Jeden Tag einzeln
(R. A. Lafferty)
Barnaby rief John Sourwine an. Wenn Sie Plätze wie Barnaby’s Barn öfter aufsuchen (in jeder Hafenstadt der Welt gibt es sie, und John ist in allen wohlbekannt), kennen Sie vielleicht schon John Sourwine, und Sie werden ihn als Sour John kennen.
»Ich hab’ einen komischen Kauz hier«, erzählte ihm Barnaby.
»Wie komisch?« fragte Sour John. Er sammelte komische Käuze.
»Klarer Fall von total verrücktem Huhn, John. Er sieht aus, als ob sie ihn gerade ausgegraben hätten, aber er ist ganz schön lebendig.«
Barnaby unterhält eine prächtige kleine Kneipe, die Essen und Trinken und Unterhaltung anbietet, alles davon ungewöhnlich und herzhaft. Und John Sourwine ist immer an neuen Sachen interessiert oder an alten, wiederentdeckten. Also begab sich John hinunter zu Barnaby’s Barn, um den komischen Kauz anzusehen.
Man brauchte gar nicht zu fragen, welcher er war, obwohl immer Fremde und Reisende und Matrosen, die John nicht kannte, in der Barn waren. Der komische Kauz ragte heraus. Er war ein großer, dürrer, ungehobelter Kerl, und er sagte, daß sein Name McSkee wäre. Er aß und trank mit dröhnendem Vergnügen, und sie beobachteten ihn alle mit Erstaunen.
»Das ist sein vierter Teller Spaghetti«, vertraute Smokehouse Sour John an, »und das ist das letzte von zwei Dutzend Eiern. Er hatte zwölf Hamburger, sechs falsche Hasen, sechs Crabburger, fünf Hotdogs, so lang wie ein Unterarm, achtzehn Flaschen Bier und zwanzig Tassen Kaffee.«
»Bleich blinkendes Leuchtfeuer! Dann muß er ja bald an ein paar von Big Bucket Bulgs Rekorden rangekommen sein«, rief John in plötzlichem Interesse aus.
»John, er hat die meisten der Rekorde schon gebrochen«, teilte ihm Smokehouse mit, und Barnaby meinte zustimmend nickend: »Wenn er das Tempo für weitere fünfundvierzig Minuten so anhält, wird er sie alle schlagen.«
Nun, der kornische Kauz war immer noch ein dürrer Kerl, mit einem großen, schlotternden Gestell, das dafür gebaut war, fünfzig oder sechzig Pfund mehr zu tragen, als der gebeugte Kerl jetzt besaß. Aber er begann sich auszudehnen, noch während John ihn beobachtete, und es war nicht nur, daß er fast von Minute zu Minute größer aussah, es war auch, als ob ein Licht in ihm angezündet worden wäre. Er glühte. Dann leuchtete er. Dann begann er zu funkeln.
»Du ißt gerne, nicht wahr, Oldtimer?« fragte Sour John den komischen Kauz, den erstaunlichen McSkee.
»Ich tu’s ganz gerne!« dröhnte McSkee mit einem glücklichen Grinsen. »Aber außerdem ist es einfach, daß ich ein verdammter Angeber bin. Ich mag alles im Übermaß. Ich liebe es, mitten im dicksten Gewühl zu sein.«
»Man könnte meinen, daß du seit hundert Jahren nichts mehr gegessen hast«, tastete sich Sour John vor.
»Du kapierst aber schnell«, lachte der erleuchtete McSkee. »Eine Menge von denen kriegt das nie raus über mich, und ich erzähle ihnen nichts, bis sie nicht erst selbst etwas erraten haben. Aye, du hast immerhin die haarigen Ohren und die Schlangenaugen eines echten Gentleman. Ich liebe es, wenn ein Mann richtig häßlich ist. Wir können uns unterhalten, während ich esse.«
»Was machst du, wenn du mit dem Essen fertig bist?« fragte John, erfreut über die Komplimente, während die Kellner anfingen, die Steaks vor McSkee hoch aufzutürmen.
»Oh, nach dem Essen kommt das Trinken«, mampfte McSkee. »Es gibt keine scharfe Trennungslinie zwischen den Vergnügungen. Nach dem Trinken kommen die Mädchen, nach den Mädchen das Prügeln und Herumkrakeelen. Und am Ende singe ich.«
»Eine bestialische Prozedur«, sagte John mit Bewunderung. »Und wann ist deine Leibund-Magenstärkende Orgie vorbei?«
»Oh, dann schlafe ich«, kicherte McSkee. »Beobachte mich gelegentlich einmal, wie ich das mache. Ich sollte Unterrichtsstunden geben. Wenige Menschen wissen, wie man das machen sollte.«
»Ja, und wie lange schläfst du«, fragte Sour John, »und gibt es irgend etwas Spektakuläres an deinem Schlaf, das ich nicht verstehe?«
»Natürlich ist er spektakulär. Und ich schlafe, bis ich aufwache. Darin stelle ich auch Rekorde auf.«
Und McSkee schlang die hohe Steaksäule hinunter, bis Sour John eine mystische Vision von einem jungen Ochsen hatte, der total verschlungen wurde außer dem Kopf, der Haut und den Hufen, dem Anteil des Metzgers.
Später sprachen sie etwas ungezwungener, als sich McSkee durch das letzte halbe Dutzend Steaks arbeitete – denn nun war der größte Hunger gestillt.
»Gab es in dieser ganzen protzigen, wilden Geschichte nicht ein Beispiel von Gefräßigkeit, das die anderen überragte«, horchte ihn Sour John aus, »einmal, als du dich sogar selbst übertroffen hast?«
»Aye, das gab’s schon«, sagte McSkee. »Das war die Zeit, als sie mich mit dem neuen Seil hängen wollten.«
»Und wie hast du dich daraus herausgegessen?« fragte Sour John.
»Zu jener Zeit und in jenem Land – es war nicht dies hier – war der Brauch neu, einem Verurteilten das zu geben, was er essen wollte«, beschrieb der leuchtende McSkee mit seiner Stimme wie eine Leierkastenmelodie. »Ich habe den neuen Brauch ausgenützt und die Gegend ausgeplündert. Es war ein gutes Essen, das sie mir gaben, bei Sonnenaufgang sollte ich gehängt werden. Aber ich kriegte sie dran, denn ich habe noch bei Sonnenuntergang gegessen. Sie konnten meine letzte Mahlzeit nicht unterbrechen, um mich zu hängen – nicht wenn sie mir eine komplette Mahlzeit versprochen hatten. Ich hielt sie jenen Tag und die Nacht und den folgenden Tag von mir fern. Das ist länger als ich gewöhnlich esse, John, und ich habe mich selbst übertroffen. Die Gegend war bekannt für ihr Geflügel und ihre Ferkelchen und ihre Früchte. Sie ist nicht länger dafür bekannt. Sie hat sich nie mehr erholt.«
»Warst du das?«
»Aber sicher, John. Aber beim dritten Sonnenuntergang war ich voll. Der richtige Appetit war weg, und danach genehmige ich mir gewöhnlich nichts mehr.«
»Natürlich nicht. Aber was geschah dann? Gehängt haben sie dich nicht, oder du wärst nicht hier und könntest alles darüber erzählen.«
»Das stimmt nicht unbedingt, John. Ich war vorher schon gehängt worden.«
»Ach?«
»Sicher. Aber diesmal nicht. Ich trickste sie. Als ich mein Teil hatte, schlief ich ein. Und schlief tiefer und tiefer, bis ich starb. Sie hängen keinen Mann, der schon tot ist. Sie ließen mich einen Tag liegen, um sicher zu sein. John, ich kriege innerhalb eines Tages einen hübschen, kleinen Schimmer. Ich werde ein übelriechender Bursche, wie er schöner nicht sein kann. Dann begruben sie mich, aber sie hängten mich nicht. Warum schaust du mich so komisch an, John?«
»Ach, nichts«, sagte Sour John, »ein nebensächlicher Einwand, den ich nicht einmal mit Worten würdigen will.«
McSkee trank jetzt, zuerst Wein, um seinem Magen eine Unterlage zu geben, dann Brandy für seine verknautschte Würde, dann Rum für seine offensichtliche Freundlichkeit.
»Kannst du glauben, daß alle Sensationen von gewöhnlichen Männern wie mir hervorgebracht werden?« fragte dieser McSkee plötzlich.
»Ich kann nicht glauben, daß du ein gewöhnlicher Mann bist«, sagte Sour John.
»Ich bin der gewöhnlichste Mann, den du jemals gesehen hast«, beharrte McSkee. »Ich bin aus dem Lehm und dem Salz der Erde gemacht und aus dem Humus von verfaulten Tieren. Es kann sein, daß sie etwas mehr Schlamm genommen haben, als sie mich herstellten, aber in mir ist keine der seltenen Erden. Es mußte ein Mann wie ich sein, der das System herausfinden würde. Die Gelehrten sind dazu nicht fähig, sie haben keinen Saft in sich. Und weil sie keinen Saft in sich haben, haben sie den ersten Fingerzeig übersehen.«
»Was heißt das, McSkee?«
»Es ist so einfach, John! Daß ein Mann sein ganzes Leben jeden Tag einzeln lebt.«
»So?« fragte Sour John mit gewaltiger Betonung.
»Schau, wie harmlos das hinuntergleitet, John. Es klingt beinahe wie eine Kalenderweisheit.«
»Und es ist keine?«
»Nein, nein, das Donnergrollen von hundert Welten rumpelt zwischen den beiden. Das ist die Tür zu einem ganz neuen Universum. Aber es gibt einen anderen Spruch. ›Mensch, deine Tage sind gezählt‹. Das ist der eine unergründliche Spruch. Das ist die Grenze, die nicht gedehnt oder durchbrochen werden kann, und das setzt uns Kameraden einen Dämpfer auf. Das wirft ein Problem für einen wie mich auf, zu weltlich, um ewiges Glück in einer anderen Welt zu verdienen, zu saft- und kraftvoll, um den endgültigen Untergang willkommen zu heißen und aus persönlichen Gründen nur zu begierig, die Mühsal der Verdammung so lange als möglich aufzuschieben.
Nun, John, es gab (und gibt) schlauere Männer als mich auf der Welt. Daß ich das Problem (in einem gewissen Maß) gelöst habe, heißt nur, daß das Problem für mich zwingender war. Es mußte ein sehr gewöhnlicher Mann sein, um die Antwort zu finden, und ich habe niemals einen Mann getroffen, der eine solche Leidenschaft für die gewöhnlichen Dinge des Lebens hatte wie ich selber.«
»Ich auch nicht«, sagte Sour John. »Und wie hast du das Problem gelöst?«
»Durch einen hübschen kleinen Trick, John. Du wirst sehen, wie es funktioniert, wenn du mir in der Nacht Gesellschaft leistest.«
McSkee hatte aufgehört zu essen. Aber er trank weiter, während er seinem Vergnügen mit Mädchen frönte und mit Prügeln und Herumkrakeelen und Singen. Seine Mädchenabenteuer sollen hier nicht wiedergegeben werden; aber Sie können eine saftige Liste davon im Polizeiwachbuch jener Nacht sehen. Schaun Sie mal bei Mossback McCarthy nachts vorbei, wenn er auf Wache ist, und er wird sie herausholen und Sie sie lesen lassen. Es ist so eine Art Klassiker der Polizeiwache. Wenn ein Mann in einer Nacht mit Soft-Talk Suzie Kutz und Mercedes Morrero und Dotty Peisson und Little Dotty Nesbitt und Hildegarde Katt und Catherine Cadensus und Ouida und Avril Aaron und Little Midnight Mullins in Berührung kommt, sprechen sie über einen Mann, den Legenden umranken.
Und McSkee brachte die Stadt in Aufruhr, und John Sourwine war bei ihm. John paßte gut zu McSkee. Es gibt viele, die nicht passen würden.
Es gibt Leute mit feingestimmten Seelen, die sich ängstlich ducken, wenn ihr Begleiter ungewöhnlich ausgelassen wird. Es gibt solche, die zusammenzucken, wenn ein herzhafter Genosse laut und unanständig singt. Es gibt sogar solche, die versuchen, sich abzusetzen, wenn das Murren der soliden Bürgerschaft zu einem drohenden Gebrüll anschwillt, und die sich nach Schutz umsehen, wenn die ersten kleinen Kämpfe beginnen. Glücklicherweise gehörte Sour John nicht zu solchen Leuten. Er hatte eine feingestimmte Seele, aber sie hatte einen großen Spielraum.
McSkee hatte die lauteste und mißtönendste Stimme in der Stadt; aber würde ihn ein aufrichtiger Freund deswegen verlassen?
Die beiden Männer hielten reiche Ernte, und eine Handvoll rauher Männer, die große Knöchel in großen Handflächen rieben und ihre Gelegenheit abwarteten, hatte angefangen, ihnen von Ort zu Ort zu folgen: Männer wie Buffalo-Chips Dugan und Shrimp-Boat Gordon, Sulphur-Bottom Sullivan, Smokehouse, Kidney-Stones Stenton, Honey Bucket Kincaid. Die Tatsache, daß diese Männer McSkee wütend folgten, aber noch nicht wagten, allzu nahe zu kommen, spricht tief zugunsten des Mannes. Er war ganz hübsch haarig.
Aber es gab Zeiten, da ließ McSkee die heiseren Mißtöne verstummen und beendete seine fröhliche Rauferei und kicherte irgendwie etwas ruhiger. Wie – für eine Weile – in der ›Little Oyster Bar‹ (die Treppe hoch in der ›Big Oyster‹).
»Das erste Mal, als ich den Trick ausprobierte«, vertraute McSkee John an, »geschah es aus Not und nicht freiwillig. Ich habe in meinem Leben eine Menge Feindschaft auf mich geladen, und manchmal kocht es über. Da war das eine Mal, als eine ganze Schiffsladung Männer genug von mir hatte. Diesmal (das war weit weg und vor langer Zeit, in den alten Zeiten der kleinen Segelschiffe) wurde ich an den Knöcheln gefesselt und beschwert und über Bord geworfen. Dann wandte ich den Trick an.«
»Was hast du gemacht?« fragte ihn Sour John.
»John, du fragst die verdammtesten Fragen. Ich ertrank natürlich. Was sonst hätte man tun können? Aber ich ertrank ruhig und ohne dieses überflüssige Umsichschlagen. Das ist der Trick, weißt du.«
»Nein, ich weiß nicht.«
»Die Zeit sollte auf meiner Seite sein, John. Wer will die Ewigkeit in der Tiefe verbringen? Salzwasser ist höchst ätzend, und meine Fesseln, obwohl ich sie nicht zerbrechen konnte, waren nicht massiv. Nach einer langen Lebensdauer würde das Eisen so zerfressen sein, daß es ohne besondere Anstrengung auseinanderbrechen würde. In weniger als einhundert Jahren gaben die Fesseln nach, und mein Körper (erhalten durch eine Art Einsalzen, aber nicht in der besten Verfassung) trieb zur Oberfläche des Meeres hinauf.«
»Zu spät, um dir noch etwas zu nützen«, sagte Sour John. »Ein reichlich ulkiges Ende für eine Geschichte, oder war es das Ende?«
»Ja, das ist das Ende jener Geschichte, John. Und ein anderes Mal, als ich Fußsoldat bei Pixodarus, dem Karier, war (bei seinen keltischen Söldnern natürlich) –«
»Einen Moment, McSkee«, fuhr Sour John dazwischen. »Es gibt da etwas sehr Ungereimtes in deinem ganzen Gerede, und es sind Seezeichen nötig. Wie lange hast du denn ungefähr gelebt? Wie alt bist du?«
»Ungefähr vierzig Jahre alt nach meiner Rechnung, John. Warum?«
»Ich dachte, deine Geschichten wachsen ein wenig ins Uferlose, McSkee. Aber wenn du nicht älter als vierzig Jahre bist, dann haben deine Geschichten keinen Sinn.«
»Nie behauptet, daß sie das haben, John. Du stellst unnatürliche Bedingungen an eine Geschichte.«
McSkee und Sour John waren in der Nachtzelle, blutig und freudestrahlend. Es war nur wegen einer Reihe kleinerer Sachen, daß man sie eingesperrt hatte, aber es war tatsächlich, um sie vor dem Gelynchtwerden zu retten. Sie hatten ein Palaver mit all diesen prächtigen Beamten und Männern, und sie hatten viele auf ihrer Seite. Sour John war als Gelegenheitstäter ein alter Bekannter für sie. Es war bekannt, daß man Johns Aussagen trauen durfte, sogar wenn er log, tat er es doch mit einer Miene der Aufrichtigkeit. Nachdem ein bißchen Zeit verstrichen war und die möglichen Lyncher sich zerstreut hatten, wurden sie auf Sour Johns Bürgschaft hin entlassen, mit dem festen Versprechen von beiden, sich gut zu benehmen.
Sie schworen Eide und Meineide, daß sie sich wie anständige Männer benehmen würden. Sie gaben dröhnende Schwüre ab, daß sie sofort und ruhig zu Bett gehen würden. Sie gaben zu Protokoll, daß sie in dieser Nacht keine Zechgelage mehr abhalten würden, daß sie keine anständige Frau belästigen würden, daß sie den Eigenheiten der Gesetze gehorchen würden, wären sie noch so unverständlich. Und daß sie nicht singen würden.
Also ließ die Polizei sie gehen.
Als die beiden Männer draußen und über die Straße waren, fand McSkee eine Flasche auf dem Bürgersteig, die gut in seine Hand paßte, und er feuerte sie. Sie hätten es auch getan, wenn Sie von einem ähnlichen Impuls erfaßt worden wären. McSkee warf sie in einem wundervollen Looping, und sie flog durch das vordere Fenster der Polizeiwache. Sie müssen einen Wurf wie diesen bewundern.
Wir geben hiermit zu Protokoll, daß es keine bösartigen Bullen in dieser Stadt sind. Sie sind achtbare Gegner, und es ist immer eine Freude, sich mit ihnen anzulegen.
Wieder ab durch die Mitte. Und von den Grünen mit Geschrei und Sirenen verfolgt. Es war nahe dran! Ein halbes dutzendmal war es nahe dran. Aber Sour John war ein Fuchs, der alle Löcher kannte, und er und McSkee tauchten für eine Weile unter.
»Der Trick besteht darin, zu einem endgültigen Stopp zu kommen«, sagte McSkee, als sie sicher waren und wieder ruhig atmen konnten. Sie waren in Sicherheit in einem Lokal, das weniger bekannt und noch kleiner war als das ›Little Oyster‹. »Ich erzähle dir ein bißchen davon, Sour John, weil ich sehe, daß du ein Mann von Bedeutung bist. Lausche und lerne. Jeder kann sterben, aber nicht jeder kann sterben, wann er es will. Zuerst hältst du den Atem an. Dann wird ein Punkt kommen, wo deine Lungen bersten und du einfach einen Atemzug tun mußt. Tu’s nicht, oder du mußt das Ganze noch mal durchmachen. Dann setzt du deinen Herzschlag herab und sammelst deine Gedanken. Laß die Wärme aus deinem Körper verschwinden und mach Schluß.«
»Und was dann?« fragte Sour John.
»Na, dann stirbst du, John. Aber ich sag’ dir, es ist nicht leicht. Es braucht eine verdammte Menge an Übung.«
»Warum so viel Übung für eine Sache, die man nur einmal macht? Du meinst buchstäblich sterben?«
»John, ich sage es geradeheraus. Ich sage sterben, ich meine sterben.«
»Es gibt zwei Möglichkeiten«, sagte Sour John. »Die eine ist, daß ich langsam im Kapieren bin. Die andere ist, daß du ohne Sinn daherredest. Ich weiß von anderen Gelegenheiten, daß die erste Möglichkeit ausgeschlossen ist.«
»Ich sage dir eins«, meinte McSkee, »die Zeit verrinnt. Gib mir zwanzig Dollar, und ich werde deine Unlogik übersehen. Ich habe es nie gemocht, zu sterben und pleite zu sein, und ich fühle, meine Zeit ist gekommen. Vielen Dank, John! Ich hatte einen ausgefüllten Tag, gleichermaßen bevor und nachdem ich dich traf, und eine ausgefüllte Nacht, die fast vorüber ist. Ich hatte eine anständige Mahlzeit und genug zum Saufen, um mich glücklich zu machen. Ich habe Spaß gehabt mit den Mädchen, besonders mit Soft-Talk Suzie und Dottie und Little Midnight. Ich habe einige meiner Lieblingslieder gesungen (die nicht jedermanns Lieblingslieder sind). Ich habe mich an verschiedenen guten, anständigen Kämpfen beteiligt, und mir brummt noch der Schädel davon. Mann, John, wieso hast du mir nicht gesagt, daß Honey-Bucket Linkshänder ist? Du hast das gewußt und ihn den ersten Treffer auf mich abfeuern lassen.
Es war ein Mordsspaß, John. Ich bin einer, der eine Menge aus diesem Spiel gewinnt. Ich bin ein richtiger Saftkerl, und ich versuche, alles in einen Tag und eine Nacht zu stopfen. Du kannst eine Menge in eine Zeitspanne hineinpressen, wenn du es aufhäufst. Na, trinken wir aus, was in den Flaschen übriggeblieben ist, und gehen wir zum Strand, um zu sehen, was wir herausfordern können. Der Nacht muß noch die Krone aufgesetzt werden, bevor ich mich zu meinem langen Schlaf niederlegen kann.«
»McSkee, du hast mehrmals angedeutet, daß du ein Geheimnis kennst, wie man das meiste aus seinem Leben herausholen kann«, sagte Sour John, »aber du hast mir nicht gesagt, was es ist.«
»Mann, ich habe es nicht angedeutet, ich habe es klar und deutlich gesagt«, schwor McSkee.
»Dann in Dreiteufelsnamen, was ist das Geheimnis?« brüllte John.
»Lebe dein Leben jeden Tag einzeln. Das ist alles.«
Dann sang McSkee ein altes Landstreicherlied, ein viel zu altes Lied für einen Mann von vierzig Jahren, der kein Spezialist war, als daß er es kennen konnte.
»Wann hast du das gelernt?« fragte ihn John.
»Gestern gelernt. Aber ich habe heute eine Masse neuer gelernt.«
»Ich habe vor ein paar Stunden bemerkt, daß irgend etwas komisch Altmodisches an deiner Sprache war«, sagte John. »Aber das scheint jetzt nicht mehr der Fall zu sein.«
»John, ich passe mich wirklich schnell an. Ich habe ein gutes Gehör, und ich spreche eine Menge und höre eine Menge zu, und ich bin der geborene Imitator. Ich kann mich an einem Tag in einen Jargon hineinfinden. Sie ändern sich nicht so schnell, wie man annehmen könnte.«
Sie gingen hinunter zum Strand, um der Nacht die Krone aufzusetzen. Wenn man bald stirbt, ist es schön, im Geräusch der Brandung zu sterben, hatte McSkee gesagt. Sie gingen hinunter, über das Ende des Deiches hinaus und dahin, wo der Strand finster war. Aye, McSkee hatte richtig geraten, es wartete Aufregendes auf sie oder war ihnen vielmehr gefolgt. Es war die Gelegenheit für einen letzten glorreichen Kampf.
Eine geschlossene finstere Gruppe von Männern war ihnen gefolgt – Kerle, die irgendwie während des Tages und der Nacht des Gelages beleidigt worden waren. Das furchtlose Paar drehte sich um und fixierte die Männer aus der Entfernung. McSkee trank die letzte Flasche aus und warf sie mitten unter die Gruppe. Die Männer waren bösartig, sie flammten augenblicklich auf; und der Mann, der von der geschleuderten Flasche getroffen worden war, fluchte.
Also nahmen sie den Kampf auf.
Für eine Weile schien es, als ob die Kräfte der Gerechtigkeit Oberhand gewinnen würden. McSkee war ein glorreicher Kämpfer, und Sour John war auch qualifiziert. Sie verteilten jene wütenden Männer auf dem Sand wie ein Bündel ausgelegter Flundern. Es war eine jener großen Schlachten, deren man immer eingedenk ist.
Aber es waren zu viele jener Männer, von denen McSkee gewußt hatte, daß sie dasein würden. Er hatte sich eine wunderliche Anzahl von Feinden im Laufe eines Tags und einer Nacht gemacht.
Der wilde Kampf schwoll an, erklomm einen Höhepunkt und zerbarst, wie eine hohe Woge zusammenbrechend. Und McSkee, der höchsten Ruhm und höchstes Vergnügen erreicht hatte, hörte plötzlich auf zu kämpfen.
Er gab ein wildes Freudengeheul von sich, das die ganze Insel entlang hallte. Dann holte er tief Atem und hielt ihn an. Er schloß seine Augen und stand da wie eine grinsende, unbewegliche Statue.
Die wütenden Männer kippten ihn um und umschwärmten ihn, sie stießen ihn in den Sand und traten jedes bißchen Leben aus McSkee.
Sour John hatte gekämpft, solange es einen Kampf gab. Er sah nun, daß McSkee aus Gründen, die nicht ganz klar waren, sich zurückgezogen hatte. Das tat er gleichermaßen. Er schaltete ab und rannte davon, nicht aus Feigheit, sondern aus persönlicher Neigung.
Eine Stunde später, gerade beim ersten Schimmer des Sonnenaufgangs, kehrte Sour John zurück. Er sah, daß McSkee tot war – ohne Atem, Puls oder Wärme. Und da war noch etwas. McSkee hatte gesagt, in einem seiner weitschweifigen Märchen, daß er einen hübschen, kleinen Schimmer bekäme. John wußte jetzt, was er meinte. Dieser Mann wurde wirklich schnell reif. Dem Geruchsinn nach war McSkee tot.
Mit einer Kinderschaufel, die er dort fand, grub Sour John ein Loch in den Abhang einer der Strandklippen. Dort begrub er seinen Freund McSkee. Er wußte, daß McSkee noch eine Zwanzig-Dollarnote in seiner Hose hatte. Er ließ sie bei ihm. Es ist nicht so schlimm, eines davon zu sein, aber gleichzeitig tot und auch noch pleite zu sein, ist eine Schmach, die kaum zu überstehen ist.
Dann wanderte Sour John in die Stadt, um zu frühstücken und vergaß die ganze Angelegenheit schnell.
Er verfolgte sein Steckenpferd, sich in der Welt herumzutreiben und interessante Leute zu treffen. Es ist gut möglich, daß er Sie getroffen hat, wenn nur irgend etwas Interessantes an Ihnen ist; solche Leute verfehlt er nie.
Zwölf Jahre vergingen und einige Wochen. Sour John war zurückgekehrt in eine der interessanten Hafenstädte, aber mit einem Unterschied. Es war der Tag gekommen, der zu vielen kommt (und verhüte Gott, daß er zu Ihnen kommt), an dem Sour John nicht gut bei Kasse war. Er war so pleite, wie man nur sein kann, mit nichts in den Taschen oder im Magen und mit sehr wenig auf seinem Leib. Er war gestrandet in jeder Hinsicht.
Und dann rief er sich die vergangenen Zeiten ins Gedächtnis zurück, die er in dieser Stadt verbracht hatte. Saufereien hatten hier stattgefunden, dumme Streiche und Vergnügungen. Er erinnerte sich mit einem Schlag eines Dutzends glücklicher Zeiten. Und dann besonders eine.
»Er war ein komischer Kauz, ein richtig saftiger Bursche«, grinste Sour John, als er daran dachte. »Er kannte einen Trick, wie er gerade dann sterben konnte, wenn er es wollte. Er sagte, daß man eine Menge Übung braucht, aber ich halte es für sinnlos, etwas zu üben, was man nur einmal tut.«
Dann erinnerte sich Sour John an eine Zwanzig-Dollarnote, die er mit diesem saftigen Burschen begraben hatte. Die Erinnerung an den leuchtenden McSkee kam zu Sour John zurück, als er den leeren Strand entlangging.
»Er sagte, daß man eine Menge Leben in einen Tag und in eine Nacht zwängen kann«, sagte John. »Das stimmt. Ich tu’s. Er sagte noch etwas, was ich vergessen habe.«
Sour John fand die alte Strandklippe. In einer halben Stunde hatte er die Leiche von McSkee ausgegraben. Sie hatte noch einen tiefen, alten Schimmer an sich, aber sie war besser erhalten als die Kleider. Die Zwanzig-Dollarnote war noch da, unansehnlich, aber noch zu gebrauchen.
»Ich nehme sie jetzt, weil ich sie brauche«, sagte Sour John weich. »Und später, wenn ich wieder bei Kasse bin, bringe ich sie wieder hierher zurück.«
»Ja, tu das mal«, sagte McSkee.
Es gibt Männer auf dieser Welt, die bestürzt wären, wenn ihnen so etwas zustoßen würde. Einige von ihnen hätten nach Luft geschnappt und wären zurückgefahren. Die Ängstlicheren hätten aufgeschrien. John Sourwine war natürlich keiner davon. Aber er war menschlich, und er tat etwas Menschliches.
Er blinzelte.
»Ich hatte keine Ahnung, daß du in so einer Verfassung bist«, sagte er zu McSkee. »Das ist also die Art und Weise, wie du’s anstellst?«
»Das ist sie, John. Jeden Tag einzeln. Und ich verteile sie weit genug auseinander, so daß sie nie reizlos für mich werden.«
»Bist du soweit, um wieder aufzustehen, McSkee?«
»Ganz sicher nicht, John. Ich bin ja kaum erst gestorben. Es wird noch weitere fünfzig Jahre dauern, bis ich wieder einen wirklich guten Appetit entwickelt habe.«
»Meinst du nicht, daß das Schwindel ist?«
»Niemand hat mir gesagt, daß es nicht erlaubt ist. Und nur die Tage, die ich lebe, zählen. Ich dehne sie auf diese Weise eine ganze Weile, und jeder davon ist es wert, sich daran zu erinnern. Ich sage dir, ich habe keine langweiligen Tage in meinem Leben.«
»Ich bin immer noch nicht sicher, wie du es machst, McSkee. Ist es Scheintod?«
»Nein, nein! Mit diesem Ausdruck sind mehr Menschen in Schwierigkeiten geraten als mit jedem anderen. Denk so daran, und du hast es schon verfehlt. Du stirbst, John, andernfalls führst du dich nur selbst an der Nase herum. Beobachte mich dieses Mal, und du wirst’s sehen. Dann begrab mich wieder und laß mich in Frieden. Niemand mag es, ausgegraben zu werden, bevor er Zeit hatte, es sich in seinem Grab gemütlich zu machen.«
So gab sich McSkee noch einmal sorgfältig den Tod, und Sour John begrub ihn wieder in dem Abhang der Strandklippe.
McSkee – was in verballhorntem Irisch Sohn des Schlafes heißt –, der Meister des Scheintodes (nein, nein, wenn Sie so daran denken, haben Sie’s schon verfehlt, es ist Tod, es ist Tod), der sein Leben jeden Tag einzeln lebte und diese Tage durch Jahrzehnte trennte.