Windsong
 
(Kate Wilhelm)

 

 

Wir sind zu dritt. Wir fahren langsam die Küste entlang, bis Paula sagt: »Dies hier.« Dann steigen wir aus dem Wagen und gehen unbekümmert um das Haus, waten durch die Dünen zum Meer und schwimmen dort allein, fern von den Massen, die die öffentlichen Strände wie schmutziger Schnee verkrusten. Wieso Paula weiß, daß dieses Haus leersteht, und nicht jenes, wissen wir nicht. Sie irrt sich nie. Kaum wahrnehmbare Zeichen, die nur sie bemerkt? Ein Sonnenvorhang, der nicht richtig zugezogen ist, ein Stuhl, der noch draußen steht, obwohl er eigentlich aus der Sonne gehört, ein Wäschestück, längst getrocknet, sonnengebleicht schon, das noch im Wind flattert? Wir wissen es nie, und sie kann es uns nicht sagen.

Paula ist der Windsong, flink, behend, rastlos, langes Haar, meist stumpf vom Salz, zu dünne, spitze Ellenbogen, Knie, Backenknochen, Schlüsselbeine. Kein Makeup, dazu hat sie es zu eilig. Ein Nagel bricht, und sie beißt ihn noch weiter ab. Nie hält sie inne, um etwas zu prüfen, ihr ruheloser Blick schnellt hierhin und dorthin, bemerkt vielleicht etwas, verweilt jedoch nicht dabei, und sie sagt: »Wir müssen zurück. Ein Sturm kommt.« Woher weiß sie?

Gregory sagt, daß sie weit draußen am Horizont den grauen Schimmer auf dem Wasser bemerkt hat. Das und das Wehen des Windes auf ihrer Haut, und die Art, wie die Wolken nun dahinjagten, all dies seien Anzeichen für sie. Aber er kann nicht vorhersagen, wann ein Sturm kommt. Gregory ist ihr Zwillingsbruder. Beide sind fünfzehn in diesem Sommer. Gregory ist der Fels, um den der Wind singt und spielt, von dem aus er sich aufmacht, um seine Nase in dies oder das zu stecken, zu dem er aber immer wieder zurückgewirbelt kommt. Gregory kann die meisten Entscheidungen erklären, aber er kann die Entscheidungen nicht intuitiv treffen, wie sie es kann.

Dan Thornton bewegte sich in seinem Sitz und öffnete langsam die Augen. Da war kein Geräusch, das ihn aufgestört hatte, jedenfalls nichts Außergewöhnliches. Er hörte eine Weile auf das vertraute schwache Summen des Computers zu seiner Rechten, und bevor er den Blick nach rechts wandte, wußte er, daß das kabbelige Spiel der Lämpchen normal sein würde. Auch die Instrumententafel vor ihm zeigte nichts Anormales an, weder blitzendes Bernsteinlicht, noch, was schlimmer gewesen wäre, bedrohliches Pulsieren des roten Lämpchens. Systems okay. Er gähnte und streckte sich. Zeit für die Routinekontrolle. Er prüfte verschiedene Relais, schaltete die Fernsehkamera ein und studierte die Passagiere, die alle in Fächern geschichtet waren wie Tiefkühlkost in einem Supermarktregal; er schaltete die Kamera wieder aus. Ablesen der Instrumente, alles klar. Sorgfältig holte er seine Nährkapseln hervor, legte sie auf einen abgeteilten Teller und schob diesen in die Rückform-Anlage. Er wartete, bis die Lampe aufleuchtete, ließ zwei weitere Minuten verstreichen und zog dann den Teller mit Rühreiern und Schinken, Toast und Honig heraus. Er ließ noch eine Kapsel in eine Tasse fallen und schob sie in die Anlage; dann setzte er sich nieder zum Frühstück. Gleich darauf war der Kaffee fertig, und er rauchte die erste Zigarette. Er überschaute die Buchtitel auf den Spulen. Er ließ die Spule fallen, die er ausgewählt hatte, und ein Stück des Zwirnbands wickelte sich ab, als diese durch die Kabine rollte. Er trat heftig danach und setzte sich unvermittelt nieder. Der Computer rief nach ihm.

 

Der Wecker summte, und Thornton erwachte völlig zerschlagen. Seine unausgeruhten Glieder schmerzten. Er stellte den Wecker ab, bevor dieser seine zweite Signalstufe erreichte, ein ohrenbetäubendes Schnarren, das sich anhörte, als ob fünfzig Männer mit fünfzig Sägen versuchten, einen Weg durch den Wald zu bahnen. Er zog seine Hand vom Wecker zurück und griff nach seinem Notizbuch und schrieb die Einzelheiten des Traums nieder, bevor ihm die Erinnerung daran schwand. Er stockte eine Weile und versuchte sich zu erinnern. Ein Traum im Traum? Er kam zu keinem Ergebnis und er beschrieb die Kabine, die er gesehen hatte und die Bücher, die wie Zwirn aufgespult waren. Die Rückverwandler für das Essen schienen ihm eine besonders gute Idee zu sein, eine, die ihm nie zuvor begegnet war. Er beendete die Aufzeichnung der Traumszenen, und erst dann streckte er sich und fühlte, wie jeder Muskel wieder protestierte.

Barfuß tappte er durch den Raum zum Badezimmer und duschte zehn Minuten lang heiß. Auch der folgende eiskalte Strahl schaffte es nicht, ihn munter zu machen, und er wußte, daß seine Leistungsfähigkeit nur 60 % des Normalen ausmachte, bevor er nicht seine Energiepillen genommen hatte. Er blickte geringschätzig auf das Fläschchen, schluckte aber doch zwei Pillen und sah sich erst dann ins Gesicht.

»Auf diese Art und Weise beginnen wir die meisten unserer Tage, alter Knabe«, sagte er zu dem Gesicht. »Schmerzen, Versuche, einen ins Bewußtsein zurückzubringen, dann die Aufputschpillen und eine Kanne Kaffee. Das tut nicht gut, alter Knabe. Du weißt, das tut nicht gut.«

Der alte Knabe im Spiegel antwortete nicht, und es tat ihm fast leid. An dem Tag, an dem das Spiegelbild antwortete, würde er aufgeben, einfach hinausgehen und nie mehr wiederkommen; und das wäre herrlich. Während er sich rasierte, wiederholte er zu sich selber, dabei jede einzelne Silbe betonend: »Das wäre herrlich!«

Im Büro begegnete er seiner Sekretärin, die ihm einen Notizzettel gab. Sitzung pünktlich um 9.00. Der Sekretär würde anwesend sein. Ende. Er zerknüllte das Papier und nickte Jeanne zu. Es war 8.45.

»Kaffee?« fragte er.

Das Mädchen nickte, als er durch die Tür zu seinem Arbeitszimmer ging, eine Zelle, drei auf drei. »Ich habe schon eine Tasse eingeschenkt, und es ist noch etwas in der Kanne«, sagte Jeanne. »Soll ich mit der Post beginnen?«

»Natürlich, Honey! Und, Jeanne, sortieren Sie es vor und legen mir das Wichtigste raus, ja?«

Sie lächelte verständnisvoll, und er machte sich über den Kaffee her. Er versuchte, nicht auf seinen Schreibtisch zu schauen, den Jeanne so weit wie möglich aufgeräumt hatte, der aber trotzdem noch überquoll von Plänen, Notizzetteln, Kritzeleien, Rechenschieber, Tabellen … Der Kaffee war höllisch heiß, stark und schwarz. Allmählich begann der Tag weniger gräßlich auszusehen. Als er zehn Minuten vor Konferenzbeginn das Büro verließ, hatte er sich bereits die dritte Tasse Kaffee einverleibt. Er grinste Jeanne an, sein Schritt war energiegeladen und seine Schultern gestrafft.

 

Fünfzehn Männer nahmen heute morgen an der Konferenz teil, alle sahen sie so mitgenommen aus wie Thornton oder noch schlimmer. Alle hatten einen 12-18-Stunden-Tag hinter sich, und das seit mittlerweile sieben Monaten, und kein Ende war in Sicht. Thornton hätte die gewerkschaftlich geschützten Monteure fast beneidet. Er nickte anderen zu, halblaute Grüße und eilige Gespräche im Telegrammstil, die hier üblich waren, erfüllten den Raum. Eine Bombe genau hier drauf, dachte er, und genau jetzt, puff – hin wäre das ganze Institut für angewandte Forschung.

Er bemerkte, daß der Sekretär bereits im Raum war, er stand, umgeben von mehreren Männern, am Fenster und sprach mit seiner halblauten monotonen Stimme zu Halvern, dem Direktor des Instituts. Die Glocke ertönte sanft, und Halvern ging auf den langen Tisch zu, ihm folgte der Sekretär, der noch immer redete wie ein Priester, der unverständliche Gebete murmelt.

Vorstellungen waren unnötig, da der Sekretär bereits früher dagewesen war. Thornton dachte an seine Bombe und vergrößerte sie ein wenig in Gedanken, noch nicht die Bombe, aber eine Spur größer als jene, die er sich vorher vorgestellt hatte. Wäre der Krieg damit beendet? Er wußte, daß dies nicht der Fall wäre, aber draußen wären einige, die ihn segnen würden. Er mußte bei diesem Gedanken grinsen, und für einen Moment war er besorgt, daß das Grinsen sein Mienenspiel erfaßt hätte. Aber er sah keine schiefen Blicke, er verdrängte bewußt diese Vorstellung und hörte aufmerksam zu, was der Sekretär zu sagen hatte.

»… absolut erforderlich, daß wir dieses letzte Problem lösen, bevor Absprachen getroffen werden. Wenn die Gespräche beginnen, sind wir in unseren Bewegungen auf dem Schlachtfeld eingeschränkt …«

Thornton fügte innerlich hinzu: »… und wir haben den Generalsekretär so lang als möglich hingehalten.«

»Natürlich versuchen wir Friedensgespräche so schnell wie möglich zustande zu bringen, jedenfalls dem Anschein nach, damit wir auf unsere Bemühungen hinweisen können. Aber es ist schwierig, mit einem Gegner zu verhandeln, der dermaßen fremdenfeindlich ist. Wie Sie wissen, haßt er unsere Stärke zu Recht, und er glaubt uns kein einziges Wort. Ich sage es noch einmal, daß der Präsident mich darauf hingewiesen hat, daß es absolut erforderlich ist, daß wir unsere Pläne für die Phalanx fertigstellen und sie unter Gefechtsbedingungen ausprobieren, so daß wir besser in der Lage sind, unser Potential abzuschätzen, falls wir mit einem größeren Landkrieg konfrontiert werden …«

 

Thornton hörte nicht mehr zu, er ließ seinen Blick von dem wie handgearbeiteten, ledernen Gesicht des Sekretärs zum Fenster gleiten, das einen Ausblick auf die Tennesseeberge im Vorfrühlingskleid freigab. Hornsträucher und Judasbaum standen in Blüte, und ein scharfer Wind zauste sie unbarmherzig. Wind zum Drachensteigenlassen. Wind zum Segeln. Segeln … Er lächelte innerlich und wünschte sich, daß er entlang der Küste segeln gehen könnte mit dem seltsamen, flachbordigen Skiff, das Gregory irgendwann in der weit zurückliegenden, fast vergessenen Vergangenheit aufgelesen hatte. Vor fünfundzwanzig Jahren, du lieber Gott. Einen Moment lang rüttelte der Gedanke an seinen Kindheitsgefährten irgend etwas in ihm wach, und seine Hand, die eben noch mit einem Bleistift gespielt hatte, umschloß diesen krampfhaft.

 

Mit einem heftigen Ruck wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Sekretär zu, der inzwischen vom vertrauten Konferenz-Bla-Bla zu etwas Neuem übergegangen war. »Ich setze den ersten Simulationstest für heute in einem Monat an und zwei Monate später den ersten Test unter Gefechtsbedingungen.« Es kam noch mehr dergleichen, aber Thornton sperrte sich, weiter zuzuhören. Sie sollten also statt achtzehn zwanzig Stunden am Tag arbeiten. Er schauderte innerlich zusammen und beschloß, daß er sich nichts daraus mache. Mit Aufputschpillen und Kaffee würden sie sich alle so lange auf den Beinen halten, bis sie zusammenbrächen; und es interessierte niemanden, in welcher Verfassung sie sich nach Ablauf des Jahres befänden. Ein Jahr Institut, ein Jahr Ruhepause, dann zurück zur Universität, um den Anschluß nicht zu verpassen, Vorlesungen über Theorie des fortgeschrittenen Programmierens und sein eigenes, enges, ruhiges Labor. Und zurück zur Familie, natürlich.

 

Thornton kehrte nach der Sitzung in sein Büro zurück und sah sich bedeutungslosen Produkten der anderen Abteilungen gegenüber, die er in ein Programm zu transformieren hatte. Er versuchte vorsätzlich, die meisten Probleme, an denen er arbeitete, nicht zu verstehen. Er wollte nicht wissen, wozu die Phalanx fähig wäre und wozu nicht.

Er teilte seinen Tag in Drittel ein: im ersten Drittel, von 8.45 bis 1.00, beschäftigte er sich mit dem fortgeschrittenen Programmieren, soweit er dafür zuständig war, nach dem Mittagessen, von 1.30 bis 5.30, überprüfte er die von anderen vorbereiteten Arbeiten, manchmal akzeptierte er sie, oft schickte er sie zurück; ab 7.30, bis er vor Erschöpfung erlahmte, arbeitete er mit dem Computer und suchte nach Fehlern. Dann traumerfüllter Schlaf bis 7.30 am nächsten Morgen. An drei Tagen in der Woche verbrachte er von 5.30 an eine halbe Stunde bei seinem Psychotherapeuten, und ihm berichtete er sämtliche interessanten Ideen, die ihm während seiner Tag- oder Nachtträume gekommen waren. Sein Psychotherapeut, Dr. Feldman, glaubte uneingeschränkt an die schöpferische Fähigkeit des Unterbewußten, brauchbare Ideen hervorzubringen, die im allgemeinen beiseite geschoben wurden, weil sie zu weit abseits vom Interessengebiet des Interessenten lagen. Jetzt, wo er erkannte, worauf Feldmans Interesse gerichtet war, durchforschte auch Thornton seine Träume und Phantasien nach solchen Ideen und war überrascht festzustellen, wie viele es davon doch gab. Überrascht und erregt. Das war etwas, was er gedachte vom Institut mitzunehmen, wenn er es verließ. Das meiste davon, so hatte er sich geschworen, wollte er für immer hinter sich lassen.

 

Er erzählte Feldman den Traum, ohne seine Aufzeichnungen zu benutzen. »Ich war in der Kabine eines Raumschiffs, das eingefrorene Passagiere zu einem entfernten Sternsystem trug. Ich war für sie verantwortlich. Alles funktionierte reibungslos.« Er erzählte im einzelnen, wie er sein Frühstück zubereitet hatte, und kam dann zu dem Zwischenfall mit dem Buch. »Es war eine Abart des Mikrofilms, ich vermute, etwas vereinfacht. Ich las den Titel, etwa so, wie man das Etikett einer Zwirnrolle lesen würde; sie fühlte sich sogar an wie eine Zwirnrolle und hatte auch deren Aussehen. Ich ließ sie fallen und wachte dann auf. Mein Wecker rasselte los.«

Feldman unterbrach ihn nicht, nickte nur, als Thornton geendet hatte. Als Thornton sein Notizbuch herauszog und in seinen Aufzeichnungen nachlas, stellte er ärgerlich fest, daß er Teile des Traums ausgelassen hatte.

Feldman sagte: »Welcher Art war der Traum, an den Sie sich erinnern?«

»Art? Ach ja, ich verstehe. Ich glaube, er war schwarzweiß. Ich kann mich an keine Farbe erinnern. Ich habe das gar nicht besonders empfunden, glaube ich.«

»Ja, konnten Sie irgendwann einmal herauskommen? Haben Sie gemerkt, daß Sie träumten?«

»Ich glaube nicht. Mir ist das zwar schon vorgekommen und hinterher habe ich es bemerkt, aber diesmal nicht.«

Feldman arbeitete am Traum innerhalb des Traums, aber Thornton konnte sich nicht erinnern, ob es so gewesen war oder nicht. Der Traum war zu kurz, entschied Feldman, das Problem bliebe verdrängt, solange es existierte. Thornton und Feldman hatten früher schon Träume diskutiert, und er wußte, daß es für Feldman drei Haupttypen von Träumen gab: die hypnagogischen Träume, die dem Bewußtsein sowohl beim Einschlafen wie auch beim Aufwachen ein- und ausfließen, von der Art, wie sie sich während eines kurzen Nickerchens ein- und ausblenden, wenn man weiß, daß man träumt, und manchmal sogar noch etwas unternimmt, den Traum zu lenken. Dann gibt es das nächste Stadium, in dem der Träumende keine Kontrolle hat, sondern eigentlich mehr Beobachter denn Teilnehmer ist, obwohl er beides gleichzeitig sein kann, indem er sich selbst aus der Entfernung beobachtet. Die dritte Art war das Stadium, das Thornton selten erreichte, oder wenn er es erreichte, selten erinnerte: der Traum, der eine Realität ist, der eine Herzattacke bewirken kann, wenn er ein Alptraum ist, oder einen Orgasmus, wenn er sexuell ist, der Traum, der existiert, der den Träumenden ändern kann, geradeso wie es eine Lebenserfahrung kann.

Feldman lächelte glücklich, als Thornton ihn am Ende der Befragung anblickte, und Thornton wußte, daß er sich endlich für den Psychiater als interessant erwies. Nach sieben Monaten unerschütterlich normalen Verhaltens hatte er etwas Interessantes getan. Er verspürte einen Stich Angst und wünschte, er hätte den Traum nicht vollständig erzählt, sondern es bei der erinnerten Version belassen, aber schon als er dies dachte, wußte er, daß das unmöglich gewesen wäre. Feldman hätte das erkannt, und Widerstand hätte ihn gar noch mehr erfreut als reine Verdrängung. Einen Augenblick lang haßte er den lächelnden Mann, aber das ging vorüber, und er grinste kurz zurück.

»Glauben Sie, daß ich meinen Unterhalt verdiene nach all dem?« fragte er.

»Wenn nach dieser Zeitspanne Ihnen etwas aufkommt, muß ich annehmen, daß die Möglichkeit besteht, daß es mit der Arbeit hier in Verbindung zu sehen ist, ja. Wir werden sehen. Ich werde Sie morgen eine Stunde lang analysieren, von fünf Uhr an. Paßt Ihnen das?«

Die Frage war rhetorisch.

»Sie sollten an die Zwirnspule denken, die Sie versuchten loszuwerden«, sagte Feldman. »Wenn Sie einschlafen, sagen Sie sich vor, Zwirnspule, Zwirnspule. Wer weiß, vielleicht kommt es Ihnen.« Er hielt die Tür auf und Thornton ging.

 

Thornton wußte, daß Feldman ihn während ihrer früheren Konsultationen in tiefer Hypnose gehabt hatte, daß er wenige Geheimnisse vor dem Mann hatte und daß Feldman ihm wahrscheinlich einige posthypnotische Anweisungen gegeben hatte, und er fragte sich, ob es ein Vorschlag gewesen war oder ein Befehl, daß er an eine Zwirnrolle denken sollte, und noch während er darüber nachdachte, erkannte er, daß ein von Feldman kommender Vorschlag die Kraft eines angesichts des Ziels gegebenen Schießbefehls haben konnte. Sein Lächeln war ohne Heiterkeit, als er sich erinnerte, was Feldman einmal gesagt hatte auf die Frage, warum er nicht einfach alle seine Patienten hypnotisiere und sie so dazu bringe, ihm alle ihre Träume und Ängste zu erzählen.

»Ah, aber die Assoziationen, die Bedeutungen würden dann ja möglicherweise verlorengehen. Warum verdrängen Sie dies und jenes? Das ist doch, was interessant ist, und nicht, was Sie im besonderen verdrängen, obwohl auch das vorkommen kann. Nein, ich kann Sie von Zeit zu Zeit anstoßen, aber ich will, daß Sie das herausbringen mit den echten Assoziationen, den Assoziationen, die nur Sie haben können.«

 

Zwirnspule, Zwirnspule …

Er erinnerte sich, träumte, wie er seinen ersten Zahn verlor, und der Zwirn, den seine Mutter darum gebunden hatte, ihr sanftes Bestehen darauf, daß er ihn selbst herausziehen sollte, und ihr Versprechen, nach einem Blick des Erstaunens und der Belustigung, daß, ja, sie würden ihn seinem Vater schicken. Er glitt aus der Traumphantasie und war hellwach, dachte über seinen Vater nach, der ein guter Mann gewesen war, gütig und weise, ein Oberst in der Armee. Er stieg aus dem Bett und durchmaß sein kleines Zimmer heftig rauchend, aber das Bild von seinem Vater, nackt und geschunden, kahlgeschoren, einen Fuß nachschleifend, während er humpelnd eine Straße hinabgezerrt wurde, in der sich orientalische Gesichter, haßerfüllte Fratzen, drängten, dieses Bild blieb, geradeso wie er es im Fernsehen mitbekommen hatte. Ein guter Mann, wiederholte er nüchtern. Aber er könnte die Dinge getan haben, deren sie ihn anklagten. Er könnte.

Er schluckte eine Tablette und kehrte ins Bett zurück und fand sich selbst wiederholend: Zwirnspule, Zwirnspule. Er wollte wieder aufstehen, aber die Tablette wirkte schnell, und er fühlte, wie ihn Müdigkeit überfiel. Er würde Schmerzen haben am Morgen, er hatte immer Schmerzen, wenn er zu Schlaftabletten griff. Zwirnspule …

Er träumte widersprüchliche, bedeutungslose Träume, Phantasien ohne Bezug zur Wirklichkeit. Und schlief tiefer und war weniger ruhelos in seinem einsamen Bett.

 

Wir gehen durch das Museum, Arm in Arm, und Paula führt uns, obwohl sie in der Mitte geht. Ihre Schritte sind leicht und schnell, und sie redet unaufhörlich. Sie unterbricht vor den Gemälden des neuen Künstlers, Stern, und sie blinzelt und wiegt ihren Kopf hin und her, dann zieht sie uns weiter zum nächsten. Sie ist jetzt verändert, ihr Haar noch lang und glatt, aber hell glänzend, und sie hat irgend etwas an ihrem Gesicht gemacht, aber so unmerklich, daß ich nicht entscheiden kann, was. Ich überrasche mich, wie ich sie wieder und wieder anstarre, und sie lächelt mir zu, und für einen Moment erkenne ich das wilde Mädchen, das vor fünf Jahren nur für den Ozean lebte. Dann ist es vorbei und sie sagt: »Es ist so witzig. Es ist wunderbar. Seht ihr nicht?« Es sind fünfzig Gemälde, zusammengefügt zu Gruppierungen, die sich berühren und miteinander verbunden sind, so daß es schwierig ist, keine Gruppe zu wiederholen. Kein Pfeil weist den Weg, keine Nummern an den Gemälden, aber Paula hat uns hindurchgeführt bis zum Ende, und sie lacht vor Freude. Der Künstler ist da und betrachtet Paula mit tiefem und eindringlichem Interesse. Sie läuft zu ihm und küßt ihn auf seine bärtige Wange und sagt: »Danke schön. Ich werde nichts verraten.« Und sie verrät nichts. Gregory geht an den Anfang zurück und arbeitet sich noch einmal langsam zu uns durch, und als er zurückkommt, teilt sein Auge ihre Fröhlichkeit, aber er will auch nichts verraten. Ich weiß, daß er es erklären kann, obwohl sie es nicht kann, aber er brauchte sie, daß sie ihm sagte, daß da etwas zu erklären war. Ich kehre später zurück und studiere die Bilder längere Zeit allein, und ich weiß nicht, was sie gefunden haben. Ich bin dort verloren. Die Gemälde sind grotesk, scheußlich und bedeutungslos, und das Arrangement zielt eher darauf ab zu verwirren, denn zu erklären.

Paula liebt die Stadt, wie sie einst die Strände liebte. Sie läuft und tanzt freudig durch die Straßen, schmeckend, was sonst niemand schmeckt, riechend, was sonst niemand anders riecht, sehend, was für meine Augen nicht zu sehen ist. Sie singt in der Stadt wie eine frische Brise vom Ozean.

Paula plant, die Schule im Frühjahr zu verlassen. Sie will … Sie weiß nicht, was sie will, aber es ist jedenfalls nicht in der Schule. Sie will reisen, vielleicht heiraten. Ich fühle einen Kloß in der Kehle, und ich frage, ob sie mich heiraten will, und sie hält an, eisig erstarrt, und sagt schließlich nach einer ganzen Weile nein. Ich bin ärgerlich über sie und stapfe weg. Gregory sagt, daß sie wie ein Vogel ist, und daß sie hierhin und dorthin fliegen muß, bevor sie anhält und Liebe sie anhielte. Ich hasse beide, ihre Nähe, ihre beidseitige Gegenwärtigkeit beieinander. Ich möchte sie beide umbringen. Besonders Paula. Meine Hände sind Fäuste, wenn sie mir nahe kommt, und die erstickenden Wellen der Haßliebe lähmen mich an einer Stelle, wo die Qual unerträglich ist.

Sie weiß. Paula ist dann wie ein Frühlingswind, sanft und schmeichelnd, und ich bin von ihrer Gegenwart erfüllt. Für zwei Wochen sind wir zusammen, und sie ist in jeder Zelle von mir, tief in mir, wo sie nun nicht mehr entkommen kann. Dann ist sie verschwunden. Gregory weiß wohin, glaube ich, aber er sagt es mir nicht. Er müht sich mit seinen Büchern ab und kriegt jede Einzelheit eines jeden Themas piekgenau hin, aber er schafft nichts eigenes, bietet nichts an und ist wie ein Schatten ohne den Wind. Ich weiß, daß sein Verlust größer ist als mein eigener, aber darum kümmere ich mich nicht. Ich kehre nach Kalifornien zurück, wo ich noch zur Schule gehe, und der Jet ist mein Schmerzensschrei, den ich nicht selber ausstoßen kann. Ich will sie aus meinem Leben heraushaben. Ich will sie nie wieder sehen. Ich will sie tot, damit niemand anders sie haben kann.

 

Dan Thornton streifte durch sein riesiges Büro und begann auf dem vier auf acht Fuß großen Ablagetischchen neben seinem Schreibtisch Knöpfe zu schieben. Drei Verbindungstüren von anderen Räumen her flogen auf, und Männer, die schon wacklig auf den Beinen waren, traten ein. Er bot ihnen Stühle an und wartete auf die Sekretärin.

»Ich habe ihre Antwort«, sagte er zu der Sekretärin bei deren Ankunft. »Es ist einfach dies …« Seine Stimme erstarb, seine Kehle schnürte sich zusammen, und es würgte ihn, sein Herz klopfte fester und fester …

Er setzte sich fröstelnd auf. Er langte nach Notizbuch und Lichtschalter, schrieb schnell etwas nieder und legte sich wieder hin. Er stellte fest, daß er fast die ganze Nacht mehr oder weniger ohne Schlaf geblieben war, so auch jetzt, als sich der Himmel erhellte, ein fahles Grau von pfirsichfarbenen Tönen durchsetzt. Er kniff seine Augenlider noch fester zusammen, wünschte verzweifelt, daß der Schlaf doch käme, tiefer ungetrübter Schlaf, und er wußte, daß er nicht kommen würde.

 

Feldman sagte langsam: »Sie wissen, was die Phalanx ist, dennoch verleugnen Sie sich selbst gegenüber jede wirkliche Kenntnis davon. Wie kommt das?«

Thornton zuckte die Schultern. Er dachte an seine Frau und seine drei Kinder und sprach von ihnen ein paar Minuten lang, bis Feldman ihn unterbrach.

»Über Ihre Familie weiß ich ja Bescheid. Sie haben mir früher davon erzählt, und das steht alles in Ihrer Personalakte. Erzählen Sie mir von der Zwirnspule.«

Er assoziierte eine Zeitlang frei; er hatte das recht gut gelernt, aber insgeheim hielt er es für Unsinn. Er achtete kaum auf seine eigene Stimme, wenn er frei assoziierte. Es war ja nicht so, daß er aus medizinischen Gründen analysiert werde, hatte er sich zu Beginn der Untersuchungen gesagt. Feldman wurde bezahlt, Kontrollen durchzuführen, das war alles. Er hatte nichts zu verbergen, nichts von Interesse, um über ihn selbst Erkenntnisse zu gewinnen. So fügte er sich, aber er war nicht sonderlich bei der Sache.

Feldman sagte »Irrgarten«, und er antwortete »Kunstgalerie«. Er saß ganz aufrecht auf der Couch. Er schauerte. Feldman nickte ihm zu, als er sich herumdrehte, um nach ihm zu sehen. »So ist das«, sagte Feldman. »Was das speziell heißen soll, weiß ich nicht, aber Sie wissen es, nicht wahr?«

Thornton schüttelte heftig seinen Kopf und zitterte noch mehr. Er erinnerte sich des Gefühls des Verlorenseins vor Jahren auf einer Gemäldeausstellung. »Es war so bedeutungslos«, sagte er. »Diese Ausstellung war arrangiert wie ein Irrgarten, und der Künstler kam zu mir herüber, während ich da stand und mir veralbert vorkam. Und er sagte mir, daß das alles nichts bedeute. Ich hatte mich sehr bemüht, es zu enträtseln, und er sagte, daß es nichts bedeute. Sie war arrangiert wie ein Irrgarten.«

Feldman sah enttäuscht aus. Sein Schweigen lud Thornton zum Reden ein, aber es war nichts mehr dazu zu sagen.

Thornton sagte: »Die Phalanx ist die entscheidende Lösung des Problems der modernen Kriegführung. Es ist eine bewaffnete Computer-Gruppe, die derzeit dazu vorgesehen ist, fünfundzwanzig Untereinheiten zu kontrollieren, und sie wird die Kapazität haben, n Untereinheiten zu kontrollieren, wenn sie vervollständigt ist. Bis jetzt sind die Untereinheiten ausgerüstet, Dschungelpfade zu erkunden und auch durch Unterholz zu marschieren, wo keine Wege sind, um den Feind aufzuspüren. Sie sind bestückt mit Flammen- und Granatwerfern, Raketenbasen, Sendeeinheiten, Infrarot- und Massefühlern, Minenlegern oder Minenspürgeräten, chemischanalytischen Laboratorien, fixen und beweglichen Kameras, Schallmeßgeräten und Mikrophonen …«

Er wurde Feldmans hellen, unerschrockenen Blick gewahr, unterbrach sich und grinste den Psychiater an. Mit gesenkter Stimme fuhr er fort. »Aber das Hauptproblem der Phalanx ist, daß sie nicht weiß, was ein Lächeln auf einem freundlichen Gesicht ist. Sie kann zwischen Freund und Feind nicht unterscheiden. Sie kann nicht sagen, ob das Metall, das sie registriert, ein Gewehr oder eine Gartenhacke ist. Sie hat keine Möglichkeit festzustellen, ob die massetragende Wärmequelle ein Mann mit einer Haubitze ist oder ein Esel mit einer Ladung Brennholz. Und egal wieviel Änderungen das psychokybernetische Labor mir schickt, ich kann solche Dinge nicht hineinprogrammieren.«

Thornton stand auf und streckte sich. Sein Blick folgte einem flachen, langen Sonnenstrahl, der durch die Jalousie drang, wo eine Latte verbogen war. »Ich mache jetzt einen Spaziergang«, sagte er. Er spürte, daß Feldman eine Bewegung in seine Richtung machte, aber es war kein Versuch, ihn aufzuhalten oder ihn zu drängen, seine Stunde vollständig abzusitzen.

»Morgen um fünf«, sagte Feldman, und das war alles.

 

Seine Oberschenkel brannten, als er kletterte. Er wollte den Hügel immer schon besteigen, seit die ersten Spuren von weißen Blüten hoch oben auf dem Hang zu sehen waren, aber keine Zeit, keine Zeit. Und nun brannten seine Schenkel. Er sollte heute abend eigentlich an Ethel schreiben. Hatte aber noch nicht einmal ihren letzten Brief geöffnet. Er hatte ihn irgendwo hingelegt und ihn dann vergessen. Auf die Kommode in seinem Zimmer? Auf seinen Schreibtisch? Beim Gedanken an seinen Schreibtisch seufzte er vor sich hin, rutschte auf einem moosbedeckten Stein aus und schlug sich das Knie an. Er saß auf dem feuchten, spitzsteinigen Boden, warf sich einige Minuten hin und her und umfaßte dabei das Knie, schnappte nach Luft. Er war weiter gekommen, als er sich vorgestellt hatte. Unterhalb, fast verborgen, konnte er das Institutsgebäude ausmachen. Es war als ein einfach langgestrecktes, zweistöckiges Gebäude begonnen worden, war aber in drei Richtungen erweitert worden, die Anbauten wie Dominosteine angefügt, und am Ende eines neueren Traktes wurde noch weitergebaut. Er hatte die Vision, daß es wurmgleich über die Hügel kroch, wie eine Schlange sich durch die Berge arbeitend, durch Täler krauchend, über Grate hinweg, Wasserläufen folgend … Er schloß die Augen und konzipierte einen Teil des Briefs an Ethel. Er würde langweilig werden, entschied er, als er nach dem einleitenden Hoffeesgeht-Dirgut-Sätzchen stockte. Ethel war eine gute Frau, aber langweilig.

Gott, war sie öde. Er erinnerte sich an den Schock, den er verspürt hatte an dem Tag, als er erkannte, daß Ethel in sich selbstzufrieden fixiert war, daß sie sich nicht mehr ändern würde, nur noch mehr werden würde, wie sie schon war, dogmatischer, weniger zugänglich für Veränderungen jeglicher Art, mehr bildhaftschön und selbstgefälliger. Ethel war vierzig. Sie war an ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag vierzig gewesen, würde an ihrem achtzigsten vierzig sein. Aber sie war gut, umgänglich, achtsam, eine gute Mutter, eine gläubige und hilfsbereite Frau, ein gutes Gemeinschaftstier …

Von ihm könnte man etwa das sagen: Ein guter Mann, schwerfällig vielleicht, aber ein guter Mann. Würde keiner Fliege etwas zuleide tun. Gut zu seinen Kindern, ein wirklicher Vater.

Er lehnte sich zurück gegen den Baumstrunk und betrachtete gedankenleer den Sonnenuntergang.

Ein guter Mann.

Die Brise auf seiner Wange war warm und duftete nach Frühling. Zeitweise vergaß er den kalten, feuchten Boden unter sich. Er dachte an die drei Kinder. Patsch, patsch, patsch, drei Jahre, drei Kinder. So hatten sie es haben wollen. Sie alle zusammen kriegen, sie zusammen aufziehen, um dann mit dem Teil der Angelegenheit fertig zu sein. Mittlerweile sind wir beide vierzig, sie werden bald erwachsen und wir noch jung sein. Schön, er war vierundvierzig, und sie waren alle erwachsen. Aber er war nicht jung. Sie waren beide gut, gut, gut, aber sie waren nicht jung. Er träumte davon, mit den Kindern zu tollen, und er wußte, daß das Tollen falsch war. Sie waren froh, wenn er ermüdete und sie in Ruhe ließ. Er träumte von der weichen Wange seiner Tochter, gegen die seinige gedrückt, wenn sie ihm Geheimnisse zuflüsterte, und an sein Gähnen, das sie vertrieben hatte. Doch er liebte sie mit einer Innigkeit, die ihn zeitweise bestürzte und ängstigte. Vielleicht war das der Grund, dessentwegen er sie vertrieben hatte. Er erinnerte sich, wie sie auf ihrem Fahrrad an ihm vorbeigesaust war, fliegende Haare, dünne Beinchen, schwerer und schwerer strampelnd.

Wir fahren im Schiff die Küste entlang, der Wind bedrängt uns. Fühlen Furcht, Heiterkeit, Wachsamkeit, halten Ausschau nach der plötzlichen Woge, die uns umwerfen könnte. Paulas Haar weht im Wind, schlägt mir ins Gesicht, rührt etwas in mir auf, läßt mich sie für einen Augenblick mit anderen Augen sehen. Paula war der unerträgliche Schmerz. Der zehrende, brennende, unerträgliche Schmerz, den Paula bedeutete, und die Erlösung, die ebenso plötzlich war und sogar als stärker empfunden wurde.

Er sprang vom Baumstrunk hoch und stand auf den Füßen. Er schüttelte sich einmal und begann den Abstieg. Er war in Träumereien von seiner Frau und seinen Kindern versunken gewesen. Von seiner Tochter … Eine Errötung wallte über ihn aus tiefer Scham, und er stolperte blindlings zum Institut zurück.

 

»Dr. Thornton, es muß einen Weg geben, diese Abstrakta, wie Sie sie nennen, zu programmieren.« Melvin Jorgenson lief umher. Er war ein ruheloser Mann. Sogar im Gehen konnte er seinen Bewegungsdrang nicht befriedigen und so fummelte er mit seinen Händen an einem Kuli herum, ließ dessen Schnappmechanismus immer wieder springen, was jedesmal ein hörbares Klick verursachte. Thornton bemerkte, daß er im Takt des Klickens seine Füße setzte, oder fiel das Klicken mit seinen Schritten zusammen? Er sagte nichts und wartete. Möglicherweise würden sie ihn bald feuern.

Der Direktor war auch da, und an ihn wandte sich Jorgenson, obwohl er seinen Ausführungen Thorntons Name voranstellte. Der Direktor sah unglücklich aus.

»Sie wissen, daß wir verschiedene Techniken erprobt haben«, sagte Jorgenson, blickte zu Thornton, aber er sprach noch zum Direktor. »Wir haben jetzt eine simple Psycho-Modelleinheit in Bearbeitung, derjenigen sehr ähnlich, die Sie in Ihrem Buch vor einigen Jahren beschrieben haben. Das gab uns die notwendige Leitlinie, der wir folgen konnten, aber wie ich schon sagte, es ist nur eine einfache Einheit.«

Er fuhr fort zu sprechen und umherzulaufen, und indem er ihm sehr genau zuhörte und die Klicks soweit wie möglich ignorierte, verstand Thornton schließlich, daß eine größere Revision in der Phalanx anvisiert wurde, und daß er die revidierte Version mit all den Daten programmieren sollte, die schon in das überholte Modell eingespeist worden waren. Er begann zu lachen und lachte immer weiter, bis ihm jemand, es war der Direktor selbst, Wasser brachte. Er sagte, er sei von einem stickenden Hustenreiz befallen worden, er habe sich erkältet, als er vor ein paar Tagen im Wald nachts eingeschlafen sei. Er gestattete Jorgenson, ihn zu der neuen Einheit zu führen, die so weit fertig war, mit der Phalanx verbunden zu werden, und er fand die richtigen Fragen, intelligente Fragen, er machte gescheite Bemerkungen und sagte schließlich, sicher, warum denn nicht?

 

»Die Phalanx«, schrieb er in sein Tagebuch (weil, wenn er es aufschrieb – auch wenn er wieder vernichten mußte, was er sich nachträglich aufgezeichnet hatte –, es sich seinem Gedächtnis einprägte: einmal geschrieben, nie wieder vergessen, das hatte er schon früh in der Schule gelernt; er hatte gelernt, indem er eifrig Absätze, Notizen, manchmal ganze Bücher abschrieb. Er hatte sie alle in Erinnerung behalten), »ist scheinbar ein kleines Gebäude, und nur aus nächster Nähe kann man sehen, daß ein Fahrgestell darunter ist, verborgen von Seitenummantelungen, die bis fast auf den Boden reichen. Es hat Pseudofenster, ein Schein-Äußeres, das jedem örtlichen Gebäudestil angepaßt werden kann. Innerhalb …« Er legte die Feder nieder und ging zum Fenster. Es regnete stark. Er hatte leichtes Fieber, er hatte sich wirklich erkältet und hatte deshalb den Nachmittag auf Anraten des Arztes freigenommen. Man nahm wohl an, daß er jetzt schlafe, aber das Regengeräusch wirkte eher anregend denn beruhigend, und er wollte draußen sein, barhäuptig unter den peitschenden, stechenden Regengüssen. Er dachte trübsinnig an die Lungenentzündung, die nahezu sicher folgen würde, und an die Enthebung von den jetzigen Pflichten und die lange Ruhe hinterher. Ruhe, Reisen, Sonnenbaden, Lesen, durch die Computerlabore der größeren Länder überall in der ganzen Welt geführt werden. Nach einem Jahr Arbeit an dem Projekt hätte er einen magischen Namen, selbst wenn sie das Problem nicht bewältigen würden. Möglicherweise würden sie es schaffen, und dann wäre jeder damit in Verbindung Stehende bekannt; nicht der Öffentlichkeit, aber den Vorgesetzten, auf die es ankam. Er zog die Jalousie vor das Fenster und kehrte zum Tagebuch zurück.

 

»Innerhalb des ›Hauses‹ ist der Computer, seine Waffen und Fühler, mit einem Kontrollstand im Zentrum. Wir sind gezwungen, hier menschliche Überwachung vorzuschalten. Ein Mensch muß die aufgenommenen Daten prüfen, überblicken, muß in der Lage sein, über hinderliche Informationsdaten hinwegzuschalten, um Dinge zu verbinden, für deren Kopplung kein offensichtlicher Grund besteht. Wenn zum Beispiel das Feuer eröffnet werden soll, um ein Gebiet zu säubern, dann muß der Mann das Wetter in Betracht ziehen – eine Beschießung während eines Unwetters ist sinnlos. Er hat zum Beispiel den Wind zu beachten und die Stellung der anderen Einheiten, die Zugvögel der Gegend als Faktor zu werten. Oder wieviel Viehbestand durch Abdrift von Giftgas aus dem Kampfgebiet möglicherweise vernichtet würde. All das könnten wir einprogrammieren, wenn wir es in klarer, unzweideutiger Sprache formulieren könnten. Wir wollen aber nicht riskieren, daß die Phalanx konfus wird.«

Er legte seine Feder wieder nieder und ging ins Badezimmer und maß seine Temperatur. Sie war erhöht, 39,2. Er legte sich nieder. Er dachte an die Aussagen, die die Phalanx verwirren könnten, wenn nicht alle Bedingungen erfüllt wären: A•B, A-B, A/B, A→B, A=B … Das würden sie nicht schaffen. Denn wie ein Lächeln in klarer und eindeutiger Sprache beschreiben? Die Phalanx könnte nicht unbemannt operieren. Noch könnte sie in der üblichen Weise bemannt werden. Die Phalanx und ihre Nachfolger wären als Telefonzellen zu betrachten, wie die Polizeirufsäulen, die überall in den Städten verstreut waren. Stell dir vor, sagte er zu sich selbst, wie das wäre, wenn die Rufsäule nicht nur das zuständige Revier alarmierte, sondern auch Verdächtige beobachtete, deren Gefährlichkeit abschätzte, sie analysierte, feststellte, welche Waffen sie trügen, zahllose andere Beobachtungen an ihnen registrierte, dann die Entscheidung fällt, daß sie in Ordnung wären, oder wenn nicht, sie dann aufgriffe oder gar vernichtete. Stell dir das mal vor. Was aber, wenn sie einen Fehler machte und irrtümlicherweise einen ganzen Straßenzug niederbrannte? Bedauerlich.

 

Aber wenn sie sie zum Funktionieren brächten, wäre das nicht gut? Wäre das nicht besser als Heere auf dem Antlitz der Erde? Gut, gut, gut …

 

Dan Thornton konnte seinen Arm nicht heben, weil man goldene Litzen darauf genäht hatte. Echtes Gold. Sie nahmen den anderen Arm, er wollte abwinken, aber sie bestanden darauf, weigerten sich, seine Einwände anzuhören. Alles, was er tun konnte, während die Borte an seinem anderen Arm befestigt wurde, war, zu stehen und zu versuchen, nicht zu schwanken. Er war sich bewußt, daß ihn das Gewicht umreißen würde, wenn er schwankte. Er war durch Werte gelähmt, dachte er.

 

Man hatte dieses alte Hirn hier herumliegen gehabt, verstehen Sie. Der Bursche starb auf dem Operationstisch, Unterleibsoperation, und sein Kopf war unversehrt dabei zu verderben. So gab man sein Gehirn in dieses Gefäß mit warmer Nährlösung und fütterte es dann und wann, und es fuhr einfach fort zu existieren, seine eigenen Gedanken denkend. Dann legte man Elektroden an, hier ist das Sehzentrum, da das Bewegungs … Und man legte eine Rückleitung und schloß diese an ein EEG (Elektroenzephalogramm) an, und man beobachtete die Aufzeichner, wie sie auf und nieder gingen, auf und nieder, und man wurde immer findiger, bis man das kleine olle Hirn schließlich dazu brachte, anzuzeigen, was es gerade dachte. Nicht gerade viel, wie sich herausstellte. Nun, sehen Sie, das kleine olle Hirn ist verrückt geworden wie eine Wanze von den verschiedenen Versuchen, die man ihm angetan hat, aber die Schreiber gingen noch auf und nieder, auf und nieder, und es konnte nicht anhalten, konnte sich nicht weigern mitzuarbeiten, konnte nichts tun, als die Nährlösung aufzusaugen und vor sich hin zu funktionieren.

»Sieht er nicht ganz natürlich aus, geradeso als ob er jede Minute aufstehen könnte und mit uns sprechen.«

Aber schauen Sie bloß nicht hinter den Augapfel, Gnädigste. Leer dahinter. Der da auch, und der.

Die meisten werden verrückt, wenn nicht sofort, dann sobald sie an den Computer angeschlossen werden, der ihnen Informationen in einer Stärke von einer Million Bit pro Sekunde zuleitet. Man hatte Zeit- und Psycho-Modelleinheiten zum Erproben. Man fand ein Hirn, das nicht durchdrehte, als man es an einen Computer anschloß. Es war zwar ein einfacher Computer, aber immerhin.

Wenn Chips schwarz und weiß sind, und dies Objekt ist grün, dann ist dies Objekt kein Chip. Wenn Kacheln rot und blau sind und dieses Objekt grün ist, dann ist dieses Objekt keine Kachel. Und so weiter und weiter, immer weiter, bei einer Frequenz von einer Million Bit die Sekunde. Das Hirn tackelte vor sich hin und wurde nicht verrückt. Man machte es schwieriger. Das Objekt war grün und rund. Dann noch schwieriger: grün, rund und wiegt ein Gramm … Das Hirn wurde nicht verrückt. Noch nicht. Sie schlossen es an die Phalanx an, und das Gehirn drehte durch.

 

Dan Thornton stand, mit seinen Armen baumelnd, gelähmt von seinen eigenen Qualitäten und der schweren goldenen Litze, die von den Qualitäten zeugte, und beobachtete, wie das Hirn verrückt wurde. Daß es durchdrehte, erkannten sie daran, wie es die Aufzeichnungsgeräte auf und nieder gehen ließ, auf und nieder. Es zeichnete jetzt Strichmännchen, alle an Händen und Füßen miteinander verbunden.

 

Wir starren quer durch einen Saal voller Leute hinweg einander an, und irgendwie kommen wir zusammen, ohne daß sich einer von uns bewegt. Ich drücke sie fest an mich und murmele in ihr Haar, das nach Meeresbrisen und Sonnenschein duftet, und mein Murmeln hat keine Worte, besagt aber, daß ich sie liebe. »Es war eine lange Zeit, Dan!« sagt sie. Ihre Augen glänzen und ich spüre, daß sie glücklich ist, mich zu sehen. Wieder ist sie anders. Das wilde Mädchen ist tiefer verborgen, jetzt schwerer zu finden, aber noch da. Sie sagt: »Gehen wir irgendwo anders hin.« Wir gehen die Straßen entlang, ihre Hand in meiner, unsere Schritte einander angepaßt, obwohl sie weit ausgreifen muß, um mitzukommen. Wir gehen stundenlang, sehen die Nacht weichen, beobachten schweigend, wie sich der letzte Stern in einem dämmernden Himmel verliert.

Wir sprechen, und ich erlebe mich, wie ich meinen Vater verteidige. Sie unterbricht mich, indem sie mir ihre kühlen Finger auf meine Lippen drückt. »Du bist entsetzt, daß du jemanden lieben kannst, der zu Bösem fähig ist«, sagt sie, als ob sie sich über mich wundere. »Wir sind dazu alle fähig, nur daß die meisten von uns nie die Chance erhalten, mehr als nur kleine Untaten zu begehen.« Ich argumentiere, daß er nicht böse war, daß er sein Leben lang niemandem etwas zuleide tat. Sie hopst neben mir her, hört nicht zu, und ich weiß, sie hält mich für blöde. Ich bin ärgerlich über sie, fast so ärgerlich wie damals, als sie sagte, daß sie mich nicht heiraten würde. Ich frage sie wieder, und sie schüttelt ihren Kopf. Ich frage sie, was sie macht, wie sie lebt, und sie amüsiert sich, daß ich nichts über sie weiß. Sie drückt mir ein schmächtiges Büchlein in die Hand, sagt, ich solle es nicht öffnen, bevor sie wieder abgereist sei, und das werde nicht vor Montag sein.

Das Wochenende ist eine einzige Verzückung, und am Montag ist sie verschwunden. Das Büchlein enthält Poesie, die ich nicht verstehen kann. Man sagt, sie sei brillant, ein Genie, daß sie die Augen und Ohren der Welt sei. Und ich kann ihre Gedichte nicht verstehen.

Zwei Wochen später heirate ich Ethel, und wir planen, geradewegs drei Kinder zu kriegen.

 

»Doktor Thornton, wenn Sie Ihre Hüfte gerade mal etwas anheben würden. So ist es recht.«

Er würde auf einer fahrbaren Bahre irgendwohin gefahren. Es war zu schwierig zu versuchen, das zu verstehen; so ließ er sich fahren und umsorgen, und etwas später wußte er, daß er die Lungenentzündung hatte, die ihn erlösen und ihm die Heimkehr verschaffen würde. Nachdem die gefährlichere Phase vorbei war, wurde er aufgemuntert, es leichtzunehmen und die Sonne auf der windgeschützten Terrasse zu assimilieren. Er sann über das Projekt nach, und es wurde ihm klar, daß er nicht um seine Entlassung entkommen würde. Das Institut setzte seinen alten Freund Carl Brundage an seiner Stelle ersatzweise ein, bis er wieder so weit hergestellt sein würde, mit vollem Einsatz arbeiten zu können. Wenn er Zeit hatte, schaute Carl auf einen Schwatz vorbei, und das half, die langen Tage zu verkürzen.

»Der Hauptmangel liegt in der fehlenden Trennschärfe der Psycho-Modelleinheiten, die man gezwungen ist zu benutzen. Die meisten davon gehören angeworbenen Männern, ungeübten Köpfen, die wahrscheinlich niemals ein Zehntel ihres Potentials nutzten. Sie müssen sich diese eine Einheit als vorprogrammiert vorstellen, verstehen Sie. Sie kann kein zusätzliches Training vertragen, kann nichts dazulernen, kann kein bißchen ihres Potentials entwickeln. Sie ist der Koordinator, nichts weiter. Es ist ein Fehler zu denken, sie sei mehr als das. Aber das ist ja auch alles, was sie zu sein hat«, fügte er hinzu, wobei tiefe Denkfurchen sein Gesicht für einen Augenblick altern ließen. Irgend etwas …? Was immer es für ein Gedanke gewesen war, er war nicht ins Bewußtsein vorgedrungen, gleich aus welchem Grunde; er zuckte mit den Achseln. Er würde. Er kannte die Funktionsweise seines eigenen Gehirns, wußte, daß er Zuckungen dieser Art möglicherweise eine Zeitlang kommen und gehen spüren würde, dann würde ihm der neue Gedanke kommen, und die Zuckungen verschwänden, bis in ihm eine andere, neue Idee aufkommen würde.

»Wird man Ihnen wohl erlauben, dem ersten Test am Montag beizuwohnen?« fragte Carl.

»Sicherlich. Aber es wird ein Fehlschlag.« Niedergeschlagen wiederholte er das zu sich selbst, nachdem ihm Carl einige Arbeit dagelassen hatte, von der angenommen wurde, daß er, Thornton, sie erledigen würde.

 

Über das Wochenende ruhte er, schlief tief und schwer mit starken Schlafmitteln. Montag war klar und warm mit hohen Zirruswolken, die milchige Streifen am strahlenden Himmel bildeten. Die Windgeschwindigkeit war zehn bis fünfzehn Stundenkilometer, Lufttemperatur milde, 22 Grad. Thornton fuhr mit einem Jeep zum Versuchsgelände, 20 Kilometer vom Institutsgebäude entfernt in einem engen, tief eingeschnittenen Tal, wo der Frühling später anbrach als auf den günstiger gelegenen Hängen. Fahlgrüne Knospen von noch unentfalteten Blättern sprossen aus den Zweigen, und die Hornsträucher trugen noch Reihen von schneeigen flachen Blüten.

Die Phalanx stand in der Mitte des kleinen Tals, sah aus wie eine Bergmannshütte. Auf das Signal des Direktors hin hoben sich die Seitenwände der Phalanx leicht an, genug um zehn kleine, rundliche Untereinheiten aus dem Inneren hervorrollen zu lassen. Die Untereinheiten wurden die Kobolde genannt. Sie waren zufällig in Braun- und Grüntönen bemalt, und als sie sich von der Phalanx entfernten, waren sie von ihrem Untergrund, Erde und halbhohe Grünpflanzen, nicht mehr zu unterscheiden. Der Versuch sollte in zwei Teilen stattfinden; der 1. Teil ohne daß die Psycho-Modelleinheit angeschlossen wurde, der 2. in Verbindung mit derselben.

Im Tal verteilt und an drei Seiten der umgebenden Hügel waren Institutsleute, die die Rolle des Feindes spielten. Thornton war auch für diese Rolle vorgesehen worden, aber er war froh, daß er wegen seiner Lungenentzündung nur zuzuschauen brauchte. Die zehn Kobolde stellten nur einen Teil dessen dar, was die Phalanx an Gerät zu kontrollieren imstande war. Zwei von diesen führten Düsen mit, die gefärbtes Wasser versprühten, im Krieg würde das Feuer sein. Zwei andere zeichneten auf Film und Tonband alles auf, was sich innerhalb eines Radius von 15 Kilometern abspielte, soweit es das Gelände zuließ. Ein anderer kroch mit einer sich drehenden Radarantenne umher, einen Hubschrauber anpeilend, der über das Gelände hinwegdonnerte, während sein Zwilling den Flug einiger Vögel verfolgte, dann einen Düsenjäger ausmachte, der einen bleistiftdünnen Kondensstreifen hinterließ.

Jeder Kobold funktionierte offensichtlich wie geplant. Thornton wartete. Die Sonne prallte auf seine Oberschenkel, und er erinnerte sich, wie sie gebrannt hatten, als er den Hügel erstieg – an dem Tag, an dem er sich so erkältet hatte. Sein Fahrer, einer der jüngeren Programmierer, rutschte aufgeregt hin und her und deutete auf einen der Kobolde, der von der Erde abhob, über einige Büsche hinwegglitt und das Bett eines Wildbachs überquerte. Die Phalanx hatte alles unter Kontrolle. Sie hei nicht aus der Rolle, bis drei Kaninchen aus den Büschen aufgescheucht wurden und gerade auf den Minenkobold zurannten. Der Farbwerfer schwenkte und besprühte die Kaninchen und mit ihnen den Minensucher, dessen Raupenkette sofort erstarrte. Die Phalanx war programmiert worden, jede Untereinheit außer Betrieb zu setzen, die angegriffen wurde. Den Kaninchen folgend rollte der Farbwerfer über eine »Mine« und war somit auch außer Gefecht.

Die Untereinheiten erwiesen sich als verwundbar; eine nach der anderen fiel unvorhergesehenen Schwierigkeiten zum Opfer; innerhalb einer halben Stunde saß die Phalanx alleine da, ungeschützt und die Männer drangen in sie ein und »nahmen sie gefangen«.

Thornton beobachtete die zusammengesunkene Gestalt des Sekretärs und die ungebeugte Figur des Direktors, der weitläufig gestikulierte. Die zweite Probe würde nach dem Mittagessen stattfinden, wenn die Psycho-Modelleinheit angeschlossen worden war und die Männer ihre Stellungen wieder eingenommen hatten.

Mit der eingeschalteten Psycho-Modelleinheit verlief der Versuch eindrucksvoller. Einige der Männer auf den Hügeln wurden von den Farbwerfern »getötet«, andere »vergast«, aber es wurde niemand gefangengenommen. Die Phalanx war nicht dafür ausgerüstet, Gefangene zu machen. Diesmal ließ sich die Phalanx nicht von den Kaninchen täuschen, die absichtlich von den Männern ins Spiel gebracht wurden, sondern setzte eine Einheit auf die Männer selber an. Sie schoß drei Krähen und zwei Jets ab und einen Falken. Als sie nach weniger als einer Stunde durchdrehte, ließ sie die Untereinheiten sich gegenseitig zerstören und sich gegen die Phalanx selbst wenden.

Obwohl technisch ein Fehlschlag, vermittelte der Verlauf der zweiten Probe tiefe Befriedigung.

 

Am Abend fand eine Versammlung statt, vom Sekretär persönlich geleitet.

Thorntons Sohn war im Einberufungsalter oder würde es in einem Monat sein. Er konnte die Stimmung im Lande verstehen, die nach einem Ende der Einberufungen verlangte, nach einem Ende der endlosen Kriege, einem Ende der Enttäuschungen, die die jungen Männer abstumpfen und sie in der Schule unruhig werden ließen, die sie veranlaßten, zu jung zu heiraten, zu schnell und zu ruppig zu fahren, mit Drogen zu experimentieren und mit Gefahren, wo immer sie ihnen geboten wurden. Es war weder nötig, noch wollte er es, daß der Sekretär ihm dies vor Augen führte, aber der Sekretär tat das. Seine Stimme war traurig und hob sich zuweilen. Thornton schützte seine Krankheit vor und ging vorzeitig.

 

Die Arbeit ging weiter. Die Psycho-Modelleinheiten schnappten weiter über. Thornton genas ohne Rückfall, setzte die starken Schlaftabletten ab und ging zu einem verkürzten Arbeitstag über. Er ging auch wieder zu den Sitzungen mit Dr. Feldman.

Erregung vibrierte jetzt im Institut. Erfolg schwang mit im Duft der Frühlingsluft auf der Kippe zum Sommer, und den Wissenschaftlern und Technikern ging die Arbeit gut von der Hand, bzw. vom Kopf. Thornton auch. Carl war ihm gegenüber von fast peinlicher Dankbarkeit, daß er krank geworden war, da er infolgedessen hinzugezogen worden war. Er arbeitete wie ein Besessener und versuchte, Thornton zu ersparen, was er konnte. Thornton wußte, daß andere Abteilungen noch härter arbeiteten als seine eigene. Der Psycho-Kybernetiker und der Wahrnehmungspsychologe durften wohl überhaupt nicht schlafen, dachte er eines Nachts, als er beide in der Halle traf. Er war wegen seines Notizbuches noch mal hergekommen, nachdem er schon ein dreistündiges Nickerchen hinter sich hatte. Er würde weiterschlafen, aber sie schienen auf eine Nacht des Durcharbeiten eingerichtet zu sein.

Woher weiß der Mensch, was er sieht? Wie kommuniziert das Gehirn mit sich selbst, mit dem Hormonsystem, mit dem autonomen Nervensystem …? Er beneidete sie nicht um ihre Arbeit. Wenn sie eine neue Antwort gefunden hatten, setzte er sie um in die Sprache der Formeln und Symbole, die er dann in binäre Digital-Sprache übersetzte und der Phalanx eingab. Dies wurde geprüft, und wenn es sich als falsch erwies, nahm er es wieder heraus, und sie setzten wieder beim ursprünglichen Problem an.

 

Thornton träumte jetzt oft von der Phalanx und ihren Kobolden. »Erzählen die anderen von Träumen darüber?« fragte er Feldman.

»Sie träumen von allem möglichen«, sagte der Psychiater. Thornton fragte sich, ob Feldman neugierig war, warum seine Träume nie Sex zu betreffen schienen. »Als ich jung war«, sagte er, »war ich genauso leidenschaftlich wie vermutlich jedermann. Aber jetzt … Nachdem ich geheiratet und mich niedergelassen hatte, schien es weniger wichtig. Ich schätze, ich bin einer von jenen glücklichen Menschen, die nicht so sehr vom Sex bedrängt werden. Ich habe Ethel kaum je vermißt«, fügte er hinzu. Es überraschte ihn, das auszusprechen und zu wissen, daß es wahr war. Natürlich, als er krank gewesen war, hatte er sie vermißt. Es wäre dann angenehm gewesen, sie um sich herum zu haben. Sie hatte eine Art mit kranken Menschen umzugehen, mildernd, sanft, tröstend. Aber normalerweise war ihm seine Arbeit genug, und die momentanen Anfälle von Sehnsucht schienen nahezu richtungslos, jedenfalls nicht besonders auf sie gerichtet zu sein. Oder auf irgend jemand anderen.

»Waren Sie je verliebt?« fragte Feldman, als die Stille überlang wurde.

»Sicherlich, mehrere Male. So das übliche High-School-Getändel; dann war da natürlich Ethel.«

»Wie war das doch mit dem High-School-Getändel? Irgendein Mädchen, das von heute her gesehen besonders hervorsticht?«

Er konnte sich nicht eines Namens eines der Mädchen erinnern, die er in der Schule bewundert hatte.

 

Diesen Abend hatte er drei Programme zu überprüfen. Carl hatte Fehler in ihnen zugegeben. »Rein der Mist, raus der Mist«, hatte Carl gesagt, als er die Papiere auf Thorntons Tisch klatschte. »Und ich kann den Bock nicht finden.« Er war über sich verärgert, weil er den Fehler überhaupt hatte durchgehen lassen, und noch mehr darüber, daß er den Fehler nicht fand, nachdem bekannt war, daß da ein Fehler war.

Die drei Programme gehörten zusammen; der Fehler konnte im ersten sein und so die folgenden zwei verfälschen; er konnte aber auch im letzten Schritt des dritten Programms enthalten sein. Es waren insgesamt über 1500 Schritte.

Thornton arbeitete daran bis ein Uhr morgens, schaltete eine halbe Stunde ab, um sich langzulegen und ein Sandwich zu essen, dann ging er wieder daran. Um drei wurde ihm bewußt, daß Feldman ihn aus irgendeinem Grund bedrängte, den er nicht fassen konnte. Monatelang war seine Beziehung zu Feldman gleichgültig gewesen, rein auf dienstlicher Basis, aber jetzt war das anders. Die Veränderung in Feldman war etwa der Verwandlung einer Katze zu vergleichen, die mit einem Ball gespielt hatte und nun eine Maus vorgesetzt bekam. Dieselben Gesten, aber mit einer neuen Eindringlichkeit, einer neuen Konzentration. Er ging hinaus in die Nacht, um zu rauchen und um den Rauch aus seinem Zimmer abziehen zu lassen. Er hustete schlimm bei jeder Zigarette, die Nachwirkungen der Lungenentzündung, vermutete er.

Er hatte mit dem Psycho-Kybernetiker über die Auswahl der Psycho-Modelleinheiten gesprochen, und Jorgenson hatte verbittert seiner Theorie zugestimmt, daß sie keine größeren Fortschritte erwarten könnten, bis ihnen gestattet würde, ihre Auswahl selbst zu treffen. Er wußte, daß der Direktor mit dem Sekretär darüber diskutiert hatte, aber kein Wort war bis jetzt über das Ergebnis nach unten durchgedrungen. Inzwischen drehten die Einheiten weiter durch, und die Phalanx versuchte regelmäßig, Selbstmord zu begehen.

 

Er mochte die Wendung »versuchte, Selbstmord zu begehen« nicht, aber das war die übliche, allgemein benutzte Bezeichnung. Er erinnerte sich an seine Mutter und ihren Selbstmord, der der Hinrichtung seines Vaters folgte. Er erinnerte sich an die Bilder der verstümmelten Kinder, die mit der Post angekommen waren, und die Briefe und Anrufe, die Pein seiner Mutter und ihr schließliches Aufgeben. Er wäre ohne Paula und Gregory nicht durch diese Zeit gekommen. Seine Hand erstarrte auf halbem Wege, als er die Zigarette zum Mund führen wollte.

 

Paula! Er hatte seit zwanzig Jahren nicht mehr an Paula gedacht. Nicht mehr, seitdem er einmal hingegangen war, um sie ihre Gedichte vortragen und lesen zu hören. Ethel hatte sich so gelangweilt. Sie waren nicht bis zum Ende geblieben, aber er war später zurückgegangen und hatte Paula auf dem anschließenden Empfang getroffen. Sie schien nie erstaunt, ihn zu treffen, hatte er dann gedacht, als ihr Gesicht vor Freude über sein Erscheinen aufleuchtete. Keine Überraschung, nur Freude, ihn wiederzusehen. Er hätte sie beinahe gefragt, ob sie ihn nun liebe, aber er tat es nicht. Wieder schien sie verändert, klüger, aber nicht nur das. In Kontakt mit etwas, das er nicht erfassen konnte. Sie sei eingestimmt, sagten die Studenten von ihr und verehrten sie und das, was sie für sie schrieb.

Er inhalierte tief, hustete stark und hielt sich an einem Baum fest, bis er wieder Luft bekam. Das Husten machte ihn schwindlig, ließ seinen Kopf anschwellen, und der Puls hämmerte in den Schläfen. Er streifte kurz einen Gedanken an sein eigenes Sterben, tot, und wie Paula zum Begräbnis käme, an seinem Sarg weinte und flehentlich um eine zweite Chance mit ihm bäte. Ein bitteres Lächeln huschte über sein Gesicht, und er sog kräftig an der Zigarette, brachte sie zu Ende, und es kümmerte ihn nicht, ob er hustete oder nicht. Ein Rückfall, und er mußte sich wohl darum kümmern, das wußte er. Er wartete, bis es vorbei war, und kehrte dann in sein Zimmer zurück zu den Programmen, die durchgesehen werden mußten.

Wie ziehen uns an den spitzen Felsen des Kliffs empor, und als wir oben angekommen sind, bleibt uns kein Atem zum Sprechen. Paula perlt der Schweiß im Gesicht, und sie streicht mit dem Handrücken nachlässig darüber und hinterläßt dabei einen Schmutzstreifen, der von der Stirn bis zum Kinn reicht. Ich lehne mich zurück und versuche, jetzt nicht zu weinen. Ich hoffe, nie über meine Mutter zu weinen. Paula sagt: »Mutti und Vati sagen, daß du bei uns wohnen kannst, bis du im Herbst in die Schule gehst. Klar?«

Das ist keine wirkliche Frage. Ich kann zu ihnen gehen oder zu meiner Tante und meinem Onkel, die von Ohio zum Begräbnis kamen. Der Staat würde mich nicht allein bleiben lassen, weil ich erst siebzehn bin. Meine Tante hat mir das soweit erklärt. Sie ist ärgerlich, daß meine Mutter, ihre Schwester, Selbstmord begangen hat. Das war gottlos von ihr. Das war selbstsüchtig von ihr. Ich verachte meine Tante.

Ich fühle, wie Paulas Zeh mich in die Seite knufft, und ich druckse, weil ich nicht losweinen will. Sie kichert, und der nackte Zeh schubst mich nochmals, stubst und kiekst mich in die Seite. Ich sehe sie an und weiß, daß ich jetzt nicht weinen werde. Ich springe auf und packe sie in der Absicht, sie zu beuteln, aber ich halte sie nur, und sie hört auf zu kichern. Wir regen uns eine ganze Weile nicht, bis uns Gregory unterbricht. Er hat nichts mitgekriegt, es kann also sein, daß es gar nicht so lang war, aber dieser Moment wirkt weiter und weiter.

Als wir zu mir nach Hause zurückkommen, schimpft meine Tante mit mir. Sie sagt, ich sei selbstsüchtig, weil ich jetzt weggegangen bin, wo die Leute hergekommen sind, um zu kondolieren. Sie setzt zu einer Standpauke an, da geht Paula zu ihr und legt ihre schmutzige Hand auf den glatten, sauberen Ärmel meiner Tante, und Paula sagt etwas, was ich nicht verstehen kann. Dann sagt sie: »Es kommt alles in Ordnung. Wir werden uns um ihn kümmern.« Meine Tante bricht in Tränen aus und läßt sich in einen Sessel fallen und weint wie nur was, geschüttelt, häßlich vom Weinen, und Paula, Gregory und ich verlassen sie so.

Thornton wachte auf, erinnerte sich an den Traum in allen Einzelheiten. Er machte davon Notizen zu Feldmans Verwertung, dann rollte er sich herum und schlief weiter.

 

Die Arbeit ging langsam voran, und schlecht. Sie hatten ein gewisses Stadium erreicht und kamen offensichtlich nicht weiter. Aber jeder von ihnen hatte den nächsten Schritt so klar vor Augen, und jeder wußte, daß das Projekt ohne den nächsten Schritt fehlschlagen würde. Der Sekretär kam wieder vorbei und mauschelte mit dem Direktor und einigen anderen Spitzenmännern, und nach dieser Sitzung war das Projekt mit irgend etwas nicht ganz Klarem, irgend etwas Schmuddeligem behaftet. Aus der Sitzung sickerte nichts durch, und mit einemmal setzten die Gerüchte aus. Ein neues Gehirn wurde installiert, und die Hoffnung stieg, als es nach vierundzwanzig Stunden immer noch funktionierte, sogar sechsunddreißig Stunden überstand. Ein Geländeversuch wurde angesetzt, aber bevor er stattfinden konnte, drehte das Hirn durch.

Schwermut bedrückte die Männer noch stärker, und Fehler wurden gemacht, die in früheren Monaten undenkbar gewesen wären. Man analysierte die Ergebnisse der letzten Psycho-Modelleinheiten, ihre Krisen und den schließlichen Zusammenbruch, und zu dieser Zeit erfuhr Thornton, daß dieses Gehirn besonders ausgewählt worden war. Er wußte ungefähr, wer Lester Ferris gewesen war, aber er wußte nicht, wie er gestorben war, noch wie sein Gehirn in den Besitz des Institutes gekommen war. Ferris war ein Wunderkind gewesen, ein brillanter mathematischer Naturforscher, der die Welt der Physik im Alter von fünfzehn Jahren erschüttert hatte. Körperlich verkrüppelt, mit einem messerscharfen Verstand begabt, hatte er die Aufmerksamkeit der ganzen Welt mit Theorien erregt, die möglicherweise in einiger Zukunft bewiesen werden konnten, oder auch niemals bewiesen werden würden, aber unverkennbar originell und brillant waren. Mit fünfundzwanzig hatte er sich am Institute for Advanced Study niedergelassen, und soweit Thornton wußte, hatte man nichts mehr von ihm gehört.

Thornton begann die Tageszeitungen zu lesen, die ins Institut gebracht wurden, und jedesmal, wenn man ein Gehirn erprobte, das erfolgreicher war als die vorangegangenen, durchforschte er die Todesanzeigen, aber er stellte niemandem irgendwelche Fragen. Niemand stellte Fragen.

Er und Feldman besprachen den Selbstmord seiner Mutter mehrere Male, und langsam fand er heraus, daß er sich im Zusammenhang mit Paula an Einzelheiten erinnern konnte, die er vollkommen vergessen hatte. Feldman kannte ihr Werk und war beeindruckt, daß Thornton ihr Liebhaber gewesen war. Thornton bemerkte, daß er darüber so frei sprechen konnte, als ob es irgend jemand anderem geschehen wäre.

 

Manchmal ging Thornton auf Spaziergänge in die Wälder, die jetzt dunkelgrün und sommerig waren, hinter Felsen und Baumstämmen Schlangen beherbergend, belebt von Kaninchen, Vögeln und Insekten, die sangen und sirrten und summten. Er kam nicht so oft dazu, wie er es gern wollte, weil er nicht die Zeit hatte. Sein Jahr ging aufs Ende zu. Der nächste Test war innerhalb einiger Wochen fällig, und obwohl man den Gefechtstest in Gedanken schon aufgegeben hatte, war der Geländetest noch auf dem Plan. Sie fanden heraus, welche Arten von Gehirnen am besten geeignet waren für eine symbiotische Beziehung mit dem Computer, der Phalanx genannt wurde, aber sie waren nicht in der Lage, genau das richtige zu finden. Die Gehirne drehten weiter durch.

 

Sie hatten eine Sondersitzung, auf der jedermann Fragen beantworten mußte, die die Art des Verstandes und der Mentalität betrafen, die mit der Phalanx zusammen funktionieren würden. Thornton biß auf seinen Bleistift und setzte langsam die Antworten zu den vorgedruckten Fragen ein. Hinterher lasen sie sie laut vor und sprachen darüber. Die Bögen wurden vom Direktor eingesammelt.

 

»Was denken Sie jetzt über Paula Whitfield?« fragte Feldman.

»Oh, das ist doch eine bindungslose Nutte. Erregend, wahrscheinlich noch sehr schön. Sie war das, wissen Sie, aber in einer wilden, unbeabsichtigten Weise. Nicht der Covergirllook mit eingeübter Lieblichkeit.«

Feldman nickte. »Ihre Frau ist sehr nett«, sagte er einen Augenblick später. Er redete jetzt nur so daher, weil die Stunde fast herum war und Thornton ausgewrungen.

»Ethel ist schön«, sagte Thornton. Er war selbst überrascht. Sie war es wirklich. Er hatte einen Brief von ihr in der Tasche. Sie würde ihn treffen, und sie würden nach Florida fahren und von dort weiter nach Nassau. Sie freute sich auf die Reise. Sie sehnte sich nach ihm.

»Ist Paula Whitfield wirklich promiskuös?« fragte Feldman neugierig. »In ihrem Werk gibt es keinen Hinweis darauf.«

»Sie schläft so rundherum«, sagte Thornton und hörte die Verachtung in seiner Stimme. »Sie hat eine ganze Reihe unehelicher Kinder, wissen Sie.« Er zuckte die Schultern und stand auf. »Ich glaube, ich bin unfair. Ich weiß eigentlich nicht, wie sie jetzt wirklich ist. Es sind jetzt zwanzig Jahre her, seit ich sie zuletzt sah. Ein Genie mit der Moral einer streunenden Katze. Das war sie damals.«

Er öffnete die Tür. Feldman sagte: »Morgen um fünf, eine Stunde, klar?« Thornton schaute zurück und nickte, und Feldman setzte hinzu: »Warum haben Sie sie als das Gehirn angegeben, das mit der Phalanx bestehen könnte?«

 

Er aß wenig zu Mittag und ging danach spazieren. Er hatte nicht. Er wußte, er hatte nicht. Er vergegenwärtigte sich den Fragebogen mit seinen Antworten, und er wußte, daß ihn sein Gedächtnis nicht täuschen würde. Er hatte ihren Namen nicht angegeben. Die Fragen führten natürlich alle zu dieser einen: Können Sie irgend jemanden benennen, von dem Sie glauben, daß er sich als Psycho-Modelleinheit eignen würde?

Er hatte es offengelassen.

Er betrachtete es nochmals in seiner Vorstellung, und es war leer.

Ein Angstgefühl versetzte ihm einen Stich. Worauf wollte Feldman hinaus?

Er hätte Paula nicht angegeben, selbst wenn ihm der Gedanke gekommen wäre. Als Gregory vor achtzehn Jahren starb, hatte sie jenes verrückte Gedicht geschrieben über den Jungen, der eher den Tod wählte als selbst zu töten. Gregory war im feindlichen Feuer gestorben. Er hatte ihr den Schlagbolzen seines Gewehrs geschickt und war dann aufrecht über das Kampfgebiet gelaufen, bis er fiel. Ein dummer Wahnsinnsakt. Er hatte lange Zeitungstiraden verursacht, dieser Tod, und die bitteren Gedichte, die Paula im nachhinein entströmten. Sie war praktisch eine Verräterin, wie natürlich auch Gregory einer gewesen war. Wieder fragte er sich, was Feldman vorhatte. Er kehrte an seinen Schreibtisch zurück und arbeitete bis Mitternacht.

 

Er träumte diese Nacht von der Psycho-Modelleinheit, die in dem Apparatekomplex innerhalb des Hauses befestigt war, das die Phalanx darstellte. Es war ein versiegelter Behälter, der einem Brutkasten sehr ähnlich sah, mit eingebauten Gummihandschuhen, in die die Spezialisten mit den Händen einfahren konnten, um das Ding drinnen anzufassen. Sechs Paar derartige Handschuhe waren da. Auf der einen Seite des Behälters war ein EEG aufgestellt, jetzt nicht angeschaltet, um die Gehirnströme abzubilden. Dicke Drahtbündel führten zu den Pulten dicht daneben, an sie angeschlossen waren Schirme, die chemische Vorgänge, enzymische Veränderungen, Temperatur der Nährlösung und alle Verschiebungen in deren Zusammensetzung anzeigten. Innerhalb des Behälters verliefen Drähte, die in Elektroden im Gehirn endeten, die Zuführ- und Auswurfleitungen, und auch diese waren angezapft, so daß die Männer an den Tischen genau registrieren konnten, was hineinging und was herauskam.

 

Die Phalanx war seit sieben Tagen und Nächten in dauerndem Betrieb gewesen. Die Lichter blinkten stetig, und im Hintergrund sah man die stetigen Kurven der EEG-Aufzeichnungen. Die Techniker hatten die Wände um den Computer wieder eingesetzt, so daß es ein Haus in einem Zimmer war, ein Behälter in einem Haus, ein Gehirn in einem Behälter. Es war noch Arbeit zu tun, noch viele Programme zu planen, zu übersetzen und der Phalanx einzugeben, aber jeder gute Programmierer konnte das jetzt tun. Sie sprachen davon, die Zahl der Kobolde sogar auf vier Dutzend zu erhöhen, und niemand zweifelte, daß der Computer sie alle unter Kontrolle halten könnte.

Thornton stand im Eingang und schaute sich ein letztes Mal um. Seine Arbeit war getan, sein Jahr um. Andere würden jetzt geprüft werden, oder waren es schon, und sie würden, angesichts der Chance, für ein Jahr am Institut zu arbeiten, die Erregung in sich umlaufen spüren. Er drehte sich um und ging, nahm seine Tasche am Haupteingang auf. Draußen stand ein Wagen bereit, um ihn zum Tor zu bringen, wo er Ethel treffen würde. Feldman stand wartend auf den Stufen. Er drückte ein Buch in Thorntons Hand.

»Ein Abschiedsgeschenk«, sagte er. Thornton fragte sich, ob er Tränen in den Augen des Psychiaters gesehen habe, und er entschied, nein. Es war der Wind gewesen. Der Wind blies stark. Er wurde zum Haupttor gefahren, und als er aus dem Auto stieg und durch das Tor ging, ließ er das Buch fallen. Er stieg in seinen eigenen Wagen und zog Ethel an sich.

»Ich hatte so Angst, daß du anders sein würdest«, sagte sie nach einem Augenblick. »Ich wußte nicht, was ich nach deinem Jahr unter lauter Genies erwarten sollte. Ich dachte, du wolltest vielleicht gar nicht mehr herauskommen.« Sie lachte und drückte seine Hand. »Ich bin so stolz auf dich! Und du hast dich nicht verändert, überhaupt nicht.«

Er lachte mit ihr. »Du auch«, sagte er. Er fragte sich, ob da schon immer diese Leere hinter ihren Augen gewesen war. Sie trat aufs Gas, und sie schossen die Straße entlang, weg vom Institut.

Hinter ihnen flatterte der Wind durch die Buchseiten, bis der Wächter es auf der staubigen Erde liegen sah und es aufhob und in eine Mülltonne warf.