Das absolut vollkommene Juwel
 
(R. A. Lafferty)

 

 

Uns befällt ein etwas ungutes Gefühl, wenn wir Vollkommenheit erreicht haben. Wir meinen, von unserer Höhe herabschauen zu müssen. Wir haben den uns zustehenden Platz erobert und nichts liegt unter uns; doch in der Vorstellung schweben wir über Tiefen und Tieren. Hinabzublicken, läßt Kulte aufkommen.

Es gibt Kulte in anderen Ländern und bei anderen Völkern. Die Iren und Amerikaner und Afrikaner sind respektable Partner auf philosophischem und industriellem Gebiet, aber die Kulte sind etwas anderes. Jede Hinzufügung würde die so perfekte Welt beeinträchtigen, die dem vollkommenen Gedanken des Schöpfers entspricht. Gäbe es tatsächlich ein Afrika, ein Irland, ein Amerika, ein Atlantis oder Indien, dann wären wir nicht die gleichen, die wir sind. Die dreigeteilte Einheit der Ökumene wäre zunichte gemacht; die bewohnbare Welt-Insel, das einzige Auge in der Stirn des Weltglobus, hätte ihre Gültigkeit verloren.

Diejenigen, die finden, daß unsere rationelle und vollkommene Welt sich in die weiten unbewußten Gebiete des Unter-Geistes begeben sollte, in die andere Fauna und die unfaßlichen Kontinente verfälschter Vorstellungen und schwarzer Magie, spiegeln uns vor, daß wir damit Gedankentiefe erreichen könnten.

Wir wollen diese Tiefe nicht. Wir wollen Höhe. Laßt uns also diese Unterwelt-Schemen aus unseren Gedanken verbannen und uns selbst erheben. Und unsere innere Unruhe wird sich legen.

AUDIFAX O’HANLON,
Exaltations-Philosophie

 

Die Yacht Der Wahre Gläubige segelte auf Ostkurs vor der Küste in fünfzehn Grad nördlicher Breite und vierundzwanzig Grad östlicher Länge. Im Norden des parallel zum Land fahrenden Schiffs lag die herrliche Zimtküste Lybiens mit ihren wunderbaren Stränden und großartigen Hotels in diesiger Ferne. Nach Osten und Westen und Süden erblickte das Auge nur die weißgekrönten Wellen des Ozeans bis zum Horizont. Die Wahre Gläubige schipperte an der südlichsten Grenze der Ökumene entlang, der bewohnbaren und bewohnten Welt.

August Shackleton schlürfte eine Bombe Romana aus einer dickbäuchigen Flasche und kläffte fröhlich vor sich hin, während er die Wahre Gläubige durch die Fluten steuerte.

„Es ist ein Kinderspiel“, frohlockte er, „aber günstigere Wogen als hier habe ich noch nie erlebt. Wir versuchen, die äußeren Geister anzurufen. Wir versuchen, die inneren Geister und Länder anzurufen. Es ist eine Kinderposse. Warum tun wir es eigentlich, Boyle, wenn nicht zum Spaß?“

„Reicht das nicht als Grund, Shackleton? Es gibt noch einen, aber wir verfolgen ihn unbeholfen und ohne zu wissen, was wir tun. Das Problem mit den Menschen (was anscheinend niemand bemerkt) ist, daß wir eine Gattung sind, die niemals eine Erwachsenen-Kultur hatte. Wir empfinden diesen Mangel zusehends mehr, während wir auf anderen Gebieten reifer werden. Es wird lästig, die Kindheit ewig auszudehnen. Die spielerischen Vergnügungen, die leicht faßbare Rationalität, die leichten Regierungen und Wissenschaften sind wirklich kindisch. Wir lernen sie, so lange wir noch Kinder sind, und wir suchen etwas Darüberhinausgehendes. Es gibt nichts jenseits der Kindlichkeit, Shackleton. Wir müssen irgendwie eine tiefere Einsicht finden. Nach diesem Tieferliegenden halten wir hier Ausschau.“

„Was? Dadurch, daß wir eine Spritztour unternehmen, die selbst für Kinder kindisch ist, Boyle? Ich habe mich vor meinen Söhnen geschämt, als ich ihnen gestand, welchen Zeitvertreib ich mir ausgedacht hatte. Zuerst veranstalteten wir diese Seancen zur Zerstreuung. Falls wir Geister herbeiriefen, waren es zweifellos kindische. Und jetzt diese Fahrt mit der Wahren Gläubigen. Wir suchen die geographische Heimstätte gewisser kollektiver unbewußter Vorstellungen! Warum sollten unsere Kinder uns deswegen nicht auslachen! Na schön, sparen wir uns die Scham. Wir haben dabei anregenden und farbenprächtigen Spaß, aber erwachsen benehmen wir uns nicht.“

Die anderen vier Mitglieder der Reisegesellschaft, Sebastian Linter und die drei Ehefrauen Justina Shackleton, Luna Boyle und Mintgreen Linter schwammen im blauen Meer. Die Wahre Gläubige segelte mit geringer Fahrt dahin, und die vier Schwimmer waren an Außenbord-Schleppleinen angehakt.

„Irgend etwas stimmt mit dem Wasser nicht!“ rief Justina Shackleton plötzlich ihrem Mann zu. „Hier schwimmen Algen herum, die nicht da sein dürften. Schlick und Sumpfgräser sind da, Morast und grüner Schlamm!“

„Du hast eine Meise in deinem hübschen Köpfchen“, rief Shackleton zurück. „Das Wasser ist klar und blau vor einer sandigen Küste. Ich kann in zwanzig Meter Tiefe Fische erkennen. Es ist sauber.“

„Ich sage dir doch, es ist ein grüner Schlamm!“ widersprach Justina. „Er ist wie Treibsand und so schwer, daß er mich fast von der Schleppleine wegzerrt. Und die Insekten sind so bösartig, daß ich alles bis auf den Kopf untergetaucht lassen muß.“

Aber sie befanden sich vor der Zimtküste Lybiens. Die Düfte des warmen Sandes und der bewässerten, blühenden Gärten wehten zu ihnen herüber. Es gab weder Schlamm noch Schlick, und vor der Zimtküste hatte es noch nie Insekten gegeben. Alles war so klar und hell wie lebendiges kinetisches Glas.

Sebastian Linter war an der dem offenen Meer zugelegenen Seite der Yacht geschwommen. Nun kletterte er die Strickleiter zum Sonnendeck herauf, und er blutete.

„Es ist zäh, Shackleton“, keuchte er. „Überall sind Ranken, und es ist gefährlich. Und dieses Schwein mit den Hauern hätte mich fast umgebracht. Sorgen Sie dafür, daß die anderen aus dem Wasser kommen!“

„Linter, Sie können doch mit eigenen Augen sehen, wie klar es ist. Klar, tief genug und völlig ruhig.“

„Klar, das sehe ich auch, Shackleton. Aber es stimmt nicht. Das, wonach wir suchen, hat bereits eingesetzt. Die Illusion hat alle unsere Sinne ergriffen, nur das Sehen noch nicht. Schluß der Debatte, Shackleton. Holen Sie sie aus dem Wasser! Die Schlangen oder die Krokodile werden sie erwischen; die anderen Bestien, die im Schlamm herumschießen, werden sie schnappen; und wenn sie zum Ufer schwimmen und an Land wollen, dann zerreißen sie die Viecher dort in Stücke.“

„Linter, wir sind zweitausend Meter vor der Küste, und alles ist klar. Aber Sie sind beunruhigt, und ich auch. Das Schiff ist soeben auf Grund gelaufen, und dabei ist die See hier fünfzig Meter tief. Also gut, hört her! Ich befehle, daß alle außer meiner Frau aus dem Wasser kommen! Ich bitte sie, das gleiche zu tun, denn Anordnungen läßt sie sich nicht erteilen!“

Die beiden anderen Frauen, Luna Boyle und Mintgreen unter, kamen aus dem Wasser, aber Justina Shackleton dachte nicht daran.

„Noch einen Moment, August, ich komme gleich“, rief sie zu ihrem Mann hin. „Ich bin hier auf etwas Rätselhaftes gestoßen, und damit will ich mich noch gründlicher befassen. August, kann eine Halluzination einen in Stücke beißen? Jedenfalls probiert sie oder er es.“

„Ich habe keine Ahnung, Liebes“, brüllte Shackleton nachdenklich zurück.

Luna Boyle und Mintgreen Linter waren an Bord geklettert. Luna war mit grünem Schlick bedeckt und blutete an verschiedenen Stellen. Mintgreen war mit Algen und Schlamm bedeckt, und ihre Hände und Füße wiesen Wunden auf. Sie humpelte vor Schmerzen.

„Hast du den Fuß gebrochen, Liebling?“ erkundigte sich Sebastian Linter mit einem Anflug von Sorge. „Aber das kann doch nur eine Illusion sein.“

„Ich habe die Illusion, daß mein Fuß gebrochen ist“, antwortete Mintgreen schluchzend, „und ich bilde mir ein, wahnsinnige Schmerzen zu haben. Verdammter Blubberfisch, mir wäre lieber, es wäre die Wirklichkeit! Mehr weh tun könnte die auch nicht.“

„Ach, Elefantenknast!“ wütete Boyle. „Diese Illusionen sind Unsinn. So eine gespenstische Umgebung kann nicht um uns sein. Wir bilden es uns ein, und erleben es gar nicht wirklich.“

„Ja, das stimmt, Boyle“, erwiderte Shackleton nervös. „Aber Ihr Ausdruck ist im Augenblick schon recht merkwürdig. Denn der Elefant war im bestehenden Indien historisch, war im fantastischen Indien fantastisch und ist noch unglaublicher auf dem afrikanischen Kontinent. In einem Moment gaukeln wir uns einen afrikanischen Elefanten vor, der zweimal die Größe des historischen indischen Elefanten hat. Das Schiff legt sich bedrohlich zur Seite und könnte zerschellen, aber dem Lot nach sitzen wir nicht auf Grund. Na gut, dann wollen wir fünf an Deck einmal die Köpfe zusammenstecken. Du könntest auch mithelfen, Justina!“

„Nimm meinen Kopf, von mir aus. Der Rachen des Schnappers holt sich sowieso gleich meinen Körper. August, dieses Zeug ist echt! Rede mir nicht ein, daß ich mir den Gestank nur einbilde.“

„Wir werden uns alle den Gestank vorstellen, und andere Dinge“, konstatierte August Shackleton, während er eine weitere Flasche Bombe Romana entkorkte. In der sichtbaren Welt gab es noch immer die Zimtküste von Lybien, und den sich bis an den Horizont erstreckenden blauen Ozean. Doch in der anderen sichtbaren Welt, die zur ersten keine Beziehung hatte und einen anderen Raum einnahm (wobei beide den gesamten Raum besetzten), waren die grünen Sümpfe Afrikas, die schilfigen Ufer, die manchmal in Regenwälder übergingen, manchmal auch in Savannen; dahinter erhoben sich die Mondberge, manchmal von dichten Nebelschleiern verhangen und dann wieder klar und lichtüberflutet, die fünfzig Schichten von Lärm, die hundert Schichten von Farben.

„Die Umgebung formt sich hübsch, sogar noch ehe wir anfangen“, schnurrte Shackleton. Einige von ihnen tranken Bombe Romana, die anderen Grünen Kanarien, und so bereiteten sie sich innerlich auf das psychische Abenteuer vor.

„Wir beginnen mit Mutmaßungen“, sagte Shackleton, „und die formulieren wir in Worten. Unsere kleine Gruppe hat schon verschiedene Arten von Untersuchungen hinter sich, närrische vielleicht, um festzustellen (oder, was noch wichtiger ist, das Nichtvorhandensein zu beweisen), ob es jenseits der geschlossenen Ökumene noch Verkörperungen von Gebieten und Geschöpfen gibt. Wir haben es mit Wünschelruten und Seancen versucht. Besonders die Seancen waren grotesk, und uns ist bei dem Gedanken nicht wohl, wir schämen uns noch. Unser Glauben verbietet uns, Geister anzurufen. Aber wo verbietet er uns, geographische Gegebenheiten heraufzubeschwören?“

„Laß das Heraufbeschwören ein bißchen ruhen“, kreischte Justina zu ihnen hinauf. „Der Schnapper hat gerade meinen linken Knöchel abgebissen. Ich bete, daß er ihm nicht schmeckt.“

„Es war seit Jahrhunderten ein Geheimnis“, fuhr August fort, den der ordinäre Aufschrei seiner Frau etwas störte, „daß aus dem unterschwelligen Volksbewußtsein die Vorstellungen von Kontinenten, die es auf der Welt nicht gibt, Kontinenten mit einer höchst farbenprächtigen Flora und Fauna und mit fantasievollen Menschen, aufsteigen. Noch geheimnisvoller ist es, daß diese irrealen Kontinente und Inseln lokalisiert und angeblich von völlig vernünftigen Leuten besucht worden sind. Das tiefste Geheimnis ist Afrika. Afrika war in römischer Zeit ein Teil Mauretaniens, das wiederum ein Unterbezirk von Lybien, einem der drei Teile der Welt. Und doch ist die gesamte lybische Küste seit dreitausend Jahren korrekt kartographiert worden, und jenseits davon gibt es kein Afrika, weder als Anhang noch separat. Wir beweisen den Unsinn dieser Theorie dadurch, daß wir in blauen Fluten quer durch diesen angeblichen Kontinent segeln.“

„Wir beweisen den Unsinn außerdem dadurch, daß wir mit unserem Schiff im Schlamm inmitten dieses angeblichen Kontinents steckenbleiben und zusehen, wie sich der Kontinent um uns herum bildet“, sagte Boyle. Und sein Grüner Kanarie schmeckte plötzlich fad. In der Luft lag ein penetranter Gestank, und sein Drink hatte ein haarsträubend merkwürdigen Geschmack.

„Das alles kommt einem vor wie aus Carlo Fortes Büchern“, sagte Linter mit einem verlegenen Lachen.

„Der Kontinent nimmt um uns herum Formen an“, fuhr Shackleton fort. „Nun wollen wir die Lebewesen heraufbeschwören. Stellen wir uns also große Tiere vor wie Elefanten und Rhinozerosse und Löwen und Leoparden, die alle auch in Asien vorkommen; aber die afrikanischen Tiere müssen eineinhalbmal oder doppelt so groß werden und unvergleichlich wilder.“

„Wir beschwören sie, wir beschwören sie“, intonierten alle, und die gedachten Kreaturen erschienen nebelhaft.

„Wir beschwören ein Nilpferd, den Wasserkoloß mit seinem riesigen, unförmigen Leib, der Schnauze wie eine Baggerschaufel und wie Bällen hervorquellenden Augen …“

„Hör auf, August“, schrie Justina von der Wasserfläche herauf. „Ich weiß nicht, ob das Nilpferd nur spielen will, jedenfalls erdrückt es mich in der nächsten Minute.“

„Komm aus dem Wasser!“ befahl August gestreng.

„Nein, das tue ich nicht. Es ist kein Schiff mehr da, auf das ich steigen könnte. Ihr hockt alle auf einem schlüpfrigen Baumstumpf über dem Wasser, und die Schnapper und Riesenschlangen haben fast eure Beine und Nacken erreicht.“

„Ja, wahrscheinlich kann man es auch so betrachten“, meinte August. „So, und jetzt beschwört jeder Tiere, die einer komischen Laune der Natur entspringen, die Giraffe mit einem längeren Hals als ein Pferd, und ein Zebra, das eigentlich ein in einem Clownskostüm steckendes Pferd ist.“

„Wir beschwören sie, wir beschwören sie“, intonierten alle. „Das Zebra ist nicht so lustig, wie ich dachte“, beschwerte sich Boyle, „Nichts ist so lustig, wie ich dachte.“

„Beschwört eine Riesenschlange, die tausendmal schwerer ist als andere Schlangen, und die einen Wildesel verschlingen könnte“, schlug Shackleton vor.

„Wir beschwören sie, wir beschwören sie“, intonierten alle. „August, sie krümmt sich über deinem Kopf, sie hängt von dem Mammut-Mimosenbaum herab“, warnte ihn Justina mit einem Aufschrei aus dem Sumpf. „Sie baumelt fast zehn Meter herab und schnappt nach dir.“

„Beschwört ein Krokodil“, summte Shackleton. „Nicht die kleinen Krokodile aus dem ägyptischen Fluß, sondern ein Riesenkrokodil aus Innerafrika, das eine Kuh mit einem Satz hinunterschlucken kann.“

„Wir beschwören es, wir stellen es uns vor, wir rufen es zum Leben, und die Sümpfe und die Wasserläufe, in denen es hausen wird“, intonierten alle.

„Nicht so hastig“, brüllte Justina. „Es frißt mich stückweise auf. Und die Stücke werden immer größer.“

„Beschwört einen Strauß“, fuhr Shackleton fort, „den Vogel, der tausendmal größer ist als andere Vögel, der einen Menschen einen Meter überragt, der einen Maulesel mit einem Hieb der Klauen töten kann, der zu schwer zum Fliegen ist. Ich frage mich, welche Fieberträume solche Ausgeburten von Tieren für Afrika geschaffen haben konnten!“

„Wir beschwören ihn, wir beschwören ihn“, intonierten alle. „Stellt euch einen Menschenaffen vor, der aufrecht geht und dreimal schwerer als ein Mensch ist“, sang Shackleton. „Und dann noch einen etwas kleineren, dreiviertel so groß wie ein Mensch, der grinst und schnattert und die menschliche Sprache versteht, und der sie sprechen könnte, wenn er wollte.“

„Wir beschwören sie, wir beschwören sie.“

„Beschwört einen kleineren Affen mit einer Hundeschnauze und einem feuerroten Hinterteil.“

„Wir beschwören ihn, wir beschwören ihn, aber er gehört eigentlich in einen Comic Strip.“

„Beschwört das sanftmütige Monstrum von Okapi, das aus Teilen der Antilope und des Kamels und der Giraffe zusammengesetzt ist und ebenfalls ein Clownskostüm trägt.“

„Wir beschwören es, wir beschwören es.“

„Stellt euch die verschiedenen Antilopen, normale und quergestreifte vor, die Hirschziegenantilope, die Gazelle und den Springbock, die so gar nicht in ein tropisches Land passen, diese komischen Abkömmlinge der Gemsen.“

„Wir beschwören sie, wir beschwören sie.“

„Beschwört den Büffel, der gewaltiger ist als alle anderen Büffel oder Rinder, der ein Gehörn trägt so breit wie ein Schild. Beschwört ein Quagga, ich habe das Aussehen vergessen, aber gewöhnlich ist es sicher nicht, es ist eine Zebraart.“

„Wir beschwören es, wir beschwören es.“

„Und jetzt kommen wir zur Krone der Schöpfung! Beschwört die möglichst anthropomorphste Gruppe unseres gesamten Bewußtseins: Menschen, die so schwarz sind wie die Nacht in einem Haselnußhain, die lange Beine haben und verlängerte mittlere Fußwurzeln, damit sie schnell rennen und weit hüpfen können; Haare wie Putzwolle müssen sie haben und wulstige Gesichtszüge. Und dann beschwört eine andere Art, die einen gedrungenen Körperbau und ausladende Hüften hat.“

„Wir beschwören sie, wir beschwören sie“, intonierten alle. „Sie sind die Geschöpfe vom Anfang der Welt.“

„Aber können alle diese Tiere zur gleichen Zeit auftreten?“ protestierte Boyle. „Selbst auf einem Eventualkontinent, aus dem Volksbewußtsein geboren, muß es unterschiedliche Klimate und Landformen geben. Alle könnten nicht zusammen existieren.“

„Dies ist eine Rhapsodie, ein Panorama, dies ist Afrika“, erklärte Luna Boyle.

Und sie waren alle gänzlich inmitten Afrikas, auf einem schlüpfrigen, abgebrochenen Stück eines Baumstammes, der über einem grünen Sumpf schaukelte. Und um sie herum standen die Tiere in Regenwäldern und Savannen, an der Küste und im grünen Schlick. Und ein Mann, so schwarz wie die Nacht, stand da, und auf seinem Gesicht, spiegelten sich widerstreitende Empfindungen.

Justina Shackleton schrie entsetzt auf, als das Krokodil sie in zwei Teile zerbiß. Der Schrei hallte selbst im Gedärm der schmatzenden Bestie wieder, wie er sich unter Wasser ausbreitet.

 

Die Ökumene, die Weltinsel, hat die Form eines Eis, 110° von Ost nach West und 45° von Nord nach Süd. Sie ist in drei Gebiete eingeteilt, Europa, Asien und Lybien. Einschnitte bildet das feindliche Meer und trennt Europa von Asien durch den Pontus und die Hykranischen Seen, Asien von Lybien durch das Persische Meer, und Lybien von Europa durch die Tyrrhenische und die Ionische See, der Mittelmeerkomplex. Der westlichste Ort ist La Coruna auf der Iberischen Halbinsel oder Spanien, der nördlichste Charkow in Skythien oder Rußland, der östlichste Sining in Han oder China, und der südlichste die Zimtküste Lybiens.

So stellte sie auch die erste Weltkarte, die von Eratosthenes, dar, und sie war vollkommen. Ob er sie aus primitiver Inspiration oder durch frühzeitige Erforschungen schuf, sie war bis auf eine kleine Einzelheit korrekt. Obgleich Britannien anscheinend als Insel statt als Halbinsel eingezeichnet ist, mag das der Fehler eines frühen Kopisten sein. Ein nicht mit dem Festland verbundenes Britannien würde schrumpfen und verwelken, wie ein vom Stamm abgeschlagener Zweig. Es gibt keine lebensfähigen Inseln.

Alle Inseln verblassen und driften und verschwinden. Manchmal tauchen sie kurz wieder auf, aber es steckt kein Leben in ihnen. Die Lebenssäfte fließen nur in den Kontinenten. Es ist EIN LAND, DAS LEBEN-DIGE UND HEILIGE LAND, DAS GANZE UND VOLLKOMMENE JUWEL.

So kann man manchmal Irland erblicken, oder Hy-Brasilien, oder die Amerikanischen Felsenländer; sie tauchen aber nicht immer an denselben Orten auf, und sie haben auch nicht immer die gleichen Formationen. Sie haben weder Leben noch Wirklichkeit.

Die Geheimgeographien und -geschichten der Amerikanischen Gesellschaft und der Atlantis-Gesellschaft und ähnlicher esoterischer logenhafter Formierungen bedeuten nichts weiter als symbolische und verworrene Spielereien für Eingeweihte; sie basieren auf Analogien, aber nicht auf Realitäten.

Die Ökumene muß natürlich wachsen, aber das Wachstum erfolgt innerlich durch Intensität und Inhalt; ihre Form kann sich nicht verändern. Die Umrisse sind von Anfang an vorbestimmt, ebenso wie die Form des Menschen vor der Geburt. Ein Mann wächst nicht, indem ihm weitere Glieder oder Köpfe wachsen. Daß die Ökumene einen Zuwachs durch neue Ländereien erfahren sollte, ist eine so groteske Vorstellung wie die, daß dem Menschen Schwänze wachsen.

DIOGENES PONTIFEX,
Welt als Perfektion

 

August Shackleton brüllte nervös vor Lachen, als seine Frau von dem Krokodil in der Mitte durchgebissen wurde und eine Hälfte im Rachen des Tieres verschwand; die Flasche mit Bombe Romana in seiner Hand zitterte. Tatsächlich hatte die Situation etwas Bestürzendes. Der abgerissene Aufschrei von Justina Shackleton zerrte an den Nerven, schockierend und unangenehm.

Justina hatte einmal während einer Seance einen hysterischen Anfall bekommen, als die Geister und Erscheinungen ziemlich konventionell aufgetreten waren, aber August wußte nie genau, wie ernst zu nehmen diese Anfalle waren. Ein anderes Mal war sie nach einer Seance einige Tage verschwunden, aus einem abgeschlossenen Raum, und mit einer verwegenen Geschichte wiedergekehrt, sie hätte sich im Land der Geister befunden. Sie war eine etwas überspannte Komödiantin mit einer überquellenden Fantasie, und diese Darbietung, von einem Krokodil halb verschlungen zu werden, paßte zu ihren typischen Fantasieprodukten.

Und plötzlich entwickelten alle eine überschäumende Kreativität, und ihre subjektiven Schöpfungen vermischten sich mit denen der anderen und produzierten ein heulendes Chaos. Was einst die Yacht Der Wahre Gläubige gewesen war und sich dann in einen schlüpfrigen, überkragenden Baumstumpf verwandelt hatte, senkte sich jetzt in gefährliche Nähe des Sumpfes. Sie alle wollten die Umgebung genauer sehen.

Es herrschte ein Brüllen und Trompeten in der bunten und quirligen und aufgewühlten Masse. Ein Krokodil brüllte wie ein Bulle, und es klang nicht so, wie Shackleton sich die akustische Äußerung eines Krokodils vorgestellt hatte. Aber jemand aus der Gruppe meinte, ein Krokodil müsse so bellen, und derjenige hatte seine Vorstellung den anderen aufgeprägt. Pferden unähnliche Geschöpfe wieherten, und andere Kreaturen schluchzten und gurgelten.

„Geht wieder fort, geht wieder fort“, blökte der schwarze Mann, „sonst kommt ihr um.“ Sein Gesicht war wie eine schwarze Medizinmannmaske, weil sich jemand der Gruppe vehement diese stereotype Form vorstellte. Was aber gar nicht zum anderen paßte, war, daß der Schwarze sie auf französisch anschnatterte, und zwar in einem Französisch, das wie die erst kürzlich begonnene zweite Fremdsprache klang. Wer von ihnen war so sprachkundig, spontan ein so schwarzes Kauderwelsch zu ersinnen? Wahrscheinlich Luna Boyle, aber warum legte sie einem Schwarzen in Afrika gebrochenes Französisch in den Mund?

„Geh wieder hoch! Geh wieder hoch!“ rief der schwarze Mann. Er hatte ein altes Gewehr aus dem letzten Jahrhundert und erschoß damit das Krokodil.

„Holla, er erschießt auch Justina“, kicherte Mintgreen übertrieben fröhlich. „Eine Hälfte von ihr steckt schon in diesem Drachenvieh. Oh, sie wird einiges zu erzählen haben! Sie ist von uns allen am fantasiebegabtesten!“

„Ziehen wir sie heraus und setzen wir sie wieder zusammen“, schlug Linter vor. Sie redeten alle durcheinander und zu laut und zu nervös. „Ihr entgeht sonst der beste Teil.“

„Hier, hör mal, schwarzer Mann“, rief Shackleton. „Kannst du dem Biest da die Hälfte meiner Frau entreißen und sie wieder zusammenbekommen?“

„Oh, ihr weißen Leute, dies ist wirklich, und es bedeutet Tod“, stöhnte der Schwarze voller Angst. „Hier ist ein abgeschlossenes, wildes Gebiet. Ihr hättet nicht herkommen sollen. Aber ihr seid hergekommen, auf diesem Stamm oder Stumpf, auf dem ihr so gefährlich herumhopst, oder was es sonst für eine wahre Form hat, und nun macht euch wieder hinfort, wenn ihr es schafft. Ihr habt keine Ahnung, wie das Leben hier ist. Weiße Leute, geht fort! Es kostet sonst euer Leben.“

„Man kann einer Fantasiegestalt befehlen“, sagte August Shackleton. „Fantasiegestalt eines schwarzen Mannes, ich befehle, daß du die Hälfte meiner Frau aus der sterbenden Bestie befreist und sie wieder zusammensetzt.“

„Oh, weiße Leute im Rausch, das kann ich nicht“, seufzte der schwarze Mann. „Sie ist tot, und ihr macht Witze und trinkt grüne Drinks und Bombe Romana und kreischt wie verrückte Kinder in einem Alptraum.“

„Wir träumen, und du bist Teil dieses Traums“, erklärte Shackleton obenhin. „Und wir dürfen mit unseren Traumgebilden experimentieren. Das ist der Zweck unserer Reise. Hier, fang die Flasche mit Bombe Romana auf!“ Er warf sie dem Schwarzen zu, der sie auch erwischte. „Trink etwas. Ich möchte sehen, ob eine Fantasiegestalt den Pegel einer körperlichen Substanz senken kann.“

„Oh, weiße Leute im Rausch“, ächzte der schwarze Mann. „Die Wasserstelle ist für euch kein geeigneter Ort. Ihr stört und reizt die Tiere, und dann töten sie. Wenn sie so gereizt sind, bilden sie auch für mich eine Gefahr, obgleich ich sonst in Frieden unter ihnen wandle. Ich mußte das Krokodil erschießen, das mein Freund war. Ich will die anderen nicht umbringen. Ich will nicht, daß noch mehr von euch umkommen.“

Der schwarze Mann trug Stiefel und Jacke, wie sie in Geschäften für Jagdzubehör verkauft werden, wahrscheinlich durch die liebevollen Vorstellungen von Boyle, der als Hobby jagte. Die schwarze Fratze war vor Angst und bösen Vorahnungen verzerrt, aber der Mann trank nervös von der Bombe Romana, während er sie wiederholt zum Gehen aufforderte.

„Ihr könnt feststellen, daß die Schädelform ganz menschlich ist und daß er absolut aufrecht geht“, sagte Linter. „Und ihr könnt feststellen, daß er weniger behaart ist als wir und wulstigere Lippen hat, während die Menschenaffen behaarter sind und dünnere Mäuler haben. Ich hatte mir vorgestellt, daß es sich bei beiden um die gleiche Kreatur, aber von verschiedener Ausprägung handelte.“

„Nein, du stellst sie dir so vor, wie sie uns erscheinen“, widersprach Shackleton. „Genauso, wie du die beiden Geschöpfe beschworen hast, die wir beobachten, so sind sie entstanden.“

„Aber seht doch die Ausprägung der Kinnbacken und der Schläfenpartie“, protestierte Linter. „Das entspringt nicht meiner Fantasie.“

„Du bist in dieser Gruppe der einzige, der eine Ahnung von Schläfen- und Kinnformen hat“, erklärte Shackleton. „Ich sage dir, es ist deine Fantasie. Du hast ihn geformt, und wir alle haben ihm die Medizinmann-Maske aufgesetzt; die Kleidung verdankt er Boyle und die Aussprache Luna Boyle. Seine Erschaffung ist das Resultat unserer vereinten Anstrengungen. Aufgepaßt! Es wird gefährlich, fast schon explosiv! Mensch, ich werde langsam so hysterisch wie meine Frau! Der Traum ist so lebhaft, daß er mir unter die Haut geht. Oh, es ist schon eine große experimentelle Erfahrung, aber ich weiß nicht, ob ich mir wünschen soll, sie ein zweites Mal zu machen. Grüne Verdammnis! Es wird wirklich gefährlich. Vorsicht, paßt auf.“

Und es war turbulent geworden: ein brüllendes und tobendes und kreischendes afrikanisches Durcheinander, ein grünes und gelbbraunes Kaleidoskop schnell wechselnder Farben, penetranter Tiergestank und Angst und Mord, der säuerliche Geruch menschlicher Angst.

Ein Löwe suhlte sich in der Wasserstelle, stieß einen Hornbock in dem seichten Schlamm beiseite und badete die Lefzen in dem heißfarbenen Schlick. Ein Flußpferd bäumte sich aus dem Wasser auf, ein Monstrum aus der Tiefe. Giraffen hoben die Köpfe wie fehlkonstruierte Kräne und galoppierten schwerfällig durch das Gestrüpp.

„Es reicht“, rief Mintgreen Linter ängstlich und begann, die Halluzination abzubauen. Sie intonierte: „Der Mittags-Alptraum ist vorüber! Fort mit Krokodil-Drachen und anderen Bestien!“

„Wir schwören ab, wir schwören ab“, sangen sie alle lauthals. „Der schwarze Mann und der schwarze Affe verschwinde, und alle schwarzen Dinge aus dem schwarzgrünen Land.“

„Wir schwören ab, wir schwören ab“, intonierten sie. Aber der schwarze Mann war bereits von den Hufen und Hörnern der Büffelgeschöpfe zertrampelt, während sein letzter Gewehrschuß noch nachhallte; er hatte versucht, den wütenden Büffel von der Attacke auf den schwankenden Baumstamm abzulenken, die alle Menschen in den brodelnden Sumpf gestürzt hätte. Der Menschenaffe hatte sich erschreckt in seine grasbestandene Savanne zurückgeschlichen. Viele der anderen Geschöpfe waren verschwunden oder nebelhaft geworden, und wieder roch es nach Salzwasser und den fernen, sandigen Küsten.

„Der Löwe verschwinde, der am Tage brüllt“, fuhr Luna Boyle mit der Beschwörung fort, „und der Leopard, der ein Panther ist, der alltierische Schrecken der Mythologie. Daß die umschlingenden Schlangen verschwinden und der riesige Strauß und das Pferd im Clownskostüm.“

„Wir schwören ab, wir schwören ab“, sangen alle.

„Und daß die Wahre Gläubige mit ihren Deckplanken wieder unter uns ersteht, so daß wir sie sehen und fassen können“, intonierte August Shackleton.

„Wir beschwören es, wir beschwören es“, sangen sie alle, und die Yacht formte sich an der Schwelle ihrer Sinne.

„Der verbotene Kontinent soll versinken und die bösartigen Inseln unseres verkrampften Unterbewußtseins!“ blubberte Boyle in zitternder Erregung.

„Wir schwören ab, wir schwören ab“, sangen sie alle beschämt. Und das verbotene Afrika löste sich allmählich auf, während die Zimtküste Lybiens wie hinter grünem Glas deutlich zum Vorschein kam.

„Machen wir ein Ende! Es ist nicht gesund für uns“, sprach Shackleton mit Entschiedenheit. „Vergessen wir unsere Vorbehalte! Versprechen wir, uns nicht mehr um diese besondere verbotene Zone zu kümmern! Wir wollen uns nicht mehr nach fremden Geographien gelüsten lassen, die nicht zur richtigen Welt gehören. Wir versiegeln diese unruhestiftenden Wünsche in uns!“

„Wir versiegeln sie, wir versiegeln sie“, intonierten alle.

Und es war vorüber.

Sie befanden sich auf der Wahren Gläubigen und segelten auf Ostkurs vor der Zimtküste Lybiens. Im Norden lag die herrliche Küste mit ihren wunderbaren Stränden und großartigen Hotels; nach Osten und Westen und Süden erblickte das Auge nur die weißgekrönten Wellen des Ozeans bis zum Horizont.

Es war vorüber, aber die Beschwörungen mit ihren hohen Anforderungen an die psychischen Kräfte hatten sie völlig erschöpft.

„Justina ist nicht bei uns“, sagte Luna Boyle nervös. „Sie ist nirgends auf der Yacht. Meint ihr, es könnte ihr etwas passiert sein. Wird sie wiederkommen?“

„Natürlich kommt sie wieder“, schnurrte August Shackleton wie ein Kater. „Sie hat einmal zwei Tage nach einer Seance geschwänzt. Oh, sie wird einiges zu erzählen haben, wenn sie wiederkommt, und ich genieße auch die freien Tage ohne sie. Ich liebe sie, aber ein Mann, der mit einer verdrehten Frau verheiratet ist, braucht ab und zu ein bißchen Ruhe.“

„Aber schaut doch!“ rief Luna Boyle. „Sie ist unmöglich. Sie treibt die Streiche immer zu weit. Das ist einfach geschmacklos.“

Der zerfetzte Unterkörper von Justina Shackleton schwamm im klaren blauen Wasser neben der Yacht. Er war blutverschmiert und gräßlich und von gierigen Fischen umlagert.

„Oh, Justina, hör auf damit“, rief August Shackleton ärgerlich. „Seltsame Frau! Ach, ich sehe es jetzt. Wir drehen auf Land zu.“

Es war die Einfahrtmole zum Yachthafen, die ausgebaggerte Fahrrinne durch die Untiefen in Ufernähe zum Naturhafen dahinter. Sie wendeten und steuerten die Zimtküste Lybiens an.

Die Welt war wieder heil, ein ganzes und perfektes Juwel, das sich im Norden erstreckte. Im Süden gab es nur den großen Ozean und den großen Äquator und die Leeren des Unterbewußtseins. Die Wahre Gläubige legte im Hafen an, als die strahlende Sonne im Zenit stand.