Winston
(Kit Reed)
Edna Waziki war außer sich während der Zeit, als sie ihren Sohn erwarteten. Nachdem sie die Bestellung aufgegeben hatten, sprach sie monatelang von nichts anderem und saß stundenlang am Fenster, und als der Lastwagen endlich in die Auffahrt einbog, stieß sie einen Schrei aus, der die ganze Familie auf Trab brachte. Der Kundendienstmann kam an die Tür mit einem kleinen Reisekoffer mit einem Griff und Löchern an den Seiten, und Edna kicherte, und die Kinder lachten und tanzten und hüpften herum, während Ednas Mann Artie den Fahrer bezahlte, und alle kicherten unkontrolliert, als Artie am Verschluß herummachte.
„Hier steht, er heißt Winston“, sagte Edna und hielt die Karte so, daß Margie und Klein-Art den Namen lesen konnten. „Und jetzt Platz hier, wir wollen ihn nicht so erschrecken.“ Artie warf einen finsteren Blick in den kleinen Handkoffer: „Na, wo ist denn der kleine Bastard?“
„Artie, bitte!“ Edna beugte sich nieder und rief leise. „Tsche, tsche, Winston, tsch, tsch.“
Margie sagte: „Papi, Papi, ich kann ihn sehen.“
Klein-Art steckte einen Stock durch ein Loch: „Papi, Papi, hier ist er!“
„Verdammter Blödsinn“, sagte Artie, aber kroch zusammen mit seiner Frau und den Kindern auf dem Boden herum, und sie beobachteten, wie Winston blinzelnd zutage kam.
Margie überrascht: „Oh, Papi, wie winzig!“
„Ist er nicht süß? Oh, Artie, ist er nicht süß?“
Artie schnaufte: „Sieht nicht nach viel aus.“
„Das kann man noch gar nicht sagen, wenn sie so klein sind“, sagte Edna. „Warte nur, bis er groß geworden ist!“
Margie kicherte: „Oh, schau mal, er hat eine Pfütze gemacht.“
„Natürlich, weil er nervös ist.“ Edna hob Winston an ihren Busen. „Armes Ding, du armes kleines Ding.“
„So winzig, wie er ist“, sagte Artie, „kann aus ihm ja nichts werden.“
„Liebling, hast du nicht seinen Stammbaum gesehen?“
„Oh, Mama, er sieht aus wie ein Affe.“
„Psst, du verletzt seine Gefühle.“
„Hier, Winston, hier, Winston.“ Klein-Art probierte, ob Winston den Stock nahm.
„Laß ihn in Ruhe.“ Edna beschützte Winston; Winston weinte.
„Er will ihn gar nicht nehmen.“
„Er nimmt ihn“, sagte Artie unheilvoll, „besser, er nimmt ihn. Gott weiß, daß ich genug gezahlt habe.“
Edna umarmte ihn beschützend. „Er ist verwirrt. Er wird sich besser fühlen, wenn ich ihn sauber mache.“
Artie beschuldigte sie: „Du hast gesagt, daß er garantiert sauber ist.“
„Ist er auch“, sagte Edna und nahm Winston mit in das Schlafzimmer; vor der Tür drehte sie sich um und sagte zur Verteidigung: „Du mußt nur warten, alles braucht seine Zeit.“
Sie brauchte etwa eine Stunde für ihn, und als sie herauskam, war er ruhiger, viel ruhiger und er weinte nicht mehr; er setzte sich sogar mit ihnen an den Tisch. Man hatte ihm einen Stoß Telefonbücher untergeschoben, damit er hinaufreichte. Er war etwa vier Jahre alt, zart gebaut und blond, hatte einen blauen Spielanzug an, vorn und hinten zugeknöpft und hatte große, dunkle Augen, die vor Intelligenz funkelten. Er schaute sie alle der Reihe nach an, rührte aber nicht an seinen Teller.
„Schau dir das an“, sagte Artie wütend. „Fünftausend Dollar und rührt nicht einmal seinen Teller an.“
„Er wird schon essen“, sagte Edna, „er kennt uns nur noch nicht.“
„Besser für ihn, wenn er uns kennenlernt. Fünftausend Dollar für die Katz.“
„Es ist nicht für die Katz“, sagte Edna; sie war fast zu aufgeregt, um zu sprechen. „Er wird uns stolz machen, warte nur.“
Da kam Freddy Kramer herein, um Artie zum Bowling abzuholen. „Also das ist er“, sagte er und warf einen Blick auf Winston.
„Die erste Familie hier im Block, die einen hat“, sagte Artie mit beginnendem Stolz. „Ich denke, daß man es eine Art Statussymbol nennen könnte.“
„Sieht nicht gerade danach aus.“
„Du solltest seinen Stammbaum sehen.“ Er schaute Freddy an, der sich niemals einen würde leisten können, und Artie begann aufzuschneiden. „Die Mutter Schriftsteller, Vater Professor, I.Q. einhundertundsechzig, garantiert.“
Edna strich über Winstons feines, blondes Haar. „Winston wird auf das College gehen.“ Es gefiel ihr, als sie sah, daß Artie lächelte.
„Das Kind wird seinen Doktor machen.“
Edna nahm Arties Hand unter dem Tisch und sagte mit leiser Stimme: „Oh, Artie, du bist froh. Ich wußte, daß du es sein würdest.“
Freddy schaute Winston mit einem Blick an, der an nackte Eifersucht grenzte: „Wie bist du auf die Idee gekommen?“
„Edna hat die Annonce gesehen.“ Artie zog eine Grimasse; Edna massierte sein Knie. „Und alles, was mein Baby wünscht …“
„Du wirst es nicht bereuen, Artie. Winston wird ein As in Physik werden. Vielleicht erfindet er die nächste Atombombe.“
Freddys Lippen bewegten sich; er schien zu rechnen. „Was kostet denn einer mindestens?“
„Kommt auf das Produkt an“, sagte Edna.
„Also dieser hier“, sagte Artie und tätschelte Winstons Schulter, „dieser hier wird uns auf unsere alten Tage unterstützen. Doktor und Wissenschaftler, garantiert. Vielleicht bringt er unseren Namen in die Zeitungen, der Anzeige nach.“
Edna sagte unbestimmt: „Hat was von ’nem Guggenheim.“ Winston begann zu heulen.
„Na, Winston, was ist denn?“
„Klein-Art hat ihn getreten“, sagte Margie.
„Also Kinder, ihr laßt ihn in Ruhe, bis ihr gelernt habt, schön mit ihm zu spielen.“
„So einen bekommt man nicht mehr“, sagte Artie zu Freddy Kram er. „Die Eltern hatten zehn und haben sich jetzt nach Europa zurückgezogen.“
Freddy rieb sich die Nase: „Vielleicht, wenn Flo und ich den Wagen verkaufen würden …“
Artie bot Winston ein Stück Brot an; Winston schaute es angewidert an, nahm es aber. „Siehst du, er mag mich. Nicht, Süßer, magst mich.“
„Natürlich mag er dich“, sagte Edna stolz. „Er ist unser Sohn.“
Winston warf ihr einen kurzen, scharfen Blick zu, was sie verwirrte, ohne zu wissen warum. Dann aß er das Brot auf und räusperte sich.
Artie sagte zu Freddy: „… und wenn du sie nicht in Exeter unterkriegst, dann zumindest in Gulver, garantiert.“
„Psst, Liebling, er will etwas sagen.“
„… aber nicht jeder Heizer hat einen Sohn in Culver, nich?“
„Psst.“
Winston sagte: „Wiwyiam Buckwey ist ein Weaktionäh.“
„Heh, Freddy, hast du das gehört?“
„Wirklich, mein Kompliment“, sagte Freddy.
An diesem Abend gingen sie nicht mehr zum Bowling; sie saßen alle im Wohnzimmer, und zuerst ließen sie sich von Winston die Zeitung vorlesen, selbst das Impressum, und als das beendet war, hörten sie ihm zu, wie er die politische Situation analysierte, und dann brachte Edna für alle Kuchen, und dann ließen sie Winston die Baseballergebnisse der Saison voraussagen, die Artie aufschrieb, und dann schrieb Winston ein Gedicht über den Herbst, und dann begann Winston am Daumen zu lutschen; Edna schickte die anderen Kinder ins Bett, und sie beklagten sich, weil Winston aufbleiben durfte, und weil sie wußten, daß er den Rest des Kuchens essen würde; die Erwachsenen hörten Winston noch eine Weile zu, und dann gerieten Artie und Winston in eine Art politischen Streits, Artie mußte seine Gefühle irgendwie verletzt haben, er nannte ihn ein Großmaul, zu jung, um nur vom geringsten eine Ahnung zu haben, und Winston begann zu schnupfen, und Edna sagte, daß er jetzt ins Bett gebracht werden müßte, denn er sähe todmüde aus.
Sie trug ihn in das Vorderzimmer, wo sie die gesammelten Werke von Bulwer-Lytton und die elfte Ausgabe der Britannica aufgestellt hatten; sie zeigte Winston den Globus, das elektrische Klavier, den Rechenschieber und den Zeichentisch und dachte, er würde kleine Schreie des Entzückens von sich geben und sich vielleicht hinsetzen, um etwas zu komponieren; aber statt dessen klammerte er sich an ihre Schulter und wollte nicht einmal hinschauen. Endlich sagte sie: „Was, mein Lieber, was ist denn?“
„Ich möchte mein Schnulli“, sagte Winston.
Sie fand es schließlich, ein quadratisches Stoffetzchen, das in eine Ecke der Reisetasche gestopft war, und als sie es ihm erst einmal gegeben hatte, ließ er sich baden und den Schlafanzug anziehen; selbst im Schlafanzug sah man ihm seinen Stammbaum an: seine Knöchel und Handgelenke waren schmal und seine Finger lang, und sie ertappte sich; daß sie sich wünschte, er würde ein bißchen zuckriger aussehen, ihren Babies etwas ähnlicher sein, aber sie unterdrückte schnell den Gedanken.
Im Bett sagte sie zu Artie: „Stell dir vor, bei uns im Haus ein kleiner Doktor.“ Sie umarmte ihn. „Ist das nicht wunderbar?“
„Ich weiß nicht.“ Artie schaute zur Decke. „Er ist noch ziemlich jung.“
Die Wazikis wurden von einem Tumult im Hinterhof geweckt. Artie fand Klein-Art und einiger seiner Freunde im Dreck kämpfen, und als er sie auseinandergescheucht hatte, sah er Winston, blaß und verfroren, der sich auf die Lippen biß, damit die anderen Kinder ihn nicht weinen sahen. Nachdem er ihn befreit hatte, setzte er ihn auf die Stufen und wandte sich an Klein-Art und Margie; sie schluchzten und schauten ihn nicht an.
„Was ist los, Winston?“
Aber Winston sagte nichts, er saß nur da mit einem Blick, den Artie mit der Zeit seinen Hamlet-Blick nannte.
Klein-Art stieß Artie an, schluchzend: „Du bist betrogen worden.“
„Was bin ich?“
„Der Dummkopf kann nicht einmal den Ball auffangen.“
Winston schlotterte nicht mehr: „Mein Vater konnte auch keinen Ball fangen“, sagte er kalt, „aber trotzdem hat er den Nobelpreis bekommen.“
Etwas an Winstons Verhalten gefiel Artie gar nicht, aber trotzdem schlug er Klein-Art und sagte: „Wir haben nicht für ihn Geld bezahlt, damit er den Ball fängt, Dummkopf. Du läßt die Hände von der Ware, klar?“
„Wenn er so verdammt klug ist, warum kann er nicht den Ball fangen?“
„Sei ruhig und komm rein.“
Am Frühstückstisch holte Margie ihre Geografie-Hausaufgaben vor, und Artie und Winston hatte eine kleine Auseinandersetzung darüber, was die Hauptstadt von Kamerun sei; Winston hatte natürlich recht, und Edna ließ Artie sich entschuldigen, und dann mußte sie alles wieder ins reine bringen, weil jedem klar war, daß Artie sich gekränkt fühlte.
„Vier-Jahrealtes-Kind. Vier-Jahrealtes-Kind.“
„Tut mi seh leid“, sagte Winston, der außer seinem 160-er I.Q. auch nicht auf den Mund gefallen war, „ich mußte andaueand studiean.“
„Aber Manieren haben sie dir nicht beigebracht!“
„Heh, heh“, rief Margie, im Versuch, Arties gerunzelte Stirn zu glätten, „warte nur, bis du das Terrarium siehst.“
Er schob ihre Hände zur Seite: „Was zum Teufel ist ein Terrarium?“
„Weiß nicht, aber Winston und ich werden eins bauen.“
„Ich will nicht, daß das Kind mit Sprengstoff spielt, und damit basta.“
Winston schaute wieder mit seinem Hamlet-Blick: „Wie Sie wünschen, Herr Waziki.“
Artie kam zur Überzeugung, daß sich das Kind Mühe gab: „Du kannst mich Pop nennen.“
„Okay, Herr Waziki.“
Bei der Arbeit merkte er, daß Freddy schon die Geschichte herumerzählt hatte; er war so etwas wie eine Berühmtheit; beim Mittagstisch sonnte er sich richtig in seinem Ruhm.
„Hundertundsechzig“, sagte er in ihre skeptischen und neidischen Gesichter, „und er nennt mich Pop.“
Als er von der Arbeit nach Hause kam, war er zufriedener, als er es hätte sein sollen. Klein-Art und Winston hatten sich wieder in den Haaren. Klein-Art hatte die Britannica auf den Knien und bellte Winston an: „Wer war auf dem Reichstag zu Worms?“
Winston stotterte etwas Unverständliches und hielt verwirrt inne.
„Heh, Pop, du bist betrogen worden.“
Artie sagte schwach: „Hör auf, Kind.“
„Hundertundsechzig, und er weiß nicht einmal, wer auf dem Reichstag zu Worms war.“
Winston schaute entschuldigend seine Hände an: „Ich bin so seh neu.“
„Du mußt es eben herausbekommen, Junge. Es ist deine Aufgabe, Bescheid zu wissen.“
Edna legte Winston an ihren Busen und merkte, wie er nur aus Haut und Knochen bestand: „Du läßt ihn ganz in Ruhe.“
Winston vergrub sein Kinn an ihrer Schulter. „Ich will mein Schnulli“, sagte Winston.
Selbst Edna mußte zugeben, daß Winston zu intelligent war, um an einem dämlichen Stück Stoff zu nuckeln, denn es sah nicht gut aus, und sie nahm Winston sein Schnulli weg und versteckte es. Dann schickte sie ihn auf sein Zimmer, damit er so viel wie möglich über Weimeraner Hunde lerne, und als er wiederkam, wurde Artie wütend, weil er keinen Deut über Weimeraner wußte, obwohl er den ganzen Band V der Britannica zum Durchblättern hatte, denn was immer einem dieses schlaue Bürschchen auch weismachen wollte, Artie wußte doch, daß es geschrieben wurde, wie es ausgesprochen wurde.
Als ob er nicht seine Lektion gelernt hätte, hatte Winston die Nerven, mit Artie über einen bestimmten Punkt bei Dampfmaschinenausrüstungen zu streiten, etwas, was Artie am besten beherrschte, und als sie nachschlugen, stellte es sich heraus, daß Winston recht hatte. Als Klein-Art mit Winston Ringkampf machen wollte, ließ Artie, obwohl Winston teuer war, ihn gewähren, weil er, Artie, das Haupt der Familie war, und wenn Winston mit den Wazikis leben wollte, dann mußte er auch kräftiger werden.
Am nächsten Tag hatte Edna ihre Bridgegruppe bei sich, und sie zog Winston seinen hellen Spielanzug an, der mit dem Hasen auf der Tasche, und sie gab ihm die Taschenbuchausgabe von Spinoza, und die Damen machten ein gewaltiges Theater um ihn, tätschelten ihn, gaben ihm Süßigkeiten, ließen ihn vorlesen, bis er schließlich nervös wurde oder so was und sich mitten auf den gedeckten Kaffeetisch warf. Edna wischte die Sauerei auf und kam mit ihm wieder, in seinem blauen Spielanzug, worin er längst nicht so gut aussah.
„Ist das Kind nicht sehr empfindlich?“ fragte Maud Wilson. „Es ist ein Denker“, sagte Edna geduldig, „und wenn es Denker sind, dann muß man sich einfach gedulden.“
Melinda Patterson lächelte ihr süßes Lächeln: „Ich weiß nur nicht, ob es sich auf lange Sicht lohnt, mit der ganzen Schweinerei und so.“
„Winston wird seinen Doktor machen.“ Edna merkte, wie die Begeisterung der anderen nachließ, und fuhr schnell fort: „Und nächste Woche wird er den Bonanza-Wettbewerb gewinnen, wartet nur ab und. seht.“
Im Augenblick, wo sie es sagte, tat es ihr leid; der Bonanza-Wettbewerb war eine Art Kreuzwort-Puzzle, und sie wußte nicht, ob Winston für solche Sachen trainiert worden war, aber nun hatte sie Winston festgelegt, und er würde es einfach schaffen müssen; vielleicht würde er gewinnen, und der Geldpreis würde den ganzen Ärger, den er ihnen bereitet hatte, wiedergutmachen. Wenn Winston gewinnen würde, würden Fotos von ihnen allen in die Zeitungen kommen, und danach würde es viel leichter sein, mit Winston Freundschaft zu schließen. Vielleicht könnte er sogar sein Schnulli wiederbekommen. Sobald die Damen weg waren, erzählte sie Winston von dem Wettbewerb, und als er schrie, versuchte sie ihn zu hätscheln, aber er ließ sich nicht küssen, und sie mußte ihm einen Klaps geben. Dann holte sie acht Wörterbücher, ein Nachschlagewerk und das Bonanza-Puzzle dieser Woche und schickte ihn auf sein Zimmer.
Er versuchte, er versuchte tagelang, und als sie ihn am Ende der Woche auf die Probe stellen wollten, sagte er: „Es ist hoffnungslos.“
Artie sagte drohend: „Sag mir nur, was hoffnungslos ist!“
„Schaut.“ Er gab ihnen ein paar Antworten der letzten Woche zu lesen. ES GIBT KEINEN NAMEN WIE … und ein Wort mit sechs Buchstaben. „Die Antwort ist SCHILLER, weil es nur einen SCHILLER gibt, während es viele MILLER gibt.“ Er sagte: „Versteht ihr? Es ist eine ganz vehzwickte Betügehei.“
„Du machst das Puzzle, Winston.“
„Aber es ist heine Glückssache.“
Artie schüttelte ihn: „Sag mir nur nicht, was Glückssache ist.“
Evelyn Cartwright war die erste am Telefon, als Winston nicht gewonnen hatte. „Ich dachte erst, vielleicht hat er noch gar nicht begonnen“, sagte sie mit süßem Ton. Edna war wütend. „Er versuchte es fünfhundertachtundsiebzigmal.“
„I.Q. einskommasechzig“, sagte Evelyn Cartwright mit ihrer süßesten Stimme. „Das ganze Geld für die Katz.“
Die Kollegen im Geschäft lachten so sehr, daß Artie früher nach Hause kam. „Das Bürschchen weiß nur noch nicht, wo er dran ist. Aber ich werde es ihm schon beibringen.“
Edna meinte, daß sie vielleicht Winstons Essensrationen reduzieren müßte, um seinen Verstand zu schärfen. Also gab sie ihm nur noch Brot und Wasser und etwas Fisch: Gehirnnahrung, wie es in den Büchern stand. Konnte sie etwas dafür, wenn eine Stimme ihr sagte, daß sie Artie als auch den Kindern zur gleichen Zeit die guten Steaks geben müßte? Konnte sie etwas dafür, wenn Entschlossenheit ihr Herz hart machte, so daß sie Winstons schmales, gequältes Gesicht nicht einmal anschaute, wenn die anderen Eiscreme und Süßigkeiten verschlangen, über Fleischstücke, so groß wie Waschbretter und Kokosnußplätzchen herfielen?
Artie beschloß, daß Winston etwas Betätigung im Freien auch guttun und seinen Charakter stärken würde, also überließ er ihn jeden Nachmittag für ein paar Stunden Margie und Klein-Art; sie versuchten, ihm beizubringen, wie man den Ball fängt, und sie machten Wettrennen mit ihm, übten Weitsprung, und Artie ließ es immer etwas länger dauern, wie geplant, weil das Kind schließlich sowieso ein Wissenschaftler würde, laut Garantie.
Was sie nervte, nach allem, was sie für ihn bezahlt hatten, war, daß er ständig schluchzte, selbst als Edna ihn einen Schnappschuß von seinem Vater, dem Professor, und seiner Mutter, der Schriftstellerin, wie sie sich in Biarritz sonnten, hatte aufhängen lassen; sie hatten das Bild in einem Brief geschickt, der die Wazikis daran erinnerte, daß die wahren Eltern Anspruch auf die Hälfte des künftigen Einkommens von Winston hätten, und das ärgerte Artie derart, daß er ihn zerriß und auf den Fetzen herumtrampelte und Winston den Brief nicht lesen ließ, nicht einmal den Teil, wo sie Grüße an ihn schrieben. All das Geld, und Winston konnte sich nicht einmal auf die einfachsten Fragen konzentrieren; Ednas nächste Bridgeversammlung war ein richtiger Mißerfolg, Winston schrie die ganze Zeit, und die Damen wußten über nichts anderes zu reden, als wie kränklich er aussähe.
Artie dachte an den gesunden Geist in einem gesunden Körper, und von da an mußte Winston der Gesundheit wegen auf der Veranda schlafen, und sie gaben ihm sogar eine Decke, weil es recht kalt war.
Arties Geburtstag näherte sich, und er hatte so viel Spott von Freddy Kramer und den anderen im Geschäft geerntet, daß er wußte, daß er es ihnen zeigen müsse, und er wollte an seinem Geburtstag eine große Bierparty geben, und bis dahin würde Winston in Form sein, von all der Gehirnnahrung und dem Schlafen auf der Veranda. Er würde an seinem Geburtstag eine große Bierparty geben, er würde alle besoffen machen, und dann würde er Winston hereinkommen lassen, um seine Sachen vorzutragen. Vielleicht lag es daran, daß sie zuviel tranken und Artie Winston vergaß, der trainingshalber draußen war, und daß es draußen schneite, aber dann dachte jemand an ihn und sie holten ihn herein; vielleicht lag es daran, daß er da in seinem Spielanzug stand, mit schlackernden Knien und mit seinem Hamlet-Blick. Oder vielleicht war es auch glatte Sturheit; was immer es war, Artie gab ihm einen Klaps und sagte: „Okay, Winston, erzähl den Burschen über den Reichstag zu Worms!“
„Ja, Herr Waziki.“
Artie gab ihm einen Stoß: „Und nenn mich Pop.“
„Ja, Herr Waziki.“
Artie gab ihm noch einen Stoß, und er fing mit dem Reichstag zu Worms an, kam aber nur ein paar Sätze weit, und dann schweiften seine Gedanken ab oder sonst etwas, und er begann einen Punkt in einer Ecke anzustarren, und als Artie ihn anstupfte, drehte er sich mit rotem Gesicht zu Artie, mit einem Blick, der um Verzeihung bat, und sagte: „Tut mir leid, ich hab’s vehgessen.“
„Was, vergessen?“ Artie schlug fester zu, weil alle die Typen lachten. „Was vergessen?“
Winston zitterte ziemlich stark, seine Knie schlotterten – die Nerven, dachte Artie.
Winston sagte: „Ich hhab.“
„Schon recht, schon recht“, sagte Artie, weil ihn alle anstießen, und Winston würde sich besser beeilen und wenigstens etwas von sich geben. Er versuchte, ihn auf ein bekanntes Gebiet zu bringen: „Erzähl der Bande etwas über Weimeraner Hunde.“
„Wetten“, sagte Freddy Kramer, die anderen anstachelnd, „wetten, er kann nicht einmal addieren?“
„Haha“, fing jemand an, „großartig, Artie. Was bietest du noch?“
Artie packte Winston an der Schulter; die anderen wurden bösartig, und er mußte rasch etwas tun. Er schüttelte Winston ordentlich und zischte: „Den Fahrplan. Sag ihnen den Fahrplan.“
Winston rollte seine Augen, gequält und um Verzeihung bittend. Seine Zähne klapperten jetzt so sehr, daß er nicht einmal sprechen konnte. Trotzdem machte er einen tapferen Anfang: „A-Abfaht.“
„Seht“, sagte Artie schnell, „er sagt euch die Abfahrtszeiten.“
„Den Teufel auch, schau ihn doch an.“
Winstons Gesicht glühte jetzt, seine Augen fieberten, und als Artie ihn packte, konnte er nicht einmal sprechen. Die Jungens wurden böse, und wenn Winston nicht sofort etwas täte, würden sie alle seine Geburtstagsparty verlassen und Artie wäre in seinem Geschäft erledigt.
„Er wird euch die Abfahrtszeiten sagen“, sagte Artie verbissen und schüttelte Winston immer noch.
„Komm, vergiß es, Artie.“
„Vergessen, zum Teufel.“ Alles rannte herum und rauchte, und er mußte schnell handeln, also packte er Winston am Kragen. „Bin gleich wieder da. Ich werde es ihm ein für allemal beibringen.“
Dann nahm er Winston mit nach oben, und er nahm Ednas silberne Haarbürste, legte ihn über das Knie und murmelte: „Werd ihm eine Lektion erteilen“, und als er endlich aufhörte, Winston zu verprügeln, stellte er ihn auf die Füße. Winstons Beine gaben nach, und seine Augen verdrehten sich, so daß Artie nur noch das Weiße sehen konnte. Er bemühte sich noch eine Weile um ihn, versuchte ihn aufzustellen oder irgendwie zum Antworten zu bringen, und nach einer Weile bekam er Angst, und er ging hinunter und rief Edna und merkte im Vorbeigehen, daß die Kollegen sicher deprimiert worden waren, als sie Winston schreien hörten und das alles, und daß nun alle gegangen waren.
„Ich glaube, ich habe ihn verletzt“, sagte er zu Edna, als sie an ihm vorbeirannte.
„Du hast ihn kaputtgemacht, du hast ihn kaputtgemacht.“ Edna heulte über Winstons zusammengekrümmtem Körper. „Fünftausend Dollar im Eimer“, sagte Artie.
Winston begann zu stöhnen, so daß sie den Arzt der Gesellschaft anriefen, was schließlich garantiert war. Es stellte sich heraus, daß Winston in einem Koma oder, so etwas Ähnlichem lag und hohes Fieber hatte, und dann saßen sie mehrere Tage lang an seinem Bett, mit Kompressen und Arzneien, und als Winston wieder zu sich kam, kam er ihnen so seltsam vor, daß sie sofort wieder den Arzt anriefen. Nachdem er einige Minuten bei Winston drinnen war, kam er heraus, und Edna faßte ihn am Ärmel und sagte: „In Ordnung? Wird er wieder gesund werden?“
Der Arzt sah äußerst müde aus: „Mit sehr viel Pflege wird er wieder gesund werden.“
Argwöhnisch folgte ihm Artie: „Einssechzig und alles?“
„Er wird gesund, aber denken wird er nicht mehr können.“
„Dann bekommen wir unser Geld zurück.“
„Lesen Sie Ihren Vertrag“, sagte der Doktor, als wenn er das alles schon erlebt hätte. „Sie werden finden, daß es bei Baby-Intellektuellen nur Garantie bei Versagen gibt.“
„Versagen, ich erzähle Ihnen was, Versagen …“
Aber der Doktor ging schon in Richtung Tür: „Nicht bei Personenschaden oder bei höherer Gewalt.“
Artie hatte den Doktor jetzt an der Schulter, und sie waren an der Eingangstür und kämpften, aber Edna beachtete sie nicht; statt dessen nahm sie eine Tasse mit Hühnerbrühe und ging nach oben zu Winstons Zimmer.
Blaß und abgemagert lag er da unter seinen Decken und sah aber mehr oder weniger gut aus. Er merkte, als sie hereinkam, und begann zu stöhnen.
Sie strich ihm über die Stirn. „Schon gut, Baby, wird schon gut werden.“
„Krank“, schluchzte Winston. „Krank.“
„Mami wird dich gesund machen.“ Als er nicht aufhörte zu weinen, überlegte sie schnell. „Schnulli? Möchte Winston sein Schnulli?“
„Schnulli“, sagte Winston, und als sie es vorholte, nahm er es an seine Brust mit freudig erregtem Blick.
„Das ist ein Junge.“
Winston hörte auf, sein Schnulli zu streicheln und schaute sich im Zimmer um, und seine Augen blieben auf dem Globus haften. Er versuchte aufzusitzen. „Bah?“
„Ball, Winston, Ball.“
„Bah.“
„Das ist mein Baby. Ball. Mein Baby, Baby, kleiner Junge.“
„Bah? Bah?“
„Bist ein süßer Junge.“ Und als er so lächelte, sah er genau wie Margie oder Klein-Art aus. Sie nahm ihn an ihren Busen. „Jetzt ist er mein kleiner Junge. Mein Baby.“
„Baby?“
Sie buk ihm einen Apfelkuchen; ganz für ihn allein. „Baby, armes Baby.“ Sie streichelte ihm die Haare aus der Stirn. „All dat Denken wah nich tuut für ihn.“