch zu schwer geworden war. Sie wollte sich nur kurz ausruhen, wieder aufstehen und das Abendessen fertig haben, wenn Mansûr heimkam. Doch dann überkam sie jenes Kribbeln, das sie immer unwillkürlich in den Schlaf zog. Wellenartig einander folgend, setzten die Schmerzen ein und verflogen schließlich. Der Kater nahm die Gestalt eines Pantoffels an. Kaum schob sie den Fuß hinein, ertönte ein Kreischen.
Milia öffnete die Augen und gab Mansûr mit einem Handzeichen zu verstehen, dass er sie allein lassen solle.
»Fünf Minuten, dann stehe ich auf«, sagte sie.
Schlagartig war alles ausgelöscht, und sie versank in tiefer Dunkelheit. Ihr Bauch krampfte sich zusammen. Sie rollte sich ein, um den Schmerz zu lindern. Erneut tauchte sie in die Geschichte. Sie sieht den Kater sterben. Hört, wie der Vater schluchzt, während er den toten, in dunkles Papier gewickelten Kater in den Garten trägt und beerdigt. Der Kater hatte das vergiftete Futter gefressen, sich lautlos unter Hasîbas Bett verkrochen, alle viere von sich gestreckt und sein Leben ausgehaucht.
Pascha war das letzte Kapitel in Hasîbas Leben, das sich im weißen Eisenbett abspielte. Sie saß, aus Angst einzuschlafen. Und kaum nickte sie ein, schrak sie panisch hoch, aus Angst vor dem Tod.
Das Ende ihrer Tage brachte die alte Frau schweigend zu. Gestört wurde die Stille nur von rätselhaften Geistern, die durch das Fenster in ihr Zimmer schwebten. Seltsame Stimmen und ein unentwegtes Brummen tönten ihr in den Ohren. Als schwarzer Rauch umschwirrten die Geister sie im Bett und erzählten ihr von einer Vergangenheit, die nicht vergangen war, sondern fortbestand in Form von aufeinanderfolgenden Bildern in grauem Dunst und einem nicht endenden Brummen.
»Hilfe, diese Stimmen«, schrie Hasîba unvermittelt. Sobald Saada aber zu ihr geeilt kam und fragte, was los sei, trieb die Alte wieder in die Wüste des Schweigens.
Habîsa war die zweite Tochter von Nâsîf Haddâd, der mit Frau, vier Töchtern und einem Sohn 1860 vor den Massakern im Gebirge geflohen war. Nâsîf hatte das Haus, den vom Vater geerbten Seidenwebstuhl und den kleinen Gemüsegarten zurückgelassen und das Dorf Kfar Qatra im Schûf fluchtartig verlassen, um seine Familie vor dem Grauen zu retten, das in jener Zeit im Libanongebirge wütete. Unterwegs war der zwölfjährige Sohn Saîd verloren gegangen, auf dessen Rückkehr Nâsîf bis an sein Lebensende wartete. Tagaus, tagein verharrte er im Garten des Hauses im Beiruter Musaitba-Viertel. Niemals besuchte er jemanden. Denn er wartete. Morgen für Morgen erzählte er, dass er den Sohn im Traum gerochen habe. Saîd aber tauchte nie wieder auf. Die Töchter heirateten alle mit Ausnahme von Habîsa. Beharrlich lehnte sie jeden Brautwerber ab. Eines Tages willigte sie schließlich doch ein. Ihr Vater konnte es kaum fassen. Aber Habîsa hatte sich entschieden. Für den Zimmermann Salîm Schâhîn, der meist auf dem Platz vor der Erzengel-Michael-Kirche Hütchen spielte oder in der kleinen Kneipe neben der Kirche Arrak trank. Habîsa, zwanzig Jahre alt, immer ein langes schwarzes Kleid mit sieben Knöpfen am Leib, von Vater und Schwestern schon fast zur alten Jungfer erklärt, verblüffte alle mit ihrem Entschluss. Jahrelang hatte sie jeden Antrag ausgeschlagen und sich in einen Schleier aus Schweigen gehüllt. Sie kleide sich schwarz, hieß es, weil sie um ihren Bruder trauere und sich mit seinem seltsamen Verschwinden nicht abfinden könne. Vielleicht auch aus Protest gegen die Theorie ihres Vaters. Er glaubte, dass Saîd aus Abscheu vor seiner Heimat auf ein französisches Schiff gestiegen sei, sich in die neue Welt abgesetzt habe und eines Tages zurückkomme. Diese Geschichte hatte sich Nâsîf so zurechtgelegt, und er glaubte fest an sie. Sein ewiges Warten ging allen nahe. Habîsas Mutter dagegen starb sieben Monate nach der Ankunft in Beirut. Sie erlag dem Heimweh, einer im Libanon des 19. Jahrhunderts aufgrund von Migration, zahllosen Massakern und Katastrophen weit verbreiteten Krankheit. Drei Tage hatte sie in der kleinen, von Salîm auf Kirchenland erbauten Hütte darniedergelegen und dann ihr Ende gefunden. Die Töchter befürchteten, der Vater könne sich neu verheiraten. Er aber machte sich nichts aus Frauen. Schließlich wimmele es in Beirut, wie er sagte, nur so von Frauen, die aus den Bergen geflohen waren.
Er fand Anstellung bei dem Beiruter Seidenhändler Abdallah Abd an-Nûr und arbeitete an einem alten Webstuhl, den der Händler in einem Schuppen neben seinem Geschäft aufstellte. Nâsîf übte nun seinen Beruf wieder aus. Er hatte sein Leben zurück. Und das Dorf löschte er aus dem Gedächtnis.
Habîsa blieb im Haus mit ihrem Vater. Er kehrte spät nachts betrunken heim, aß eine Kleinigkeit von dem Essen, das sie zubereitet hatte, und legte sich schlafen. Hasîba hingegen durchwachte die Nächte, wie immer schwarz gekleidet.
Keiner kannte die Geschichte. Saada behauptete, gehört zu haben, wie Habîsa in der Frühphase ihrer Demenz einmal mit einem Mann ihrer Vorstellung namens Ferdinand Französisch gesprochen hatte. Darauf ging die Fantasie mit Saada durch. Sie malte sich eine heiße Liebesgeschichte aus. Ein französischer Offizier habe Habîsa die Ehe versprochen und sich kurz darauf, wie alle Soldaten es tun, aus dem Staub gemacht. Trug Habîsa womöglich Schwarz aus Trauer um ihre verlorene Liebe und vergeudete Jungfräulichkeit? Hatte der Mann sie mit seiner hellen Haut und seinen blauen Augen verzaubert? Hatte er sie in das Königreich der Träume entführt und sie dann sitzenlassen?
Saada fragte Schwester Mîlâna nach der Geschichte, wurde aber harsch zurechtgewiesen. Sie solle sich nicht in Dinge einmischen, die sie nichts angingen, sagte die Nonne. Gott allein kenne das Verborgene und die Geheimnisse des Herzens.
Was hatte sich zugetragen?
Saada fragte ihren Mann, was es mit Ferdinand auf sich hatte.
»Was sollen diese Lügen, Frau!«, schimpfte Jûsuf, die Stirn gerunzelt, sodass die buschigen Augenbrauen dichter zusammenrückten. »Das ist meine Mutter! Willst du etwa, dass ich solche Geschichten über deine Mutter verbreite?«
In der Nacht sprach Jûsuf seine Mutter darauf an, bekam aber keine Antwort. Wie geistesabwesend stierte sie in die Ferne. Doch dann sprudelten ihr unvermittelt fremdsprachige Worte aus dem Mund und schließlich auch der Name Ferdinand. Jûsuf fiel es wieder ein. Er erinnerte sich an das große Geheimnis, das seine in die Wüste des Schweigens entrückte Mutter im Herzen barg.
Hasîba hatte seinen Vater, wie Jûsuf wusste, in der Nacht geheiratet. Sie hatte sich ausbedungen, dass die Eheschließung mit Salîm Schâhîn nachts vollzogen würde, und bekam ihren Willen. Hasîba legte ein langes schwarzes Kleid an und schritt, geleitet von ihrem Vater, den drei Schwestern und deren Ehemännern, in die Nacht hinaus. Der Brautzug hatte etwas von einer Beerdigung. Am Kirchentor erwartete Salîm in seidener, mit Goldfäden durchwirkter Abâja1 und mit rotem Tarbûsch auf dem Kopf seine Zukünftige. Er war auf ihren Wunsch hin allein erschienen. Das Brautpaar trat bei Kerzenlicht vor den Altar und wurde von Pater Andrawus getraut. Anschließend zogen die beiden in Salîms Haus. Der Bräutigam hatte zwar eine Kutsche mit Vierergespann bestellt. Die Braut aber wollte nicht einsteigen, sondern lieber zu Fuß gehen. Also hakte sie sich bei ihrem Mann ein und tauchte still mit ihm in die Dunkelheit.
Hat Salîm irgendwann von der Geschichte mit Ferdinand erfahren und sich dafür an seiner Frau rächen wollen? Oder war das, was Jûsuf für Rache hielt, eher Salîms unbeholfene Reaktion darauf, dass er infolge einer Mumpserkrankung nur ein Kind hatte zeugen können?
»Was für eine Geschichte«, sagte Milia zu ihrer Mutter. »Ein Mann freut sich das ganze Leben darauf zu heiraten. Und wenn es endlich so weit ist, glaubt er, etwas anderes suchen zu müssen.«
»So sind die Männer, mein Kind. Männer sind hohl. Sie haben kein Leben, das sie ausfüllt. Wer kein Leben schenken kann, fühlt sich leer und führt sich auf wie ein Affe. Er stellt laufend Unfug an und macht den anderen das Leben schwer… Da kann nur Gott helfen!«
Salîm lernte von seiner Frau, die Dunkelheit als Vorhang zu nutzen und sich dahinter zu verstecken. So machte es Hasîba. Munter wurde sie erst nachts. Sie kochte und putzte im Schein der Öllampe. Und sobald ihr Mann ins Geschäft ging, legte sie sich, auf das Tageslicht gebettet, schlafen.
Jûsuf überredete sie zu dem Umzug in das neu von Salîm gekaufte Haus.
»Sei nicht albern, Mutter. Das ist ein Haus wie jedes andere.«
Dann aber fand sie heraus, dass das Haus von Khawâdscha Sergius Aftimus für seine ägyptische Geliebte gebaut worden war und dass besagte Ägypterin auch Salîms halb offizielle Geliebte war. Daraufhin verlor Hasîba die Beherrschung und wurde laut.
Von Enttäuschung, Verletzung und Schmach wie am Boden zerstört und immerzu weinend, erfuhr sie zudem die Wahrheit über den Vorfall mit dem Stein, der Jûsuf fast das Auge gekostet hätte. Die Familie war gerade in das Haus eingezogen, das Salîm nach dem Tod seiner ägyptischen Geliebten von Khawâdscha Aftimus’ Erben erstanden hatte. Was Hasîba erschütterte, war nicht die Tatsache, dass ihr Mann sie betrogen hatte. Nein, er tat ihr leid. Ja, das gesamte männliche Geschlecht tat ihr, wie sie ihrem einzigen Sohn erklärte, maßlos leid. Unerträglich fand sie jedoch, dass sie in solch einem dschungelartig zugewucherten Bau hausen musste, in dem es vor Schlangen und Skorpionen wimmelte, nur weil Salîm seiner ägyptischen Geliebten unerschütterlich die Treue hielt.
Keiner fragte Hasîba, wie sie hinter Salîms Verhältnis gekommen war. Denn sie erfuhr davon erst, als die Sache ohnehin allgemein bekannt war. Und allgemein bekannte Geschichten brauchen nicht erzählt zu werden. Wie ein Geruch breiten sie sich von selbst aus.
Der Skandal stank bereits zum Himmel und hüllte Hasîba in ein ganz neues Schwarz.
Was sie irritierte, war, dass sie sich derart hatte täuschen lassen.
»Schakal, Hundesohn«, schimpfte sie ihren Mann.
Ein Schakal war Salîm im wahrsten Sinne des Wortes. Kaum ein Mann fürchtete seine Frau so sehr wie der Zimmermann die schwarze Hasîba. Doch dann musste sie eines Tages feststellen, dass Scheu und Unterwürfigkeit nichts als Schein waren und dass sich dahinter in Wirklichkeit ein bösartiger, rachsüchtiger Mann verbarg.
Aber wofür rächte er sich in Anbetracht seines Zustands?
Salîm war nicht zu beneiden. Nach der Geburt seines Sohnes Jûsuf bekam er Mumps. Im Volksmund auch »Beule« genannt, weil die Lymphdrüsen anschwellen, ist Mumps als reguläre Kinderkrankheit in jungen Jahren ungefährlich. Erkrankt aber ein Erwachsener daran, dann sieht die Sache anders aus. Beim Mann kann die Fruchtbarkeit in Mitleidenschaft gezogen werden. Entzünden sich nämlich die Hoden, kostet es den Betroffenen die Zeugungsfähigkeit.
Genau das widerfuhr Salîm. Lange hatte er mit dieser üblen Krankheit zu kämpfen. Der traditionelle arabische Arzt besuchte ihn etliche Male und verschrieb ihm bittere Kräuter, die er, in Wasser aufgekocht, als Tee zu trinken hatte. Als er schließlich vollkommen genesen war, eröffnete ihm der Arzt, dass es mit der Fruchtbarkeit vorbei sei, dass er keine Kinder mehr zeugen könne und dass er sich mit dem einen Sohn begnügen müsse, den Gott ihm geschenkt hatte. An dem Punkt wendete sich das Blatt. Salîm konnte seine ehelichen Pflichten nicht mehr erfüllen. Plötzlich war an ihm alles erschlafft. Er spielte mit dem Gedanken, sich das Leben zu nehmen. In seiner Verzweiflung suchte er einen anderen Arzt auf. Der bestätigte, dass Mumps die Zeugungsfähigkeit beeinträchtige, sah aber keinen Zusammenhang zwischen Krankheit und Potenzschwäche. Er verschrieb Salîm Tonika und riet ihm, zum Frühstück Honig und Pinienkerne zu essen. Doch nichts half. Allerdings hielten Pinienkerne auf diese Weise Einzug in den Speiseplan des Hauses. Jûsuf aß seither mit Begeisterung Pinienkerne und gab diese Vorliebe an seine Kinder weiter. Als Milia die Küche übernahm, machte sie Pinienkerne zum festen Bestandteil fast aller Gerichte. Sie mischte sie unter gekochten Bulgur und gefülltes Gemüse und garnierte Süßspeisen damit. Sogar Qatâjif-Taschen2 füllte sie mit Pinienkernen, was in Beirut damals nicht üblich war und wohl bis heute nicht ist. Dieses Rezept war ausschließlich Milias Familie bekannt und fand etwas weitere Verbreitung, als die Söhne heirateten. Denn sie hielten ihre Ehefrauen an, die Süßspeise in der gleichen Art zuzubereiten.
»Pinie« sei, so behaupten einige Geschichten, ein anderer Name für Beirut. In Wirklichkeit aber waren diese Bäume eine ägyptische Errungenschaft. Ibrâhîm Pascha, der Eroberer Libanons und Syriens im 19. Jahrhundert, hat in Beirut einen Pinienwald anpflanzen beziehungsweise wieder anpflanzen lassen. Ob das wahr ist, weiß nur Gott allein. Jedenfalls aß Salîm die Pinien des Ibrâhîm Pascha in Honig. Jeden Morgen und jeden Abend. Vergeblich. Sobald er sich nachts seiner Frau näherte und das Leben in sich aufsteigen fühlte, fiel er von einem Moment auf den anderen in sich zusammen. Hasîba sagte kein Wort. Schweigend spürte sie sein Gewicht auf sich. Er strengte sich an, hörte unvermittelt auf, drehte sich um und stellte sich schlafend. Salîm hat »trockene Erde zu kosten bekommen«. Die Einzige, die ihn aus seiner Misere retten konnte, war die Ägypterin. Woher hatte er diese Redewendung? Wie kam es, dass er neue Kraft schöpfte, indem er den ägyptischen Dialekt annahm und sogar mit seinem Sohn so sprach wie die Pharaonennachfahren? Zweifellos stammte die Redewendung von ihr. Sie heiße Mariam, sagte sie. Salîm hat nie in Erfahrung gebracht, ob das ihr wirklicher Name war. Wahrscheinlich stammte sie von einem der Gefolgsleute ab, die Ibrâhîm Pascha auf der Expedition an der levantinischen Küste begleiteten. Und hier stellten sich die Fragen, die Jûsuf immerzu beschäftigten und auf die er keine Antwort fand. Wer war diese Frau? Und wie war sie in das Leben der Familie getreten? Diese Fragen hatten ihn sein rechtes Auge gekostet und jenen Gedanken aufkommen lassen, der ihn sein Leben lang begleitete und auf seine Kinder überging. Den Gedanken, dass Väter imstande sind, ihre Kinder zu töten. Als die Wahrheit ans Licht kam, redete sich Salîm damit heraus, dass er Jûsuf für einen Einbrecher gehalten und nur deshalb einen Stein nach ihm geworfen habe. Ihm sei nie in den Sinn gekommen, dass sein Sohn ihn bespitzeln könnte. Der Stein traf den Jungen am Auge, das seither halb geschlossen war. Salîm aber ging daraufhin mit stolz geschwellter Brust in das Haus seiner ägyptischen Geliebten.
Mariam war nicht Salîms Geliebte. Sie war die Geliebte eines anderen Mannes. Eine Geschichte, verworren wie ein Haufen Wollfäden. Salîm hat keiner Menschenseele je von seiner langjährigen Beziehung zu der Ägypterin erzählt. Am Ende seiner Tage allerdings zeigte sich, sobald er auf das Thema angesprochen wurde, ein dümmliches Lächeln auf seinen Lippen, und schon begann er ein Loblied auf den schönen Mandelbaum zu singen, der ihn zum Kauf des Hauses bewegt habe. Mariams offizieller Geliebter, Herr Sergius Aftimus, war nicht verheiratet. Er gehörte zu den ersten Männern im Libanon, die Abâja und Tarbûsch ab- und europäische Kleidung anlegten. Ein eingefleischter Junggeselle. Er hatte in Paris Architektur studiert und zählte zu der Generation libanesischer Architekten, die den italienischen Kolonnadenstil in die geräumigen, von wohlhabenden Seidenhändlern erbauten Häuser Beiruts einführte. Weshalb ein lediger Mann, der sich eine Geliebte hielt, allerdings darauf bedacht war, dies ja nicht bekannt werden zu lassen, war eines der Geheimnisse jener reichen Beiruter Familien, die den Grundstein für das eigene Aussterben legten, indem sie vor der Ehe zurückscheuten. Sie schufen eine gesellschaftliche Tradition, die auf dem Doppelleben beruhte. Nach außen hin gaben sie sich als fromme, pflichtbewusste Kirchenbesucher. Im Privaten aber unterhielten sie Beziehungen mit Konkubinen. Konkubinen, die entweder Ibrâhîm Paschas Gefolgschaft entstammten oder aber der Gefolgschaft von Alexander dem Großen, wie zum Beispiel Frau Marika Spiridon. Doch das ist eine andere Geschichte.
»Schluss mit dem Quatsch!«, schimpfte Hasîba. »Ich bleibe keine Minute länger in diesem Haus. Das ist ein Haus der Sünde!«
Welche der beiden Sünden meinte sie?
Die Beziehung zu einer Frau mit zweifelhaftem Ruf? Oder die Tatsache, dass der Vater seinen Sohn zu töten versuchte, indem er ihm einen Stein an den Kopf warf, bevor er selbstgefällig aufgeplustert zu seiner Geliebten hineinging?
Hasîba jedenfalls wusste eines: Dass sie nun, wie in der Zeit vor ihrer einzigen Schwangerschaft, wieder ein jungfräuliches Dasein führte, versteckt in einem langen schwarzen Kleid, das, streng bis oben hin zugeknöpft, ihren zugeknöpften Körper versinnbildlichte. Hochgewachsen, der Körper rank und schlank, die Augen etwas hervortretend, eine große Nase, die mitten aus dem Gesicht stach. Die Ausstrahlung, die von ihrer Schweigsamkeit ausging, war unwiderstehlich. Hasîba verbrachte ihre Tage in Schweigen und in die Farbe Schwarz gehüllt. Sie könne im Dunkeln sehen, weil ihre strahlenden Augen die Dunkelheit durchdrängen, behauptete Jûsuf. Er bat Saada um Nachsicht mit der Mutter, die, ans Bett gefesselt, ihrem Ende entgegenging. Schließlich habe sie auch ihre guten Eigenschaften. Außerdem habe sie schwere Zeiten hinter sich.
»Siehst du, wie sich der Schmerz in ihr Gesicht gegraben hat? So war ihr ganzes Leben. Schmerzen über Schmerzen. Also bitte, Saada, sei nett zu ihr!«
»Aber dieser Gestank! Deine Mutter lässt sich die Bettpfanne nicht unterschieben. Und wenn doch einmal, dann verkneift sie sich das Geschäft. Kaum aber liege ich im Bett und will schlafen, geht der Gestank los. Die reinste Tortur ist das! Was habe ich dem lieben Gott denn bloß getan?«
Der Gestank, über den sich Saada beschwerte, war das Letzte, was man von einer Frau wie Hasîba erwartet hätte. Einer Frau, die immer von einer Wolke aus Seifenduft und Parfüm umhüllt gewesen war. Ihre Kosmetik hatte sie nach eigener Rezeptur selbst hergestellt. Rosen in Wasser gelegt, Jasmin und Basilikumblätter hinzugefügt, daraus bereitete sie sich ihre Gesichtspflege zu. Der betörende Duft erfüllte Raum und Luft um sie herum. In zugeknöpftem schwarzem Kleid, aus dem nichts als Wohlgeruch drang, wandelte sie wie ein stummer Geist umher und löste bei den anderen Bewunderung und Ehrfurcht aus. Dennoch vermochte Salîm sie zu demütigen. Und der Gipfel der Demütigung war erreicht, als er das Haus der Ägypterin kaufte. Milia erfuhr die Geschichte von ihrer Mutter und die wiederum von Jûsuf. Jûsuf seinerseits erfuhr sie durch den Stein, der ihn beinahe das rechte Auge gekostet hätte.
Warum hat Jûsuf geschwiegen, als sein Vater das Haus kaufte?
Eines Tages kam Salîm mit der Nachricht heim, dass er ein neues Haus gekauft habe. Hasîba sagte kein Wort. Die Freude, die sie mit einem Umzug aus der kleinen Zwei-Zimmer-Behausung mit Bad im Hof in ein richtiges Haus verbunden hatte, trat nicht ein. Salîm schlug eine Hausbesichtigung vor, doch sie lehnte ab. Er fragte nach ihren Vorstellungen bezüglich neuer Möbel, doch das war ihr, wie sie sagte, egal. Still packte sie zusammen und bereitete den Umzug vor. Alles ging glatt vonstatten. Die Familie bezog das neue Haus. Salîm und Hasîba richteten sich im Lîwân ein. Und nebenan im geräumigen Dâr, der mit dem Lîwân verbunden war, bekam Jûsuf in einer Ecke seinen Schlafplatz. Alles nahm seinen geregelten Gang, bis Hasîba von der Sache erfuhr. Da platzte ihr der Kragen. Alles Stillschweigen, das in dem zugeknöpften schwarzen Kleid gesteckt hatte, schlug in hemmungslosen Zorn gegen Jûsuf um. Sie verzieh ihm nicht, dass er ihr die Wahrheit verschwiegen hatte. Wie sie es in Erfahrung gebracht oder wer sie in Kenntnis gesetzt hat, sind müßige Fragen.
»Wir haben keine Geheimnisse«, erklärte Saada ihrer Tochter. »Alle wussten über Salîm Bescheid, bis auf seine Frau. Und das wiederum ist eine Sache, die ich nicht glaube. Nein, sie war von Anfang an im Bilde, spielte aber die Ahnungslose. Was sie so aufgebracht hat, ist mir ein Rätsel. Wozu die ganze Aufregung? Bei dem Mann war eh nichts mehr zu holen. Seit seiner Erkrankung war doch der Ofen aus. Jedenfalls, als sie herausfand, dass das Haus der Ägypterin gehört hatte und sie in deren Bett schlief, fing sie an zu jammern und wollte nur noch sterben. Sie übergoss sich mit Petroleum und war gerade im Begriff, sich anzuzünden, als Jûsuf sich auf sie warf und alles, Gott sei Dank, ein gutes Ende nahm.«
Wie ging es Salîm, als ihm klar wurde, dass er impotent war? Auf diese Frage gibt es keine Antwort.
»Er hat trockene Erde zu kosten bekommen«, kommentierte Mariam, die Ägypterin.
Er suchte zig Ärzte auf. Vergeblich. Dann aber trugen ihn seine Beine an jenen Ort, und sofort war das Problem verschwunden, als habe es nie existiert. Khawâdscha Sergius Aftimus hatte bei ihm ein Bett aus Nussholz in Auftrag gegeben. Salîm schreinerte das Möbelstück und lieferte es mit Hilfe seines Sohnes Jûsuf am Bestimmungsort ab. Und dort erblickte er sie und das Licht. Er war todunglücklich. Nacht für Nacht übermannte ihn stumme Lust. Kaum näherte er sich jedoch seiner in ein langes Nachthemd gehüllten Frau, erkaltete er schlagartig. Bei der kleinen, fülligen brünetten Vierzigerin dagegen fühlte er sich als Mann. Er stellte das Bett in den Lîwân, nickte der Frau zum Gruß zu und nahm seinen Sohn bei der Hand, um zu gehen.
»Halt«, rief sie ihn zurück. »Nicht zu fassen! Erst muss das Bett ja wohl ausprobiert werden! Also einen Moment Geduld noch, Meister!«, sagte sie in ägyptischem Dialekt, und unwillkürlich rieselte ihm ein Schauer durch die Wirbelsäule. Sie setzte sich aufs Bett, stützte sich auf einen Ellenbogen, wie um sich hinzulegen. »Großartig!«, rief sie entzückt. Sie stand auf und gab ihm dankend die Hand. Er spürte, wie sie seine große, raue Hand drückte.
»Schauen Sie bald einmal wieder vorbei, Meister«, hörte er sie sagen. Er verstand und beschloss, der Aufforderung nachzukommen.
Er habe ihre Geste und Worte auf Anhieb verstanden, verriet er ihr später, worauf sie in Lachen ausbrach. Sie leugnete, so etwas von sich gegeben oder auch nur im Sinn gehabt zu haben. Das habe er sich eingebildet.
Nein, diesen Dialog hat sich Milia wohl später ausgedacht. Denn keiner, nicht einmal Jûsuf, wusste, wie sich die Dinge danach entwickelten und es schließlich zu der Beziehung kam. Sie habe ihren Großvater im Traum gesehen, erklärte Milia. Auf den Hügeln sei er durch Gestrüpp gehüpft und ein völlig anderer Mensch gewesen. Plötzlich wieder jungendlich frisch und vor Kraft strotzend, habe er glucksend gelacht wie früher, bevor er den Schlag erhielt. Er habe der Ägypterin wohl die Ehe versprochen. Außerdem habe er, wie es hieß, ernsthaft überlegt, zum Islam überzutreten. Gott aber habe eingegriffen und Hasîba vor der Schande bewahrt. Denn die Ägypterin starb überraschend. Und zurück blieben nur das Haus und ihr Schatten, der bis an Hasîbas Ende durch die Räume spukte.
Als Salîm ihr den Antrag machte, lehnte sie ab. Sie ließ ihre Reize spielen und sprudelte vor Lust geradezu über. Es war das erste Mal, dass sie ein solches Angebot bekam. Khawâdscha Aftimus hatte sie immer als Mätresse behandelt. Er hatte sie aufgenommen, eine Dame aus ihr gemacht, ihr dieses schöne Haus inmitten von Bäumen errichtet, und er besuchte sie ein Mal im Monat. Die Ehe aber hat er ihr nie angetragen. Und das hat sie auch nicht erwartet. Khawâdscha Aftimus war fünfundsiebzig Jahre alt. Er besuchte sie stets am ersten Mittwoch im Monat und zahlte ihr, was kraft der Gewohnheit zu ihrem Monatslohn geworden war. Die beiden sprachen über die Liebe in der Vergangenheitsform, und dann ging Khawâdscha Aftimus wieder. Er hielt ihr, die er, als sie in den Zwanzigern war, geliebt hatte, die Treue. Außerdem hatte er sie vor dem Schicksal bewahrt, in das Prostituierte von dem osmanischen Gesetz gedrängt wurden. Es zwang gefallene Frauen, in einem geschlossenen Viertel zu leben, das später nach dem größten arabischen Dichter »al-Mutanabbi« benannt werden sollte. Aftimus hatte Mariam seinem Schutz unterstellt und behandelte sie als zu respektierende Mätresse eines Beiruter Aristokraten, der er war.
Mariam sei, so die Geschichte, unerwartet gestorben. Die Erben des Khawâdscha Aftimus hätten das Haus zum Verkauf angeboten, und am Ende sei es an Salîm Schâhîn übergegangen, der in bar bezahlte.
Ein Jahr nach dem Einzug in das neue Haus merkte Hasîba, dass sie hintergangen worden war. Aber ihr blieb, nachdem »der elende Hund und Hundesohn ihr Herz verbrannt hatte«, nichts als ins eigene Geschrei Petroleum zu mischen, um auch ihren Leib zu verbrennen. Danach gab sie ihr Schicksal in Gottes Hände und entwickelte neben der Schwäche für einsame nächtliche Spaziergänge eine Schwäche für Katzen. So wurde der Hausgarten zu einer Herberge für die obdachlosen Katzen Beiruts. Aus diesen erwählte sie sich ihr Lieblingstier, dem sie Zutritt zum Haus gewährte. Und dieser Kater war, so verlangte sie von ihrem Sohn und ihrem Mann, wie ein Familienmitglied zu behandeln.
Schmerzen erfassten Milias Unterleib. Ihr war zum Schreien zumute. Sie rief Mansûr. Zwar wusste sie, dass er nicht im Haus war, doch es gab niemanden sonst, an den sie sich hätte wenden können. Sie hörte die Stimme ihrer Großmutter, die sie nie zuvor gehört hatte. Der Kater kam. Sie sah ihren Großvater Salîm. Er steht im Garten, wirft einen Kiesel ans Fenster, um seiner ägyptischen Geliebten zu verstehen zu geben, dass er da ist. Er hockt sich unter den Eukalyptusbaum und wartet darauf, dass sie erscheint. Ihr Schatten zeigt sich hinter dem Fenster, an dem sich Jasminzweige hochranken. Milia sieht sie alle. Angst steigt in ihr auf. Nein, das war kein Traum. Der Kater, den sie als Pantoffel angezogen und dessen Miauen sie geschmerzt hat, das war der Traum. Der Rest aber waren Kreise, die den Traum umringten. Kreise aus den Erinnerungen der Toten, die Milia im Traum heimsuchten. Sie sah sich eine Geschichte an, die nicht die ihre war. Es war, als lese sie in einem Buch. Oder als öffne sich die alte Truhe, die sie von Großmutter Malika geerbt hat. Und heraus kommen anstelle von Büchern, Seiten und Buchstaben ein Mann, eine Frau und deren Sohn. In der Ferne steht die Geliebte unter dem Fenster. Sie wartet. Khawâdscha Sergius Aftimus sitzt in der Ecke, auf dem Kopf einen roten Tarbûsch und am Körper einen sorgfältig gebügelten europäischen Anzug. Er hustet.
Milia wusste, dass Mansûr nicht da war. Seit drei Monaten blieb er tagelang fort und kehrte unversehens heim, mit traurigem Gesicht.
»Wo ist die Poesie geblieben?«, fragte Milia.
Sie wusste, dass der größte Feind der Poesie der Tod ist. Dass die Poesie den Tod zu überwinden vermag, wie Mansûr behauptete, traf nicht zu. Vielmehr hat die Poesie die Aufgabe, uns den Tod näherzubringen, damit wir ihn annehmen und uns so sehr mit ihm anfreunden, dass wir am Ende glauben, die Poesie habe den Tod besiegt, obwohl sie in Wirklichkeit des Todes Kind und seine geheime Stimme ist.
Mit dem Tod von Mansûrs Bruder Amîn veränderte sich das Leben von Grund auf. Milia sah, wie aus Mansûr heraus ein anderer Mann geboren wurde. Es war unglaublich. Der Mann, den sie kannte und über den sie alles wusste, war verschwunden. Er, einst eine offen daliegende Handfläche, an der sie alles hatte ablesen können, existierte nicht mehr. Und nun, von Schmerz gemartert, hätte sie ihm gern gesagt, dass sie sich in jener Nacht im Hotel in ihn verliebt hatte. Ihn, den Mann, der in ihren Schlaf und ihr Erwachen Eingang gefunden hatte, der ihr Schweigen mit Worten und ihre Sprachlosigkeit mit Poesie füllte. Mansûr liebte das Leben. Wie sehr, das offenbarte sich in seiner Begeisterung für das Essen seiner Frau. Und zur Vervollkommnung des Genusses war für ihn täglich ein Glas Arrak vonnöten. »Gutes Essen verlangt nach Arrak. Zu so leckeren Speisen nicht ein Glas Arrak zu trinken ist schändlich!« Mansûr stürzte sich auf Milias Gemüseeintöpfe und erging sich in Lobeshymnen auf sein Leibgericht »Mutters Milch«. Die Araber hätten in ihrer Dichtung sogar Süßspeisen besungen, sagte er lachend und zitierte einen Vers von Ibn ar-Rûmi3 über Krapfen.
»Süßes ist Gold! Hör zu:
Wie Silber tropft der Teig von seinen Fingern
verschlingt sich, o Wunder, zu Netzen aus Gold
Aber herzhafte Speisen hat keiner je besungen. Das ist sehr schade. Es gib schon großartige Gerichte. Mutters Milch mit Reis ist einfach unschlagbar!«
»So heißt das Gericht in Wirklichkeit gar nicht. Nur die Beiruter nennen es so. Ursprünglich stammt es aus Damaskus. Und dort nennt es sich Schâkirîjja«, erklärte Milia.
»Das spielt keine Rolle. Wichtig ist, dass allein der Name schon nach einer Herausforderung klingt. Weißt du, was in der Thora steht? ›Du sollst das Kalb nicht in der Muttermilch baden.‹ Deshalb essen unsere Vetter, die Juden, kein in Butter gekochtes Fleisch.«
»Sie haben Recht«, sagte Milia. »Auch ich werde künftig Rindfleisch nicht mehr in Joghurt kochen. Das ist barbarisch.«
»Wieso barbarisch? Red keinen Unsinn! Mutters Milch ist das großartigste Gericht überhaupt. Und wir werden es essen bis in alle Ewigkeit.«
Mansûr trank Arrak und aß dazu Joghurt. Das habe außer ihm noch keiner getan, prahlte er. Milch mit Milch. Löwenmilch, wie Arrak auch heißt, mit Kuhmilch. »Milch mit Milch gemischt, und der Mensch fühlt sich wie ein Säugling am Busen des Himmels.«
Dann ging er dazu über, Gedichte zu rezitieren. Wie konnte er sich diese unzähligen Verse merken? Wo nahm er all diese neuen Verse her, die er dem täglichen Wortschwall hinzufügte?
Milia liebte ihn, liebte seine Worte und liebte seine Liebe zu ihr. Allmählich hatte sie sich an den Alltag in Nazareth und das Dreieck von Haus, Straße und Traum gewöhnt. Dann aber kam eines Tages die Nachricht, die ihr Leben erschütterte und ihr abverlangte, eine andere Person kennen und lieben zu lernen, als sie darauf nicht mehr vorbereitet war.
Mansûr schlug ihr vor, das Kind in Beirut zur Welt zu bringen, um ihre Mutter dabeizuhaben, verwarf den Gedanken aber, eh Milia sich äußern konnte. Alles zu seiner Zeit, sagte er. Schließlich sei die Lage sehr angespannt, und er wolle weder ihr Leben noch das des Kindes in ihrem Bauch gefährden. Deshalb schlug er vor, die Mutter nach Nazareth einzuladen. Milia lehnte beide Vorschläge ab. Nach Beirut wolle sie nicht gehen, denn sie sei extra nach Nazareth gekommen, um das Kind hier zur Welt zu bringen. Und die chronisch kranke Mutter sollte nicht kommen, weil sie am Ende womöglich noch gepflegt werden müsste.
Schon immer, also seit sie denken konnte, fühlte sich Milia als mutterlose Mutter ihrer Mutter. Nein, sie verzichtete auf Beirut und die Mutter. Das Kind sollte hier zur Welt kommen, weil es danach verlangte. Einen einzigen Wunsch hatte sie. Sie wollte das Kind treffen, das ihr im Traum erschien. Das sie mit großen, scheinbar wimperlosen Augen aus der Wasserblase, in der es schwamm, ansah und ihr die Geschichte erzählte. Die Geschichte, die kein Mensch je gehört hatte.
Die Nachricht kam, und ab dem Zeitpunkt war alles anders. Sie begriff, dass Mansûr vor seinem Bruder zu ihr geflüchtet war, dass Amîn ihn nun erfolgreich zurückholte, dass sie in der Sache nicht mitzubestimmen hatte und dass sie am Ende wohl oder übel nach Jaffa würde ziehen müssen.
Jaffa war nicht Beirut. Al-Manschîjja war nicht der Burdsch-Platz. Und die feuchte Luft, die einem hier ins Gesicht schlug, hatte nichts mit dem feuchten Dunst von fauligem Laub zu tun, der einem in Beirut um die Nase wehte. Nach Jaffa war sie gereist, um an Amîns Beerdigung teilzunehmen. Und dort sah sie das Land, das sich Palästina nennt. In Beirut hatte sie das Land nicht gesehen. Auch wenn sie über die Befreiung von der französischen Mandatsmacht große Freude empfunden hatte, so befasste sie sich mit der Sache nicht weiter. Von Faisal I. und seinem in Damaskus gegründeten Königreich, das bis nach Beirut reichte, hatte sie zum ersten Mal von Mansûr gehört. Im Masâbki-Hotel, als er sie zu sich rief und ihr das Foto zeigte, auf dem ein Mann mit zerstreutem Blick, der König Syriens, abgelichtet war.
In Nazareth lebte sie außerhalb der Zeit. Die Stadt brodelte. Das aber merkte sie nicht. Die einzige Person, zu der sie Kontakt hatte, war Mansûrs Tante, Frau Malvina Srûdschi, die nur ein Gesprächsthema kannte: der Mann, der ihre Tochter Nadja geheiratet hatte. »Der Ersatz für Mansûr, sagen die Leute. Ein Jammer! Meine armes Töchterchen, du hättest lieber deinen Cousin Mansûr heiraten sollen. Na ja, Schicksal!« So musste die Jungvermählte aus Beirut Mitgefühl mit der Frau an den Tag legen, die noch immer ihrem Traum von Mansûr als Schwiegersohn nachhing.
Dann trat ein alter Mann in Milias Leben, der sich als Nachfahre des Prinzen Fakhr ad-Din II al-Maani4 ausgab. Anfangs hatte Milia Angst, gewöhnte sich aber bald an ihn. Sie fragte Tante Malvina, wer das sei. Der verrückte Tanjûs, der vor langer Zeit aus Nazareth fortgezogen sei, lautete die Antwort. Doch er war nicht verrückt. Milia wusste nicht, wie sie diesen Mann hätte beschreiben sollen. Eine seltsame Gestalt in Mönchsgewand, auf dem Kopf eine Filzkappe, wie die Bauern im Libanongebirge sie trugen, und um die Taille eine palästinensische Kûfijja in Schwarz-Weiß geschlungen. »Ich bin allein«, sagte er zu Milia in palästinensischem Dialekt, versuchte seinen Worten durch die Dehnung gewisser Laute aber einen libanesischen Klang zu geben. Nachts erschien er kurz vor ihrem Fenster und verschwand dann wieder. Und morgens folgte er ihr auf ihren Streifzügen durch die Stadt.
Während sie durch die engen Gassen schlendernd ihren neuen Wohnort erkundete, erlebte Milia ihre Nazarener Geschichte. Der Ort verkörperte die Ehrfurcht, die er gebot. So verstand sie ihre Beziehung zu der Stadt Jesu. Auf ihren Spaziergängen sah sie den alten Mann und gab ihm ein paar Münzen in der Annahme, er sei ein Bettler. Tanjûs nahm die Geldstücke ohne ein Wort des Dankes, so als erfülle sie nichts als ihre Pflicht. Irgendwann ging Milia dazu über, ihm Brot und Essen mitzubringen. Genauer gesagt, lud sie ihn nach Hause ein. Ihn hereinzubitten traute sie sich nicht. Sie servierte ihm das Essen im Garten und sah ihm dabei zu. Er schien nicht wirklich zu essen. Ohne das Essen auch nur eines Blickes zu würdigen, schlang er es widerwillig in sich hinein, wischte sich mit der roten Handfläche über Schnurr- und Vollbart und ging. Dass sie den Alten eingeladen hatte, verriet sie Mansûr nicht. Er sei von sich aus gekommen, sagte sie stattdessen und erzählte eine Geschichte, die sich nicht ereignet hatte, von der sie aber glaubte, irgendwie habe sie stattgefunden.
»Und wo war ich?«, fragte Mansûr.
»Du hast drinnen geschlafen«, erwiderte Milia. »Ich habe versucht, dich zu wecken, aber du warst nicht wach zu bekommen. Er stand plötzlich vor dem Fenster und sagte, dass er hungrig sei. Und seither kommt er gelegentlich.«
Was Milia sagte, entsprach nicht der Wahrheit. Vielmehr war es so, dass der Alte, wenn Mansûr abwesend war, jede Nacht ans Fenster klopfte. Seit Mansûr häufig nach Jaffa fuhr, wo er die Schlosserei übernommen hatte, weil sein Bruder getötet worden war, hatte sich alles verändert. Mansûr war nur noch selten in Nazareth. Milia schlief meist allein im Haus. Sie hatte keine Angst. Aber sie hatte Ehrfurcht vor der Nacht, Ehrfurcht vor der Einsamkeit, Ehrfurcht vor dem Kind in ihrem Bauch. Eines Nachts hörte sie ein Klopfen am Fenster. Immerzu klopfte es. Sie stand auf und sah den Schatten eines Mannes hinter einem Baum verschwinden. Sie legte sich wieder ins Bett, deckte sich zu und wartete. In der folgenden Nacht wiederholte sich die Szene. Die dritte Nacht dagegen verlief anders. Es war zehn Uhr. Alles war ruhig im griechischen Viertel, so hieß das Viertel, in dem das Haus stand. Es klopfte heftig an die Scheibe. Milia trat ans Fenster und sah den Schatten eines Mannes.
»Wer ist da?«, fragte sie zitternd.
»Ich«, antwortete die Gestalt draußen. »Mach auf, ich habe ein Geschenk für dich.«
Woher sie den Mut hatte, das Fenster zu öffnen, war ihr ein Rätsel. Es war seltsam. Es war, als sei sie nicht sie selbst gewesen. Als habe sie geschlafen. Als habe ihr jemand einen Befehl erteilt, den sie blind befolgte. Sie öffnete und sah den Mann. Er hielt ein Glas Wein in der Hand. Er reichte es ihr und kündigte seine Wiederkehr an.
»Das ist das Wasser des Lebens«, sagte er und verschwand.
Sie sah ihn nicht gehen, sah nicht seinen Rücken. Er stand da, von Dunkelheit umgeben, die ihn im nächsten Moment verschluckte.
Das kleine Mädchen sah sich selbst. Allein, mit dickem Bauch steht sie vor dem Fenster, in der Hand ein Glas, bis an den Rand mit einer roten Flüssigkeit gefüllt. Sie hebt es an die Nase, riecht alten Wein. Sie berührt das Glas mit den Lippen, trinkt aber nicht. Sie tritt ans Fenster, will es schließen. Es ist bereits geschlossen. Sie ruft Mansûr. Keine Antwort. Sie sieht Mûsa. Er kommt auf sie zu. Sie will ihn fragen, was ihn hierherführt. Mûsa nimmt ihr das Glas aus der Hand und trinkt es bis auf den letzten Tropfen aus. Er reicht ihr das leere Glas. Dunkelheit senkt sich auf Mûsa, wischt ihn fort. Das Mädchen sieht sich selbst. Sie hält ein leeres Glas, steht allein da. Sie weicht zurück, taucht in die Dunkelheit. Die Dunkelheit wird von einem Lichtschein durchbrochen. Sie hält das Licht in Händen. Das Glas glitzert. Plötzlich, ohne zu wissen, wie ihr geschieht, gleitet das Glas aus ihren Fingern und zerbricht. Sie bückt sich, will die Scherben aufheben. Die Scherben vermischen sich mit dem Licht. Kaum berührt sie ein Stück Licht, erlischt es, und Blut tritt aus ihrer Haut. Es ist, als tausche sie Lichtstückchen gegen Blut ein. Trotzdem muss sie die Scherben aufheben, denn sie erwartet Mansûr. Mansûr aber kommt nicht. Sie hat Sorge, dass er auf die Scherben tritt und sich verletzt. Sie sammelt die Scherben auf. Das Licht erlischt in ihren Händen, schwarzes Blut. Wunde Hände, darauf die Scherben. Sie sinkt zu Boden, sieht Blut. Erschrocken reißt sie die Augen auf. Sie lag im Bett, das Herz raste, pochte im ganzen Körper. Milia schlug ein Kreuz, beschloss, den Traum zu vergessen, und schloss die Augen erneut.
Am Morgen kehrte Mansûr aus Jaffa heim und weckte sie. Sein Gesicht war seit Amîns Ermordung düster. Barfuß sprang sie aus dem Bett, um Kaffee und Frühstück zu bereiten. Sofort fielen ihr die Scherben wieder ein. Und schon spürte sie etwas in ihre Fußsohle stechen. Sie schaute nach den Pantoffeln unterm Bett. Sie waren von blonden Federn bedeckt. Woher diese kamen, war Milia ein Rätsel. Jedenfalls klopfte sie die Federn ab, zog die Pantoffeln an und ging in die Küche. Sie stellte die Kaffeekanne auf den Herd, griff in den kleinen Holzschrank, um Tassen herauszuholen, und da sah sie es. Zwischen den Kaffeetassen schimmerte das Weinglas. Wie war es da hineingekommen? Im Haus gab es keine Weingläser. Mansûr trank keinen Wein, sondern Arrak. Und sie aus Geselligkeit mit.
Sie fragte Mansûr, was das Glas im Schrank zu suchen habe. Er war im Bad und hörte sie nicht. Mit zitternden Händen nahm sie das Glas und stellte es auf den Tisch. Sie sah Lichtschein und Glassplitter. Der Kaffee auf dem Herd lief über. Sie merkte es nicht, sah nur, wie Mansûr zum Herd eilte und die Flamme ausdrehte. Er stellte die Kanne auf den Tisch und fragte, warum sie so versteinert dastehe.
»Das Glas«, sagte sie.
»Was für ein Glas?«, erwiderte er.
»Auf dem Tisch.«
»Das ist ein Wasserglas«, sagte er und griff danach. Es glitt ihm aus der Hand und zersprang am Boden.
»Du hast es zerbrochen!«, fuhr sie ihn an.
»Nicht so schlimm. Das bringt Glück. Wir haben viele davon.«
»O Gott! Was soll ich nur tun?«, rief sie, bückte sich, hob die Scherben mit bloßen Fingern auf und schnitt sich die Hände dabei blutig.
»Was machst du da?«, brüllte er. »Hol den Besen!«
Kniend sammelte sie alle Scherben auf, legte sie auf ein Tablett und wusch sich die Hände. Dunkelrot lief es ins Spülbecken.
»Blut«, stellte sie fest und geriet ins Wanken. »Halt mich fest! Bitte!«, bat sie, der Ohnmacht nahe.
Mansûr hielt sie fest, führte sie zum Bett, holte Watte und Desinfektionsmittel und reinigte die Wunden.
»Versuch jetzt zu schlafen«, sagte er. »Ich komme gegen Mittag wieder. Keine Sorge. Du brauchst dich nicht ums Essen zu kümmern. Ich bringe etwas von unterwegs mit.«
Als sie aufstand, waren die Scherben vom Tablett verschwunden. In dem Gefühl, eine große Sünde begangen zu haben, brach sie in bittere Tränen aus.
Ohne jede Vorwarnung veränderte sich das Leben von Grund auf. Die Nachricht kam, und kurz darauf fand sich Milia in Jaffa wieder. Sie wolle nicht in dieser Küstenstadt leben, sagte sie. Sie hasse das Haus im Adschami-Viertel, in dem die Witwe mit ihren beiden Kindern und der Schwiegermutter lebte, sagte sie. Meeresrauschen beunruhige sie, sagte sie. Sie sei aus Beirut fortgegangen und wolle nie wieder in die Nähe des Meeres zurück, sagte sie. Vieles sagte sie. Ohne Erfolg.
In der Kirche stand Amîns Sarg aufgebahrt, eingeschlagen in die vierfarbige Fahne. Um den Sarg herum nichts als Tränen und Wut. So etwas hatte Milia noch nie erlebt. Eine Stadt, beherrscht von Wut. Den Menschen standen Angst und Hass regelrecht ins Gesicht geschrieben. Milia sah, wie der Kummer die Mienen verfinsterte. Sah, wie die Stadt in den Tod glitt. Unwillkürlich fürchtete sie um ihren Bauch. Sie fürchtete, das Kind könnte in die gischtenden Wellen fallen und verschlungen werden.
Die Verzweiflung hatte, wie Milia sah, tiefe Furchen in das Gesicht der Schwiegermutter Nadschîba gegraben.
»Du hast ihn umgebracht«, warf sie ihrem Sohn Mansûr vor. Nadschîba meinte nicht, was sie sagte. Trotzdem. Sie hatte es ausgesprochen. Es war, als leihe sie der jungen Witwe ihre Stimme. Asma nämlich gab Mansûr die Schuld am Tod ihres Mannes oder glaubte, Amîn sei an Mansûrs Statt gestorben. Schließlich hatte sie nicht nur alles verloren, sondern musste nun mit ihren Kindern und der Alten ein Dasein abhängig vom Wohlwollen Mansûrs fristen, jenes Mannes also, der aus Jaffa geflohen war und seinen Bruder dem Tod überlassen hatte.
Dort, auf dem Sandhügel mit Ausblick auf das Meer, beobachtete Milia, wie sich Mansûr veränderte. Mansûr stand zusammen mit den anderen Trauernden auf dem Friedhof am Meer, auf dem die Haurânis ihre Toten seit tausend Jahren beisetzten. Als der Sarg in die Erde gelassen wurde, stieß die Mutter, dem Märtyrer zu Ehren, aus heiserer Kehle einen Jubeltriller aus. Und da verwandelte sich Mansûr vor Milias Augen. Wie geschrumpft wirkte er auf einmal, klein und gedrungen. Milia konnte nicht beschreiben, was geschehen war. Aber sie meinte, gesehen zu haben, wie die Gelenke sich zusammenschoben und sein Körper zu einem steifen Block wurde. Geweint hatte er in Nazareth. Eine Art Heulen war aus ihm herausgebrochen. Explosionsartig waren ihm alle Tränen der Welt aus den Augen geschossen. Doch als er das Haus in Jaffa betrat und die vielen Frauen um die von Kugeln durchsiebte Leiche seines Bruders stehen sah, hatte er nicht geweint. Nein, stattdessen hatte sich sein Gesicht zu einer furchterregenden Fratze verzogen. Er hatte sich über den Toten gebeugt, wollte ihm einen Kuss auf die Stirn drücken, verlor den Halt und fiel mit dem Gesicht auf das Kissen, Wange an Wange mit Amîn. Die Frauen schrien auf.
Sie habe Tränen über das Gesicht des Toten rinnen sehen, sagte die Mutter. »O weh, er klagt über sich selbst.«
Es seien Mansûrs Tränen gewesen, behauptete Asma dagegen. »Er darf nicht Tränen auf Amîns Gesicht tropfen lassen. Das ist Sünde!«
Dieser Satz rief Milia die Geschichte des Dichters Dîk al-Dschinn aus Hims5 in Erinnerung. Er hatte seine Liebste getötet, hatte sich Tränen auf ihr Gesicht vergießen sehen und folgende Verse verfasst:
Ich sehe sie vor mir, den Tod schon im Blick,
das Verderben ist ihre Ernte – es gibt kein Zurück.
Der Boden getränkt mit ihrem Blut,
ihre Lippen benetzt mit meiner Liebe Glut.
Mein Schwert stach zu in rachdurstigem Verlangen,
meine Tränen rinnen über ihr Gesicht.
Bei den Sandalen, mit denen sie über den Boden gegangen!
Etwas Kostbareres als ihre Schuhe gibt es nicht.
Milia verstand den Sinn der Geschichte nicht. Was war das für eine Liebe? Besagter Dichter aus Hims liebte zwei Menschen. Eine Christin namens Ward und einen jungen Mann namens Bakr. Milia glaubte nicht, was Mansûr über die Sitten und Gebräuche der abbasidischen Epoche gesagt hatte. Damals galt, so Mansûrs Worte, die Liebe eines Mannes zu einem Mann nicht als sittenwidrig, sofern der Geliebte noch keinen Bartwuchs hatte und hübsch aussah. Dîk al-Dschinn, mit Ward verheiratet, ließ Bakr im ehelichen Haus mitwohnen. Von einer Reise zurückgekehrt, wurde ihm zugetragen, dass Bakr sich in seiner Abwesenheit in Ward verliebt und mit ihr geschlafen hatte. Außer sich vor Wut, tötete Dîk al-Dschinn beide.
»Doch das ist nicht die eigentliche Geschichte«, sagte Mansûr. »Die eigentliche Geschichte beginnt da, wo Dîk al-Dschinn herausfindet, dass die ganze Sache erstunken und erlogen war. Dass Ward ihn gar nicht betrogen hatte. Da ging er ans Grab und nahm zwei Handvoll Erde auf. Eine von Wards und eine von Bakrs Grab. Daraus stellte er zwei Becher her, aus denen er abwechselnd trank, während er, beide Geliebte beweinend, dichtete. So entstand der Vers ›meine Tränen rinnen über ihr Gesicht‹. Das heißt, dass er bereits im Akt des Tötens aus Liebe um sie weinte. Das ist wahre Liebe, mein Schatz.«
»Das nennst du Liebe?«, sagte Milia.
»Selbstverständlich.«
»Das heißt, dass du töten würdest?«
»Selbstverständlich würde ich töten. Kein Liebender ist nicht bereit zu töten. Na ja, zumindest würde er der Liebsten, die ihn betrügt, den Tod wünschen.«
»Das heißt, du wärst imstande, mich zu töten?«
»Das ist doch nur eine Geschichte, Schatz. Die Geschichte von Dîk al-Dschinn. Jeder Mensch ist gezwungen, seine Geschichte zu leben. Dîk al-Dschinn hat Ward getötet, weil die Geschichte es von ihm verlangte. Schließlich ist der Mensch an sich eine Geschichte. Was ist das Leben denn sonst? Wir leben eine Geschichte, von der wir nicht wissen, wer sie geschrieben hat. Deshalb fürchte ich mich vor Romanen. Immer wenn ich einen Roman lese, kommt mir der Autor wie eine Bestie vor. Er setzt seine Figuren tragischen Situationen aus, nur um den Leser zu unterhalten. Ich habe dann immer das Gefühl, in einen endlosen Wortschwall gestoßen zu werden. Habe das Gefühl, jeden Moment aus dem Leben zu fallen und Teil des Buches zu werden. Nein. Poesie ist besser. Bei den Arabern gilt Poesie als die erhabenste der Künste. Denn sie beschreibt, ohne zu erzählen. Im Übrigen flicht man in die Prosa, damit sie lesbar wird, Gedichte ein. Das heißt, dass Poesie Sinn, Inhalt, Gerüst und vieles mehr ist.«
»Das heißt, du würdest wegen der Geschichte töten?«
Nun hat deine Geschichte begonnen, Mansûr, dachte Milia. Denn jede Geschichte beginnt, wie du einmal gesagt hast, mit Mord und Tod. »Man denkt, so deine Worte, dass die Geschichte des Menschen mit seiner Geburt beginnt. Das ist ein Irrtum. Die Geschichte beginnt, wenn wir sterben oder getötet werden.«
Nun war Mansûr in seine Geschichte eingetreten. Am Totenbett. Als die Tränen des einen Bruders über das Gesicht des anderen Bruders rannen.
Mansûr hatte nicht geweint. Wie da also die Geschichte von seinen Tränen auf Amîns Gesicht in Umlauf gekommen war, konnte sich Milia nicht erklären. Sie war dabei gewesen und hatte keine Tränen gesehen. Aber irgendwie muss die Geschichte entstanden sein. Die Sache beunruhige sie, sagte sie zu Mansûr. Sie habe beobachtet, wie er sich völlig veränderte, sagte sie. Er gleiche nun seinem Bruder. Mansûr hatte sich nicht einfach verändert. Nein, er hatte die eigene Person abgelegt und war in ein neues Bild eingetreten. Die Poesie verschwand aus seinem Leben. Ebenso das Glühen in seinem Blick, wenn er das scheue, lustsprühende Gesicht seines weißen Engels betrachtete. Alles war nun verdorrt. Selbst das Eine, von dem Milia nie sprach, selbst jener Brunnen war versiegt. Er näherte sich ihr, wenn sie tief und fest schlief. So spürte sie das Wasser nicht, das aus der in ihr schlummernden Erde sprudelte. Er schien nicht mehr er zu sein.
Aus Jaffa zurückgekehrt, stellte Milia fest, dass er, der Mann, der auf der Flucht vor seiner Geschichte zu ihr nach Beirut gekommen war, nun doch dieser Geschichte, die das Schicksal für ihn vorgesehen hatte, zum Opfer fiel. Am Ende war er unweigerlich von dem Geschichtenjäger eingefangen worden. Amîn war tot. Und Mansûr hatte keine andere Wahl als seinen Traum aufzugeben. Den Traum, Seidenhändler zu werden. »Wer lieben will«, sagt das Sprichwort, »muss mit Seide handeln.« Der ewig Liebende, wie Mansûr sich nannte, der täglich vom Augenwasser seiner Liebsten trank, war in die Welt der Stoffe und nach Beirut geflüchtet, weil er wusste, dass sein von den Propheten heimgesuchtes Land keine Zukunft hatte. Dass sich sein Bruder weit vorgewagt hatte. Dass Jaffa keine Chance hatte. »Ich kenne sie. Wir können nicht gewinnen, habe ich zu Amîn gesagt. Es ginge um die Heimat, antwortete er.« Mansûr wusste, dass Amîn Recht hatte und dass die Schlosserei, die sie vom Vater geerbt hatten, in den Dienst der Stadt gestellt werden musste.
»Das Mindeste, was wir tun können«, hatte Amîn gesagt, »ist, Munition herstellen und Gewehre reparieren. Oder sollen wir etwa zusehen, wie die Juden das Land an sich reißen und uns vertreiben?«
Das war der Grund, weshalb Mansûr fortgegangen war.
»Nein, ich bin nicht feige. Ich mag nur keine Waffen. Ihr habt ja Recht, du und Mutter. Aber ich kann das nicht.«
»Aber wie sollen wir sonst gegen die Engländer und Juden kämpfen? Mit Worten? Müssen wir nicht etwas tun?«
Er sei dazu nicht fähig, hatte er zu Amîn gesagt und sich nach Beirut aufgemacht. Dort hatte er sich in eine Libanesin verliebt. Er hatte mit dem Gedanken gespielt, in Beirut zu bleiben und zur Ruhe zu kommen, aber festgestellt, dass das unmöglich war. Er eröffnete ein kleines Geschäft in Nazareth. Die Reisen nach Beirut wurden zum Muss, um sich mit neuen Stoffen aus Europa einzudecken. So kam es, dass er am Garten der Schâhîns sein Herz verlor und das für den Anfang hielt.
Der Anfang aber erwartete ihn in Nazareth. Während er dort den Apfel des Lebens betrachtete, wie er den dicken Bauch seiner Frau nannte, erhielt er die Nachricht, die alles auf den Kopf stellte. Sie beendete die Zeit in Nazareth und führte zum Umzug der kleinen Familie nach Jaffa.
»Das ist der Traum«, sagte Milia.
Statt über den Traum zu lächeln, wie er es sonst immer tat, verfinsterte sich seine Miene. »Du verstehst wohl nicht, was vor sich geht!«, fuhr er sie an.
»Das ist der Traum«, wiederholte sie und erinnerte ihn an das Weinglas, das er zerbrochen hatte.
»Da war kein Weinglas«, widersprach er. »Du hast zwar von einem Weinglas gesprochen. Aber ich habe nur ein normales Glas gesehen. Das Glas ist runtergefallen und zerbrochen. Also bitte, lass uns jetzt die Sachen packen und gehen. Und hör endlich mit diesen Geschichten auf!«
»Mûsa hat den Wein getrunken. Die Scherben auf dem Boden haben geleuchtet. Und als ich mich hinkniete…«
»Schluss damit!«, fiel er ihr ins Wort.
Sie erstarrte. Dieses »Schluss damit« traf sie wie ein Blitz, verschlug ihr die Sprache. Sie begriff, dass sie es von nun an mit einem anderen Mann zu tun hatte.
Eine Frau, so sagte Hasîba, sei im Leben nicht mit ein und demselben Mann verheiratet.
»Das ist eine Lüge. Salîm, den ich geheiratet habe, war ein anderer als der an Mumps erkrankte Salîm. Der Mumps-Salîm war ein anderer als der Salîm, der, wieder gesundet, von seinem schlaffen Glied wie besessen war und völlig verloren in die Welt schaute. Der Salîm mit verlorenem Blick war ein anderer als der Liebhaber von Mariam. Dieser wiederum war ein anderer als der, der das Haus seiner ägyptischen Hure kaufte und mich dort hineinsetzte. Und der Hausbesitzer-Salîm war ein anderer als der, der seinen Sohn mit einem Stein erschlagen wollte. Der Sohn-Mörder war ein anderer als der Mann, der, bewusstlos im Ungewissen schwebend, am Boden lag. Ich war mit vielen Männern verheiratet, und jedes Mal musste ich mich neu eingewöhnen. Ich bin erschöpft, mein Sohn. Lass mich hier sterben.«
Das sagte sie zu Jûsuf, als er sie unter dem Johannesbrotbaum auf der Erde hockend fand. Hasîba war wie immer am Abend aus dem Haus gegangen. Im langen schwarzen Kleid spazierte sie durch die dunklen Straßen. An jenem Tag aber kehrte sie nicht heim. Also machte sich Jûsuf auf die Suche nach ihr. Er lief alle Straßen in der Nachbarschaft ab. Am Ende seiner Kräfte angelangt, fand er sie schließlich auf dem Sandweg unter dem Johannisbrotbaum sitzend. Zuerst schimpfte er mit ihr. Doch dann hörte er, wie schwach ihre Stimme klang.
»Ich komme nicht hoch«, sagte sie.
Er nahm ihre Hand und merkte, dass ihre Muskeln völlig erschlafft waren.
»Was ist mit dir, Mutter? Komm, steh auf!«
Die Ausführungen über ihren Mann, auf den sie sich oft hatte neu einlassen müssen, waren ihre letzten klaren Worte. Mansûr zog sie am Arm, wollte ihr auf die Beine helfen. Doch sie sackte in sich zusammen.
»Was ist passiert, Mutter? Sprich!«
Jûsuf sah Tränen auf dem weißen, von schwarzen Runzeln zerfurchten Gesicht. Er beugte sich zu ihr, klappte sie zusammen und hievte sie sich auf die Schulter. Sie war leicht wie eine Feder. Die hochgewachsene, schöne Hasîba war zu einem Haufen Knochen verfallen. Der Körper schien sich aufgelöst zu haben. Wie ein Vogel ohne Flügel wirkte sie.
Mit ihr auf der Schulter ging er los. Er wusste, dass er sie in den Tod trug. Denn er kannte sie. Schließlich hatte er erlebt, wie sie Salîm in Grund und Boden geschrien hatte. Erlebt, wie sie sich dagegen gewehrt hatte, in dem Haus wohnen zu bleiben, und ein anderes Haus einforderte. Erlebt, wie sie ihn, den Sohn, zur Rede stellte, weil er ihr in Bezug auf sein Auge nicht die Wahrheit gesagt hatte. Erlebt, wie er, von ihr in die Enge getrieben, die Hand auf die aufgeplatzte Augenbraue legte und sie mit flehendem Blick anschaute, um zu sagen, dass sie bitte nicht weitersprechen solle. Doch sie sprach weiter, zu Salîm:
»Trau dich! Los, gib es zu. Sag, wer das Auge des Jungen getroffen hat. Sei ein einziges Mal im Leben ein Mann und sprich. Los, spuck es aus!«
»Halt den Mund, Frau. Dir selbst zuliebe. Im Übrigen wurde das Auge des Jungen nicht getroffen. Er hat mit den Kindern im Viertel gespielt. Und alles ist, Gott sei Dank, noch einmal gut gegangen.«
»In meinem ganzen Leben ist mir noch kein Mann begegnet, der versucht hat, seinen Sohn umzubringen. Du wolltest den Jungen umbringen, um deine ägyptische Hure zu schützen! Nicht zu fassen! Du jämmerliche Person. Mich führst du nicht mehr hinters Licht. Dein wahres Gesicht ist erkannt. Jedenfalls werde ich keine Minute länger in diesem Haus bleiben!«
Jûsuf wollte etwas sagen, versuchte zu sprechen. Sein Vater aber verbot ihm den Mund.
»Sei still und geh hinaus. Ich habe mit deiner Mutter zu reden. So, und nun zu dir, Frau. Du willst also wissen, was los ist. Na gut. Es geht um die Sache, über die alle Welt Bescheid weiß. Es geht um den französischen Offizier, dem du schon dein Leben lang nachtrauerst. Wer deine Ehre und die deiner Familie schützt, bin ich. Zwing mich also nicht, richtig auszupacken!«
Mit seinen Worten zerschmetterte Salîm die ihren. Er hatte das Unausgesprochene ausgesprochen, ihr das lange zugeknöpfte schwarze Kleid vom Leib gerissen, ihr Seele entblößt. Hasîba verlor den Halt. Ihre Knie knickten ein, sie brach zusammen. Neben ihr hockte, wie ein Hund, der halbwüchsige Jûsuf. An dem Tag beschloss Jûsuf, seinem Vater die Meinung zu sagen. Lange genug hatte er zu dem Stein und dem verwundeten Lid geschwiegen. Doch nun, da seiner Mutter der Kragen geplatzt war, sah er seine Zeit gekommen. Endlich hatte er die Gelegenheit, sich zu rächen und die Wahrheit ans Licht zu bringen. Am liebsten hätte er den Kerl, der aus seiner Impotenz eine legendäre Liebesgeschichte zu einer ägyptischen Hure gemacht hatte, verprügelt. Angesichts der Tatsache aber, dass seine Mutter, durch Worte entblößt, den Halt verloren hatte, hockte er einfach nur da, ohnmächtig wie ein Hund, dem das Recht zu bellen verwehrt ist.
Jûsuf hielt seinen Vater für einen Narren. Denn Mariam gehörte nicht ihm. Khawâdscha Aftimus hatte ihr das Haus geschenkt, damit sie darin ihrem Gewerbe nachging. Er hatte sie satt. Und um seine Ruhe vor ihr zu haben, kaufte er sich mit dem Haus frei. Das Grundstück ließ er zwar nicht auf ihren Namen eintragen, räumte ihr jedoch das Nutzungsrecht auf Lebenszeit ein. Daher war es Salîm nach ihrem Tod möglich, das Haus von Aftimus’ Erben zu kaufen. Der Khawâdscha hatte das Haus samt Garten und Bäumen am Daabûl-Weg, einer Abzweigung der Erzengel-Michael-Straße, gekauft und seiner Konkubine das Recht gewährt, darin und davon zu leben. Da hatte sie es in ein Bordell verwandelt.
»Du bist ein Narr, Vater!«, schimpfte Jûsuf. »Das ist eine Nutte! Die ist keinen Pfifferling wert!«
»Halt den Mund, Dreckskerl!«, brüllte Salîm und wandte sich seiner Frau zu.
Er machte ihr Vorhaltungen wegen der Geschichte, die sie im Innersten begraben zu haben glaubte. Den blonden Mann mit himmelblauen Augen hatte sie in ihrem Herzen bestattet. Eine bloße Geschichte war das keineswegs. Es war Liebe. Zwei Mal hatte er sie gesehen und ein Mal angesprochen. Nein, er hatte nichts gesagt, sondern nur gelächelt. Dann war er verschwunden. Das war alles. Aber es war Liebe. Wie blind fühlte sie sich danach. Nur noch den blonden Mann sah sie. Nur noch den weißen, aus seinem schneeweißen Körper aufsteigenden Duft atmete sie. Wie ihre Schwestern von der Sache erfuhren, konnte sich Hasîba nicht erklären. Denn sie hatte sich in ein schwarzes Kleid gehüllt, um die Spuren des weißen Engels fortzuwischen. Dann hatte sie Salîm Schâhîn, den mehr oder weniger erwerbslosen Zimmermann, geheiratet, um ihr rasendes Herz zur Ruhe zu bringen. Ihr Herz erlosch, ihr Körper erlosch. Und nun erdreistete sich Salîm, dessen Impotenz und Untreue sie ertragen musste, die Wunde aufzureißen und den Leichnam des blauäugigen Mannes auszugraben.
Hasîba war am Boden zerstört. Die geschlossenen Lippen zitterten, sie hockte in einer Ecke und weinte trockene Tränen. Jûsuf hatte das Gefühl zu ersticken. Er wollte verstehen. Ihm drängte sich der Gedanke auf, dass er der Sohn eines Franzosen war, dessen Namen er nicht kannte und nach dem er niemanden fragen konnte.
Nach Jûsufs Heirat stimmte Hasîba dem Plan zu, einen Betonflügel an das Haus anzubauen. Außerdem ermutigte sie ihren Sohn, die Abâja ab- und europäische Kleidung anzulegen; eine weitere Geschichte, die im Leben der Schâhîns eine Rolle spielte. Jûsuf hatte Spaß daran, seinen Kindern diese Geschichte vorzuspielen. So viel Spaß, dass er es tagaus, tagein tat, bis Saada ihn schließlich bat, damit aufzuhören. Denn das Mädchen sei herangewachsen und solches Gerede nun nicht mehr angebracht. Jûsuf aber, der, kaum vom Geschäft heimgekehrt, die Hose auszog und in die Abâja schlüpfte, weil ihm ein Pyjama nachts, wie er sagte, die Hoden abklemme, ließ sich nicht den Mund verbieten. Unbeirrt erzählte er weiter. Von dem Erstickungsanfall, den er bekam, als er zum ersten Mal eine Hose trug. Davon, dass er nicht wusste, wohin mit seinem Gehänge. Dass er mit Stoff und Naht im Schritt kaum gehen konnte. Dass er nahe daran war umzufallen, als er, die Braut untergehakt, in die Kirche trat. Dass der Weg aus der Kirche allerdings noch viel schwieriger war, weil ihm vor lauter Beengung die Hose zu platzen drohte.
Jûsuf konnte die Geschichte, die Beirut in den zwanziger Jahren in Atem hielt, nicht oft genug erzählen. Nachdem das Osmanische Reich zusammengebrochen war und die Franzosen Syrien und den Libanon kolonisiert hatten, nahmen die Menschen die Sitten ihrer neuen Herren an. In der Mittelschicht wurde es üblich, Hosen zu tragen. Die Männer der Oberschicht allerdings, zu denen auch Khawâdscha Aftimus gehörte, taten dies, unter dem Einfluss der osmanischen Reformer, die in der Verwestlichung die Antwort auf alles sahen, bereits seit Beginn des Jahrhunderts. Wer Hosen trug, wurde vom gemeinen Volk verspottet. Selbst Mariam musste jedes Mal lachen, wenn Salîm sich über Khawâdscha Aftimus’ Klunker lustig machte, die in der Hose prall wirkten, aus dem Beinkleid geschält aber die traurige Wahrheit über den Siebzigjährigen ans Licht brachten.
Jedenfalls vollzog sich der Übergang zur europäischen Kleiderordnung in Beirut wie eine Art Karneval. Männer liefen breitbeinig umher. Plötzlich schienen sämtliche Städter eine Gehbehinderung zu haben. Endlos viele Witze kursierten. Und die traditionellen Schneider, die sich mit der neuen Mode nicht arrangieren konnten, verstanden die Welt nicht mehr.
Er habe erst später die wahre Bedeutung der Hose erkannt, sagte Jûsuf. Sie heilige die Männlichkeit, mache sie für alle sichtbar.
»Trotzdem mag ich bis heute keine Hosen. Anfangs habe ich mich mit dem gebrüstet, was Gott mir geschenkt hat. Aber das gehört sich nicht. In Hosen war ich immer genötigt zu stehen. Ich hatte das Gefühl, nicht sitzen zu können. Doch ich habe mich daran gewöhnt. Und neuerdings sollen sogar die Frauen angefangen haben, Hosen zu tragen. Großer Gott! Wie kann das sein? Die Frauen nackt! Die Männer nackt! Was für ein Leben! Es sei das Ende der Welt, dachten wir, als Hosen in Mode kamen. Doch dann haben wir begriffen, dass das alles nichts zu bedeuten hat.«
»Wieso nimmst du eigentlich nicht Schnurrbart und Tarbûsch ab?«, fragte Salîm seinen Vater.
»Machst du jetzt etwa einen auf Franzose, Junge? Keine Ahnung, von wem du das hast!«
»Was hat das eine mit dem anderen zu tun?«
»Ein Mann ohne Schnurrbart! Was bleibt denn da noch? Und der Tarbûsch? Großer Gott! Fragt eure Mutter. Den Tarbûsch lege ich nie ab. Nur zum Schlafen. Selbst im Schlaf träume ich, dass ich einen Tarbûsch trage. Ein nackter Kopf ist unansehnlicher als ein nackter Körper. Wer entblößt schon den Kopf! Keine Ahnung, Salîm, wie du das kannst. Ich weiß, die Welt hat sich verändert. Alles verändert sich. Aber ich… Nein. Und wenn ich eines Tages sterbe, möchte ich mit Tarbûsch beerdigt werden.«
Als er starb, zog Saada ihm sein Gewand an und setzte ihm den Tarbûsch auf. Das dürfe man nicht, sagte die heilige Nonne. Der Mensch müsse seinem Schöpfer barhäuptig gegenübertreten. Also wurde ihm der Tarbûsch abgenommen und neben ihm im Bett aufgestellt. Mit dem Tarbûsch oben auf dem Sarg wurde Jûsuf zu Grabe getragen. Mit jedem Schritt, den die Sargträger machten, hüpfte die schwarze Quaste auf und ab. Es war, als habe Jûsuf sein letztes Wort in Schwarz gesprochen. Dann war der Tarbûsch verschwunden. Milia dachte, er sei ihm mit ins Grab gegeben worden. Drei Tage später aber stellte sie fest, dass Nikola ihn trug. Damit war klar, wer das neue Familienoberhaupt war.
Milia stand mit den Trauernden vor Amîns Sarg. Auf dem Sarg befand sich kein Tarbûsch, sondern eine vierfarbige Fahne, die palästinensische, wie sie später erfuhr. Die gleiche Fahne, unter der die große arabische Revolution gegen die Osmanen stattfand, angeführt von König Faisal, »König des Masâbki-Hotels«, wie Milia ihn nannte. Grün, weiß, rot, schwarz. Die vier Farben verwiesen, so erläuterte Mansûr, auf die alten arabischen Staaten, die in dem Land aufeinander folgten, und seien, wie in den Versen des Dichters Safîu-d-Dîn al-Hilli6 deutlich würde, ein Symbol des arabischen Erwachens.
Weiß sind unsere Taten, schwarz ist unser Krieg,
grün ist unsere Weide, rot scharfer Klingen Sieg.
Zur Wahrheit wird unsre Sicht erklärt,
die Bitten von der Zeit erhört.
Milia gefielen diese Verse nicht.
»Das hat mit Poesie nichts zu tun!«, kommentierte sie.
Bei der Trauerfeier sah sie ein paar Männer mit heller Haut und blauen Augen. Sie standen vorn in der Kirche und nahmen zusammen mit den Angehörigen des Toten die Beileidsbekundungen entgegen. Sie gehörten, so wurde Milia gesagt, zur Familie Hussaini und seien mit Hadsch Amîn7, dem Mufti von Jerusalem und Oberhaupt Palästinas, verwandt. Amîn Haurâni sei, so wurde ihr auch gesagt, als Märtyrer für die Heimat gefallen. Er habe die vom Vater geerbte Schlosserei in den Dienst der Revolution und des Widerstands gegen die britische Mandatsmacht und die Zionisten gestellt. Milia fühlte, wie der Geruch des Todes um sie herum schwelte, und nahm die ganze Woche, die sie im Haus der Familie in Jaffa verbrachte, die Hand nicht vom Bauch, um das ungeborene Kind vor den drohenden Gefahren zu schützen. In der Kirche stand neben Mansûr ein kleiner blonder Mann, ein Vetter des Hadsch Amîn, wie es hieß, der auch im Haus nicht von Mansûrs Seite wich. Milia interessierte brennend, warum diese Männer so aussahen. Warum sie aussahen wie Europäer oder zumindest so, wie sie sich Europäer vorstellte. Doch sie schwieg. Eine solche Frage zu stellen, wäre unpassend gewesen. Wie kam es, dass der Nachfahre eines Kreuzfahrers die neuen Kreuzfahrer bekämpfte, die Palästina besetzten und das Land den Juden vermachen wollten? Später erfuhr sie, dass die Hussainis eine rein arabische Familie und helle Haut und blaue Augen keineswegs nur den Europäern vorbehalten seien. Ihr fiel ein, dass es jede Menge alter arabischer Gedichte gibt, in denen hellhäutige Frauen besungen werden, und musste über die eigene Unbedarftheit schmunzeln.
Als sie heiratete, hatte sich Milia keine Gedanken über das gemacht, was sie in diesem Land, das in den Abgrund glitt, erwarten würde.
»Ich habe mir keine Gedanken gemacht, weil ich es nicht wusste. Aber wieso haben sich meine Brüder nichts gedacht? Na, vielleicht haben sie sich ja Gedanken gemacht, darin aber die einzige Möglichkeit gesehen, mich unter die Haube zu bringen und loszuwerden.«
Nach Nadschîb und seinen Vögeln war das Leben für Milia bedrückend geworden. Sie hatte das Gefühl, zu viel Platz im Haus einzunehmen. Der Sturm um Salîm und seine beiden Frauen, wie Saada Salîms Ehefrau und deren Schwester nannte, hatte sich gelegt, und Ruhe war wieder eingekehrt. Salîms Name fiel im Haus nicht mehr, so als habe er nie existiert. Nikola hatte alle Verantwortung übernommen und herrschte mit roter Faust. Einer Faust, rot wie der Tarbûsch, den er nach dem Tod des Vaters aufsetzte und bis zu seinem letzten Tag nicht mehr ablegte. Doch sie, Mutter und Schwester, wie sie genannt wurde, hatte nun zu gehen. Saadas Blicke sagten dies. Und die Blicke der Brüder ebenso. Selbst Mûsa distanzierte sich zunehmend von ihr und wusste schließlich nicht mehr, was er mit ihr hätte reden sollen. So ist das Leben. Es wandelt sich und wird eng. Milia fühlte sich beengt. Sogar die Träume hatten etwas Erstickendes. Finsternis, Vögel und Verlorensein, begleitet von einer Enge im Brustkorb und dem Gefühl, nicht genug Luft zu bekommen. Ein verlorenes Mädchen, ins Tal stürzend. Sie geht, sieht sich selbst fallen. Die kleine Milia aus den Träumen schien das Gehen verlernt zu haben. Milias Träume waren nur noch eine Folge von Stürzen. Das Ganze nahm solche Ausmaße an, dass sie morgens nicht mehr aus dem Bett kam, weil ihr Rücken und Beine vom vielen Fallen auf dem Sandweg weh taten. Sie überlegte, ob sie einen Stock mit in die Träume nehmen sollte, und musste lachen.
»Ach schade, dass das Leben nicht wirklich so ist«, sagte sie zu Mansûr.
»Wie ›so‹?«, fragte er.
»So, wie es sich mir im Traum zeigt. Dass ich zum Beispiel Wünsche mit in den Traum nehme und sie wahr werden.«
Sie erzählte von dem Traum, in dem ein Stock sie davor bewahrte, auf den nächtlichen Wegen hinzufallen, und sie das abweisende Leben ertragen ließ, das ihr erst seit dem Erscheinen der blauen Frau wieder zulächelte.
»Ich wünschte, wir könnten zurück ins Masâbki-Hotel!«, sagte sie.
»Wieso?«, fragte er.
»Dann wäre dein Bruder nicht tot, und wir müssten nicht nach Jaffa gehen.«
»Der Beschluss, nach Jaffa zu gehen, steht«, erklärte er. »Ein Zurück gibt es nicht mehr. Ich kann nicht. Mein Leben lang bin ich vor der Wahrheit weggelaufen. Mein Bruder hat sich ihr ganz allein gestellt. Jetzt ist er tot. Und ich muss tun, was zu tun ist.«
»Und was geschieht danach?«, fragte sie.
»Ein Danach gibt es nicht«, sagte er. »Die Juden wollen uns aus dem Land jagen. Sollen wir das tatenlos zulassen?«
»Es ist unglaublich!«, sagte sie. »Aber was können wir tun?«
»Wir können kämpfen«, sagte er.
»Und wenn wir kämpfen, können wir da etwas verändern? Weil…«
»Weil was?«, fragte er. »Sag nicht, dass du geträumt hast, die Juden hätten das Land an sich gerissen und uns vertrieben.«
»Nein, das habe ich nicht geträumt«, sagte sie und schwieg.
Milia wollte nicht aus Nazareth fort. Sie versuchte Mansûr umzustimmen. Aber er ließ nicht mehr mit sich reden. Kaum war er in die Person seines Bruders geschlüpft, hatte das Reden ein Ende. Und wenn das Reden ein Ende hat, hat alles ein Ende. Die Vernunft sagte, dass er die Werkstatt nicht im Stich lassen, dass die Mutter das Geschäft nicht allein führen konnte. Die Vernunft aber sagte auch, dass Mansûr nicht mit seiner Mutter zusammenarbeiten konnte, weil sie tyrannisch war und weil sein Bruder alles für sich behalten und ihm nicht die Wahrheit gesagt hatte. Milia konnte nicht behaupten, dass Mansûr ein Feigling war oder je gesagt hatte, er habe Jaffa aus Angst verlassen. Nein, er hatte etwas anderes gesagt. Nämlich, dass er sich lieber aus der Angelegenheit heraushielt, um sich Ärger zu ersparen. Der Ärger aber verfolgte ihn bis nach Nazareth. Die Sache mit Amîn empfand Milia als undurchschaubar. Doch, sie hatte sehr wohl etwas geträumt. Darüber aber bewahrte sie Stillschweigen. Sie fürchtete sich. Denn sie dachte, es ginge um Mûsa.
Milia war mit verquollenen Augen erwacht und dachte, sie hätte im Traum geweint. An jenem Morgen war sie nicht aufgestanden, um Kaffee zu kochen. Sie sei müde, hatte sie zu Mansûr gesagt und so getan, als sei sie wieder eingeschlafen. Kaum war er aus dem Haus, stand sie auf und wusch sich die Augen mit Rosenwasser. Sie traute sich nicht auf die Straße. Denn sie befürchtete, den alten Mann zu treffen und erneut in Tränen auszubrechen. Sie hatte Tanjûs auf der Erde liegen sehen, den Bauch aufgetrieben und von Fliegen umschwirrt. Sie hatte versucht, Menschen auf dem abschüssigen Weg zur Kirche Nôtre Dame de l’Effroi anzuhalten und ihnen zu sagen, dass Tanjûs tot sei und auf den Friedhof gebracht werden müsse. Aber keiner scherte sich um das kleine Mädchen, das mit aufgerissenen Augen, wie auf seine Mutter wartend, dastand. Schulter an Schulter gingen unzählige Männer den schmalen Weg hinab, ohne stehen zu bleiben. Plötzlich tauchte eine Hand mit Schere auf. Sie griff nach ihren kurzen Haaren. Dann rieselte es ihr schwarz in die Augen. Sie sah nichts mehr und fing an zu weinen.
Mansûr kam mittags heim und teilte ihr mit, dass sie sofort nach Jaffa aufbrechen müssten, weil etwas Schlimmes passiert sei. Wortlos zog sich Milia an und war kurz darauf zum Aufbruch bereit. Sie solle einen Koffer packen, forderte Mansûr. Denn sie würden ungefähr eine Woche dortbleiben. Sein Bruder sei…, setzte er an und brach in Tränen aus. Die Tränen färbten sein Gesicht schwarz, für immer. Und seither war an ihm jede Spur von Mûsa weggewischt. Wie die Ähnlichkeit mit Mûsa, an die sie sich deutlich erinnerte, abhandenkommen konnte, war Milia unerklärlich. Stattdessen war Mansûr nun dunkelhäutig wie ein echter Jaffaer. Mit Augen, glänzend wie die seines Bruders, schaute er Milia an und gähnte laut, um das Schluchzen zu überspielen.
Milia atmete Orangenduft ein. Nein, das war nicht Beirut. Beirut roch nach wogenden Pinien und blühenden Silberakazien. Jaffa dagegen zeigte sich völlig anders. Zitrusblütenduft, prächtige Häuser und Angst. Bei ihrem ersten Aufenthalt in Jaffa, einen Monat nach der Hochzeit, hatte sie zu Mansûr gesagt, dass sie diesen Ort künftig meiden würde. Denn der Orangenduft, das habe sie genau gespürt, sei von Angst geschwängert. Seither verabscheue sie Orangen. Denn der Zitrusgeruch jage ihr Angst ein, die ihre Glieder lähmte. Da sie den Orangenduft aber nicht abwehren könne, müsse sie das Gesicht bedecken.
»Das kommt von der Schwangerschaft«, sagte ihre Schwiegermutter. »Hab Geduld!«
Nein, das hatte nichts mit der Schwangerschaft zu tun. Es war ein Gefühl, gegen das sie machtlos war. Es nistete sich in ihren Knochen ein und zwang sie förmlich, das Gesicht zu bedecken, indem sie, wie die anderen Frauen in der Stadt, einen Schleier anlegte.
Milia befand sich jetzt hier, in der Duftenden Stadt, wie Jaffa auch genannt wurde. Was durch die Gassen wehte, sei der Duft der Pomeranzenblüten, sagten die Bewohner, ohne zu ahnen, dass dieser Geruch zu einem Todesboten und zum Leichentuch der Stadt werden würde.
Aus Nazareth angereist, mit einem sieben Monate alten Baby im Bauch, befiel Milia eine Traurigkeit, die nichts mit der allgemeinen Traurigkeit im Adschami-Viertel und im Haus der Haurânis zu tun hatte. Nicht der tragische Tod des Angehörigen stimmte sie traurig, sondern die Tatsache, dass sie gesehen hatte, was kein anderer sah. In Jaffas Duft war ihr das Ende begegnet. Schuld war nicht der Anblick des aufgebahrten Amîn. Nein, schuld war jener Geruch, der sich auf den Gesichtern gelb abzeichnete und die Trauergäste zu Gespenstern machte. In Scharen strömten die Menschen in das Haus, um den Märtyrer zu betrauern, der zwei Kinder, eines sieben und das andere fünf Jahre alt, und eine junge Frau aus der Gegend von Beit Sâhûr hinterließ. Rachegeschrei aus heiseren Kehlen machte Mansûr sprachlos. Amîns Ermordung wurde in Verbindung mit einer Serie von Explosionen gebracht, die Jaffa 1947 erschütterten. Wahrscheinlich war es sein unüberlegtes Geplapper, das ihn das Leben gekostet hatte. Amîn starb, davon war Mansûr überzeugt, weil er zu viel geredet hatte. Wer nämlich Munition für englische Gewehre herstellt und Autos panzern will, damit die Palästinenser mit schweren Waffen gegen die überlegene zionistische Kriegsmaschinerie antreten können, schweigt über sein Vorhaben. Amîn aber war ein Plappermaul. Und das war der Hauptgrund für die Unstimmigkeiten zwischen den beiden Brüdern und für Mansûrs Umzug nach Nazareth. Nein, der Grund war die Mutter. Sie hatte sich auf die Seite des Erstgeborenen gestellt, den sie über die Maßen bewunderte. Das ging so weit, dass sie sich, seit ihr Mann tot war, wie Amîns Ehefrau benahm. Sie bestand darauf, dass er zu ihr ins Zimmer zog und im Bett des Verblichenen schlief, weil sie es nachts nicht ertrug, allein zu sein. Amîn war aktiv im Verband der Orthodoxen in der Stadt und ein Mitglied in der lokalen, vom Obersten Arabischen Rat gegründeten Aktionsgruppe. Er sah in dem Großmufti Palästinas den Retter und träumte von einer Reise in den Irak, um Raschîd Âli al-Kîlânis8 Revolte gegen die Engländer zu unterstützen. Er habe sogar, so munkelte man, an Waffentrainings teilgenommen und bewahre zu Hause ein englisches Gewehr auf.
Mansûr glaubte, dass seine Mutter ihn nicht mochte. Warum sie ihn ablehnte, wusste er nicht. Vielleicht, weil er ihr ähnlich war. Seit frühester Kindheit wurde ihm die immer gleiche Geschichte erzählt. Von einer Mutter, die sich von Gott ein Mädchen wünschte, stattdessen aber einen zweiten Sohn bekam. Also behandelte sie ihn wie ein kleines Mädchen. Sie ließ seine Haare wachsen, flocht ihm Zöpfe und redete ihn in der weiblichen Form an. Amîn spielte mit ihm das gleiche Spiel. Sogar in der Schule, sodass die Mitschüler Mansûr am Ende auch mit »Mansûra« ansprachen. Mansûr reagierte aggressiv. Er schlug sich im wahrsten Sinne des Wortes durch den Schulalltag und kam nicht selten blutverschmiert heim. Er habe Blut zu kosten bekommen, erzählte er Milia. Unzählige Male habe er in seiner Jugend das Blut geschluckt, das ihm aus der Nase gelaufen sei. Später, als er etwas älter war, sei ihm bewusst geworden, in was für eine seltsame Familie er hineingeboren worden war. Eine Familie, die unter der Fuchtel einer erbarmungslos eisernen Mutter stand.
»Ich bin ihr nicht ähnlich«, sagte Mansûr entschieden. »Eine tyrannische Frau, die an nichts anderes denkt als ans Geldscheffeln. Deshalb habe ich ihr alles überlassen. Ich will nicht nach Jaffa zurück, nicht zu dem Blutgeruch, der dort in der Luft liegt. Widerstand ist eine Pflicht, aber ich…«
Milia kamen Bruchstücke dieser Familiengeschichte, während Mansûr sich vor ihren Augen veränderte und nun, in der Gestalt seines Bruders, mit aller Entschiedenheit sagte, dass er nach Jaffa ziehen würde. Dies eröffnete er ihr in Nazareth einen Tag nach ihrer Heimkehr von der Beerdigung.
»Das geht jetzt nicht«, wehrte sie ab. »Ich muss das Kind erst hier zur Welt bringen. Dort kann ich nicht entbinden.«
»Aber meine Mutter ist dort«, sagte er. »Sie hilft dir.«
»Nein, ich will deine Mutter nicht«, entschied sie. »Und meine Mutter kann nicht kommen. Ich bleibe hier. Geh du, wenn du willst.«
Er habe mit dem Gedanken gespielt, sie in den Libanon zu schicken, sagte er. Doch das sei nicht einfach. Denn die Straßen seien unsicher. Aber er sei bereit, ihrem Wunsch nachzugeben unter der Bedingung, dass sie eine Woche nach der Geburt des Kindes umzögen. Bis dahin habe er alle Hände voll zu tun. Er müsse das Geschäft in Nazareth auflösen und häufig nach Jaffa fahren, um die Schlosserei instand zu setzen und sich wieder in seinen alten Beruf einzugewöhnen.
Milias Nächte waren voll von Orangen, die an Bomben erinnerten. Die Farbe Rot überzog Gesichter und alles andere. Mansûr war drei Tage in der Woche fort. Milia verbrachte die Nächte allein. Irgendwann konnte er den Schleier der Einsamkeit, hinter dem sie lebte, nicht mehr lüften. Er rührte sie nachts nicht an. Die Poesie verschwand aus ihrer Beziehung. Die Worte, die zwischen ihnen fielen, waren nur noch Wiederholungen bereits gesagter Worte. Mansûr war ein anderer Mann geworden. Und Milia eine andere Frau. Ihre Träume hatten neue Gestalt angenommen. Sie sah alles untergehen.
Milias Nächte waren lang und bedrückend. In den Hohlräumen der Dunkelheit sah sie kleine Männer mit blauen Augen. Sie stehen um den Sarg. Sie heben den Sarg auf die Schultern und tragen ihn auf den Friedhof am Meer. Auf einem Hügel mit Blick auf das Meer, auf wogende Untiefen, tanzt der Sarg, von Schultern getragen, auf und ab. Wellen erheben sich. Das Meer kommt näher. Wie ein blaues Tier mit endlosem Körper springt es auf den Hügel, überspült ihn, hebt den Sarg und schwemmt ihn mit sich fort. Das Wasser verschlingt die Männer. Das kleine Mädchen steht neben Mansûr. Sie zittert, weiß nicht, wie sie weglaufen soll. Sie greift nach seiner Hand. Die Hand entgleitet ihr. Sie rennt davon, die Wellen folgen ihr. Die Wellen bäumen sich auf, laufen ihr hinterher. Sie fällt hin, findet sich im Wasser wieder. Alle sind verschwunden. Das Wasser hat alle verschlungen, hat alle ins Ungewisse fortgerissen. Die Wellen fressen die Menschen auf. Das kleine Mädchen ist allein. Ihre Hände rutschen ab. Das Wasser verschlingt sie fast. Sie weint. Wasser dringt in ihre Lunge. Die Brust bläht sich. Sie bekommt keine Luft. Wasser, Salz. Salz in der Kehle. Die Lippen platzen auf. Die Hand winkend in der Luft. Der Sargdeckel springt auf. Ein blonder Mann steht auf, reicht ihr die Hand. Woher kommt der französische Offizier plötzlich? Allein steht er auf der Straße. Bei Nacht. Eine sanfte Herbstbrise. Leichter Nieselregen. Die Frau im schwarzen Kleid wartet im Garten auf ihn. Er rührt sich nicht von der Stelle. Er bleibt in der Ferne, scheint die Frau heimlich zu beobachten. Unvermittelt setzt er sich in Bewegung, strauchelt wie im Schwindel. Sein Oberkörper schnellt vor. Er fällt hin. Blut schießt hervor. Aus Löchern in seinem Rücken. Überall Blut. Die Straße ertrinkt in Blut. Der Sarg treibt im roten Nass.
Milia wusste, dass nur sie die Geschichte kannte. Sie hat den blonden Offizier gesehen, den Hasîba im Herzen begraben hatte. Mehrmals hat sie ihn gesehen. Gesehen, wie er strauchelt, hinfällt, am Boden wie Hasîba das Kissen an sich drückt. Er verfiel, genau wie Hasîba. Nichts als Haut und Knochen, in der Mitte zusammengeklappt, bewegungsunfähig, von Husten erstickt. Am Fenster vor sich trockene Orangen- und Zitronenschalen. Hasîba hatte die Angewohnheit, Orangen- und Zitronenschalen im Garten an der Leine zu trocknen, um die duftenden Schalen danach vielfältig einzusetzen. Sie verbrannte sie im Heizofen, damit der Geruch die Luft im Haus erfrischte. Sie steckte sie zum Brennholz in den Badeofen, damit das Badezimmer angenehm roch. Sie legte sie neben das Kopfkissen, um den Duft des Lebens zu atmen. Als sie erkrankte, bat sie, man möge ein paar Schalen an das Fenstergitter vor ihrem Bett hängen. Einmal, sie konnte bereits nicht mehr sprechen, waren die Schalen entfernt worden. Drei Tage lang winselte sie ununterbrochen und verweigerte jeden Bissen, bis Jûsuf schließlich merkte, warum sie so unglücklich war, und wieder Schalen ans Fenster hängte.
Saada entwickelte einen regelrechten Widerwillen gegen getrocknete Schalen. Besonders zum Ende hin, als sich in den Geruch der Gestank von Urin und Kot mischte. Trotzdem, Saada blieb nichts anderes übrig, als sich dem Wunsch ihres Mannes und dem Winseln der Schwiegermutter zu fügen. Kaum aber war alles vorbei, verbrannte sie sämtliche Schalen. Seither ertrug sie nicht einmal mehr den Anblick von Zitrusfrüchten. So sah Milia sich ab ihrem zehnten Lebensjahr gezwungen, die unverzichtbare Kubba arnabîjja zu kochen. Und bald war sie zur Meisterin des Kochens und des Wohlgeschmacks geworden. Ihre Fähigkeiten nahm sie mit nach Nazareth, musste sich aber zehn Monate nach der Hochzeit mit dem Umzug nach Jaffa abfinden. Milia hatte kaum genug Zeit, sich an Nazareth zu gewöhnen. Diese auch Weiße Stadt oder Rose Galiläas genannte Ortschaft über der Mardsch-Jbn-Âmir-Ebene mit ihren drei Vierteln, dem griechisch-orthodoxen, dem maronitischen und dem lateinischen Viertel, war von Weihrauchduft und Poesie erfüllt. Milia kannte ohnehin keine andere Stadt als Beirut. Und selbst von Beirut kannte sie nur wenig. Das Viertel, in dem sie ihre Kindheit und Jugend verbracht hatte. Die Straße, in der ihre Großmutter Malika lebte. Die Bäckerei, aus der eine flüchtige Liebesgeschichte hervorgegangen war. Und das Meer, das ihr anfangs ungeheuer war, dann aber in ihre Träume einging als ein Tor zu fernen, neuen Welten. Milia hätte im Grunde nichts gegen eine Reise nach Jaffa gehabt, wäre da nicht die Sorge um das Kind in ihrem Bauch gewesen. Richtig, sie hatte während der Schwangerschaft eine innige Beziehung zur Stadt Nazareth aufgebaut. Wegen ihrer Heiligkeit. Wegen der blauen Frau, die ihr in den Träumen erschien. Wegen der Begegnung mit Tanjûs und der geheimen Orte, die sie durch ihn entdeckte. Letzten Endes aber, das wusste Milia nur zu gut, hatte eine Frau ihrem Mann zu folgen, wohin der wollte. Doch da waren die Angst, die Todesahnung, die Gesichter der blonden Männer in der Kirche in Jaffa, der von Tod geschwängerte Orangenduft. Sie wollte Mansûr von dem Traum mit dem Sarg erzählen, ihn damit vom Umzug abbringen. Aber er glaubte ihren Träumen nicht mehr. Also hüllte sie sich in ihre Traurigkeit, nahm seinen Ärger hin und lebte die beiden letzten Monate der Schwangerschaft nahezu allein.
Sie sah ihre Großmutter im Traum. Hasîba in Nazareth. Dort ist auch der französische Offizier. Der Offizier streckt der Frau in Schwarz die Hände entgegen. Die Frau steht in einiger Entfernung, rührt sich nicht von der Stelle. Milia tritt an den Offizier heran, sagt ihm, dass Hasîba geheiratet und ihn vergessen hat. Dass sie nicht zu ihm kommen kann, weil sie ans Bett gefesselt ist. Dass sie außerdem die Sprache verloren hat. Der Offizier hört sie nicht. Er scheint sie nicht zu hören oder nicht zu verstehen. In Beirut hatte Milia nie von der Großmutter und ihrem Offizier geträumt. Warum also erschienen sie ihr auf einmal hier in Nazareth? Milia war überzeugt, dass es den Offizier nicht wirklich gab. Das Ganze hatte sich Hasîba bestimmt nur ausgedacht, um vor sich zu rechtfertigen, dass sie alle Brautwerber abgelehnt und erst spät geheiratet hatte und dass sie so introvertiert war. Milia sah sich selbst im Traum. Klein, in ihrem Zimmer in Nazareth. Im Bett liegt die Großmutter. Das Mädchen schaut aus dem Fenster. Draußen in der Ferne steht Ferdinand, die Arme ausgestreckt. Er bückt sich, fällt hin. Milia wird bange. Mansûr war nicht da, um sie vor den nächtlichen Wesen zu beschützen.
Palästina sei von Fluch und Sünde beherrscht, hatte er gesagt, als sie heirateten.
»Gott ist schuld«, schob er nach. »Versteh mich bitte nicht falsch. Das soll um Himmels willen keine blasphemische Äußerung sein. Aber die Menschen begreifen einfach nicht, warum Gott unter Tausenden von Städten diese eine zu seiner Stadt erklärt hat. Warum er ein Land, das so klein ist wie ein Getreidekorn, zum Land seines einzigen Sohnes bestimmt hat. Seit Anbeginn der Schöpfung wurden und werden sämtliche Kriege hier ausgetragen. Als der Ägypter Echnaton den Ein-Gott entdeckte, schauten alle auf das Land Kanaan, weil dies Gottes Erde ist. Und im Nu brachen endlose Kriege aus. Die Kriege haben erst ein Ende, wenn Gott sich entschließt, seine Stadt aufzugeben oder sie erneut aufzusuchen. Aber das wird er nicht tun. Keine Sorge, ich bin bei dir und werde nicht zulassen, dass dir auch nur ein Haar gekrümmt wird. Diesem Land stehen viele Kriege bevor. Aber wir werden davon verschont bleiben. Keiner wird es wagen, Krieg in Nazareth anzuzetteln. Du und ich werden leben, und über uns wird Frieden herrschen.«
An die Sache mit dem Frieden glaubte Milia nicht. Aber Mansûr hüllte sie in seine Worte ein. Sie brauchte ihm nur zu lauschen, und schon wurde ihr wohlig zumute. Sie hatte das Gefühl, von ihm fortgetragen zu werden. Hatte das Gefühl, die Gedichte, die er rezitierte, umtanzten ihre Augen und entführten sie in eine von seiner Stimme erschaffene magische Welt. Sie liebe seine Stimme, sagte sie. Liebe die rauchige Heiserkeit, die von Tabak- und Kaffeegenuss herrührte. Ein zärtlicher, im Rhythmus der Metren arabischer Poesie wogender Klang. Sanft, gedämpft wie Samt. Wie auf seine Stimme gebettet, entschwebte sie in seine fernen Welten. Doch dann entdeckte sie, dass er ein großes Geheimnis verbarg. Dass er bei ihr Schutz suchte. Er hatte ihr Schutz versprochen. In Wirklichkeit aber hatte er zu ihrer Welt Zuflucht genommen, um der Gefahr zu entkommen, die Jaffa drohte.
»Ich habe nichts dagegen, nach Jaffa zu gehen oder wohin auch immer du willst. Aber ich bin schwanger und kann das jetzt nicht.«
Milia hatte sehr wohl Verständnis dafür, dass die Schlosserei zur Verteidigung der Stadt eingesetzt werden sollte, auf deren Schultern eine neue Stadt namens Tel Aviv heranwuchs, die es darauf abgesehen hatte, sich Jaffa und das gesamte Land einzuverleiben. Dennoch verabscheute Milia Gewalt und Blut. Und sie hatte Angst um ihren Sohn.
Hatte denn nicht ihr Opa ihren Vater getötet?
Warum sagte sie so etwas? Sie wusste doch, dass das nicht der Fall war.
»Aber er wollte ihn umbringen«, hatte Saada ihr gesagt. »Und hätte Gott nicht seine schützende Hand ausgebreitet und die Mutter nicht so ein reines Herz gehabt, dann wäre es mit dem Jungen aus und vorbei gewesen.«
Hatte der Mann seinen Sohn getötet? Oder hatte er ihm, wie er behauptete, den Stein an den Kopf geworfen, weil er ihn nicht erkannte? Unwichtig. Was hatte Milia mit ihrer Großmutter zu tun? Und was mit diesem Märchen, das zu einer von diffusen Träumen umhüllten Erinnerung verblasst war?
Die Geschichte war Milia plötzlich wieder in den Sinn gekommen. Nach Amîns Tod, in den letzten beiden Monaten der Schwangerschaft, heimgesucht von Jaffas Geistern.
»Das interessiert mich nicht«, wehrte sie ab.
Statt dass Mansûr wie versprochen am Tag darauf aus Jaffa heimkehrte, kam er erst drei Tagen später zurück.
»Ich musste länger bleiben«, sagte er, las in ihren Augen Zweifel und verhaspelte sich. »Ich hatte keine Möglichkeit, dich zu benachrichtigen.«
»Das interessiert mich nicht. Lass gut sein! Bitte!«
Sie hörte Satzfetzen aus dem Mund ihrer Schwiegermutter. »Mansûr hätte lieber nicht so überstürzt heiraten sollen. Was soll bloß aus der Frau und den Kindern werden?«
Milia verstand. Ihre Schwiegermutter hätte es gern gesehen, dass Mansûr die Witwe seines Bruders heiratete, so wie es in solchen Fällen üblich war. Doch das war nun nicht mehr möglich.
»Getan ist getan. Und vorbei ist vorbei«, kommentierte Milia in libanesischem Dialekt.
»Was sagst du da?«, fragte Mansûr.
»Ich habe dir schon einmal gesagt, dass es mir egal ist. Tu, was du willst. Aber mach mich nicht verrückt. Ich bin nicht meine Großmutter. Ich werde mich weder aufregen noch etwas sagen. Mir genügt dieses Kind.«
Nein, Milia hat nichts dergleichen gesagt. Ihre Schwiegermutter bedauerte nicht, dass Mansûr bereits vergeben war und folglich die Witwe seines Bruders nicht heiraten konnte. Das hat sich Milia alles eingebildet, als sie auf ihren Mann wartete. Endlich zurückgekehrt, küsste er sie und sagte, dass er müde sei und schlafen wolle.
»Ich wünschte, ich würde einschlafen und nie wieder aufwachen«, sagte er.
»Mal den Teufel nicht an die Wand«, wehrte Milia ab, biss sich auf die Unterlippe und schmeckte Blut.
Milia wälzte sich im Bett. Sie hörte Mansûr. Er rief sie aus der Ferne. Sie versuchte die Augen zu öffnen, wollte »aufhören« rufen. Doch das Glas zerriss ihre Lippen. Sie sitzt auf der Schaukel, fliegt durch die Luft. Der Wind umspielt sie. Das Brett hängt an zwei langen Seilen. Sie schaut hinauf, sieht den Feigenbaum nicht. Wo war sie jetzt? Da ist eine Schaukel, aber der Baum fehlt. Der Garten sieht aus wie der Garten ihres neuen Hauses in Nazareth. Wie war die Schaukel hierhergekommen? Sie will sich hinstellen. Die Hände fest um die Seile, steht sie auf dünnen Beinen. Die Knie angewinkelt, den Oberkörper nach vorn gebeugt, holt sie Schwung und steht auf. Sie fliegt, immer höher. Oben ist nichts. Nur Höhe. Grauer Himmel. Angst. Ihr Herz stürzt in die Tiefe. Sie schaut hoch, sieht nur grauen, wolkenverhangenen Himmel. Plötzlich lösen sich ihre Hände von den Seilen. Wie von einer geheimen Kraft katapultiert, schießt sie in die Luft, die Arme von sich gestreckt, die Hände ins Nichts greifend, als hätte man sie gekreuzigt. Dann beginnt sie zu fallen. Sie hört einen Schrei, schmeckt Blut auf der Zunge.
Milia riss die Augen auf. Im Zimmer war niemand. Ihr Herz raste, die Ohren dröhnten. Sie wollte aufstehen, bemerkte die Schmerzen. Schmerzen im Bauch. In kleinen, aufeinanderfolgenden Wellen kamen und gingen sie. Milia biss sich auf die Lippen, wollte trinken, fand aber neben dem Bett kein Wasserglas. Sie schloss die Augen und sah ihn. Nadschîb. Staubbedeckt steht er da. Er kommt näher, setzt sich zu ihr auf das Bett und weint.
»Warum weinst du? Was machst du hier? Los, geh wieder zu deiner Frau. Es ist vorbei. Ich lebe jetzt hier und du dort.«
Er hebt die Hand, ergreift ihre. Sie spürt sein Herz in den Fingerspitzen klopfen. Ihr ist zum Weinen zumute. Sie fragt nicht, warum er das getan hat, sagt auch nicht, dass ihr das Herz damals brach. Wie hätte sie es ihm erklären sollen? Erklären, dass ein Herz brechen kann. Dass ein Herz schwerer zu kitten ist als zerbrochenes Glas. »Ich habe mein gebrochenes Herz in Beirut gelassen und hier ein neues gefunden. Nein, mehr als ein Herz kannst du mir nicht brechen. Das tust du mir nicht an!«, sagt sie und zieht die Hand aus der seinen.
Sie öffnete die Augen und sah ihn. Mansûr deckte sie zu.
»Wann bist du zurückgekommen?«, fragte sie. »Ich mache dir gleich Abendessen.«
»Nein, bleib liegen. Ich rufe Nadra«, sagte Mansûr.
»Aber Nadra ist tot«, erwiderte Milia.
»Das nenne ich eine Frau!«, schwärmte Jûsuf.
Wann immer Jûsuf Nadra im kurzen Kleid mit ihren prallen braunen Schenkeln sah, erstarrte er und bekam einen lechzenden Blick. An ihrem Vater konnte Milia sehen, wie sich Augen in Feuerbälle verwandeln und der Körper des Mannes zum Behältnis einer rätselhaften, ihn plötzlich überkommenden Begierde wird. Am Ende starb Jûsuf, berührt von den Händen der fülligen Hebamme, die er sein Leben lang begehrt hatte.
Er fiel zu Boden und blieb reglos liegen. Nadra war zwar nicht dabei gewesen. Trotzdem erzählte sie haarklein, wie er zusammengebrochen und gestorben sei, bis sich ihre Geschichte schließlich als die allgemein anerkannte Version von Jûsufs Tod durchsetzte. Er sei, so Nadras Schilderung, erschöpft heimgekommen und habe niemanden vorgefunden. Die Kinder seien in der Schule und Saada in der Kirche gewesen. Starke Kopfschmerzen hätten ihn gequält. Er habe sich ein Glas Orangenblütenwasser mit warmem Wasser und Zucker, in Beirut »weißer Kaffee« genannt, bereitet und sich dann in den Lîwân geschleppt. Dort sei er bewusstlos zusammengebrochen. Als die Kinder heimkamen, hätten sie ihren Vater auf dem Boden liegend gefunden. Salîm sei sofort zu Nadra gelaufen und Nikola in die Kirche. Nadra traf vor Saada ein. Zu dritt hoben die Hebamme, Salîm und Nikola Jûsuf auf und legten ihn aufs Bett. Ein Schlaganfall, sagte Nadra. Da könne man nichts machen. Es sei hoffnungslos. Als Saada heimkam, berichtete ihr Nadra alles. Wie er erschöpft heimkam, einen weißen Kaffee trank, bewusstlos zusammenbrach. Saada bat Salîm, den Arzt zu holen. Salîm rannte zum Arzt, Nikola in die Kirche. Der Arzt und die Nonne trafen gleichzeitig ein. Der Arzt untersuchte Jûsuf, fühlte den Puls und maß den Blutdruck. Er versuchte ihn wiederzubeleben. Erfolglos. Er sah Saada und die Nonne an und sagte, dass es sich um einen Schlaganfall handle, es werde, so Gott wolle, nicht lange dauern, um es nicht zu einer Qual für den Betroffenen und die Familie zu machen. Der Arzt ging, ohne Bezahlung anzunehmen. Es sei geraten, den Priester wegen des letzten Abendmahls kommen zu lassen, sagte die Nonne. Kurz darauf war das ganze Haus von Weihrauch erfüllt. Jûsuf aber starb nicht. Vier Tage lag er noch im Bett. Nadra besuchte ihn jeden Morgen. Sie tauchte ihren Finger in Wasser und benetzte Jûsuf die Lippen. Am vierten Tag verkündete Nadra, dass es zu Ende sei. So ist er gestorben.
»Er starb, berührt von deinem Finger«, stellte Saada fest.
»Gott sei ihm und uns gnädig«, wünschte die Hebamme mit Tränen in den Augen.
»Sie liebte ihn«, sagte Saada.
»Nein, solche Frauen wissen nicht, was Liebe ist. Sie kennen nur das Eine«, kommentierte die Nonne.
Wer hatte Nadra geholt?
Sie fürchte sich vor der Hebamme, sagte Milia zu Mûsa. »Sie kam und brachte den Tod mit.«
Nadra trug einen Topf mit dampfendem Wasser. Sie krempelte die Ärmel hoch und fing an zu husten. Die Zigarette fiel ihr aus dem Mund in den Krug. Milia hörte das Zischen der erlöschenden Zigarette. Rauch breitete sich im Raum aus.
»Ich will nicht«, schrie Milia und riss die Augen auf.
Sie sah Mansûr neben dem Bett stehen. Um ihn herum Dunkelheit. »Komm, mein Schatz, wir müssen ins Krankenhaus.«
Tante Malvina nahm sie bei der Hand und half ihr auf die Beine.
»Nicht heute«, sagte Milia. »Lasst mich schlafen.«
»Doch, heute«, widersprach die Tante.
»Was ist heute für ein Datum?«
»Der 21.«, sagte Mansûr.
»Nein, es ist noch nicht so weit. Ich bekomme das Kind nicht heute. Der Arzt hat gesagt, das Kind kommt am 24. Dezember in der Nacht.«
Mansûr holte eine kleine Reisetasche und bat seine Tante, ihm beim Packen zu helfen. Milia schaute in den Spiegel. Ihr Gesicht war geschwollen. Die Wangen waren nicht weiß, sondern gelblich. Unter den Augen hatten sich dunkle Ränder gebildet. Die Krämpfe kamen wieder. Milia stöhnte vor Schmerzen. Mansûr rannte zu ihr, half ihr aufs Bett.
»Wir müssen jetzt wirklich gehen«, sagte er und wandte sich zur Tante, die ratlos vor den Schubladen stand. »Nun mach! Du sollst doch keine Aussteuer für sie zusammenstellen, Tante! Ein Nachthemd und zwei Garnituren Unterwäsche! Das reicht. Dann sehe ich weiter.«
Kurz darauf fand sich Milia im Auto wieder. Mansûr saß neben dem Fahrer. Sie auf dem Rücksitz, neben ihr die Tante. Der Wagen schob sich durch eine kleine, überfüllte Straße, bog rechts ab und erklomm den Hügel zum Italienischen Krankenhaus. Der Himmel leuchtete kurz auf. Dann fing es an zu regnen. In Schnüren fiel der Regen. Milia zitterte. Ihr sei kalt, sagte sie. Tante Malvina zog den Mantel aus und deckte Milia damit zu. Der Wagen hatte Schwierigkeiten, die steile Straße hinaufzukommen. Der Motor kreischte, als würde er um Hilfe schreien. Ohne zu greifen drehten die Reifen auf dem Asphalt durch.
»Die Reifen«, sagte der Fahrer, »die Reifen greifen nicht.«
Er zog die Handbremse an, legte den ersten Gang ein und trat aufs Gaspedal. Das Auto heulte auf wie ein verletztes Tier und setzte sich bebend in Bewegung.
»Was ist los?«, fragte Milia.
»Nichts«, sagte der Fahrer.
Endlich auf dem Hügel angelangt, schwamm der Wagen durch tiefe Regenpfützen. Der Motor ging aus. Zu hören war nur noch der prasselnde Regen.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Mansûr.
»Wir können nichts tun«, erwiderte der Fahrer.
Mansûr öffnete die Tür, um auszusteigen.
»Nicht! Geh nicht hinaus, bitte!«, schrie Milia.
Mansûr schloss die Tür wieder und befahl dem Fahrer, etwas zu unternehmen.
»Meine Frau kriegt das Kind sonst noch hier. Wir müssen weiter!«
Die Vordertüren gingen auf. Mansûr und der Fahrer stiegen aus. Milia sah die beiden Männer hinter der geöffneten Motorhaube verschwinden. Sie drehte sich zur Tante. Die Tante saß nicht mehr neben ihr auf dem Rücksitz. Milia schloss die Augen, während sich draußen in den Regen langsam Dunkelheit mischte.
»Schnee! Es schneit!«, hörte sie ihren Vater sagen.
»Wo bist du abgeblieben, Mansûr?«, schrie sie.
Mansûr war nicht da. Sie saß allein im Wagen unter einem braunen Mantel, zitternd vor Kälte.
Die beiden Männer stiegen wieder ein. Tante Malvina fasste ihr an die Stirn, wohl um die Temperatur zu fühlen. Mansûr drehte sich zu ihr um und bat sie, noch ein wenig auszuhalten. Sie habe keine Krämpfe mehr, sagte sie, aber Angst vor dem dichten Nebel.
»Da ist kein Nebel«, erklärte er.
Doch Milia sah Nebel. Und fallenden Schnee. Ein Mann in der Ferne. Mit einem Mädchen auf dem Arm rennt er durch den Schnee. Was hat ihren Vater bei dem Unwetter hinausgetrieben? Wieso trägt er sie durch den Schnee? Jûsuf bringt seine Tochter zu Doktor Naqfûr in die Praxis. Er hatte sie aus dem Bett gehoben, während die Nonne, über ihren Kopf gebeugt, Gebete murmelte, Weihrauch verbrannte und ihr ölgetränkte Watte in den Mund stecken wollte. Jûsuf hatte der Nonne die Kranke entrissen, sie in eine braune Wolldecke gewickelt und sich mit ihr zum Arzt aufgemacht. In jenem Jahr hatte es in Beirut geschneit. Milia konnte sich nicht mehr an den Schnee erinnern. Aber sie erinnerte sich an die braune Wolldecke und an das Keuchen des Vaters. Sie war vier Jahre alt. Sie erinnerte sich an die vielen Tränen, die an ihrem Bett vergossen worden waren, und daran, dass sie über ihrem glühenden Körper geschwebt hatte. Hatte sie das Wort »Tod« gehört? Sie wusste es nicht. Vielleicht wurde ihr erst zu einem späteren Zeitpunkt durch die Erzählungen der Großmutter klar, dass der Tod ihr aufgelauert hatte. In Form eines hohen Fiebers, das zehn Tage lang ihren kleinen Körper schüttelte. Sie habe, so berichtete Malika, die Kranke aus dem Fieber gerüttelt und gefragt, was sie träume. Die glühenden Augen hätten sich einen Spalt breit geöffnet. Sie träume nicht, habe Milia geantwortet. Da sei Malika beruhigt gewesen. Denn der Tod brauche einen langen Traum. Sie solle sich nicht fürchten, habe Malika ihre Tochter Saada beschwichtigt und sei heimgegangen.
»Nein, Vater, ich will nicht«, schreit Milia und versucht sich den Armen des Vaters zu entwinden.
Sie strampelt die braune Wolldecke von sich. Schneeflocken fallen auf sie und schmelzen, sodass sie nass wird.
»Aua«, schreit sie, als würde der Schnee ihr weh tun. »Lass uns nach Hause gehen, Papa.«
Jûsuf aber hört nicht auf sie. Unermüdlich läuft er – und seine Tränen.
»Mein kleiner Liebling, mein Liebling!«, schluchzt er, durch den Schnee rennend. Vor einer großen schwarzen Tür macht er halt und klopft an. Die Tür wird geöffnet. Es hört auf zu schneien. Dunkelheit senkt sich auf Milias Augen. Die Erinnerung erlischt.
Der Fahrer zündete eine Zigarette an und rauchte nervös.
»Bitte nicht rauchen«, fuhr ihn Mansûr an. »Sie sehen doch, dass meine Frau hochschwanger ist!«
Der Fahrer öffnete das Fenster und warf die Zigarette hinaus. Kalter Wind pfiff herein und kroch unter den Mantel, der Milia bedeckte. Milia seufzte. Sie spürte das Kind in ihrem Bauch zittern. »Heilige Jungfrau!«, rief sie. Der Motor sprang an. Und kurz darauf betrat Milia das Krankenhaus.
»Es ist noch nicht so weit. Morgen vielleicht«, sagte der italienische Arzt, nachdem er Milia untersucht hatte, und forderte Mansûr auf, seine Frau wieder nach Hause zu bringen und ihren Zustand zu beobachten. »Wenn die Krämpfe wieder einsetzen und die Schmerzen stärker werden, dann kommen Sie wieder. Sie muss jetzt nicht hierbleiben.«
Milia stimmte zu und stand auf.
»Komm, wir gehen nach Hause«, sagte sie zu Mansûr, der kaum fassen konnte, was sich da abspielte. Er konnte förmlich sehen, wie der Schmerz aus ihren Augen wich. Als seien die Worte des Arztes eine geheime Arznei, wischten sie schlagartig jeden Ausdruck der Verkrampfung aus dem weißen Gesicht. Die schwarzen Linien verflogen aus den zusammengekniffenen Augen, und jenes klare, milchige Weiß kehrte in Milias Wangen zurück.
»Komm, lass uns nach Hause gehen«, sagte sie und lief los.
Es hatte aufgehört zu regnen. Hier und da kämpfte sich ein Sonnenstrahl durch die graue Himmelsdecke.
»Wohin? Warte. Lass mich den Fahrer rufen.«
»Nein, ich will zu Fuß gehen.«
»Darf sie denn gehen, Herr Doktor?«, fragte Mansûr.
Der Arzt war verschwunden. In dem Raum waren nur noch die beiden Krankenschwestern. Sie sahen einander ähnlich. Nur, dass die eine jung und die andere alt, die eine blond und die andere brünett war. Mansûr hielt die Blonde für eine Italienerin und sprach sie auf Englisch an. Lächelnd bedeutete sie ihm mit einer Geste, dass sie ihn nicht verstehe. Also wandte er sich auf Arabisch an die Brünette. Auch sie lächelte und zog die Brauen hoch, zum Zeichen, dass sie nicht verstand. Mansûr verließ das Gebäude und stellte fest, dass Milia fort war. Wie verloren stand er auf dem Hügel vor dem Italienischen Krankenhaus. Die Stadt bestand aus unzähligen Gassen und steilen Wegen. Er wusste nicht, in welche Richtung er gehen sollte, um Milia zu finden. Dann sah er seine Tante. Sie und der Fahrer standen vor dem amerikanischen Wagen und warteten auf ihn. Mansûr setzte sich auf den Beifahrersitz und bat seine Tante, auf der Rückbank Platz zu nehmen.
»Wir wollen nach Hause«, sagte er zu dem Fahrer.
»Und Milia?«, fragte die Tante.
»Nachher«, erwiderte Mansûr.
Milia ging zu Fuß. Die Schmerzen und die Bilder ihres Vaters, der sie trug und nicht absetzte, obwohl sie gehen wollte, schienen einen gewissen Wunsch in ihr geweckt zu haben. Den Wunsch, jenen Mann zu treffen und ihm zu sagen, dass sie nun am Ende angelangt sei und bald in eine ferne Stadt ziehen würde.
Milia könne sich, so behauptete sie, an ihre ersten Gehversuche erinnern. Sie habe auf dem Arm des Vaters gesessen und geweint. »Ich habe mich schwer gemacht und hinuntergebeugt. Doch er verstand mich nicht. Ich hörte, wie Mutter ihm sagte, dass er mich absetzen solle. Damals konnte ich noch nicht sprechen, aber sehr wohl verstehen. Plötzlich sank ich aus großer Höhe in die Tiefe. Er hat mich bäuchlings auf den Boden gelegt. Er dachte wohl, dass ich krabbeln will. Stattdessen umfasste ich ein Stuhlbein, zog mich daran hoch und lief los. Die Welt drehte sich um mich. ›Das Mädchen kann laufen‹, rief meine Mutter und stieß einen Jubeltriller aus. Seither lief ich ohne Unterlass. Immerzu lief ich im Haus umher. Es war, als hätte ich die Welt neu entdeckt. Von oben sieht alles anders aus.«
»Daran kannst du dich erinnern?«, fragte Mansûr.
»Selbstverständlich.«
»Aber kein Mensch kann sich an die Zeit vor seinem dritten Lebensjahr erinnern.«
»Ich schon.«
»Ist ja gut«, sagte Mansûr und verstummte. Seit dem Vorfall mit dem zerbrochenen Weinglas brachte er mit »ist ja gut« höflich zum Ausdruck, dass er ihr nicht glaubte. Während er sich ihre Geschichten anhörte, schoss ihm plötzlich der Gedanke durch den Kopf, dass sie log. »Du lügst mich an, Milia«, sagte er unvermittelt. Die Geister ihrer Worte verflüchtigten sich vor seinen Augen, und er lächelte. Sie kommentierte das nicht. Solche Zweifel war Milia gewohnt. Ihre Mutter hatte sie, die Nonne hatte sie, und ihre Brüder hatten sie. Nur Mûsa glaubte ihr und an sie. Er glaube an sie, hat er ihr einmal gesagt. »Man darf nicht an Menschen glauben, nur an Gott«, klärte sie ihn auf.
»Aber Mutter glaubt an die Nonne!«
»Ich mag keine Nonnen.«
»Aber das ist eine Heilige!«
Wann hatte dieses Gespräch stattgefunden? Hatte Mûsa wirklich gesagt, dass er an sie glaube? Oder vermischte sie Traum und Wirklichkeit?
Er kenne sie nicht, sagte sie zu Mûsa. Nein, das hat sie nicht gesagt. Sie glaubte, dass Mûsa sie nie wirklich gesehen hatte. Wie auch, wenn er nicht in ihre Träume kam, nicht das dunkle Mädchen sah, das durch Dornen streifte und keine Schmerzen empfand? An jenem Tag aber, als er das Foto heimbrachte und an die Wand hängte, schauderte ihr vor dem Licht, das aus ihren Augen auf dem Foto leuchtete. Mûsa hatte sie zwar gesehen, jedoch nicht die Wahrheit erkannt, die sich ihm ohne sein Zutun offenbarte.
»Wozu das Bild?«, fragte sie und wich entsetzt zurück. »Hängt es ab!«
»Damit du bei uns bleibst«, sagte Mûsa. »So vermisse ich dich nicht, wenn ich dich vermisse.«
Milia ging zu Fuß, allein. Das Kind machte sich bereit, aus ihrem Bauch zu schlüpfen. Traurigkeit und Angst erfüllten sie.
»Neun Monate Angst«, sagte Milia zu Tanjûs.
Woher kam dieser geheimnisvolle alte Mann, der etwas von einem Propheten aus dem Alten Testament hatte?
Milia dachte an das Glas. Er hatte ihr ein Glas voll Weißwein mit gelblichem Farbton gereicht. Nein, er hatte ihr das Glas nicht gereicht, sondern es am Fenster abgestellt. Milia war allein im Haus. Mansûr hielt sich in Jaffa auf. Sie hörte ein Klopfen am Fenster, verkroch sich unter der Decke und beschloss, die Augen auf keinen Fall zu öffnen. Die Angst vor dem Traum mischte sich mit der Angst vor der Nacht. Sie kniff die Augen noch fester zu, drehte sich auf die rechte Seite, hörte ein Dröhnen in den Ohren. Sie ergab sich dem Dröhnen und der Müdigkeit. Dann hörte sie die Stimme. Das Kind in ihrem Bauch erzitterte und begann heftig zu strampeln.
Milia öffnete das Fenster und sah den Alten zwischen den Bäumen umherschleichen. »Onkel Tanjûs«, rief sie. Sie nahm das Glas, das auf dem Fensterbrett stand. Wie Gold sah die Flüssigkeit aus. Sie hob das Glas an die Lippen und trank einen Tropfen. Im Nu war sie berauscht. Sie stellte das Glas auf den Tisch neben das Bett und sank in einen tiefen Schlaf.
Wieso war aus dem Weißwein am Morgen Rotwein geworden? Warum hatte Mansûr den Wein nicht gesehen? Woher kam dieses Blutrot an ihren Fingerspitzen, das mit Wasser und Seife nicht abzuwaschen war?
Tanjûs war das Zeichen. Ein alter Mann, die Lebensjahre unzählig. Er trug eine schwarze Kutte wie ein Mönch, hatte einen langen weißen, zerzausten Bart. Die Augen, wie zwei ersterbende Lichtpunkte, lagen in tiefen Höhlen. Die Stimme klang wie ein aus dem Bauch aufsteigendes Geröchel.
Er sei diesem Mann nie begegnet, wehrte Mansûr ab.
»Doch, ein Mönch«, sagte Milia.
»Ein Mönch vagabundiert nicht durch die Straßen«, widersprach Mansûr. »Ich habe ihn nie gesehen. Und meiner Tante, die schon zwanzig Jahre hier lebt, ist nichts von solch einem Mann zu Ohren gekommen. Aus Beirut verschlägt es keinen hierher. Beiruter arbeiten eher in Tiberias und Haifa. Also hör endlich auf damit, Milia! Bald kommt das Kind, und dann haben diese Träume ein Ende.«
Mansûr war überzeugt, dass die seltsamen Dinge, die seine Frau im Traum sah, von der Schwangerschaft und dem Gefühl der Einsamkeit rührten. Schließlich wusste er von seiner Mutter, dass Frauen in der Schwangerschaft komisch sind. Einige würden den ganzen Tag schlafen. Andere würden sogar trockene Erde essen. Und wieder andere… das ersparte sie sich lieber. Sie selbst habe, als sie mit ihm schwanger war, unablässig Zitronen gegessen, bis ihr der Magen brannte. »Mach dir keine Sorgen, mein Sohn. Das kommt alles von der Schwangerschaft.« Obwohl ihm die Worte der Mutter einleuchtend schienen und er guter Hoffnung war, dass Milia sich nach der Entbindung nicht mehr so merkwürdig verhalten, nicht immerzu durch Gassen und Straßen streichen würde, war Mansûr überzeugt, dass die eigentliche Ursache des Problems Nazareth war.
»Diese Stadt ist verrückt«, erklärte er seiner Frau. Diese Tatsache habe er in dem Moment erkannt, als sie das Haus betraten. Schlagartig habe sich da etwas an ihrem Blick verändert. Und seither seien ihm ihre Gefühle verschlossen, die er zuvor stets an den Schatten in ihren Augen habe ablesen können. »Das ist Liebe«, sagte er. »Ein Blick in deine Augen, und ich weiß Bescheid. Liebende sind die Einzigen, die die Sprache der Augen beherrschen. Nur sie können in den Augen lesen. Das ist das Zeichen der Liebe. Also liebe ich dich.«
»Aber ich kann so nicht lesen«, entgegnete sie. »Heißt das, dass du mich mehr liebst als ich dich?«
»Bestimmt«, sagte er. »Los, schau mir in die Augen und lerne lesen.«
Sie saßen im Garten des alten Hauses. Mansûr streckte die Hand nach der ihren aus. Sie aber reichte ihm nur die Fingerspitzen. Ihre Wangen erröteten.
»Ich lese«, sagte sie, die Wimpern über die Augen gesenkt.
»Aber du hast die Augen doch geschlossen«, sagte er zweifelnd.
»Ich lese mit geschlossenen Augen.«
Das war keine Lüge. Milia las die Menschen um sich herum wirklich mit geschlossenen Augen. Was sie allerdings irritierte, war die Tatsache, dass Mansûr nie in ihren Träumen auftauchte. Das beunruhigte sie anfangs. Denn sie hatte das Gefühl, ihrem zukünftigen Mann untreu zu sein, und deshalb Gewissensbisse. Von alldem aber verriet sie ihm nichts. Wie auch? Eine Frau kann ihrem Mann ja schlecht sagen, dass sie ihn betrüge. Ein solches Geständnis hätte ihn zweifellos aufgebracht. Bei näherer Betrachtung dieses merkwürdigen Betrugs jedoch hätte er einen Lachanfall bekommen und jedes weitere Wort darüber für überflüssig erklärt.
Milia wusste, dass es noch nicht an der Zeit war, von Mansûr zu träumen. Doch sie wurde von Tanjûs aufgeklärt. Mansûr würde warten, bis sie das Kind zur Welt gebracht hätte, und dann erst umziehen. Er liebe sie sehr und wolle sie unbedingt mitnehmen. Als Milia diese Worte hörte, gefroren ihr die Fußsohlen.
Milia wehrte ab. Sie wolle nicht fortgehen, sondern in Nazareth bleiben, sagte sie. Sie sei die Tochter eines Zimmermanns und würde für ihren Sohn ein Geschäft hier eröffnen. Ihr Sohn solle den Beruf des Messias erlernen. Der alte Mann lächelte. Der Junge würde an einem fernen Ort leben, erklärte er. Und sie sei dazu berufen, Dinge zu sehen, die kein anderer Mensch sieht. Sie würde Mansûr noch kennenlernen. Schlagartig. Denn Zeit sei nur für Menschen ohne seherische Fähigkeiten von Bedeutung.
»Aber ich kenne ihn. Er ist mein Ehemann«, hielt sie dagegen.
»Nein, nein. Du wirst Dinge an ihm kennenlernen, die nicht einmal er kennt«, versprach er.
»Aber was habe ich damit zu tun?«, fragte sie.
»Alles zu seiner Zeit«, erwiderte der alte Mönch.
Kaum in der Stadt angekommen, hatte sich Milia als Erstes nach Jesus’ Haus erkundigt. Sie brannte darauf zu wissen, wo es gestanden hatte. Mansûr beobachtete, wie sich alles an ihr veränderte. Die Augen waren neuerdings von einem nebligen Schleier belegt. Um die Augen hatten sich Höfe gebildet, die nichts mehr von den Schatten hatten, die er aus Beirut kannte. Mansûr verfluchte die Entscheidung, nach Nazareth zu ziehen.
Er spürte, dass Milia ihm entglitt, in unbekannte Gefilde, wusste aber nicht, wie er sie hätte einholen und zurückhalten können. Ihre häufigen Kirchenbesuche und die beharrliche Suche nach Jesus’ Haus machten ihn beklommen.
»Keiner kennt das Haus. Außerdem ist das alles vielleicht nur eine Legende. Vielleicht hat Jesus gar nicht hier gelebt. Vielleicht war Nazareth irgendwo anders.«
Seit er verheiratet war, regte sich bei Mansûr ein gewisser Hass auf diese Stadt. »Wer lebt schon in einer Stadt voller Legenden, Märchen und Propheten! Diese Stadt macht ihre Bewohner verrückt. Im Grunde ist das doch nichts weiter als eine Stadt. Man kann nicht immer nur auf den Spuren der Heiligen wandeln. Sonst fürchtet man sich am Ende noch vor dem eigenen Schatten. Diese Frau ist mir unheimlich. Uns hier sind solche Marotten fremd. Die sind nur etwas für Touristen und Bekloppte. Wir hier führen unser Leben, als sei da nichts Besonderes.«
»Aber es gibt hier viele Besonderheiten«, entgegnete Tanjûs, als sie die Argumente ihres Mannes wiedergab.
Wer war Tanjûs?
Was war an seiner Geschichte von den Libanesen dran?
Die Gründer des neuen Nazareth, so erzählte sie Mansûr, seien Libanesen gewesen, die von Emir Fakhr ad-Dîn im sechzehnten Jahrhundert als Pächter ins Franziskanerkloster geschickt worden waren. Und die Franziskanermönche hätten auf dem Brachland, das sie hier vorfanden, die Stadt gebaut.
»Was heißt hier Libanesen?«, sagte Mansûr und lachte spöttisch. »Immerhin handelt es sich bei dem Flecken Erde hier um Bilâd asch-Schâm, also geographisch um Syrien. Ach, Faisal I., Gott hab dich selig«, seufzte er und erinnerte Milia an das Foto von dem schmächtigen König im Masâbki-Hotel. Er erzählte von der Schlacht bei Maisalûn9, erzählte, wie Jûsuf al-Azma10, der Verteidigungsminister Syriens, mit dem Gewehr im Arm fiel, als er den Einmarsch der französischen Truppen in Damaskus verhindern wollte. Mansûr erzählte, erzählte und erzählte.
»Aber ich spreche nicht von Politik«, sagte Milia. »Ich spreche davon, dass die Bewohner von Nazareth zur Hälfte Libanesen sind. Maroniten und Lateiner, die von Fakhr ad-Dîn zur Arbeit bei den Mönchen hergeschickt wurden. Später kamen die Griechisch-Orthodoxen aus dem Haurân-Gebiet und aus der Gegend von Ramallah hinzu. Und alle haben das Haus von Jesus Christus gesucht, es aber nicht gefunden. Der Einzige, der weiß, wo das Haus stand, ist der Mönch Tanjûs.«
»Wer hat dir diese Märchen erzählt?«, fragte Mansûr.
»Der Mönch Tanjûs.«
»Woher ist dieser Mönch? Ich habe ihn noch nie gesehen. Niemand hier in der Stadt hat ihn gesehen.«
»Ich habe ihn gesehen«, erwiderte sie.
Als Mansûr Haurâni nach Nazareth zog, war ihm nicht in den Sinn gekommen, dass er sich in der Stadt des Messias niederließ. Schließlich grenzten sich Nazareths Einwohner entschieden von der heiligen Geschichte ab, indem sie sich als Nazarether bezeichneten und nicht als Nazarener, wie die Anhänger des Jesus von Nazareth im Koran hießen. Warum nur machte sich Milia mit all diesen religiösen Geschichten das Leben zur Hölle?
Mansûr nahm die religiöse Atmosphäre, die bei den Schâhîns in Beirut herrschte, durchaus wahr, nahm sie aber nicht ernst. Er führte sie auf Saadas Hysterie zurück, von der ihm Milia ausgiebig erzählt hatte. Dass die Mutter so fromm war und der Nonne regelrecht am Rockzipfel hing, betrachtete Mansûr als ein Symptom der Wechseljahre. Denn das Ausbleiben der Regel und die Hitzewallungen, die aus den Tiefen der Gebärmutter aufsteigen, konnten Frauen, wie er wusste, in den Wahnsinn treiben. Saada sei immer noch angenehmer als seine Mutter, sagte er. Saada tobe sich aus, indem sie Ikonen küsse und ölgetränkte Watte schlucke. Seine Mutter dagegen habe eine unerträgliche Herrschsucht entwickelt. Mit erbarmungsloser Härte dirigiere sie das Geschäft und ihre beiden Söhne. Außerdem halte sie sich für bedeutender als Hadsch Amîn al-Hussaini, weil sie ein paar verrostete Gewehre reparierte. Aber was ging nun vor sich? Warum hatte er das Gefühl, dass der Geist der heiligen Nonne sich bei ihm im Haus eingenistet hatte? Warum hatte er das Gefühl, dass dieser ominöse Tanjûs, der sich als Libanese ausgab und behauptete, seine Ahnen seien aus dem Dorf Bait ad-Dîn im Schûf-Gebirge gekommen, um bei den Franziskanern zu arbeiten, in seinem und Milias Leben herumgeisterte?
»Du willst aus Nazareth weglaufen«, sagte Milia, »aber ich will hierbleiben. Ich weiß nicht, was dich reitet. Dein Geschäft läuft zum Glück gut, und deine Mutter kommt allein zurecht. Du hast mir doch selbst gesagt, dass deine Mutter die Schlosserei am liebsten in Eigenregie betreiben würde. Ich habe das Gefühl, du fliehst vor einer Sache, von der ich nichts weiß. Vielleicht hast du ja Recht. Vielleicht ist es eine Vision. Schließlich hat Josef auch so gehandelt. Er ist von hier nach Ägypten geflohen und hatte Recht damit.«
»Welcher Josef?«
»Josef der Zimmermann«, sagte sie.
»Woher kennst du den denn schon wieder?«
»Das ist Josef, der Vater von Jesus Christus.«
»Du sprichst vom heiligen Josef wie von einem Freund. Ich mag Josef den Zimmermann nicht. Er hat sich Hörner aufsetzen lassen. Alle Propheten haben Frauen geliebt. Abraham, Noah, David und wie sie alle heißen. Und Adam? Sag mir doch mal bitte, warum Adam aus dem Paradies vertrieben wurde. Der Baum der Erkenntnis war ganz bestimmt nicht der Grund. Was glaubst du wohl, was die Erkenntnis ist? Die Erkenntnis ist Eva, also die Fick…!
»Bitte nicht dieses Wort!«
»Jetzt denk doch mal nach!«
»Aber der heilige Josef war nicht so, wie du sagst. Der heilige Josef hat den Engel im Traum gesehen. Der Traum hat ihm alles offenbart.«
»Jetzt sind wir wieder bei den Träumen. Milia, Liebling, ich habe nichts gegen den heiligen Josef. Er ist mir egal. Aber erklär mir doch mal bitte, wie er sich damit abfinden konnte!«
»Abfinden? Womit?«
»Der Vater des Jungen zu sein, obwohl er nicht sein Vater war. Im Grund weiß doch keiner, wer der Vater ist.«
»Weil er ein Heiliger ist.«
»Gott erhalte uns alle Heiligen!«
»Du hättest dich damit also nicht abgefunden?«
»Selbstverständlich nicht. Also, entweder ist der Junge mein Sohn oder er ist es nicht. Und jetzt verschone mich bitte gefälligst mit diesen Geschichten. Sonst fange ich noch an zu fluchen!«
Wie konnte der alte Mann die Geschichte glauben, die ihm von seiner junge Frau aufgetischt wurde? War sie es, die ihm reinen Wein einschenkte? Oder erschien ihm, wie in den Evangelien geschrieben steht, im Traum der Engel? Wie kommt ein Mensch dazu, seine Träume für bare Münze zu nehmen?
»Alle Propheten waren so«, sagte die heilige Nonne. »Aber vielleicht war es ja auch der Teufel«, schob sie nach und murmelte ein Gebet. Währenddessen wischte Saada der kleinen Milia die Stirn mit einem kaltfeuchten Tuch. Daran erinnerte sich Milia nicht mehr, dafür aber an den Traum. Wann immer sie ihre Mutter von der Situation damals erzählen hörte, hatte sie das Gefühl, sich selbst fremd zu sein. Im Alter von zehn Jahren bekam sie ein zweites Mal so hohes Fieber, dass einschließlich der heiligen Nonne alle dachten, sie würde sterben. Hoffnung gebe es nur in Gott, sagte der Arzt bei seiner Visite. Unter Gott verstand Saada nur eines: die Nonne. Also eilte sie zum Erzengel-Michael-Kloster und klammerte sich an das Gewand der Nonne. Diese aber reagierte nicht. Denn sie betete.
Immer wenn Schwester Mîlâna, das aufgeschlagene Triodion-Buch11 vor sich, dastand und Gebete vorlas, insbesondere, wenn sie zum Sonnenuntergang für das Abendlicht betete, wurden die Anwesenden in der Kirche von einer Ehrfurcht erfasst, die etwas von träger Müdigkeit hatte. Wie eine Schaukel wiegte Mîlânas Stimme alle Ohren in himmlische Sphären. Andächtig, von seltsamen Klängen entrückt, sahen die Betenden, wie sich Federn auf die Körper der Heiligen legten. Schwester Mîlâna erlaubte in der Kirche kein elektrisches Licht, was für einen Dauerstreit mit Bischof Gerasimus sorgte. Der Bischof hatte nämlich angeordnet, dass beim gemeinsamen Gebet mit den Nonnen der Kronleuchter anzuschalten sei. Die Heilige betrachtete das als gotteslästerlich. Sie glaubte, dass die Engel Strom verabscheuten, weil sie selbst ausreichend Licht ausstrahlten. Seine Exzellenz aber beharrte auf seinem Standpunkt und verspottete die Nonne, weil sie an solche Ammenmärchen glaubte und sich als Heilige ausgab, in Anwesenheit der Gläubigen.
Nein. Der Grund für den Streit war nicht der Strom. Mîlâna hatte eine Lösung gefunden. Sie verlangte von den Nonnen, die Augen zu schließen, sobald das Licht angeschaltet wurde. »Wir schließen die Augen. Die Engel schließen die Augen. So ändert sich nicht das Geringste für uns.« Das eigentliche Problem war eine Frau von teuflischer Schönheit namens Marika Spiridon.
Marika war jene legendäre Gestalt, um die sich damals in Beirut viel Tratsch und Klatsch rankte. War sie tatsächlich, wie allgemein behauptet wurde, die Geliebte des Bischofs? Oder war sie nur eine Neuauflage der heiligen ägyptischen Mariam? Jener Mariam, die ihr Leben als Prostituierte begann, später aber durch den heiligen Antonius bekehrt wurde. Jeden Sonntagmorgen kam Marika zusammen mit drei Griechinnen zur Messe. Die vier Frauen nahmen am Abendmahl teil und gingen anschließend auf dem Pflaster der Sünde, al-Mutanabbi-Straße genannt, wieder ihrer Arbeit nach.
Was die Nonne aufbrachte, war nicht die allgemein bekannte Wahrheit. »Gott hat Einblick in die Herzen, er allein soll richten«, sagte sie knapp, wann immer sie auf die »Nutte« angesprochen wurde, »die dem Bischof nachstellt, in die Spendenkasse einzahlt und der Sankt-Dschirjes-Kirche den größten Kronleuchter gestiftet hat, den sie in Beirut hat auftreiben können.« Schwester Mîlâna verbat sich, in ihrem Beisein den Ausdruck »Nutte« zu benutzen. »Gefallenes Mädchen« sagte sie stattdessen und bat Gott im gleichen Atemzug, all seine Untertanen zu beschützen. Doch das Maß war nun endgültig voll. Es hieß, und Gott allein weiß, ob es wahr ist, dass Seine Exzellenz eine Sondergenehmigung erwirkt hatte, die Marika und ihren Mädchen sonntags uneingeschränkte Bewegungsfreiheit in Beirut einräumte. Das osmanische Gesetz untersagte Prostituierten nämlich, sich außerhalb des Marktviertels aufzuhalten. Es ist anzunehmen, dass der von der französischen Mandatsmacht ernannte Gouverneur Beiruts, ein Abkömmling der griechisch-orthodoxen Familie Bastiris, der Ausnahmeregelung zustimmte, weil er dem Bischof einen Gefallen tun wollte oder weil er ein Kunde der besagten Dame war. Jedenfalls konnte Marika seither in jede Kirche gehen, in der Bischof Gerasimus am Sonntag den Gottesdienst leitete. Meist hielt Seine Exzellenz die Sonntagsmesse in der Sankt-Gregorius-Kathedrale ab, die Marika wegen ihrer Lage in der Nähe des Marktviertels auch schon vorher hatte betreten dürfen. Aus gemeindlichen Gründen aber predigte er auch in diversen anderen Kirchen in den Vierteln Musaitba, Aschrafîjja, Masra’a und Râs Beirut. Dank der neuen Regelung musste Marika nun keinen Sonntag mehr auf den Bischof verzichten. Das wiederum hatte zur Folge, dass die heilige Nonne immerzu Marikas Anblick ertragen musste. Sie brauchte dieses teuflische Weib nur zu sehen, um die Beherrschung zu verlieren und öffentlich jenen Ausdruck zu gebrauchen, den sie aus dem Mund anderer nicht duldete.
»Seine Exzellenz kommt und bringt die Nutte mit. Ich werde heute nicht zur Messe gehen«, teilte sie den Nonnen mit und zog sich in ihre Zelle zurück.
Was sich dann aber in der Zelle abspielte, als der Bischof sie betrat und Mîlâna in die Kirche hinunterbefahl, weiß keiner. Jedenfalls wurde die Gemeinde kurz darauf Zeuge einer bemerkenswerten Szene. Marika fiel vor der Nonne auf die Knie, und die Nonne erwiderte den Kniefall unter Tränen und hörte die ganze Messe über nicht auf zu weinen.
Vierzig Jahre später sollte die Wahrheit ans Licht kommen. Doch keiner wagte zu veröffentlichen, was Iskandar Schâhîn herausfand. Iskandar Schâhîn, Mûsas ältester Sohn, von einer Schwäche für Literatur befallen, arbeitete in der unter anderem von Saîd Sabbâgha gegründeten Zeitung namens Ahrâr, einem Forum der freimaurerischen Bewegung, die damals in Syrien und im Libanon aktiv war, zu Säkularismus aufrief und den Klerus verspottete.
Iskandar, ein tüchtiger Mann in den Zwanzigern, machte einen einmaligen journalistischen Fund. Durch Zufall lernte er eine alte Frau kennen, die in dem Viertel Furn asch-Schubbâk in der Nähe der Sankt-Elias-Kirche lebte und die besondere Fürsorge des Priesters Samîr Abu Hanna genoss. Der junge Journalist suchte das Haus des Priesters oft auf, weil er sich in dessen einzige Tochter verliebt hatte. Fûtîn aber sollte ihn zurückweisen und ihm das Herz brechen. Denn sie beschloss, Nonne zu werden. Doch das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls kam Iskandar dahinter, dass es sich bei der alten Frau um Marika Spiridon handelte und dass die ehemalige »Grande Dame« des Marktviertels sich am Ende ihrer Tage dem Gebet und der Buße verschrieben hatte.
Er besuchte sie, ausgerüstet mit Informationen über ihre Beziehung zu Bischof Gerasimus, die er von Khawâdscha Saîd Sabbâgha erhalten hatte, und bekam erstaunliche Geschichten zu hören. Über seine Tante Milia und über unglaubliche Einzelheiten eines Wunders, vollbracht von einer gewissen Nonne, durch das die zehnjährige fieberkranke Milia vom Tod gerettet wurde.
Marika geizte nicht mit Auskünften. Sie erzählte Iskandar alles, was er wissen wollte. Ihre Beziehung zu dem Bischof sei, so ihre Worte, etwas ganz anderes als die zu anderen Männern gewesen.
»Ich bin Griechin«, sagte sie. »Wir sind ein Volk, das überall in der Welt verstreut ist. Die Spiridons sind eine uralte griechische Familie. Wir stammen aus Istanbul. Zu diesem Gewerbe bin ich nicht zufällig gekommen. Nein, dies ist bei uns ein über Generationen vererbter Beruf. Meine Mutter übte ihn aus, meine Großmutter und meine Urgroßmutter. Damals stellte das kein Problem dar. Meine Mutter hat normal geheiratet wie jede andere Frau auch. Keine Ahnung, was in die Menschen gefahren ist und warum Huren jetzt geächtet sind. Was ich alles erlebt habe, mein Sohn! Ohne uns würde so manche Familie in Verruf geraten. Wie Sie ja wissen, sind Männer Hunde. Männer können einfach nicht anders. Gott hat sie so erschaffen. Adam, gesegnet sei er, hat seine Frau Eva betrogen, obwohl es außer ihr keine Frau auf der Welt gab. Fragen Sie mich nicht, wie er das angestellt hat. Fragen Sie den Herrn Bischof. Er weiß es. Und Sie, mein Sohn? Wer hat Sie eigentlich zu mir geschickt?«
Er erzählte von Khawâdscha Saîd.
»Saîd? Naamas Sohn?«, rief sie und kugelte sich vor Lachen. »Möge Gott ihm Zufriedenheit und Erfolg schenken. Großzügig war er. Aber auch ein Sensibelchen. Ich war ungefähr fünfundvierzig Jahre alt, als ich ihn entjungferte. Sie glauben wohl, dass nur Mädchen geöffnet werden müssen, was? Nein, mein Süßer, bei Jungen ist es genauso. Mein Gott, wie soll ich es beschreiben. Er war so wahnsinnig erregt. Das erste Mal bei einem Mann, der voll in Saft und Kraft steht, reicht eine kleine Berührung, damit er überschäumt. Diesen Jungen mochte ich wirklich gut leiden. Ich brauchte ihn nur anzutippen, und schon war es passiert. Dabei war er noch nicht einmal drin. Gleich darauf wollte er gehen. Aber ich hielt ihn zurück. ›Der erste Schuss ist für den Teufel‹, sagte ich. ›Los, probier es noch einmal!‹ Beim zweiten Versuch passierte das Gleiche. Was für ein Jammer! Er war immer noch nicht entjungfert. Kaum reingekommen, war er schon fertig. Er solle drinbleiben, sagte ich. Irgendwie tat er mir leid. Ein junger Mann, zart wie ein Basilikumpflänzchen und aus gutem Hause, wie es schien. Beim dritten Mal klappte es. Ich merkte richtig, wie er plötzlich aufblühte und zum Mann wurde. Wunderschön war er. ›Jetzt weißt du Bescheid‹, sagte ich. ›Schau jederzeit gern wieder vorbei.‹ Ich bin damals tatsächlich gekommen. Vielleicht, weil er noch Jungmann war. Wieso lachen Sie, mein Sohn? Jungmann ist die männliche Form von Jungfrau. Sonst bin ich mit keinem gekommen. Doch, mit Seiner Exzellenz, Gott hab ihn selig. Er hat mich völlig aus der Puste gebracht. Ein alter Mann, bestimmt fünfundsechzig Jahre alt mit langem weißem Rauschebart. Na ja, Sie wissen schon. Vielleicht hat er sich geschämt. Vielleicht, keine Ahnung. Er hat sich geweigert, den Oberkörper freizumachen. ›In Ordnung, Exzellenz‹, sagte ich, zog mich aus und bin zu ihm hin. Armer Kerl! Sein Ding war so schlaff. Das heißt, er bekam ihn nicht rein. Vor Anstrengung lief er rot an wie eine Tomate. Sogar sein weißer Bart wurde puterrot. ›Das wird nichts, mein Kind‹, sagte er. ›Wir lassen es am besten. Das kommt von den Medikamenten.‹ ›Medikamente hin, Medikamente her!‹, widersprach ich. ›Sie haben es mit Marika zu tun, mein Herr!‹ Ich habe mich auf ihn gestürzt, ihn ausgezogen und mich an die Arbeit gemacht. Fragen Sie nicht, was ich getan habe. Alle möglichen Spielchen und Tricks habe ich angewendet, bis sein Ding sich schließlich aufrichtete. Und dann hat es geklappt. ›Halleluja, Halleluja!‹, rief er. ›Nicht so laut, mein Herr‹, sagte ich. ›Schließlich sind wir hier in der Zelle, und draußen sind Leute.‹ Ihm war es egal. Er nannte mich Marika, die Wundertäterin. Nein, geliebt habe ich ihn nicht. Doch. Na ja, er tat mir leid. Mitleid ist auch ein Tor zur Liebe. Die Liebe, mein Sohn, ist ein Geheimnis. Unzählige Tore führen zu ihr. Und behauptet jemand zu wissen, was Liebe ist, dann lügt er. Keiner kann das Wunder begreifen, das sich zwischen einem Mann und einer Frau vollzieht. Vielleicht auch zwischen zwei Männern oder zwei Frauen. Als Schwester Mîlâna in der Kirche vor mir kniete und ich vor ihr, spürte ich etwas Seltsames. Gott verfluche den Teufel, mein Sohn! Ich würde es nicht sagen, wenn es nicht so wäre. Aber die Frau war wirklich eine Heilige. Das weiß ich genau. Dafür spricht allein schon das Wunder, das sie an Ihrer Frau Mutter Milia vollbracht hat, als sie klein war.«
»Milia ist meine Tante, nicht meine Mutter.«
»Mutter oder Tante. Ist doch einerlei. Wo waren wir stehen geblieben? Beim Bischof. Als Seine Exzellenz nach all der Mühe, die ich mir gegeben habe, zum Mann wurde und sich mit Halleluja-Gejohle auf mich stürzte, wurde mir ganz unheimlich zumute. Ich sei, wie er mich nannte, eine Festtafel. Und ja, er hat mich im wahrsten Sinne des Wortes vernascht. Was soll ich sagen? Er roch nach Weihrauch und Honig, hatte etwas von einem Gott. ›So wird der Mensch zum Gott‹, sagte er. In seinen Armen schmolz ich dahin. Er war gut gebaut. Ich dagegen, wie auch jetzt, schlank. Kaum aber hatte ich mich ausgezogen, wich er entsetzt zurück. ›Wo hast du das her?‹, fragte er. Ich habe recht füllige Hüften. Unter dem Kleid fiel das aber nicht auf. Vielleicht, weil ich Angst vor ihm hatte. Nein, nicht Angst vor, sondern Angst um ihn. Vielleicht hat es mir ja deshalb so viel Spaß mit ihm gemacht. Ursprünglich hatte ich ihn aufgesucht, um zu beichten. Ich kniete nieder, er legte mir die Stola auf den Kopf, und dann fing ich an zu reden. Ich hatte noch nie gebeichtet. Gar nicht wahr. Also am Abend vor Ostern bin ich immer in die Kirche gegangen. Mit all den anderen Leuten stand ich vor dem Altar. Der Priester hob die Hände und segnete uns. Das war es schon. Keine Ahnung, was mich an dem Tag geritten hat. In aller Frühe machte ich mich in die Kirche auf. Sie waren gerade beim Morgengebet. Ich ging zum Bischof. Er erhob sich von seinem Stuhl und streckte mir die Hand hin, weil er dachte, dass ich sie, wie alle anderen es taten, küssen wollte. Also nahm ich die Hand und küsste sie. Ich trat näher an ihn heran und flüsterte ihm ins Ohr, dass ich gern beichten würde. Verwundert schaute er mich an. Ich verstand. ›Du?‹, sagte er mit bebender Stimme. Er ließ mich links neben dem Altar niederknien, und dann geschah, was geschah.«
Iskandar Schâhîn schrieb auf, was Marika ihm erzählte. Alles schrieb er nieder. Über Saîd as-Sabbâgha, wobei er selbstverständlich den Namen änderte. Über die Nonne, die Kranke heilte. Über Marikas Leidenschaft zu der Nonne. Über den Bischof. Wie er kopflos vor Wut die Nonne in ein verlassenes Kloster in Kûra verbannte. Wie die Nonne in der Einöde zur Heiligen des Dorfes Bkiftîn wurde. Anfangs allein dort, kamen später drei Nonnen aus dem Erzengel-Michael-Kloster dazu, um ihr zu dienen. Die Nonne verlor ihre Sehkraft, worauf ihre besonderen Fähigkeiten zutage traten und sie Wunder vollbrachte. Obwohl blind, konnte sie sich ohne Hilfe durch das Kloster bewegen. Beim Beten entstieg ihrem Mund Weihrauch. Um Kranke zu heilen, brauchte sie keine ölgetränkte Watte mehr. Eine Berührung mit der Hand genügte. Begleitet von klagendem Singsang, den sie von sich gab, breitete sich der Ölduft aus, und sofort ließen die Teufel von dem Kranken ab. Am Ende ihres Lebens vermehrte sich die Zahl der Wundertaten rapide. Drei Tage vor ihrem Tod erteilte sie Bischof Gerasimus, der angereist war und sie unter Tränen um Vergebung anflehte, die Absolution.
Marika hatte Iskandar außerdem erzählt, dass seine Großmutter Saada treu bis an ihr Lebensende die heilige Nonne im Johannes-der-Täufer-Kloster in Bkiftîn besuchte. Jene Besuche seien Saadas einziger Trost gewesen angesichts der Katastrophe, die ihre Familie erschütterte.
Iskandar konnte gar nicht so schnell gucken, wie Khawâdscha Saîd Sabbâgha den Artikel in der Schublade verschwinden ließ. Er erkenne, so Herr Sabbâgha, die hervorragende Arbeit an. Leider könne er diesen außerordentlich interessanten Artikel jedoch nicht veröffentlichen. Denn damit würde das Andenken des Bischofs beschädigt, was in einem Land wie dem Libanon möglicherweise konfessionelle Konflikte entfachen könnte. Der junge Journalist bat um Rückgabe des Manuskripts. Doch Khawâdscha Saîd hatte es verlegt. Zumindest behauptete er das. So verblasste Marikas Geschichte in der Erinnerung zu einem bloßen Namen. Einem Namen jedoch, der allerlei Phantasien und Begierden erregte, vor allem bei Betrachtung der magischen Beziehung zwischen »kaf« und »alif« am Ende des Wortes, die in arabischer Schrift einen Liebesakt zu versinnbildlichen scheinen.
Als Iskandar seinen Vater Mûsa nach Milia, der Nonne und dem Bischof fragte, kamen dem alten Mann unwillkürlich die Tränen. Der dunkelhäutige Mann, inzwischen restlos weißhaarig, sagte kein Wort. Vielleicht hatte er die Frage nicht verstanden. Lautlos von Tränen erstickt, weinte er, kaum dass er den Namen seiner Schwester hörte.
Saada klammerte sich an das Gewand der Nonne, die gerade ein Gebet für das Abendlicht sprach.
»O Mutter Gottes, rette uns!«, rief Saada. »Mutter des Lichts, hilf! Milia! Milia stirbt!«
Die Nonne wandte sich der Stimme zu, rupfte Saada das Gewand aus der Hand und schickte sie heim.
»Milias Stunde hat noch nicht geschlagen«, sagte sie. »Wehe dir, wenn die Stunde gekommen ist, Saada! Geh nach Hause, ich komme gleich nach. So Gott will, geht alles gut aus.«
Die Nonne hatte Recht. Milia überwand das Tal des Todes, getragen von jenem seltsamen Traum, der sich ihr ins Herz prägte. Wieder genesen, entfiel Milia jede Erinnerung an die Krankheit. Ihr entfiel, dass Saada und die Frauen aus dem Viertel sie am Bett beweint hatten wie eine Sterbende. Entfiel, wie es ist, wenn man ins Delirium entrückt ist und der abgemagerte Körper zu einem Schatten verfliegt. Der Traum dagegen, der sie über den Tod hinwegbrachte, blieb ihr im Gedächtnis haften. So, als sei er ihr erst am Vortag oder unzählige Male erschienen. Und nun, während sie Mansûr in solcher Weise von Josef dem Zimmermann sprechen hörte, spulte sich der Traum wieder vor ihren Augen ab. Vielleicht hatte Mansûr ja Recht. Schließlich wurde dieser Heilige, dem Jesus seine Zugehörigkeit zum königlichen Geschlecht Davids verdankte, von der Kirche völlig ignoriert. Ihm zu Ehren gab es keine Feste. Und Wunder wurden ihm auch nicht zugeschrieben. Nicht einmal sein Todestag war bekannt. Starb er vor Jesus’ Kreuzigung? Und wenn ja, wann? Oder starb er erst danach? Aber warum stand er dann nicht zusammen mit Maria am Kreuz? Er scheint ein nebensächliches Werkzeug des göttlichen Willens gewesen zu sein. Also kein Prophet und kein Heiliger. Trotzdem mochte ihn Milia. Denn kaum hatte er die drohende Gefahr gespürt, floh er mit seinem Sohn nach Ägypten. Außerdem weigerte er sich, im Gegensatz zu Abraham, Friede sei mit ihm, seinen Sohn zu opfern. Wäre er noch am Leben gewesen, dann hätte er Jesus bestimmt davon abgehalten, auf dem Eselsfohlen reitend in Jerusalem einzuziehen und sich als König auszugeben. Zweifellos hätte er ihn von jenem Abenteuer abgehalten, das ihn ans Kreuz führte.
Sie, an einem fremden Ort, allein, auf einer grünen Wiese liegend. Vergegenwärtigte sie sich diesen seltsamen Traum, dann begegnete sie darin nie dem eigenen Bild. Wahrscheinlich hat sie sich einfach nur nicht in dem Mädchen wiedererkannt. Bisher war sie nämlich immer, wenn die Kleine auftauchte, sofort mit ihr verschmolzen in der Annahme, sie seien ein und dieselbe Person. In jenem seltsamen Traum dagegen sah sie alles klar und deutlich. Nur sich selbst sah sie nicht. Vielleicht war das der Grund, warum sie panisch wirres Zeug geschrien hatte, sodass die Frauen an ihrem Bett glaubten, sie ringe mit dem Tod und sehe bereits die Geister aus dem Totenreich. Alles sei voll Erde, soll sie geschrien haben. Von den Schreien und der Panik wusste sie später nichts mehr. Nur noch an eines erinnerte sie sich. An einen Jungen. Den ganzen Körper mit Erde bedeckt, liegt er neben ihr. Ihre Lippen sind vor Durst aufgeplatzt. Verdorrtes gelbes Gras legt sich über ihre Augen. Gras klettert an ihr hoch. »Das Kind braucht Wasser«, schreit sie. Ein Mann taucht auf. Wer ist der Mann im Mantel, der über Milia hinwegspringt, den Jungen aufhebt und ins Feuer wirft?
»Warum hast du ihn getötet?«, will sie schreien, doch ihre Stimme ist weg. Das Feuer hat die Stimme der Mutter verschlungen und macht sich nun über den Jungen her.
Sie sieht sich fliegen, ohne Flügel. Sie steht auf einem Berggipfel, unter sich ein felsiger Hang, der steil in ein tiefes Tal mit verdorrtem Gestrüpp und Brombeersträuchern abfällt. Sie sieht einen Mann. Er hebt ein Kind auf, wirft es ins Tal. Das Kind breitet die Arme wie Flügel aus, will fliegen wie ein Vogel. Aber es hat keine Federn an den Armen.
»Wo sind die Federn?«, schreit Milia.
Sie steht auf dem Gipfel. Erstickende Hitze, Brandgeruch. Sie will sich festhalten, sieht ein Seil, klammert sich daran. Das Seil entpuppt sich als verdorrtes Gras, zerbröselt in ihren Händen. Sie sieht sich in den Abgrund stürzen. Sieht das Kind die gebrochenen Arme ausbreiten. Es scheint sie zu erwarten. Sie schreit.
In dem Moment riss Milia die Augen auf und sah die Nonne. Die Nonne hielt sie im Arm, strich ihr über das spröde Haar und schickte Saada ein Glas Wasser holen.
»Das Mädchen ist geheilt. Gepriesen sei der Herr!«, sagte die Nonne. »Bringt ihr ein Glas Wasser und macht Limonade für sie. Sie soll drei Tage lang nur Flüssigkeit zu sich nehmen, und dann ist sie wieder ganz die Alte. Ihr werdet sehen.«
Die Nonne hatte ein Wunder vollbracht. Mit ausgestreckten Armen hatte sie das ins Tal stürzende Mädchen aufgefangen. Das war das Letzte, was die Nonne für Milia getan hat.
»Ich sah sie fallen. Da brach ich das Gebet ab und rannte her. Ohne die Gnade Gottes wäre ich vielleicht zu spät gekommen. Ich streckte die Arme aus und fing sie auf. In dem Moment öffnete sie die Augen und war vom Tod gerettet. Das ist das zweite Mal. Das erste Mal war bei ihrer Geburt. Damals habe ich sie aus dem Bauch ihrer Mutter gezogen. Die Gebärmutter symbolisiert das Grab. Mit der Geburt übt der Mensch die Auferstehung. Und bei der Taufe, von Kopf bis Fuß untergetaucht, wird er im Wasser beerdigt, damit der alte Mensch stirbt und der neue aufersteht. Ich habe die Stimme des unsterblichen Sankt Elias gehört. Ich stand da und betete, als ich plötzlich eine Stimme aus der Ikone hörte. Sankt Elias fuhr in seinem Feuerwagen, den Blick gen Himmel gerichtet. ›Mîlâna‹, sagte er, ›lauf schnell zu Saada nach Hause und fang Milia auf, bevor sie ins Tal stürzt. Sag ihrer Mutter, dass es das letzte Mal ist. Denn beim dritten Mal wirst du nicht hier sein. Und sie wird auch nicht hier sein. Der einzige Beistand, den sie dann haben wird, ist ihr Sohn.«
Wann hat die Nonne das von sich gegeben? Nachdem Saada ihr von Milias Traum erzählt hatte?
»Die Nonne lügt«, sagte Milia. »Ich glaube ihr kein Wort. Nein, es war vielmehr so: Sie saß bei mir am Bett und hörte mich sagen, dass ich falle. Wieder zu mir gekommen bin ich, weil mein Herz gefallen ist. Fällt nämlich ein Mensch, dann fällt vorher sein Herz. Ich habe ihr gesagt, dass mein Herz gefallen ist, weil ich ins Tal stürzte. Und daraufhin hat sie sich diese Geschichte zusammengereimt. Außerdem, wieso soll die Gebärmutter ein Grab sein? So etwas zu behaupten ist gottlos. Eure Freundin, die Nonne, hasst mich. Schließlich, Mutter, hält sie meine Träume für Teufelswerk und will, dass ich mit dir in die Kirche komme und bete, um die Träume zu vergessen.«
Ihre Träume hat Milia nicht vergessen. Aber die Weissagung der Nonne, dass sie in ihrem Sohn den einzigen Beistand finden würde, hat sie vergessen. Und nun stand der Mann, ihr Ehemann, da und verfluchte den Mönch. Jenen Mönch, der Milia Nazareths Geschichten erzählt, sie zu einer Ruine unweit der Verkündigungskirche geführt und sie angewiesen hatte, erst eine vollständige Verbeugung zu machen und dann einzutreten. Denn an diesem geheimen Ort, den kein Mensch je betritt, habe der Herr mit Mutter und Vater gelebt. Hier habe er laufen gelernt. Und hier habe er die Eingebung empfangen, dass er Gottes einziger Sohn sei.
Der Mönch führte Milia an einen verdorrten Olivenbaum. Der sei eingegangen, erklärte er, als Josef der Zimmermann von den Römern festgenommen wurde. Wahrscheinlich sei Josef etwa zehn Jahre vor der Kreuzigung seines Sohnes verschleppt und umgebracht worden. Wäre er am Leben gewesen, hätte er nicht zugelassen, dass Jesus ans Kreuz geschlagen wird.
Im Alter von zwölf Jahren habe Jesus hier unter dem Baum die göttliche Botschaft erhalten. Aber wie konnte er begreifen, was der Engel ihm im Traum einflüsterte? Er lag unter dem Baum, hörte ein Flattern und sah einen Engel mit sechs Flügeln um sich herumschwirren, dessen gleißendes Weiß ihn sofort blendete. Dann hörte er eine Stimme. Er sei der erwartete Messias, sprach die Stimme zu ihm. Gott habe ihn seit Anbeginn der Zeiten als seinen Sohn auserkoren. Er werde den Thron seines Ahnen David besteigen und König bis in alle Ewigkeit sein.
Verstört und mit unbeschreiblichem Durst erwachte der Junge. Unfähig auch nur ein einziges Wort von sich zu geben, schwieg er drei volle Tage. Wie traumatisiert war er. Soviel er auch trank, der Durst war nicht zu löschen. Seine Mutter spürte, dass eine Erscheinung dahintersteckte. Denn bei Zacharias, so ging ihr durch den Kopf, war es ähnlich gewesen. Er hatte die Sprache verloren, als der Engel ihm die Schwangerschaft seiner Frau verkündete. Maria aber sagte ihrem Mann von alldem nichts. Seit ihrem Aufenthalt in Ägypten, nein, schon seit ihrer Schwangerschaft und den wiederholten Anläufen, Josef reinen Wein einzuschenken, herrschte zwischen den Eheleuten eine gewisse Sprachlosigkeit. Sobald sie den Mund auftat, hieß er sie mit einem Handzeichen schweigen und schüttelte den Kopf, wie um zu sagen, dass sich Worte erübrigten, weil er über alles im Bilde sei. Als er mit dem Sohn vom Olivenbaum zurückkam, sprach sie ihn an. Doch er wandte sich von ihr ab. Also trat sie an den Jungen heran und fragte ihn, was vor sich ginge. ›Weiche von mir, Weib‹, erwiderte der Zwölfjährige. Das Evangelium irrt. In Wirklichkeit fuhr Jesus seine Mutter bei der Hochzeit zu Kana in Galiläa nicht unwirsch an. Nein, in Kana küsste er seiner Mutter die Hand und umarmte sie. Dann vollbrachte er sein erstes Wunder, wandelte Wasser in Wein. Denn er wusste, dass die Zeit gekommen war, sich zu offenbaren. Nach dem Erlebnis unter dem Olivenbaum dagegen war er völlig verschreckt gewesen. Er wollte nicht mit der Mutter sprechen, die ihm das Geheimnis seiner Geburt vorenthielt.
Der Junge führte Josef den Zimmermann zum Olivenbaum und erzählte ihm von der Vision. Der alte Mann fing an zu weinen wie ein Kind, nahm den Sohn in die Arme und küsste ihn. Erst jetzt könne er wieder mit erhobenem Haupt durchs Leben gehen, sagte der Vater. Erst jetzt habe er begriffen, dass seine Träume keine bloßen Phantasien waren und dass Gott ihn auf die Probe gestellt hat wie keinen anderen Propheten. Gott habe seine Würde auf die Probe gestellt. Ganze zwölf Jahre habe er auf diesen gesegneten Augenblick gewartet. Josef kniete nieder und forderte den Sohn auf, es ihm gleichzutun. »Gesegnet sei der Schafsbock, den du gesandt hast, o Herr. Du hast mir die Prüfung des Abraham erspart, der um deines heiligen Namens willen seinen Sohn zu töten bereit war. Gesegnet seist du, o Herr, Gott des Abraham, des Isaak und des Jakob. Denn das ist mein Sohn. Er, der König wird in deinen Augen, der deinen Namen trägt und heilig sein wird bis in alle Ewigkeit. Gesegnet seist du, o Herr, Gott aller Menschen. Denn du hast mich zu deinem Gefährten erkoren, diesem Kind ein Vater zu sein. Von heute an werde ich der Bruder Gottes sein. Ich werde in Abrahams Schoß als dein Freund und Vertrauter sitzen.«
Der alte Mönch Tanjûs erzählte, sein Großvater, ein Priester, sei im Besitz eines geheimen Manuskripts gewesen, das er dem italienischen Pater Bucci, Abt des Franziskanerklosters, entwendet hatte. Darin habe die ganze Geschichte von Josef dem Zimmermann gestanden. Es gebe sogar eine geheime Sekte, erklärte der Mönch, die diesen Mann als Zwilling des unsterblichen Propheten Elias verehre und glaube, dass Gott ihn zehn Jahre vor der Kreuzigung zu sich geholt habe.
Josef der Zimmermann sei aus der Geschichte ausgelassen worden, weil Paulus, der sie niederschrieb, so einiges nicht begriffen habe. Die Beziehung zwischen Sohn und Vater nicht begriffen habe. Und auch nicht, dass Josef, als er in den Himmel fuhr, weinte, weil er mit eigenen Augen sah, was seinem einzigen Sohn widerfahren würde.
Tanjûs führte Milia durch ganz Nazareth. Er stellte eine Verbindung zwischen dem Nazareth von Jesus und dem Nazareth der Franziskaner her, die im 16. Jahrhundert den Grundstein zu der Stadt legten. Er erzählte von seinem Großvater und von dem seltsamen Manuskript, das das Geheimnis Josefs des Zimmermanns enthülle.
»Haben Sie das Manuskript gelesen?«, fragte Milia.
»Nein, das Manuskript ist auf Aramäisch geschrieben. Mein Großvater konnte Jesus’ Sprache sprechen und lesen. Er hat es mir erzählt.«
»Und warum ist Ihr Großvater von den Lateinern zu den Griechisch-Orthodoxen übergetreten?«
»Weil er sich in eine Frau aus dem Haurân verliebte und erkannte, dass Gott sich ausschließlich in der Liebe offenbart. Er suchte den Abt auf und schilderte ihm seine Lage, worauf dieser die Beherrschung verlor. In seinem Tobsuchtsanfall verfluchte der Abt alle Frauen und warf meinen Großvater zur Reinigung von der Sünde für einen Monat in den Klosterkerker. Mein Großvater aber hatte nicht gesündigt. Es war nichts vorgefallen – außer, dass er die Frau an der Quelle am Kloster gesehen und sein Herz verloren hatte und an nichts anderes mehr denken konnte. Also wandte er sich ratsuchend an den Abt. Und zur Antwort erhielt er Gefängnisstrafe, Schläge, Folter. Im Verlies hörte er die Stimme des Engels, und Sankt Josef erschien ihm. Mein Großvater glaubte zuerst, es handle sich um Jakobs Sohn, den Schönling, dem alle Frauen verfielen und der seinen Brüdern ein Dorn im Auge war, sodass sie ihm nach dem Leben trachteten. Gott wolle ihm den rechten Weg weisen, dachte mein Großvater, fiel vor Sankt Josef auf die Knie und bat um Vergebung der Sünde, die er in Gedanken begangen hatte. Da flüsterte ihm der Heilige ins Ohr, dass sich im Schrank des Abts ein gewisses Manuskript befinde, das er unbedingt lesen müsse. Danach werde ihm alles klar werden.
Nach einem Monat aus dem Kerker entlassen, fand Großvater einen Weg, sich das Manuskript zu beschaffen. Die Wahrheit kam ans Licht, und er beschloss, die Kutte abzulegen, er heiratete und wurde ein Griechisch-Orthodoxer.«
»Aber Sankt Josef war kein…«
»Alles nur Gerede. Du glaubst doch hoffentlich nicht diesen Quatsch, mein Kind! Das sind Lügenmärchen, die sich irgendwelche verklemmte Geistliche ausgedacht haben. Dass Sankt Josef – Gott bewahre – impotent war, dass er in der Schreinerei einen Arbeitsunfall hatte und seine Männlichkeit verlor, ist alles erstunken und erlogen. Kein Heiliger ist impotent. Vor allem nicht der Herr Jesus Christus, gepriesen sei er. Glaub bloß nicht diesem Geschwätz, mein Kind. Der Mann war Witwer, er hatte fünf Kinder, und die Geschichte, wie er unsere liebe Frau heiratete, ist umwerfend. Hör sie dir an, mein Kind!«, schwärmte er und trug einen Text vor, als hätte er ihn geschrieben vor sich.
»Und Maria, Tochter des Joachim und der Hanna, war von Geburt an dem Tempel versprochen, führte dort ein frommes Leben, nähte das Porphyrzelt und betete. Sie nahm zu an Gestalt und Anmut. Als sie die Reife erlangte, berieten sich die Ältesten des Tempels und beschlossen, dass sie den Tempel verlassen und heiraten solle. Unter den Männern war ein weiser Alter mit Namen Josef, bekannt als der Zimmermann. Josef schlug den Versammelten vor, gemeinsam zu beten und von Gott ein Zeichen zu erbitten. Als sie am Abend den Tempel verließen und nach ihren Gehstöcken griffen, die sie vor der Tür abgestellt hatten, sahen sie aus Josefs Stock violette Blumen sprießen. Da riefen sie wie aus einem Mund: ›Er ist es.‹ ›Ich?‹, fragte Josef. ›Wie könnte ich diese Jungfrau nehmen? Wie könnte ich sie heiraten? Sie ist im Alter meiner Töchter. Ich bin ein alter Witwer, der seine letzten Tage zählt. Weise ist ein Mann, der weiß, dass der Mensch welkt wie eine Blume auf dem Feld, dass der Körper zu Staub zerfällt und dass das Leben nichts als eine Reihe von Verlusten in Erwartung des großen Verlustes ist.‹ Die Weisen des Tempels aber hatten angesichts des Wunders, das sich vor ihnen an dem Stock offenbarte, ihren Entschluss gefasst. Da nahm Josef die Frau und ehelichte sie. Und bevor er ihr beiwohnte, erkannte er, dass sie schwanger war. Er weinte bitterlich… und… den Rest der Geschichte habe ich dir erzählt.«
»Was heißt Porphyr?«
»Rot«, sagte der Mönch.
»Aber warum klingt es so, als würden Sie die Geschichte vorlesen? Sie haben doch gesagt, dass das Buch auf Aramäisch geschrieben ist. Wieso können Sie es da also aus dem Gedächtnis auf Arabisch vortragen?«
Statt sich über den Bart zu streichen, die Augen zu schließen und ihre Frage zu beantworten, betrachtete er sie eindringlich und sagte: »Selig sind, die nicht sehen und doch glauben. Ich habe Angst um dich, Milia. Komm mit. Ich zähle die Tage, denn ich warte auf dich. Ich werde dich an der Hand durch das Tal führen, damit du es unbeschadet durchquerst. Was denkst du?«
Bevor sie etwas sagen konnte, war er verschwunden. Wie von einer Staubwolke erfasst und davongetragen, war er von einem Moment auf den anderen fort.
Sie fürchte sich, sagte Milia zu dem italienischen Arzt. Der alte Mann im weißen Kittel beugte sich vor und warf einen Blick zwischen ihre Beine, die sie, auf dem Halbbett liegend, auf Anweisung der Krankenschwester aufgestellt hatte. Der Arzt verließ den Raum, und dann war sie allein. Die Schmerzen ließen nach, bis sie schließlich kaum mehr zu spüren waren. Als sei die Schwangerschaft überstanden, holte Milia tief Luft. Plötzlich wieder leicht und unbeschwert, hob sich der schwarze Schatten von ihren Augen. Sie senkte die Lider, um sich auszuruhen. Und da sah sie ihn.
Wie war der Mönch in das Krankenhauszimmer gekommen?
Er ist staubbedeckt und scheint von weit her zu kommen. Er tritt näher, in der Hand ein längliches Weihrauchfässchen, aus dem alles vernebelnder weißer Rauch aufsteigt. Im dichten Rauch sieht Milia ein kleines Mädchen die Luft emporklettern und sich auflösen. »Nein, das ist nicht meine Tochter. Ich bekomme einen Jungen, kein Mädchen«, sagt Milia und erkennt, dass das Mädchen sie selbst ist. »O Gott, Gebären ist schrecklich mühsam. O Mutter des Lichts! Jetzt wird mir klar, wie sehr du gelitten hast. Man kennt sich selbst nicht mehr.« Das Mädchen geht in Rauch auf. Der Rauch verdichtet sich. Nun ist nur noch der alte Mönch da.
»Lassen Sie mich in Ruhe, bitte. Die Geburt geht gleich los. Kommen Sie bitte nicht mehr her.«
Aus dem Rauch dringt eine Stimme zu ihr.
»Heilige Jungfrau, bitte sag ihm, dass es reicht.«
Der Mönch aber redet weiter. Die Jungfrau greift nicht ein, sondern überlässt Milia ihrem Schicksal. Dann bekommt Milia die Geschichte zu hören. Nicht zum ersten Mal. Wer hatte ihr Evas Geschichte zuvor erzählt? Milia erinnert sich, Zweifel geäußert zu haben. »So ein Quatsch!«, hatte sie gesagt. Wann und wo sie das gesagt hat, weiß sie allerdings nicht mehr. Ja sicher, richtig. Schwester Mîlâna war es gewesen. Was aber hat sie hier zu suchen? Warum hat der Bettelmönch die Gestalt der Nonne angenommen?
Etwa weil? Nein, unmöglich. Er war ein Bettler. Bei der ersten Begegnung hatte er das Glas am Fenster abgestellt und sich davongeschlichen. Bei den vielen Begegnungen danach hatte sie ihm zu essen gegeben und ihm Geld zugesteckt. Er war bloß ein Bettler und gab sich als Libanese aus, um an sie heranzukommen.
»Gehen Sie jetzt, bitte. Wenn das Kind geboren ist, koche ich Ihnen ein wunderbares Essen. Aber jetzt möchte ich allein sein.«
Mansûr nahm an, dass ein Gauner Milia etwas vormachte und sie ausnahm. Von einem Mönch libanesischen Ursprungs, der Tanjûs hieß und allein in der Stadt lebte, wusste in Nazareth keiner. »Sei doch nicht so naiv, Milia! Hier existiert kein griechisch-orthodoxes Kloster. Ja, es gibt zwar das Kloster Moskobia, aber das sind russische Mönche. Wie kann das sein, ein Mönch, der allein lebt und Jesus’ Haus kennt? Zeig mir das Haus, und ich mache ein Vermögen. Das wird der beliebteste Wallfahrtsort der ganzen Welt. Los, komm, zeig es mir.«
Sie wollte sagen, dass sie dem Mönch versprechen musste, für sich zu behalten, wo das Haus steht. Wollte sagen, dass es ein Geheimnis sei und sie es deshalb nicht preisgeben dürfe. Stattdessen aber lief sie wie getrieben durch die engen Gassen auf der Suche nach dem Olivenbaum und der Ruine. Vergeblich. Wo war Mansûr? Sie hatten das Haus gemeinsam verlassen. Doch plötzlich war er verschwunden. Milia setzte den Weg allein fort. Über die eigenen Füße stolpernd, suchte sie den verdorrten Olivenbaum, wollte ihren müden Kopf an den Stamm lehnen, sich ausruhen. Aber sie fand die Stelle nicht mehr.
Josef der Zimmermann sei, so erzählte Mîlâna, überwältigt gewesen, als er sah, wie schnell die Hebamme in der kleinen Höhle in Bethlehem ihre Arbeit erledigte. Begegnet sei er der Hebamme am Eingang der Höhle. Sie habe dort gestanden und auf ihn gewartet. Dann habe sie sich vor Maria hingekniet. Kaum hatte sie die Hände ausgestreckt, sei auch schon der Junge herausgeschlüpft. Nur wenige Sekunden habe es gedauert. »Die Jungfrau hatte Schmerzen«, erklärte Mîlâna. »Keine Frau gebiert ohne Schmerzen. Wegen der Ursünde. Die Schmerzen aber waren erträglich, kaum der Rede wert. Denn der Junge war ja im Gegensatz zu seiner Mutter kein Kind der Sünde. Nein, er war der neue Adam. Der nicht aus dem Paradies vertriebene Adam. Deshalb musste die alte Eva kommen und sich vor die neue Eva knien. Unsere liebe Frau Maria ist die neue Eva, vor der sich das ganze Universum niederwarf. Der Junge in der Wiege richtete das Wort an die Hebamme, dankte ihr, dass sie ihn aus dem Bauch der Mutter geholt habe. Er nannte sie Eva. Maria hörte den Namen, traute sich aber nicht, ihrem Mann etwas zu sagen. Sie fürchtete, er könnte sie für verrückt erklären oder ihr nicht glauben. Schließlich hatte er ihr, als sie ihm von ihrer Vision erzählen wollte, mit finsterer Miene den Mund verboten und behauptet, über alles im Bilde zu sein. Doch nicht das Geringste wusste er. Erst als der Junge ihm seinen Traum erzählte, sollte er die Wahrheit erfahren. Daraufhin sollte er vor seiner unberührten Frau auf die Knie fallen. Außerdem sollte er, der sie aus Zweifel an ihrer Treue nie angerührt hatte, sich seiner Gattin nun als Mann nähern. Doch es war zu spät. Das Alter hatte jegliches Begehren fortgewischt und in Gefühle einer wohlwollenden Zuneigung umgewandelt.
Das hat die Nonne so nicht erzählt, sondern als sie Hals über Kopf bei den Schâhîns eingetroffen sei, habe sie Saada ganz gelb vorgefunden und der Hebamme befohlen, das Mädchen sofort herauszuholen. In dem Moment habe sie zwei Frauen gesehen. Die eine, gebückt, zog einen Jungen aus dem Leib seiner Mutter. Die andere stand daneben, in Purpur und Blau gehüllt. Die eine sei, erläuterte Mîlâna, die alte Eva, die seit jenem gesegneten Augenblick die Schutzheilige der Hebammen sei – nein, die Hebamme selbst, gesandt vom Heiligen Geist, um Frauen vor dem Tod im Kindbett zu bewahren. Als sie die beiden Frauen beieinander sah, so Mîlâna, habe sie gewusst, dass Gott das Mädchen am Leben erhalten wolle, um sich von ihr huldigen zu lassen.
»Eva war bei meiner Geburt dabei«, sagt Milia.
»Das kann nicht sein, mein Kind«, widerspricht Tanjûs belustigt. »Gott hat Eva geschickt, damit sie erlebt, dass die Geburtsschmerzen ausbleiben, wenn die Sünde fehlt. Versteh mich nicht falsch. Vielleicht war die Nonne ja tatsächlich eine Heilige. Vielleicht hatte sie eine Vision. In der Höhle in Bethlehem dagegen war es anders. Eva kam, kniete sich hin und holte das Jesuskind. Das hatte Jesus’ Vater im Himmel persönlich so angeordnet. Deshalb musste Josef auch zwölf Jahre lang den Mund halten. Schließlich hatte Eva nur einen einzigen Satz gesagt. Der Hebamme ihren Lohn reichend, hatte er sie damals gefragt, wer sie sei. Sie sei Eva, hatte sie gesagt, das Geld wortlos zurückgewiesen und sich empfohlen. Aber das ist nicht das Wesentliche. Wesentlich ist vielmehr die Geschichte von Jesus mit dem Fisch. Als der Messias, Friede sei mit ihm, auf dem Wasser ging, kam ein Fisch mit einer Botschaft von Sankt Josef zu ihm geschwommen. Die Fische im See Genezareth nennt man ›Muscht‹ oder ›Petrusfische‹. Aber das ist nicht ihr wirklicher Name. Eigentlich heißt diese Art Sankt-Josef-Fisch. Diesen Namen allerdings kennen nur die Fische selber, Sankt Josef und Gott. Besagter Fisch jedenfalls kam zu Jesus und sprach: ›Geh nicht nach Jerusalem. Man wird dich dort töten.‹ Der Messias segnete den Fisch und sagte ihm, er solle sich nicht fürchten, denn es ginge jetzt nicht mehr um Fische. Außerdem würde sein Vater ihm ein Schaf schicken.«
»Und der Fisch?«, fragt Milia. »Hat der Fisch das alles auf Aramäisch gesagt?«
»Selbstverständlich. Fische können sprechen. Doch der Mensch hat die Sprache der Tiere verlernt, als unserem Herrn Abraham, Friede sei mit ihm, diese Sache widerfuhr.«
»Welche Sache?«, fragt Milia.
. . .
»Sie meinen die Sache mit dem Schaf. Nicht wahr?«
. . .
»Hätte er seinen Sohn etwa schlachten sollen? Wer tötet denn den eigenen Sohn?«
. . .
»Na sicher. Er hat seinen Sohn mitgenommen, um ihn zu töten. Schließlich hatte Gott ihm befohlen, seinen Sohn zu töten. Er hatte keine andere Wahl. Nein, das Schaf hat kein Recht, sich zu empören. Doch, natürlich. Keiner stirbt, ohne sich zu empören. Aber was hätte Abraham machen sollen? Er konnte nur entweder seinen Sohn oder das Schaf essen.«
. . .
»Wollen Sie mir weismachen, dass Isaak sich zu seinem Vater gesetzt und mit ihm das Schaf verspeist hat? Nein, diese Geschichte glaube ich nicht.«
. . .
»Das lässt Ihnen Gott nicht durchgehen! Warum sagen Sie so etwas?«
. . .
»Aber ja. Er hatte zwei Söhne. Den Älteren hat er in der Wüste ausgesetzt zusammen mit der Mutter Hagar. Und den Jüngeren wollte er opfern.«
. . .
»Himmel, was rede ich nur! Vergib mir, Herr! Diese Sache jetzt hat vielleicht nichts mit der Vergangenheit zu tun. Sie haben Recht. Aber warum wurde Amîn in Jaffa getötet? Was soll ich dort? Bitte sagen Sie Mansûr doch, dass Milia traurig ist, dass sie bei dem Olivenbaum hier leben möchte und dass sie das alles nicht erträgt.«
. . .
»Ich mag diese Geschichten nicht. Aber kommen wir noch einmal zurück auf die Geschichte mit dem Fisch. Wie war das, als der Fisch die Botschaft von Josef überbrachte? Was hat der Messias da gesagt?«
. . .
»Ich will jetzt bitte nach Hause! Ich habe mich verlaufen und finde nicht mehr allein zurück. Mansûr macht sich bestimmt Sorgen. Bringen Sie mich nach Hause!«
Mansûr hörte wie sie »Ich will nach Hause!« schrie und fühlte sich restlos überfordert. Seit der Ermordung seines Bruders in Jaffa schrie sie im Schlaf. Sie schien mit ihren Schlafgewohnheiten gebrochen zu haben und einen rätselhaften Kampf mit der Welt zu führen. Beim ersten Mal hatte er sie geweckt. Der Weg in den Libanon sei gefährlich, hatte er gesagt und versprochen, sich mit dem Roten Kreuz in Verbindung zu setzen, sie solle sicher nach Beirut gelangen und das Kind dort zur Welt bringen. »Aber ich kann dich nicht begleiten. Die Situation ist schwierig, und ich kann meine Mutter hier unmöglich allein lassen. Was meinst du, Schatz?«
Sie sah ihn mit müden Augen an, wälzte sich unruhig hin und her, drehte sich schließlich auf die rechte Seite und tauchte erneut in den Schlaf ein.
Mansûr wusste nicht, wie er mit ihr umgehen sollte. Seit der Ermordung seines Bruders hatte sich ihr Tagesablauf völlig verändert. Sie stand morgens nicht mehr früh auf. Wenn er zur Arbeit ging, schlief sie noch. Und wenn er heimkam, war sie unterwegs. Suchen durfte er sie, wie er gelernt hatte, auf keinen Fall, weil sie sich sonst wie ein kleines Mädchen behandelt fühlte und ihm Vorhaltungen machte. Also blieb er zu Hause und wartete, von Sorgen gepeinigt, bis sie von selbst auftauchte. Sie kam herein, ging, als sei nichts gewesen, geradewegs in die Küche, servierte ihm das Essen und nahm Platz, ohne einen Bissen zu essen oder einen Ton von sich zu geben.
Stellte er ihr auch nur eine Frage, dann stiegen ihr sofort die Tränen in die Augen. Sie sei müde und wolle schlafen, war die einzige Antwort, die er bekam.
»Aber wohin gehst du jeden Tag? Ich bitte dich, Milia, das ist nicht gut für das Kind. Du stehst kurz vor der Geburt, und der Arzt hat gesagt, dass du Ruhe brauchst.«
»Aber ich gehe doch dem Kind zuliebe aus.«
»Was heißt das?«
»Was soll ich noch sagen? Du hast die Sache nicht in der Hand. Ich möchte nicht nach Jaffa. Ich will hierbleiben.«
»Aber du weißt, weshalb wir gehen müssen!«
»Ich weiß es und weiß es nicht. Aber ich habe Angst um meinen Sohn.«
»Du redest wie eine Irre. Du musst zum Arzt gehen.«
Er hob das Glas, schaute ihr in die Augen und sagte:
»Müde schaut sie in den Tag,
als ob sie krank darniederlag.
Doch ihr Wimpernschlag und Augenblick
wandeln unser Leid in großes Glück.
Du hast Recht. Es ist meine Schuld. Ich habe mich verändert. Und du musst es ausbaden. Aber ›wir gehen einen Schritt, der uns bestimmt ist. Und wem ein Schritt bestimmt ist, der geht ihn auch.‹ Lass es uns machen wie am Anfang. Was ist eigentlich mit Mutters Milch? Ich hätte einmal wieder Appetit darauf. Ich wünsche mir morgen gekochten Joghurt zum Essen. Dazu genehmigen wir uns ein Gläschen und rezitieren Gedichte wie früher.«
Er streckte die Hand aus, wollte ihr über den Bauch streichen und das Kind fühlen.
»Nein, nicht!«, rief sie und wich zurück.
»Ich will doch nur seine Stimme mit der Hand hören«, sagte Mansûr.
Mansûr verstand nicht, warum sie Angst hatte. Er hörte sie nachts schreien. Hörte, dass sie nach Hause wollte, und war bereit, alles in die Wege zu leiten, damit sie nach Beirut fahren konnte. Doch sie lehnte ab. Sie sagte, dass sie nicht nach Beirut gehen würde. Dass sie nach Nazareth gekommen sei, um hier zu bleiben. Dass sie sich vor ihm fürchte, weil er ihre Träume höre. Denn die Träume eines anderen Menschen zu hören bedeute, dass man ihn beherrsche.
Seit Amîns Tod war die Mutter wie ausgewechselt. Von einem Tag auf den anderen verließ sie sich in allem auf Mansûr. Sie erkenne seinen Bruder in ihm, sagte sie. Ihr sei vorher nie aufgefallen, dass ihre beiden Söhne sich glichen wie zwei Tränen. Hatte sie das wirklich so ausgedrückt? Wohl kaum. Solche Vergleiche passten eher zu Milia. Milia nämlich drückte sich, besonders wenn sie soeben aus dem Schlaf erwacht war, zart aus. Worte seien wie Tau, sagte sie. Tau trete in dem Augenblick auf, der Nacht und Tag trenne. Und mit dem Aroma dieses Augenblicks am Gaumen erwache sie. Mansur liebte es, sie morgens zu küssen, weil ihre Lippen, so schwärmte er, dann nach zartem Basilikum schmeckten. Frisch und noch schlaftrunken war Milias Redestil am Morgen. Solch eine Sprache war Mansûr bisher nur in der alten arabischen Poesie begegnet.
Warum aber verwechselte er die Worte seiner Mutter mit denen von Milia?
Etwa, weil Männer in ihrem Leben nur eine einzige Frau, ihre Mutter, lieben und immerzu auf der Suche nach ihr sind? Das traf auf Mansûr nicht zu. Er finde es abscheulich, wie seine Mutter Amîn vergöttere, sagte er zu Milia. Er begreife nicht, wie sie es geschafft habe, sowohl im Haus als auch in der Firma zum Dreh- und Angelpunkt zu werden. Amîns Ehefrau, Asma, hatte im Haus den Status eines Gastes. Nichts dufte sie machen. Und hätte Gott Frauenbrüste nicht zur Nahrungsquelle für die Nachkommenschaft bestimmt, hätte sie gar keine Aufgabe gehabt.
Dann aber starb Amîn, und Nadschîba verlor den Halt. Die Strenge wich aus ihren Augen. Eine ungekannte Angst erfasste sie. Asma dagegen erging es anders. Ehemals in sich gekehrt und, in scheue Zurückhaltung gehüllt, der Umwelt kaum sichtbar, erwachte sie zu einer völlig neuen Frau. Die schwarzen Augen offenbarten ihre Schönheit. Nun war sie die Herrin im Haus. Schlagartig hatten sich die Rollen verkehrt. Er sei überrascht, wie attraktiv Asma sei, sagte Mansûr. »Wo hatte sie all diese Schönheit versteckt? Wie kann eine Frau erstrahlen, wenn ihr Mann stirbt? Früher hat man die Frau mit dem Ehemann beerdigt, weil sein Tod das Ende ihres Lebens bedeutete. Schau nur, wie schön sie auf einmal ist!«
»Ich kann meine Mutter nicht allein lassen«, sagte Mansûr.
»Jetzt auf einmal ist in dir die Liebe zu deiner Mutter erwacht? Was soll ich dazu sagen? Es wird nach deinen Vorstellungen laufen. Aber ich habe Angst um dich und meinen Sohn. Ich meine, wir müssen doch nicht unbedingt so sterben wie dein Bruder.«
Wie hatte Mansûr zu dieser neuen Sprache gefunden? Er stand in der Küche und erzählte ihr von dem Dichter-Ritter Abd ar-Rahîm Mahmûd12:
»Ich entlasse nun, dem Abgrund zugewandt,
meine Seele aus der offnen Hand.
Ich will ein Leben, das den Freund erfreut,
oder sterben, dass es den Feind gereut.«
»Das ist keine Poesie«, sagte Milia. »Du willst mir doch nicht weismachen, dass das an die Poesie von al-Mutanabbi heranreicht:
Riskiere alles für den ersehnten Glanz,
verlang nicht weniger als der Sterne Tanz.
Ob klein, ob groß – der Grund ist ihm egal,
im Mund des Sterbenden schmeckt jeder Tod nur schal.«
»Nein, nein. Noch viel schöner ist dieses hier«, sagte Mansûr:
»Wie auf dem Lid eines nur schlummernden Verderbens,
stehst du und lachst im Angesicht des Sterbens
der Feinde, die dir schmählich unterlegen.
Der Tod ist sicher dem, der zu verwegen.«
»Aber noch mehr liebe ich diese beiden Verse«, sagte Milia:
»Nur ein einziges Mal war ich nicht hier,
allein im Tod werd ich nun von dir gehen.
Die Nacht lässt dich, so scheint es mir,
mich zart und zerbrechlich sehen.«
»Jetzt ist nicht die Zeit für Liebesgedichte«, sagte er. »Hör:
Ehre erlangt man nicht bei Wein, Weib und Gesang,
nur in dem Kampf um eines Königs Untergang.
Ruhm allein bringt, wenn man siegend sieht,
wie der Feind im Staub vom Felde zieht.«
»Bring mir wahre Poesie, bring mir einen Dichter wie Abu at-Tajjib al-Mutanabbi, und ich werde mit dir ziehen, wohin du willst. Dann schmeckt Krieg wie Poesie, und Poesie schmeckt wie Liebe. Aber das Gedicht von dem, der seine Seele auf der Hand trägt…«
»Das ist ein großer Dichter. Er hat nicht nur geschrieben. Nein, er hat sich auch bewaffnet, ist in den Krieg gezogen und gefallen. Seinem Sohn hat er, in Anlehnung an Abu at-Tajjib al-Mutanabbi, den Namen Tajjib gegeben, damit die Leute ihn Abu at-Tajjib, Vater des Tajjib, nennen und er das Gefühl hat, er sei al-Mutanabbi.«
»Alle Ehre den Märtyrern. Aber der Dichter dieses Landes ist noch nicht geboren. Und wenn er eines Tages kommt, dann werdet ihr Palästinenser erkennen, dass dieses Land nur mit Poesie gestaltet werden kann. Dieses Land ist nicht Land. Es ist das Wort, verschmolzen mit Geschichten. Seit der Messias dieses Land durchwanderte, besteht der Boden aus Buchstabe und Wort. ›Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.‹ Das heißt, er ist das Wort. Und Poesie ist die höchste Stufe des Wortes. Irgendwann, mein Lieber, in ungefähr fünfzig Jahren, wenn in diesem Land ein großer Dichter geboren wird, erkennt ihr, dass ihr den Krieg nur mit Worten gewinnen könnt. Denn das Wort ist mächtiger als das Schwert.«
»Erstens sollst du nicht von ›ihr‹ sprechen. Oder gehörst du nicht zu uns?«
»Du hast Recht. Entschuldige. Ich bin zu ›wir‹ geworden. Und wenn ich ›euch‹ sage, meine ich ›uns‹.«
»Zweitens werden wir keine fünfzig Jahre warten, bis dein Dichter erscheint. Wir werden mit der Poesie kämpfen, die wir zu schreiben vermögen. Und wir werden siegen.«
»Das weiß ich nicht«, sagte sie.
»Ob du es weißt oder nicht, interessiert mich nicht. Denn drittens weiß ich nur, dass mein Bruder tot ist und ich meine Mutter nicht allein lassen kann.«
»Merkst du eigentlich, dass du schon die gleiche Art hast wie deine Mutter? Du gähnst wie sie. Wenn du dich ärgerst, saugst du an den Lippen – genau wie sie. Und zum Schlafen knickst du das Kissen unter dem Kopf – genau wie sie. Mein Gott, wie du dich verändert hast!«
»Ich war schon immer so.«
»Kann sein. Aber ich habe es nicht gesehen. Es ist, als wärst du ihr Sohn. Ich weiß auch nicht, wieso es mir nicht von Anfang an aufgefallen ist.«
»Ich bin doch ihr Sohn! Aber du hast Unrecht. Ich bin nicht wie sie. Ich erfülle nur meine Pflicht gegenüber meiner Mutter, den Kindern und der Frau meines Bruders.«
»Gott sei Dank bist du kein Muslim! Sonst würdest du womöglich noch die Frau deines Bruders heiraten und mir eine Nebenbuhlerin ins Haus setzten, jetzt, wo du entdeckt hast, wie schön sie ist!«
. . .
»Nimm es nicht krumm. Das war ein Scherz. Ach, ich weiß auch nicht.«
Ach, ich weiß auch nicht, sagte sie, um nicht sagen zu müssen, dass sie ihn mit Asma gesehen hat in dem Traum, in dem er aussah wie Nadschîb.
Bisher hatte sich Mansûrs Bild noch nie mit dem Bild jenes Mannes vermischt, der sang- und klanglos aus ihrem Leben verschwand, als hätte es ihn nie gegeben. Für gewöhnlich verschmolz Mansûr mit Mûsa. Wann immer sie Mûsa im Traum sah, wusste Milia, dass die Botschaft, die Mansûr betraf, sie über eine andere Person erreichte. Erst im letzten Traum zeigte sich Mansûr. In dem Traum, in dem Milia erkannte, dass das Ende aller Dinge dem Anfang gleicht.
Es sieht aus wie in dem Garten des alten Hauses. Aber es spielt sich nicht in Beirut ab. Es ist Jaffa. Meeresgeruch vermischt mit Orangenduft. Nadschîb schält eine Orange. Er steht neben einer mittelgroßen Frau. Sie ist kräftig gebaut, aber nicht dick. Bist du Nadschîb?, will das Mädchen den Mann fragen. Wer ist diese Frau? Wie kommt Asma hierher?
Milia versteckt sich hinter einem Jasminstrauch mit verzweigtem, in sich verschlungenem Stamm. Orangen, Meersalz, Feuchtigkeit dringen in ihre Poren ein. Der Mann, der wie Nadschîb aussieht, hält eine Orange in den Händen, spielt mit ihr. Er greift der Frau mit der linken Hand an die Brust und zaubert eine zweite Orange hervor. Die Frau stöhnt.
Das Messer in der rechten Hand. Nadschîb greift der Frau mit der linken Hand an die Brust, holt eine Orange hervor, beginnt sie zu schälen. Die Frau weint. Sie scheint Schmerzen zu haben. Der Mann verschlingt die Orange. Er legt das Messer beiseite und tritt an Asma oder die Asma-ähnliche Frau heran. Er legt die Lippen an ihre Brust, die zu einer halben Orange geworden ist, und küsst sie.
»Was machst du hier, Nadschîb? Ich habe dir doch gesagt, dass ich dich nicht mehr sehen will«, sagt das kleine Mädchen, das mit einem Messer in der Hand hinter dem Jasminstrauch hervortritt.
»Wer bist du?«, fragt der Mann mit plötzlich verändertem Gesicht.
. . .
»Nein, du kannst unmöglich Milia sein. Wo sind deine grünen Augen?«
Woher kannte der Mann, der wie Nadschîb aussah, ihre Augenfarbe?
»Geh zurück in dein Land, mein Kind, und lass mich in Ruhe!«
Der Mann beugt sich erneut über die Brust der Frau, und es tropft orange aus seinem Mund.
In dem Moment verschwinden beide. Milia weiß nicht, wohin der Mann die Frau gebracht hat.
Sie legt sich ins Gras, und dann ist der Mann da, der wie Mansûr aussieht.
Die Frau weint, als würde der Mann mit dem Messer sie schlagen. Milia hört, wie die Frau den Mann anfleht, versteht aber kein Wort. Sie scheint in einer fremden Sprache zu sprechen. Ja, vielleicht spricht sie Deutsch. Aber Deutsch klingt anders. Ich kann kein Deutsch. Hier im Libanon lernen wir Französisch in der Schule. Nein, das ist kein Deutsch. Es klingt wie Arabisch. Aber ich verstehe kein Wort. Unverständliches Arabisch also.
»Gestern hast du Hebräisch gesprochen. Wieso kannst du Hebräisch?«
»Ich?«
»Ja, du. Wer denn sonst?«
»Wo?«
»Das spielt keine Rolle. Aber ich wüsste es gern.«
»Nein, ich kann kein Hebräisch. Zwei, drei Wörter vielleicht. Aber mein Bruder konnte es.«
»Vielleicht war das ja dein Bruder.«
»Was ist mit meinem Bruder? Gott hab ihn selig.«
»Nichts, vergiss es. Wichtig ist, dass du dich ausruhst und anfängst die Sachen zu packen. Wir müssen nach Jaffa ziehen, sobald du entbunden hast.«
»Nein, wir taufen das Kind hier, und dann, wenn du willst, gehen wir.«
»Wie du möchtest. Also erst vierzig Tage danach. Deshalb müssen wir jetzt schon mit den Vorbereitungen beginnen.«
»In Ordnung.«
Die Frau weint. Plötzlich ist sie verschwunden. Steht nicht mehr vor Nadschîb oder dem Nadschîb-ähnlichen Mann. Sie ertrinkt in Tränen. Milia, versteckt hinter dem Jasminstrauch, sieht und sieht nicht. Wann immer sie sich diesen Traum zu vergegenwärtigen sucht, erscheint ihr ein verschwommenes Bild von einem Mann mit zerzaustem Haar, Orange und Messer und von einer tränenüberströmten, verängstigten Frau. Dann erscheint eine andere Frau. Mansûrs Mutter mit Schere. Sie macht sich daran, den Jasminstrauch zu beschneiden. Zitternd steht die kleine Milia unter dem Baum, in ihrem Versteck. Die Schere nähert sich ihrem Haar.
Milia erzählte Mansûr nichts von dem Traum. Ihr fehlten die Worte. Wie war Asma in das alte Haus in Beirut gekommen? Was wollte Nadschîb nach all den Jahren? Die Sache war längst zu Ende. Das Gefühl von Leere, das sie nach Nadschîbs Flucht und Heirat erfasst hatte, war inzwischen vergangen. Die Zeit hatte das entstandene Loch aufgefüllt. Mansûr war der Bote, der dem Schmerz ein Ende gesetzt hatte. Wieso riss er heute eine neue Wunde in ihr auf? Wieso erschwerte er ihr den Umzug nach Jaffa noch mehr, indem er jenes uralte Gespenst, die Verlustangst, wiedererweckte, die Nadschîb ihr ins Herz gepflanzt hatte? Was wollte ihre Schwiegermutter mit der Schere? »Sie wollen mich umbringen«, schrie Milia, sprang aus dem Bett und sah Mansûr. Er saß neben ihr, eine Zigarette rauchend, das Gesicht schmerzverzerrt.
Sie lehnte Mansûrs Vorschlag ab. Auf keinen Fall wolle sie im Haus der Familie im Adschami-Viertel leben.
»Das ist das Haus deines Vaters und Großvaters. Wir sind zwei Frauen und zwei Kinder. Wo sollen wir hin?«, so die Argumente seiner Mutter. »Du und deine Frau, ihr könnt hier wohnen. Das Haus ist groß genug. Das ist kein Problem. Und so kannst du dich gleichzeitig um die Kinder deines Bruders kümmern. Du bist jetzt der Mann in der Familie!«
Er sei der Mann in der Familie und habe sich folglich auch als solcher zu verhalten, sagte er zu Milia und zog damit jenen gewissen Blick auf sich. Bei gesenkten Lidern hob sie den Blick und sah ihm durch zwei schmale Schlitze eindringlich in die Augen. Verunsichert, wusste er sofort, dass er lieber schweigen sollte. Anfangs faszinierte ihn dieser Blick, der eine Mischung war aus Scham, begleitet von leicht geröteten Wangen, und Verlangen, das nur auf Umwegen zum Ausdruck kam. Mit der Zeit aber hatte sich die Bedeutung der Dinge verändert, und inzwischen fürchtete er diesen Blick.
Er lauschte ihrem Blick und begriff.
»Das ist nur eine vorübergehende Lösung«, rechtfertigte er sich. »Unmöglich, dass ich mein ganzes Leben mit drei Frauen zubringe. Ich werde ja schon mit einer kaum fertig.«
. . .
»Natürlich, natürlich. Aber wir brauchen ein bisschen Zeit. Und später, wenn das Geschäft läuft und Geld hereinkommt, ziehen wir um. Ich habe vor, ein Haus für meine Mutter und die Kinder zu kaufen. Dann leben sie für sich, und wir bekommen das Haus der Familie.«
. . .
»Nein, ich mag das Haus der Familie auch nicht. Schließlich bin ich daraus geflohen und nach Nazareth gegangen. Wir kaufen ein Haus im schönsten Viertel. Du wählst, und ich kümmere mich um alles Weitere. Wenn wir erst einmal in Jaffa sind, ist alles ganz einfach. Du bestimmst, und ich erledige den Rest.«
. . .
»Nein, wir brauchen etwas Zeit. Ungefähr zwei Jahre.«
. . .
»Gib mir neun Monate. Wir sollten davon ausgehen, dass das Haus so viel Zeit braucht wie ein Kind. Mach dir keine Sorgen, wir werden unser unabhängiges Leben haben. Anfangs kümmerst du dich nur um das Kind. Meine Mutter und Asma übernehmen die Kocherei, und du lebst wie eine Königin. Später ziehen wir in unser Haus um. Häuser sind eine schwierige Sache in Jaffa. Jaffa ist eine Großstadt genau wie Beirut. Es ist nicht einfach, dort ein passendes Haus zu finden. Das heißt, man muss ein wenig Geduld aufbringen. Aber mit Gottes Hilfe wird alles gut ausgehen.«
Seit sie dem libanesischen Mönch begegnet war, hatte sich alles verändert. Davor war sie, immer wenn sie sich ärgerte, laut geworden. Die Stimme, die dann aus ihr herausplatzte, kam ihr vor wie die ihrer Mutter. Sie hasste sich selbst dafür. Ein kleines Mädchen, von einem Tag auf den anderen verantwortlich für eine ganze Familie, bestehend aus vier Männern und einer Nonne. Einer Nonne in Zivilkleidung. Das war die kranke Mutter, nach deren Pfeife alle zu tanzen hatten. Als Milia eines Tages ihrem ältesten Bruder Salîm ins Gesicht brüllte, dass sie kein Dienstmädchen sei, und die Stimme der Mutter aus dem eigenen Mund kommen hörte, blieben ihr die Worte im Hals stecken, dass sie fast daran erstickte. Milia wusste nicht mehr, was vorgefallen war, wusste nicht einmal mehr den Grund für den Streit mit dem Bruder, geschweige denn, was sie sagte, als ihr die Stimme erstarb. Sie nahm sich vor – wie sie jetzt im Nachhinein behauptete –, nie wieder in die Gewohnheiten oder den Tonfall ihrer Mutter zu verfallen. Und ab dem Zeitpunkt wurde sie ruhiger und nahm alles hin. In der Anfangszeit in Nazareth aber hallte ihr auf einmal die Stimme der Mutter aus der Erinnerung entgegen. Sich an Stimmen zu erinnern ist beängstigend. Nein, im Traum hört man nicht die Stimme der Person, die zu einem spricht. Vielmehr erreichen einen die Worte tonlos, stumm. Das macht den Zauber und das Mysterium der Träume aus. Bricht aber die Stimme eines in der Ferne befindlichen oder verstorbenen Menschen aus dem Gedächtnis hervor und hört man sie tatsächlich mit eigenen Ohren, dann ist man fassungslos. Milias Fassungslosigkeit, ihre Mutter hören und mit ihr sprechen zu können, schlug in Angst um. Denn diese Frau, die für Milia stets Abwesenheit verkörperte und ihr das Gefühl gab, eine Waise zu sein, bewies nun unerwartet Anwesenheit. Milias Selbsthass in Nazareth resultierte nicht aus der Anwesenheit der Mutter. Nein, vielmehr erkannte sie, dass die Mutter, selbst wenn sie abwesend war, sprachlich eine Notwendigkeit darstellte. Ruft der Mensch seine Mutter, dann nicht, weil er an die Frau denkt, die einen geboren hat, sondern weil die Lippen wie von selbst die Laute »M« und »A« formen. Milia sollte im Italienischen Krankenhaus in Nazareth auf dem Gipfel des Schmerzes dieses Zauberwort rufen. Und kurz darauf hörte Mansûr den Schrei des soeben aus dem Bauch der Mutter geschlüpften Kindes. Das Zauberwort rief sie nicht, weil sie die Mutter sah oder spürte. Nein, vielmehr sah sie die Welt von lichtstrahlendem Weiß umkränzt.
Milia merkte, wie Mansûrs Stimme mehr und mehr mit der Stimme seiner Mutter verschwamm, und sagte es ihm. Er gab sich unbeeindruckt und behauptete, schon immer so gesprochen zu haben, achtete aber von da an bewusster auf sich selbst und vermied es, in die Verhaltensmuster seiner Mutter abzugleiten. So unterließ er es seither auch, mit aufgerissenem Mund und einem lauten »ach herrje«-Seufzer zu gähnen.
Mansûr dagegen entging eine wesentliche Veränderung an Milia. Nämlich, dass sie kaum mehr sprach, und wenn sie es tat, dann so wie der Mönch. Sobald sie sprach, hatte sie das Gefühl, die Stimme jenes seltsamen Mannes beschleiche sie, der Mansûr zufolge nicht wirklich existierte, sondern ihrer Phantasie entsprang.
An jenem Tag, als Milia erschöpft heimkehrte, das Gesicht vom Schmerz der Wehen noch gezeichnet, war Mansûr bereits zu Hause. Allein saß er da, vor sich eine Handvoll geröstete Kichererbsen.
»Du hast bestimmt Hunger«, sagte Milia und eilte in die Küche, um Essen zu machen.
»Nein, ich habe keinen Hunger. Komm, setzt dich her. Ich habe mit dir zu reden.«
Sie nahm neben ihm Platz.
Er bitte um Verzeihung, sagte Mansûr, aber es wundere ihn, dass sie dem Mönch begegnet sei. Tanjûs sei vor zwanzig Jahren aus dem Franziskanerkloster gejagt worden und lebe nun irgendwo unter freiem Himmel. Hin und wieder sehe man ihn in der Mardsch-bin-Âmir-Ebene. Er komme nur selten nach Nazareth, um in einer Höhle, in der seiner Ansicht nach die heilige Familie gelebt habe, zu beten. Bei den anderen Mönchen sei er verschrien. Sobald er sich in ihrer Nähe nur blicken ließe, schlügen sie ihn mit Steinen in die Flucht.
Er habe sich Sorgen gemacht und sie im Kloster gesucht, sagte Mansûr. Lange habe er an das Tor geklopft, bis ihm schließlich ein alter Mönch öffnete, der kaum Arabisch sprach. »Ich fragte ihn nach dir. Frauen kämen nie zu ihnen, erklärte er verwundert und wollte mir das Tor schon vor der Nase zuschlagen. Aber ich bat ihn um Auskunft über den libanesischen Mönch. Er zögerte, schlug mehrmals das Kreuz und fragte mich, ob ich mit ihm verwandt sei. Ich habe gelogen und bejaht. Das habe er sich bereits gedacht, sagte er, wegen meines libanesischen Dialekts. Ich habe keine Ahnung, wieso er der Meinung ist, dass ich libanesischen Dialekt spreche. Vielleicht ist es ja dein Einfluss auf mich, Madame Milia. So kannst du jedenfalls nicht mehr behaupten, dass ich rede wie meine Mutter. Stimmt es, dass ich einen libanesischen Akzent habe?«
»Was weiß ich.«
»Und du sprichst mittlerweile palästinensischen Dialekt. Im Grunde ist es ja ein und dasselbe. Jedenfalls hat mir der alte Mann die ganze Geschichte erzählt. Tanjûs wurde aus dem Kloster gejagt, weil er behauptete, ein Evangelium gefunden zu haben, das ein Lehrling Josefs des Zimmermanns geschrieben haben soll. Auf Aramäisch. Es soll die Jesus-Geschichte erzählen, aber in abgewandelter Form – also anderes als die vier auf Griechisch verfassten Evangelien. Danach habe sich Josef geweigert, die Idee von der Kreuzigung des Messias zu akzeptieren, und stattdessen das Gleiche tun wollen wie Abraham, als Gott von ihm verlangte, seinen einzigen Sohn zu opfern. In dem Evangelium sollen außerdem jede Menge weiterer Ketzereien gestanden haben, die Josef den Zimmermann auf eine Stufe mit dem Propheten Elias stellen. Tanjûs sei, so sagte der alte Mönch, verrückt und wohl auch von diversen Teufeln besessen. Deshalb wurde er aus dem Kloster gejagt. Er sei dann in seine Heimat, den Libanon, gegangen und habe versucht, seine Behauptung in dem heiligen Tal – also dort, wo die maronitischen Mönche leben – zu verbreiten. Die Maroniten seien, so Tanjûs’ Überzeugung, dem Glauben treu geblieben, weil sie in ihren Gebeten nach wie vor das Aramäische, die Sprache Jesu, benutzten. Die Mönche im Qâdîscha-Tal aber hätten ihn verspottet, ja sogar ins Tal der Irren verbannt, ihn dort gefesselt und ohne Wasser und Essen in eine dunkle Höhle geworfen. Gott habe ihm, wie es heißt, durch einen großen weißen Adler, dessen Flügel den Himmel verdunkelten, Essen geschickt. Außerdem habe Gott ihm einen Engel in Gestalt eines Tigers geschickt, der ihn von den Ketten befreite. Das seien aber alles Lügengeschichten. Tanjûs sei verrückt. Der Abt habe gesagt, dass diese Art Wahnsinn in dem Land, aus dem sämtliche Propheten hervorgegangen sind, weit verbreitet sei. Dass in dem Land ein Dauerstreit zwischen Gott und den Teufeln tobe, dass viele Menschen kaum mehr klar sehen und die Stimme Gottes nicht von der des Teufels unterscheiden könnten. Und dass der libanesische Mönch als Opfer dieser Verwirrung zum Spielball der Teufel geworden sei.«
»Und du glaubst ihm?«
»Das spielt keine Rolle. Wichtig ist, dass ich jetzt dir glaube. Zuerst dachte ich, dieser Mönch ist ein Hirngespinst. Trotzdem. Du darfst ihm nicht glauben. Das ist kein Heiliger, wie du meinst, sondern ein Teufel.«
»Keine Ahnung«, sagte Milia.
Sie wusste nicht, wie sie Mansûr von der ersten Begegnung mit dem Mönch hätte erzählen sollen. Hatte sie von Tanjûs geträumt, bevor sie ihn sah, oder umgekehrt? Die Träume halten ihre Türen verschlossen, bis zu dem Furcht erregenden Augenblick, wenn die Welt endet, wenn alles ineinander verschmilzt, wie Milias Großmutter inbrünstig die Worte des weisen Salomon zitierte: »Es ist alles ganz eitel. Es ist alles ganz eitel.«13 »In dem Moment«, so sagte die Großmutter, »geht alles in Licht auf und wir sehen, was das Auge nicht sieht. Wir erkennen alle Menschen. Die, die wir kennen, und die, die wir nicht kennen.«
War das von dem Mann auf das Fensterbrett gestellte Weinglas Traum oder Wirklichkeit? Woran hat sie ihn erkannt, als sie ihm auf der Straße vor der Jungfrauenquelle begegnete? Sie erinnerte sich noch genau. Er war auf sie zugekommen und hatte sie aufgefordert, ihm zu folgen. »Nur eines ist not, Marta.14 Komm, folge mir.«
Und sie folgte ihm.
Sie wolle schlafen, sagte sie zu Mansûr. Denn in ihrem Gedächtnis war alles durcheinander geraten. Mansûr hatte sich verändert, und sie hatte sich verändert. Ein Jahr war genug, um das Leben davongleiten zu sehen und sich innerlich uralt zu fühlen. Milia war erschöpft vom Leben und von den Veränderungen. »Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache.«15
Fotos von ihrer Schwiegermutter oder von Asma zu sehen stimmte Milia traurig. Was hatte das zu bedeuten? Warum hatten sich im Haus so viele Fotos angesammelt? Am Tag ihrer Hochzeit hatte der Fotograf von dem Brautpaar Aufnahmen im Haus und in der Kirche gemacht und Milia, der Tränen in den Augen standen, immer wieder gebeten, doch bitte zu lächeln. Das Kameraauge und das schwarze Tuch, unter das der Fotograf den Kopf steckte, waren Milia im Gedächtnis haften geblieben. Sie hatte die Befürchtung, dass er – ebenso wie der von Mûsa beauftragte Fotograf aus Zahle – ihre Augenfarbe einfangen könnte. Also hatte sie die Lider gesenkt, worauf der Fotograf sie zunächst freundlich und schließlich entnervt aufforderte, die Augen zu öffnen, damit Licht ins Bild käme. Auf einen Sprung in Beirut, um von dort nach Nazareth aufzubrechen, hatte sich Mansûr nicht darauf eingelassen, »nur zwei Tage länger zu bleiben, bis die Fotos fertig sind«. Stattdessen hatte er Mûsa gebeten, die Bilder nach Nazareth zu schicken. Dann aber waren die Wege gesperrt worden, und Milia bekam die Fotos von ihrer Hochzeit nie zu Gesicht.
Tatsache ist, dass keiner die Bilder je gesehen hat. Denn der Fotograf hat sie in einem Anfall von Wut zerrissen. Er habe die Aufnahmen zerrissen, gestand er Mûsa, als er zu ihm in den Laden kam, weil sie seinem Ruf nicht gerecht würden. »Die Braut hatte auf keinem der Fotos die Augen geöffnet. Sie sah aus, als würde sie schlafen.«
Saada war empört und forderte ihren Sohn auf, Milia zu schreiben, dass sie das Brautkleid unbedingt mitnehmen solle, wenn sie das nächste Mal mit ihrem Mann zu Besuch nach Beirut komme. »Dann können sie sich noch einmal fotografieren lassen. Ist doch nichts dabei. Keine Fotos von der eigenen Hochzeit zu haben, das geht nicht!«
Milia hatte keine Ahnung, was aus ihren Hochzeitsfotos geworden war. Und Mansûr fragte nicht danach. Er wollte ohnehin im Haus lieber Spiegel haben und platzierte einen großen im Salon, einen im Esszimmer und einen im Schlafzimmer. Milia hatte nichts dagegen. Einen Spiegel in der Küche aber lehnte sie strikt ab. »Nein, auf keinen Fall«, wehrte sie ab. »Wer hängt sich denn einen Spiegel in die Küche?«
Mansûr wünschte überall im Haus ein ganz bestimmtes Bild zu sehen. »Ich will nur dich sehen, Liebling.« Er liebte es, Milia morgens vor den Spiegel zu führen, um ihr zu beweisen, dass nichts die Schönheit einer Frau so erstrahlen lässt wie die Liebe.
»Schau, wie schön du geworden bist! Das kommt von der Liebe! Im Schlaf bist du warm wie frisches weißes Brot. Du warst heute wunderbar. Ich habe dich auf den Rücken gedreht, und es war wunderschön. Es war das schönste Mal.«
»Lass dieses Gerede.«
»Findest du nicht auch, dass es das schönste Mal war?«
Statt Fotos hatte Mansûr Spiegel im Haus verteilt. Nicht ein einziges Bild befand sich an den Wänden, nur Spiegel. Er hasse Fotos, sagte er zu seiner Mutter, als sie einmal bemängelte, dass er nicht, wie allgemein üblich, ein Porträt seines verstorbenen Vaters im Salon hängen habe. »Fotos frieren den Menschen ein, sodass er wie tot wirkt. Ich bewahre mir lieber das Bild, das ich von Vater in Erinnerung habe.«
»Aber dein Vater ist tot«, sagte die Mutter.
Mansûr winkte ab, statt zu sagen, dass ein Mensch nicht von sich aus tot ist, sondern von denen getötet wird, die sein Bild an der Wand anbringen. Dass der Vater in seinem Gedächtnis weiterlebe und er ihn nicht töten wolle.
»Warum hast du sie umgebracht, Mûsa?«
Auf einmal war das Haus voll von Fotos. Zuerst hängte Mansûr ein großes, schwarz gerahmtes Foto von seinem Bruder auf. Anschließend ein Foto des Vaters, später Fotos von den Kindern seines Bruders. Dann ein Foto der Mutter zeitgleich mit einem Foto der nun verwitweten Ehefrau im Brautkleid an der Seite ihres Mannes. Zu guter Letzt klemmte er in die Rahmen sämtlicher Spiegel kleine und große Fotos. Einmal brachte er aus Jaffa ein zerknittertes, halb verblichenes Foto mit, um es von einem Fotografen restaurieren zu lassen. Denn es sei, so sagte er, ein seltenes Foto des Verstorbenen mit den Kämpfern.
»Warum hast du sie umgebracht, Mûsa?«
Milia kannte keine Eifersucht. »Eifersucht habe ich nie empfunden. Nicht einmal bei Nadschîb haben sich solche Gefühle in mein Herz gefressen.«
»Du hast ja völlig Recht, eifersüchtig zu sein. Morgen kommt der Fotograf. Er wird dich fotografieren, und dann hänge ich ein Foto von dir hier auf.«
»Ich will nicht fotografiert werden.«
»Ich möchte so ein Foto von dir haben wie das in deinem Elternhaus.«
»Warum hast du sie umgebracht, Mûsa?«
Die kleine Milia steht allein da. Um sie herum lauter Spiegel. Sie betrachtet sich bei hereinbrechender Abenddämmerung. In dem großen Spiegel, der im dâr angebracht ist, spiegelt sich die Gasse. Plötzlich tritt Mûsa aus dem Spiegel in den Raum, in der Hand das Bild einer Frau in Schwarz-Weiß vor weißem, leicht vergilbtem Hintergrund. Kaum sieht die kleine Milia den Bruder, rennt sie davon und versteckt sich unter dem Sofa, damit er sie sucht, wie er es immer tut. Der dunkelhäutige Mann in weißem Hemd aber beachtet sie nicht. Er kramt aus einer kleinen Kiste einen Hammer und ein paar Nägel hervor und beginnt das Bild an den Spiegel zu nageln, durch den er hereingekommen ist. Milia hält sich die Ohren zu, will nicht hören, wie der Spiegel durch die Nägel zerspringt, die das reflektierte Licht bereits zersplittert haben.
Milia will aus ihrem Versteck unter dem Sofa herauskommen, will den Mann davon abhalten, den Spiegel zu zertrümmern. Sie weiß, dass zerbrochene Spiegel im Traum ein böses Vorzeichen sind. Sie robbt unter dem Sofa hervor, befindet sich plötzlich unter freiem Himmel. Es ist dunkel, sie wittert Gefahr. Sie weiß nicht, wo sie ist. Doch sie weiß, dass vor ihr ein Tal liegt. Sie rührt sich nicht von der Stelle, glaubt, die Dunkelheit könnte sie verschlingen. Von dem Gehämmer bekommt sie entsetzliche Kopfschmerzen. Sie will schreien, will Mûsa rufen, hört sich stattdessen aber Mansûr rufen. Erschrocken legte sie die Hände auf den Mund, um den Mann nicht zu wecken, der zusammengerollt neben ihr schlief.
»Wo bist du, Bruder?«
Die Stimme des Mädchens verliert sich in der Dunkelheit. Milia beschließt, die Augen zu öffnen. Auf keinen Fall darf der Traum weitergehen. Auf keinen Fall will sie in ihrem Haus einen zerbrochen Spiegel sehen. »O Gott, das könnte vielleicht heißen, dass Mansûr seinem Bruder folgt und stirbt. Dann leben wir zwei Witwen unter einem Dach mit der Alten. Was soll ich allein? Und der Junge? Womöglich töten sie ihn, nachdem sie seinen Vater getötet haben. So war es schließlich auch bei dem Messias. Erst haben sie seinen Vater, Josef den Zimmermann umgebracht, verschleppt oder wie auch immer. Und dann haben sie Jesus gekreuzigt.«
»Hör bitte auf, Nägel einzuschlagen, Bruder.«
Sie sieht sich aus dem Bett steigen und barfuß in den dâr gehen. Das Haus ist in Dunkelheit gehüllt. Ein schwacher nächtlicher Lichtschein dringt durch das Fenster. Die kleine Milia tritt auf die Splitter am Boden. Blutspuren in Form plattgetretener Schmetterlinge bleiben auf den Fliesen zurück.
Der Spiegel hängt noch an der Wand. Sie will Gott danken, dass der Traum es nicht geschafft hat, den Spiegel zu zertrümmern. Aber plötzliches Unbehagen befällt sie, und sie hat das Gefühl, jeden Moment ohnmächtig zu werden. Sie sieht das eigene Bild. Es hängt im zitternden Licht, das aus dem Spiegel dringt. Das Bild, das Mûsa in dem größeren der beiden Häuser im Lîwân an die Wand gehängt hat, genau über dem Bett, in dem sie geboren wurde, taucht plötzlich auf. Das Weiß ist von Schwarz überlagert. Nur die geöffneten Augen sind noch deutlich zu erkennen. Alles andere ist mit schwarzen Flecken übersät. Nase, Lippen, Kinn, Stirn. Auch das lange Haar, das sich einst wie ein schwarzbrauner Fluss durch den Hintergrund schlängelte, ist nicht zu sehen.
»Wo sind ihre Haare?«, fragt sie leise.
Sie schaut sich um, sieht Mûsa. Er sitzt auf dem Sofa, unter dem sie sich versteckt hatte. Den Tarbûsch seines Vaters auf dem Kopf und einen schwarzen Rosenkranz in der Hand.
»Wo ist der Rosenkranz her, Vater?«
Sie nennt ihn »Vater« und wartet die Antwort nicht ab. Denn sie weiß, dass der Mann, der auf dem Sofa sitzt und das Bild im Spiegel betrachtet, nicht ihr Vater, sondern ihr kleiner Bruder ist, dem sie früher immer die Furcht vor der Dunkelheit mit einer zarten Berührung aus den Augen gewischt hat.
»Was machst du hier in Nazareth?«, fragt sie.
»Ich komme den Jungen holen«, sagt er.
»Nein, das ist mein Sohn. Ich lasse nicht zu, dass du ihm das Gleiche antust wie dein Vater dir, als du ihm zu der Ägypterin gefolgt bist. Ich lasse nicht zu, dass du ihn mit einem Stein zu erschlagen versuchst.«
Warum verschwimmen die Menschen derart ineinander? Das ist nicht ihr Vater. Sie weiß es, weil er einen olivenfarbenen Teint hat, Jûsuf dagegen eher weißlich blass ist. Aber warum kommt er den Jungen holen, der noch nicht einmal geboren ist? Und warum schlägt er Nägel in den Spiegel? Milia hört das rhythmische Gehämmer der Kreuzigung. Am meisten habe Jesus in den letzten Momenten seines Lebens, so der libanesische Mönch, unter dem Lärm gelitten. »Als man ihm die Nägel in Hände und Füße schlug, ist das Klopfen zu einem Donnern angeschwollen. Sein Körper schien zu zwei riesigen Ohren geworden zu sein, die jeden leisesten Laut auffingen. Alles dröhnte. Stell dir vor, wie es ist, wenn das Herzpochen den Brustkorb sprengt. Die Kreuzigung, mein Kind, ist das unerbittliche Gehämmer, das durch den ganzen Körper dröhnt. Rufe in ein Tal und lausche. Stell dir vor, dein Körper ist das Tal, in dem Hunderte von Nägeln kreischen.«
Mûsa ist wieder ein kleiner Junge. Nun muss sie sich zu ihm hinabbeugen, sie muss ihm die Tränen fortwischen, ihn vom Kind zum Mann erwecken.
Als sie sich aber hinabbeugt und die Hand nach ihm ausstreckt, stößt er sie mit aller Kraft weg und baut sich vor dem Bild auf.
Sie schaut in die Richtung, in die er schaut, und sieht Mansûrs Bild, gespiegelt neben Milias Bild, das an den Spiegel genagelt ist. Statt ihren Mann mit seinem Namen anzusprechen, schreit sie: »Warum hast du sie umgebracht, Mûsa?«
Während Mansûr noch mit dem italienischen Arzt sprach, ging Milia an jenem Tag schnurstracks aus dem Krankenhaus und ließ sich von ihren Füßen lenken. In dem Wunsch, den libanesischen Mönch zu treffen, lief sie durch Straßen und Gassen, ohne aber auf die geringste Spur von Tanjûs zu stoßen. Schließlich setzte sie sich auf einen Stein bei der Jungfrauenquelle, schloss die Augen und sah.
Fragt sie nicht, was sie gesehen hat, denn sie kann nicht sprechen. Es war das Wunder, auf das sie seit jenem rätselhaften visionsartigen Traum wartete, der sie, ihrem Schicksal entgegen, nach Nazareth geführt hat. Hatte Tanjûs ihr nicht gesagt, wie es dem Zimmermann ergangen war? Dass er die Sprache verlor, als er sich seiner jungfräulichen Frau näherte und von ihrer Schwangerschaft erfuhr? Er hatte sie zur Rede stellen wollen. Doch seine Zunge hatte ihm wie ein Stück Holz im Mund gelegen. Statt aber seiner Wut und Verletzung Ausdruck zu verleihen, war er in einen komaähnlichen Zustand gefallen. Ein Engel war erschienen und hatte ihn aufgeklärt über den Anfang der Geschichte, die Josef allerdings erst begreifen sollte, als der Junge sie ihm unter dem Olivenbaum zu Ende erzählte.
Josef der Zimmermann sei laut Tanjûs auch »der stumme Heilige« genannt worden. Zwar habe er sich, als sein Sohn ihm die Geschichte erzählte, dazu geäußert. Seine restlichen Tage auf Erden aber habe er mehr oder weniger schweigend verlebt. Nur das Nötigste habe er gesagt. Denn offensichtlich hatte er erkannt, dass er sich die Worte für das Ende aufheben müsse. Für die Zeit, wenn er seinen Sohn suchen sollte, unmittelbar bevor er in den Himmel geholt würde.
Ist es wahr? Hat Milia die heilige Nonne tatsächlich gesehen?
Müde und schmerzgekrümmt saß sie da. Sie versuchte zu sprechen, doch es gelang ihr nicht. Der italienische Arzt, unsicher, was er mit ihr tun sollte, wandte sich an die Krankenschwester und sagte etwas auf Italienisch, was der Patientin verschlossen blieb. Und kurz darauf begann die Reise in die geheimnisvolle Welt der Geburt.
Die Sprache schwand, und die Nonne erschien.
Die Nonne spricht mit Tanjûs’ Stimme. Sie müsse verhindern, sagt sie zu Milia, dass Mansûr den Jungen nach Jaffa bringt.
»Hadscha Mîlâna, bitte«, will Milia flehen. In dem Augenblick hört sie die beklommene Stimme ihrer Mutter. Die Frau, die bei der Quelle sitzt, hat keine Wahl. Sie muss ihre Sache zu Ende bringen. »Hadscha, bitte, ich will nicht werden wie meine Mutter«, hört sie die Stimme ihrer Mutter aus sich hallen.
»Aber Schwester! Warum klingt deine Stimme wie seine Stimme? Wo ist Pater Tanjûs? Er hat versprochen, mich in das Geheimnis einzuweihen, und ist dann verschwunden. Und jetzt tauchst du statt seiner auf. Ich habe Angst vor dir. Seit meiner Kindheit habe ich Angst vor dir. Ich will das alles nicht. Ich bin nicht meine Mutter. Meine Mutter ist eine halbe Nonne. Aber ich bin anders. Ich habe Angst um den Jungen. Ich wünsche mir nur eines von Gott. Er soll mich in Frieden lassen. Bitte, lasst mich in Ruhe. Ich gehe nach Jaffa und Schluss. Ich bin müde. Aber richte Tanjûs aus, dass ich ihn sehen will, bevor das Kind kommt. Er soll mich segnen. Das ist alles. Danach kann von mir aus sein, was will. Wo ist Tanjûs?«
»Ich bin Tanjûs.«
Milia hört Tanjûs’ Stimme aus dem Körper der Nonne. War das alles reine Einbildung? Warum hat Mansûr erzählt, dass er ins Kloster gegangen ist? Warum hat er die Geschichte von dem libanesischen Mönch erfunden? Wer hat ihr von Josef dem Zimmermann erzählt? War das nichts als ein langer Traum?
Schwerfällig stand sie auf und ging heim, den Kopf gesenkt, um niemanden zu sehen. Zu Hause angekommen, sah sie ein Foto von sich am Spiegel hängen. Was das Foto da sollte und woher er es hatte, wollte sie Mansûr fragen. Aber ihre Stimme war weg. Sie ging ins Bett, legte den Kopf auf das Kissen und fiel in einen tiefen Schlaf.
Mûsa kam, denn sie wollte, dass er kommt.
Sie war allein zu Hause. Dezemberdunkelheit breitete sich in dem kühlen Zimmer aus. Sie zog ein blaues Nachthemd an, schlüpfte ins frisch weiß bezogene Bett, schloss die Augen und bat Mûsa zu kommen.
Sie brauche ihn und möchte ihm eine Geschichte erzählen, sagte sie. Dass sie diese von dem libanesischen Mönch erfahren hatte, wagte sie nicht zu offenbaren. Sicher war sie sich keiner Sache mehr. Der Mönch hatte sich in Mîlânas langem schwarzem Gewand verflüchtigt. Und die Nonne konnte sie nicht ausstehen, wollte sie daher nicht in ihrer Nähe haben.
Mansûr saß allein im dâr und wartete auf jenes erste Anzeichen, von dem der Arzt gesprochen hatte. Milia lag auf die linke Seite gedreht im Bett. Ihr Bauch sei inzwischen so groß wie die Welt, sagte sie zu Mûsa. Mûsa war nicht da. Aber sie wünschte ihn sich herbei. Sie wollte sich die Geschichte von der Seele reden, fand aber keine Ohren zum Zuhören. Dass das, was sie gesehen hatte, die Wirklichkeit war, musste sie nicht mehr beweisen. Sie war erschöpft und bat ihren kleinen Bruder zu kommen. Denn er hatte ihr immer geglaubt. Liebevoll besorgt sah er sie an und sog alles, was sie sagte, förmlich in sich auf. Selbst in jenen schwierigen Zeiten, als Nadschîb verschwand und die Familie zerbrach, hatte er als Einziger den Kummer in ihren Augen wahrgenommen und jedes Wort geglaubt, ob sie es nun ausgesprochen hatte oder nicht. Milia hatte sich keinem gegenüber zu dieser seltsamen Liebesgeschichte geäußert. Die Mutter gab ihr die Schuld.
»Warum hast du ihn dir durch die Lappen gehen lassen? Das ist bereits das zweite Mal, Kind! Wadî’ war geizig, das kann man ja noch nachvollziehen. Aber was war denn jetzt an dem auszusetzen? Wie soll ich denn noch einen Bräutigam für dich auftreiben?«
Milia war damals erkrankt. Seltsame Kopfschmerzen, für die es keine Erklärung gab, machten ihr zu schaffen. Alle waren ratlos. Zur Linderung der Schmerzen band sie sich ein feuchtes Tuch um den Kopf. Später legte sie rohe Kartoffelscheiben auf die Stirn und wickelte sich dann erst das feuchtes Tuch um.
Warum war ihr die Sache mit den Stimmen entfallen? Warum wusste sie nichts mehr von den Stimmen, die sich in ihren Ohren eingenistet und ihr die Sprache verschlagen hatten? Warum hatte sie die kurze Ohnmacht verdrängt, aus der Gott sie auf unerklärliche Weise rettete?
Milia sei, wie es hieß, allein im Haus gewesen, als sie umfiel. Sie stand in der Küche am Petroleumkocher und rührte einen großen Topf voll Joghurt. Mûsa kam als Erster heim. Er fand sie rücklings am Boden. Es duftete im ganzen Haus nach Kubba, gekocht in Joghurt und Koriander. Er sprühte ihr Orangenblütenwasser ins Gesicht, um sie zu wecken. Doch sie schien tief und fest zu schlafen. Also trug er sie ins Bett und rannte den Arzt holen. Als er mit Doktor Naqfûr eintraf, war Milia wieder bei Bewusstsein und wurde von der Nonne versorgt. Das messingne Weihrauchfässchen schwenkend und Gebete murmelnd, kreiste Schwester Mîlâna um Milias Bett.
Der Arzt hat nichts getan. Er küsste der Nonne die Hand und ließ sich von ihr über den Zustand der Kranken aufklären. Alles sei in bester Ordnung, erfuhr er und ging wieder. Die Nonne beugte sich zu Milia hinab und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Zwei Tage später tauchte Mansûr auf, und die Liebesgeschichte begann, die Milia in die Ehe führte.
Milia habe in der Nacht, so hieß es, jenen Traum gesehen, der ihr künftiges Leben bestimmte. Wann hatte sie die blaue Frau gesehen? Als sie in der Küche am Boden oder als sie, von Weihrauch eingenebelt, im Bett lag? War vielleicht das Ganze sogar von der Nonne eingefädelt worden?
Es war Liebe auf den ersten Blick, sollte Mansûr seiner Mutter und seinem Bruder sagen. Inwiefern Sonja Rahhâl die Sache eingefädelt hatte, war unwesentlich. Nach einem anstrengenden Tag auf dem Tawîla-Markt, wo er geeignete Stoffe für seinen neuen Laden in Nazareth suchte, hatte Mansûr die Einladung des befreundeten Händlers Samîr Rahhâl zum Abendessen angenommen. Die Ehefrau des Gastgebers, Frau Sonja, plauderte mit Mansûr ausgiebig über das Heiraten, legte ihm dringend ans Herz, diesen Schritt zu tun, und schickte ihn in den Garten hinaus, damit er das schönste Mädchen in Beirut sähe.
So hat die Geschichte angefangen. Milia stand inmitten blühender Mandelzweige. Ihr milchiges Weiß verschmolz mit dem Weiß der Mandelblüten. Und das Herz des Mannes aus Nazareth fing Feuer.
»Es spielt keine Rolle, ob Sonja mit der Nonne befreundet war. Die Nonne hatte nichts damit zu tun. Im Übrigen bin ich ihr auf der Hochzeit zum ersten Mal begegnet. Nein, die Nonne hat damit nichts zu tun. Ich habe mich auf den ersten Blick in dich verliebt. Und Schluss.«
Milia schloss die Augen, öffnete sie erst wieder, als sie zu ertrinken drohte. Sie drehte sich zu Mansûr. Aber er lag nicht neben ihr im Bett.
»Das Wasser«, schrie sie.
Plötzlich sah sie ihn. Er stieg aus dem Bett, half ihr in die Kleider und brachte sie ins Krankenhaus.