In Berlin-Schöneberg, einem wenig bekannten, aber immer beliebteren Kiez unserer energetisch pulsierenden Hauptstadt, gerät man leicht unter Hochspannung. Ein 1000 Volt starker Stromschlag durchzuckt den Fußgänger, wenn er den Handlauf der Crellepromenade berührt. Dahinter steckt ein Planungsfehler: Beim Bau dieser Brücke wurde eine ungünstige Kombination von Stoffen verwendet, die sich schnell elektrisch auflädt. Auch an eine Erdung wurde nicht gedacht. Leider lässt sich die Sache nicht mehr rückgängig machen – zumindest will dafür niemand die finanzielle Verantwortung übernehmen. Und so bleibt es dabei. Was sind schon 1000 Volt? Natürlich, der eine oder andere beschwert sich. Die Sorge sei unbegründet, heißt es dann. Eine Spannung von 1000 Volt verursache wegen der geringen Ladung nur kleine Stromstöße. Auch wenn solche Stromstöße nicht völlig ohne Risiko sind. So oder so: Niemand käme auf die Idee, wegen des fehlerhaften Brückengeländers den Sinn und Zweck der Brücke selbst anzuzweifeln.
Als der Club of Rome 1972 seinen Bericht »Grenzen des Wachstums« veröffentlichte, ahnte noch niemand, wie nachhaltig die damit angestoßene Diskussion um die Zukunft der Welt anhalten würde. Dabei ist Nachhaltigkeit selbst zu einem zentralen Begriff aller Zukunftsdebatten geworden. Seitdem heißt es, die Welt kann nicht bleiben, wie sie ist. Das gilt unter anderem auch für Umweltfragen: Wir müssen handeln, mahnt uns der Bericht, anderenfalls drohen Klima- und Umweltkatastrophen sowie Ressourcenkonflikte unvorstellbaren Ausmaßes. Wohlgemerkt: Die Partei Die Grünen gab es damals noch nicht, und die Worte Klima und Energie waren in unseren Köpfen noch keinen assoziativen Zwangsverband mit Bioläden, Ökotragetaschen und erdgasbetriebenen Fahrzeugen eingegangen.
Erst Später nahm sich die Politik dieses Themas an. Es entstanden inner- und außerparlamentarische Bewegungen, Umweltverbände und Naturschutzorganisationen. Das musste so sein, denn die Politik ist der Bereich gesellschaftlichen Handelns. Doch was derzeit in puncto Klima und Energie geschieht, lässt sich kaum mehr als Handeln beschreiben – eher als das Gegenteil. Ein Jahr vor der anstehenden Bundestagswahl im Herbst 2013 hat sich die Energiepolitik in Deutschland in ein Schlachtfeld verwandelt. Ein Schlachtfeld, auf dem laut gestritten und dabei jegliches Handeln blockiert wird. Es tobt ein Kampf um Strom, in dem vernünftige Entscheidungen kaum mehr möglich scheinen. Davon erzählt dieses Buch. Im Vordergrund steht die Fehde, die Politiker, Lobbyisten, Ökologen und andere sich seit geraumer Zeit liefern. Es geht um eine Debatte, die in den Medien gezielt lanciert wird, damit so mancher Energieunternehmer hinter den Kulissen unbeobachtet Fakten schaffen kann. Die Ingredienzien dieser Auseinandersetzungen sind bekannt: Macht und Einfluss, Pfründe, die verteidigt oder neu verteilt werden müssen – und natürlich geht es um Geld.
Im Schlachtengetöse um das richtige Energiekonzept ist die Lage ziemlich unübersichtlich geworden. Richtig und Falsch, Gut und Böse, Sinn und Unsinn sind hier kaum mehr zu unterscheiden. Sind die Zusammenhänge nicht völlig undurchschaubar, viel zu komplex, und ist es deshalb nicht nahezu unmöglich zu entscheiden, wer recht hat und was richtig ist? Sollen wir den Ausstieg aus der Atomenergie und die Energiewende für eine kluge, langfristig orientierte Politik oder aber für eine Bedrohung unserer Zukunft halten?
Im Prinzip ist die Sache unglaublich einfach: Drei Fakten reichen aus, um den Kern der Zusammenhänge zu verstehen.
Erstens: Fossile Ressourcen wie Öl, Gas und Kohle sind endlich. Sie werden knapper, und irgendwann wird der weltweit steigende Energiebedarf durch sie nicht mehr zu decken sein. Große Länder wie Indien und China, in denen erst allmählich eine vollständige Industrialisierung stattfindet, werden ihren Energieverbrauch in den nächsten Jahrzehnten noch gewaltig steigern.
Zweitens: Das Verbrennen fossiler Ressourcen verursacht Treibhausgase, die das Klima gefährden. Doch auch die weltweit produzierten Treibhausgase steigen immer noch an.
Drittens: Erneuerbare Energien versprechen akzeptable Lösungen für beide Probleme. Sie sind unendlich (Sonne und Wind gibt es immer), und sie verursachen weitestgehend (mit Ausnahme von Biomasse) keine Treibhausgase.
Die Lösung scheint nach diesem Dreischritt klar: Wir sollten auf erneuerbare Energien setzen. Doch es gibt Einwände. Ist die Energiegewinnung aus neuen Quellen nicht viel zu teuer? Können wir uns das leisten? Und ist die Versorgung mit grünem Strom wirklich sicher? Stecken die Technologien alternativer Energiegewinnung nicht erst in den Kinderschuhen?
Kurzfristig muss man sagen: Ja, die Versorgung mit erneuerbaren Energien kann nicht von heute auf morgen technisch umgesetzt werden. Es müssen Wind- und Solarparks, aber auch Netze zur Verteilung des Stroms gebaut werden. Es gilt, Wege zu finden, wie man den Strom speichern kann, der an wind- und sonnenreichen Tagen zu viel und an anderen Tagen zu wenig produziert wird. Das alles, so weiß man nach rund 30 Jahren Forschung im Bereich erneuerbare Energien, ist machbar. Es wird jedoch noch einige Jahre dauern und kostet zunächst einmal Geld.
Insofern lautet auch die Antwort auf die Frage nach der Finanzierung vorerst: Ja, es stimmt. Das Umrüsten auf erneuerbare Energien kostet. Und dann stimmt es doch wieder nur zum Teil: Zwar ist die Entwicklung neuer Technologien anfangs immer teuer, doch handelt es sich bei diesen Kosten um Investitionen, die sich später wieder auszahlen. Noch sind die alten Kohle-, Gas- und Atomkraftwerke im Vorteil, denn sie haben eine Laufzeit von bis zu 60 Jahren und liefern so Strom zu vergleichsweise niedrigen Produktionskosten. Doch auch die Stromgewinnung aus erneuerbaren Quellen steht längst nicht mehr ganz am Anfang. Und Preise ändern sich schnell – die meisten Technikinnovationen gehen den Weg vom Luxusartikel zur Massenware. Ein Mercedes kostete zu Beginn des 20. Jahrhunderts 17 000 Goldmark. Nach heutigen Maßstäben waren das 100 000 Euro – für ein Auto, das nicht viel mehr zu sein schien als ein Dreirad. Das erste Mobiltelefon war so groß wie ein Knochen, kostete aber umgerechnet bis zu 1600 Euro. Damals galt es noch als spektakulär, dass man drahtlos, wo man ging und stand, telefonieren konnte. Das war 1992. Heute nutzen wir Smartphones für E-Mails, Kochrezepte, Urlaubsfotos und als Wörterbuch – zu einem Drittel des Preises oder weniger. Und während die Preise neuer Technologien stürzen, werden die Produkte ständig besser. Niemand hätte sich vor 20 Jahren vorstellen können, was heute technisch möglich ist. Dass etwa Daten, deren Speicherung anfangs riesige, raumfüllende Computer erforderte, kurze Zeit später auf einen daumennagelgroßen Chip passen würden. Dieselbe Entwicklung ist auch im Bereich der erneuerbaren Energien festzustellen. Gerade im Hinblick auf die Speicherung des grünen Stroms, die viele für völlig unmöglich halten, wurden manche Wege bisher noch gar nicht erforscht. Insgesamt jedoch haben die Ökostromtechnologien das Stadium des Dreirads längst hinter sich gelassen. Nach fast drei Jahrzehnten Forschung sind sie mindestens beim Mercedes der 1950er Jahre angelangt. Das ist kein schlechter Stand, aber es gibt noch Spielraum nach oben. Schon jetzt ist abzusehen, dass der grüne Strom mittel- und langfristig noch billiger wird und dass gleichzeitig die Technologien zur Produktion, Speicherung und Verteilung immer besser werden. Und das mit hundertprozentiger Garantie: Sonne und Wind sind nicht nur unendlich vorhanden, sondern auch kostenlos verfügbar, während die Ressourcenknappheit die Öl-, Gas- und Kohlepreise in die Höhe treiben wird. Die umweltfreundlichere und zugleich nachhaltigere Energieversorgung ist also nicht nur technisch machbar, sondern auch noch billiger als die konventionelle. Ist da nicht alles »im grünen Bereich« – im wahrsten Sinne des Wortes?
Tatsächlich gibt es allen Grund, optimistisch zu sein: Im Jahr 2011 verabschiedete die EU eine verbindliche Roadmap, die vorsieht, dass alle Staaten den Anteil der erneuerbaren Energien an ihrer Stromversorgung bis zum Jahr 2050 auf 80 Prozent erhöhen. Damit leitete die Politik in Europa einen Prozess ein, der einen vollständigen Umbau der Energieversorgung zum Ziel hat. In absehbarer Zukunft sollen CO2-emittierende Kohlekraftwerke – in Deutschland auch die Atomkraftwerke – durch umweltverträglichere Energien ersetzt werden, an denen die erneuerbaren einen hohen Anteil haben. – Wo also liegt das Problem? Wieso ist Deutschlands Energieversorgung in Gefahr? Was spricht dagegen, den begonnenen Umbau in der geplanten Weise fortzusetzen?
Gegen Neuerungen sprechen immer zwei Dinge: erstens der alte Besitzstand. Und zweitens: die grundsätzliche Angst des Menschen vor dem Neuen. Wer an der herkömmlichen Energieversorgung gut verdient, wird alles gegen Veränderungen tun, die seine Position gefährden. Für die Energieversorger, die auf fossile Brennstoffe und Atomkraft setzen, stellen Ökostromanbieter eine ernst zu nehmende Konkurrenz dar. Und so kommt es, dass diejenigen, die im Energiemarkt bestens aufgestellt sind, alles tun, um bei den Menschen – ihren Kunden – die Angst vor Neuerungen zu schüren. Das ist eine ihrer stärksten Waffen im Kampf um Strom. Die anderen, das sind die Politiker, die es zu überzeugen gilt. Denn am Ende entscheidet der Wähler.
Die Lobby der großen Energieversorger und ihre politischen Vertreter überschütten uns mit irreführenden Behauptungen und Fehlinformationen. Diese Vorgehensweise wird einerseits flankiert von Polemiken, die längst überwunden geglaubte Ressentiments wiederbeleben. Andererseits ist sie unterfüttert von wissenschaftlichen Studien, in denen die Daten im eigenen Interesse gerechnet und gedeutet werden. So werden wir manipuliert und fangen an, den abschreckenden Horrorszenarien von der Ökostromkatastrophe Glauben zu schenken. Es ist beängstigend, wie erfolgreich diese Strategie in den letzten Monaten aufging. Es ist ebenso beängstigend, dass eine vernünftige Politik, die nicht nur den großen Umweltproblemen unserer Zeit begegnet, sondern zudem die Wirtschaft stärkt, neue Arbeitsplätze schafft und Deutschland weltweit zum Technologiemarktführer machen kann – dass diese Politik von geldmächtigen, aber zahlenmäßig geringen Lobbyisten torpediert wird.
Der Prozess, die Energieversorgung eines ganzen Landes, gar eines ganzen Kontinents umzubauen, ist langwierig und mit großen Risiken behaftet. So schön, wie die sonnen- und winddurchflutete Energiezukunft uns am Ende scheinen mag – es ist ein weiter Weg dorthin, der große Anstrengungen erfordert.
Diesem Prozess droht Gefahr, weil es Kräfte gibt, die versuchen, ihn auf halber Strecke zu unterwandern. Anstatt sich ihrer Aufgabe zu widmen, lassen sich Verantwortliche in der Politik von den Gegnern der Energiewende zu Rückwärtsschritten zwingen. Jene, die schon immer gegen die Umstellung der Energieversorgung waren, machen heute so viel Lärm, dass es ihnen zunehmend gelingt, den bereits begonnenen Umbau zu bremsen, um ihn am Ende vielleicht ganz zu stoppen.
Und es droht Gefahr, weil die Gegner der Energiewende dabei zunehmend Erfolg haben: Immer mehr Menschen glauben das Märchen vom teuren Ökostrom. Plötzlich ist überall die Rede davon, dass der Prozess zu schnell gehe, dass die Ziele nicht erreichbar seien und Deutschland Versorgungsengpässe zu erwarten habe. Das Scheitern wird als Bedrohungsszenario an die Wand gemalt. In leuchtendem Rot steht dort: Der Umbau wird teuer, und wir riskieren Blackouts und Chaos. Die Buchstaben dieses Menetekels sind so groß, dass immer mehr Menschen dies alles für eine reale Bedrohung halten.
Nun könnte man sagen, dass sich Lügen und Halbwahrheiten auf Dauer nicht halten. Sollte an der ganzen Panikmache nichts dran sein, wird sich das Neue gegen den Widerstand des Alten schon irgendwann durchsetzen. – Das ist richtig. Doch, und das wissen die Akteure genau: Indem sie auf Zeit spielen, schaffen sie unter der Hand Fakten. Während den grünen Energien die Förderung gekappt und der Ausbau der erforderlichen Netze verzögert wird – was den gesamten Umstellungsprozess gefährdet –, bauen die großen Konzerne Kohlekraftwerke. Diese haben wiederum eine Laufzeit von 40 bis 60 Jahren. Wenn aber der Energiebedarf durch die neuen Kraftwerke gedeckt ist, gibt es bald, in gut zehn Jahren, keinen Grund mehr, Geld in andere Energieformen zu investieren.
Obwohl es nicht wahrscheinlich ist, dass in Deutschland de facto die Lichter ausgehen, besteht Anlass zu großer Sorge: Die nächsten zehn Jahre werden darüber entscheiden, wie unsere Stromversorgung in Zukunft aussehen wird. Werden wir große Kohlekraftwerkparks haben und bald in Treibhausgasen ersticken? Werden wir unser Geld weiter in die aufwendige Suche nach Endlagern für Atommüll investieren? (Das Entsorgungsproblem ist noch nicht annähernd so weit gelöst wie das der angeblich so unterentwickelten Technologien zur ökologischen Stromproduktion.) Werden wir, abhängig von fossilen Brennstoffen, einen Anstieg von Öl-, Kohle- und Gaspreisen auf dem Weltmarkt erleben, der immer weiter steigende Strompreise nach sich zieht?
Gefahr droht auch, weil jede Verzögerung, jede Sabotage dem Prozess des Energieumbaus schadet. Das, was im Moment passiert, ist die schlechteste aller Lösungen: Jede Energiepolitik, auch die, die auf Atom-, Kohle- oder Gaskraftwerke setzt, wäre besser, wenn sie ihre einmal gesteckten Ziele konsequent weiterverfolgen würde. Es kann keine gute Politik sein, den Ausstieg aus der Atomkraft erst zu beschließen (2000), dann vom Ausstieg auszusteigen (2010), nur um ein halbes Jahr später auch diese Kehrtwende wieder rückgängig zu machen. Es kann nicht gut sein, 18 Monate nach Beschluss der Energiewende den dafür verantwortlichen Minister in die Wüste zu schicken und sein Konzept still und heimlich wieder einzudampfen. Seinem Nachfolger, Peter Altmaier, gab der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) in einer Stellungnahme kurz nach seiner Ernennung den Rat mit auf den Weg, er solle »bloß nicht den Röttgen machen«. Natürlich hat Politik mit Widerständen zu kämpfen. Aber sie sollte selbst auch noch kämpfen können, und zwar mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln der Kommunikation und der Entscheidungsgewalt. So muss es nun also heißen: Egal was man tut, man sollte entschlossen handeln.
Der Kampf um Strom ist im letzten halben Jahr härter und aggressiver geworden. Mit aller Macht versuchen die Kontrahenten, anstehende politische Entscheidungen in ihrem Sinne zu beeinflussen. Das geschieht einerseits hinter den Kulissen, wo Lobbyisten das übliche Strippenziehertheater veranstalten. Doch es reicht nicht aus, sich die Politik gewogen zu machen, mit welchen Mitteln auch immer. Die nächsten Wahlen stehen an, und so wird es immer notwendiger, dem Wähler als »gut für alle« zu verkaufen, was vielleicht nur gut für wenige ist. Denn bei allem Einfluss des Geldes ist die Macht des Wählers nicht zu unterschätzen. Bisweilen blitzt sie deutlich auf, zum Beispiel angesichts der Hast, mit der die schwarz-gelbe Regierung kurz nach der Atomkatastrophe in Japan die Hälfte unserer Atomkraftwerke abschaltete, nachdem sie sich jahrzehntelang für deren Erhalt eingesetzt hatte. Der damalige Bundesumweltminister Norbert Röttgen soll gesagt haben, dass diese Kehrtwende so schnell entschieden werden musste, weil sie sonst vor allem von den Lobbyisten verhindert worden wäre. Auch die einberufene Ethikkommission unter der Leitung von Klaus Töpfer sprach sich nach langen Anhörungen für die Rücknahme der Laufzeitverlängerung aus, obwohl längst nicht alle Mitglieder einhellig für diese Empfehlung waren. Schon im Vorhinein war die Zusammensetzung dieser Kommmission heftig umstritten. Der Bundesumweltminister und auch die Kanzlerin hatten meine Person vorgeschlagen, doch die FDP sträubte sich dagegen. Ein deutlicheres Beispiel für die politische Einflussnahme auf ein angeblich neutrales Gremium gibt es kaum.
Japan selbst hat sich für den Ausstieg aus der Atomenergie immerhin noch eineinhalb Jahre Zeit gelassen und diesen erst im September 2012 beschlossen. Einer Meldung vom 14. September 2012 zufolge sollte dieser Prozess bis 2030 abgeschlossen sein. Doch schon am 19. September, nicht einmal eine Woche später, titelte Spiegel Online: »Lobbyisten bremsen Japans Energiewende aus«. Und im Untertitel hieß es: »Ist das der Ausstieg aus dem Ausstieg?« – Kommt Ihnen das irgendwie bekannt vor?
Auf dem Dreikönigstreffen der FDP im Januar 2012 verglich Philipp Rösler den Club of Rome mit den Zeugen Jehovas: Beide predigten ständig Weltuntergangsszenarien, die immer wieder verschoben werden müssten, da sie nie eintreten. Wer von Wachstumsgrenzen und Verzicht spricht, dem bescheinigte Rösler Zukunftsverzagtheit und Mimosentum. Es ist ein bisschen so, als würde der Erste Offizier auf der Titanic den Kapitän und die gesamte Mannschaft, die gerade den vor ihnen auftauchenden Eisberg entdeckt haben, einer pessimistischen Sicht auf die Zukunft bezichtigen. »Nicht bremsen!«, ruft Rösler. Mit der Parole »Mehr Wachstum« will er der FDP neues Profil verleihen.
Dennis Meadows, der zu den frühen Mitgliedern des Club of Rome gehört, gestand mir in einem Gespräch, er sei erschüttert über den Widerstand, auf den alle Bemühungen um eine nachhaltige Politik treffen. Seit die Wissenschaftler mit ihrem Bericht von 1972 das erste Mal auf die Grenzen des Wachstums hingewiesen haben, habe er 40 Jahre lang immer wieder mit ansehen müssen, wie sich mächtige Wirtschaftslobbyisten und rückwärtsdenkende Politiker mit allen Mitteln gegen ein Umdenken zur Wehr setzen; unter anderem, indem sie den Klimawandel leugnen und die Überbringer der Botschaft verunglimpfen. Meadows’ besorgte und auch etwas resignierte Rückschau bestätigte, was ich gerade mit eigenen Augen beobachte: Längst schien die Energiewende auf einem guten Weg, da wird auf einmal so massiv gegen das Projekt Propaganda gemacht, dass die Stimmung in der Bevölkerung zum ersten Mal zu kippen droht. Inzwischen machen sich Unsicherheit und Zukunftsangst breit. Kurioserweise scheint der Ökostrom-Umbau den Menschen neuerdings größere Sorge zu bereiten als die Bedrohungen durch Klimawandel und Umweltschäden (etwa durch Reaktorkatastrophen wie in Fukushima) oder der weltweite Zusammenbruch des Wirtschafts- und Finanzsystems.
Die Zukunft ist ungewiss, und diese Ungewissheit öffnet der Spekulation Tür und Tor. Dazu gehören auch die vielen Zahlen, die uns präsentiert werden, um die Zukunft zu beschreiben: Die einen rechnen den wirtschaftlichen Untergang Deutschlands herbei, die anderen versuchen verzweifelt, dagegenzuhalten. Anstelle sachlicher Diskussionen, in denen gute Argumente zählen, erleben wir zunehmend medial inszenierte Auseinandersetzungen von Experten, die einander mit einer Flut von Studien attackieren und dabei oft mehr zur Verdunkelung als zur Klärung beitragen. Das ist von manchen durchaus gewollt: Der Zuschauer soll nicht verstehen, er soll glauben. Die Agentur für Erneuerbare Energien nahm sich vor kurzem selbst der Zahlenproblematik an: Am 14. August 2012 veröffentlichte sie einen Bericht, in dem Studien der vergangenen drei Jahre verglichen wurden. Die Berechnungen dieser Studien treffen – beruhend auf Annahmen für das Jahr 2030 – Voraussagen über die Preisentwicklung bei fossilen Energien. Ihre Ergebnisse weichen bis zu 150 Prozent voneinander ab. Wo Annahmen dermaßen weit auseinanderliegen, führen sie zwangsläufig zu extrem unterschiedlichen Ergebnissen.
Zahlen allein enthalten keine sinnvoll zu bewertenden Informationen. Solange wir nicht wissen, mit welchen Faktoren gerechnet wurde, und solange wir nicht einschätzen können, wie realistisch solche Faktoren sind, nutzen uns die Ergebnisse nichts. Der Studienvergleich der Agentur für Erneuerbare Energien führt uns dies vor Augen: Einige der untersuchten Gutachten gingen in ihren Berechnungen für die nächsten zehn Jahre von einem Importpreis für Rohöl aus, der schon im Jahr 2011 deutlich übertroffen wurde. Sie prognostizierten, dass es beim Ölpreis eher zu Stagnationen oder sogar Senkungen kommen wird, und kamen so zu einem für die fossilen Brennstoffe günstigen Ergebnis. Und das, obwohl die Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte bewiesen haben, wie unrealistisch ein solches Szenario ist. Niemand glaubt ernsthaft, dass der Ölpreis in den nächsten Jahren dauerhaft fallen wird. Solange uns solche Studien jedoch immer nur die Ergebnisse der Rechnung präsentieren, sind wir geneigt, ihnen zu vertrauen. Da heißt es dann: Man hat errechnet, dass die fossilen Brennstoffe in den nächsten 30 Jahren vergleichsweise billig sein werden, während der Preis für Ökostrom immer weiter steigen wird. – Und irgendwann glauben wir dann diese Argumente.
Gleiches gilt ebenso für die Gegenseite: Auch die Lobby der erneuerbaren Energien rechnet mit Annahmen, die für ihre Ziele günstig sind. Beide Seiten sehen sich mit der Schwierigkeit konfrontiert zu beurteilen, wie realistisch eine Prognose die Zukunft beschreiben kann. Aus dem Dilemma, dass alle Rechnungen mit Annahmen verbunden sind, die etwas über die Haltung des Rechnenden aussagen, komme auch ich als Wissenschaftlerin und Autorin nicht heraus. Mich hat meine langjährige Analyse der Fakten – aus der Vergangenheit wie auch der Prognosen – zu der Schlussfolgerung geführt, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien auf Dauer sowieso erforderlich sein wird und ein möglichst zügiger Ausbau wünschenswert ist, um uns unabhängig von Energieimporten zu machen und die schlimmsten Gefahren des Klimawandels zu vermeiden. Daher bin ich jetzt nicht mehr neutral und unternehme mit diesem Buch den schwierigen und vielleicht sogar fragwürdigen Versuch, eine Auseinandersetzung zu beschreiben, zu deren Protagonisten ich selbst gehöre. Angesichts dieser Situation scheint es geboten, meine Absichten besonders deutlich zu machen: Seit Beginn meiner Tätigkeit am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) im Jahr 2004 werden meine Forschungsergebnisse stark von der Öffentlichkeit wahrgenommen. Inzwischen hat das Thema Energiewende die Medien in ihrer gesamten Breite erreicht, und die öffentliche Diskussion verstärkt sich zunehmend. In meinen beiden letzten Büchern – Die andere Klima-Zukunft und Jetzt die Krise nutzen – ging es mir darum, wissenschaftliche Forschungsergebnisse einem breiten Publikum verständlich zu vermitteln. Besonders gefreut habe ich mich, dass mir für dieses Engagement 2011 die Urania-Medaille verliehen wurde. Diese Auszeichnung sowie die zahlreichen positiven Rückmeldungen aus der Bevölkerung haben mich nachhaltig darin bestärkt, mich auch weiterhin als Wissenschaftlerin in die öffentliche Diskussion einzubringen. Der Laudator Klaus Töpfer sagte den aus meiner Sicht bemerkenswerten Satz, dass insbesondere der Pragmatismus und die Unaufgeregtheit, mit der ich beharrlich für die Energiewende eintrete, wichtig seien. Aus diesem Grund habe ich mich entschlossen, dieses Buch zu schreiben. Natürlich ärgere ich mich auch über die Gegner der Energiewende. Dennoch will ich mit dieser Publikation zur Versachlichung beitragen. Sie ist daher nicht als wissenschaftliche oder populärwissenschaftliche Abhandlung zu verstehen, sondern als argumentative Auseinandersetzung mit den Thesen und Schlachtparolen der Gegenseite. Manche von ihnen sind beinahe schon zu Mythen geworden: Ist Ökostrom ein Luxusgut? Betreiben wir mit dem Gesetz über erneuerbare Energien Planwirtschaft? Drohen Deutschland Blackouts, und rollt eine Tsunami-Welle von Kosten auf uns zu?
Mit diesen Behauptungen, die sich hartnäckig durch die Debatte ziehen, setze ich mich im vorliegenden Buch auseinander. Seine Kapitel sind mit den Thesen oder, besser gesagt, den Mythen der Gegenseite überschrieben. Diese Glaubenssätze werden jeweils im Detail untersucht, wobei die zum Teil notwendigen Zahlen, auf die ich mich berufe, durch eine nachvollziehbare Argumentation veranschaulicht werden.
Die Energiewende, die Umstellung unserer Stromversorgung auf erneuerbare Energien, ist ein Projekt gewaltigen Ausmaßes. Und auch hier stellt sich die Frage: Beschränken sich die Schwierigkeiten, um beim Beispiel der eingangs erwähnten Schöneberger Brücke zu bleiben, auf einzelne Bauteile, wie das Geländer oder die verwendeten Materialien, oder muss man gleich das Projekt selbst verteufeln? Richtet sich die vielerorts vernehmbare Kritik an bestimmten Technologien gegen die Art und Weise der Finanzierung oder aber gegen Fehler in Planung und Durchführung?
Am Ende, wenn die Interessen und Motive klarer sind, ist es immer auch eine Glaubensfrage. Denn, das soll hier nicht verschwiegen werden, der Umbau der Energieversorgung stellt uns auch vor Probleme. Und auch alternative Energiequellen sind mit Nachteilen verbunden. Es tauchen neue Fragen auf: Wollen wir riesige Pumpspeicherwerke mitten in bisher unberührter Natur? Wollen wir Stromautobahnen, die sich durch das ganze Land ziehen? Es wird eine Frage der Zeit sein, diese Probleme zu lösen.
In der Sache bleibt die Bewertung der Vor- und Nachteile jedem selbst überlassen. Einerseits. Andererseits muss es uns als Gesellschaft gelingen, uns für einen Weg zu entscheiden. Dieser Prozess ist mühsam, und Streit und Zwist gehören dabei zur Tagesordnung. Das ist normal.
Nicht normal, sondern in hohem Maße beunruhigend ist, was in einem Bericht der ARD-Sendung »Monitor« am 10. September 2012 so formuliert wurde: »Politik muss beeinflusst werden. Das ist nicht verwerflich, denn nur so können gute Entscheidungen entstehen, beim Streit über den besten Weg. Wenn aber das Geld darüber bestimmt, wer am Ende gehört wird, dann ist das der Ausverkauf der Demokratie.« Die Gegner der Energiewende bilden eine geldmächtige Lobby. Sie sind dadurch lauter und einflussreicher als die Lobby ihrer Befürworter. In ihrem zunehmenden Erfolg sehe ich eine Gefahr – und einen wesentlichen Grund, dieses Buch zu schreiben.