29. DIE STERBENDEN UND DIE TOTEN
Nantilam hatte mir etwas mitteilen wollen, das nicht offensichtlich war. Aber worum mochte es sich bloß handeln? Stundenlang zermarterte ich mir darüber das Hirn. Im Geiste wiederholte ich alles, was sie mir erzählt hatte. Als Galen am Nachmittag die Waffen schärfte, empfand ich die damit verbundenen Geräusche als geradezu schicksalhaft. Sie taten mir in den Ohren weh und lenkten mich ab. Kaiserin, Tochter geboren, Magie weitergegeben, Zwillinge, verbitterter Overlord, London in Gefangenschaft, gefoltert, wieder und wieder geheilt … Londons Flucht, alterslos, praktisch unsterblich … Ich schüttelte den Kopf und begann erneut, diesmal langsamer, mir die Begriffe herzusagen, die ich für Schlüsselwörter hielt: Kaiserin, Tochter geboren, Magie weitergegeben, Zwillinge …
Bei dem Treffen mit der Hohepriesterin zu Verhandlungen vor dem Fall Hytanicas war London erneut gefangen genommen worden. Sie hatte ihn mit zurück nach Cokyri genommen, ohne dass der Overlord davon erfahren hatte. Er war im Tempel der Hohepriesterin festgehalten worden … Und jetzt wusste ich auch, warum. Aber inwiefern konnte mir das nützen?
Kaiserin, Tochter geboren, Magie weitergegeben …
Abrupt richtete ich mich auf, weil mir mit einem Mal ein Licht aufgegangen war. Ich sprang auf die Füße, eilte zur Hohepriesterin und kniete mich neben sie, ohne auf Halias’ alarmierten Gesichtsausdruck zu achten.
»Wenn Ihr eine Tochter zur Welt brächtet, was würde dann aus Eurer Zauberkraft und der Eures Bruders?«
»Alera, was hast du –«, hob der Elitegardist an, doch ich hob die Hand, um ihm Schweigen zu gebieten.
»Das weiß niemand«, antwortete Nantilam und musterte mich durchdringend, was vielleicht ein Hinweis darauf war, dass ich der Sache langsam näherkam. »Einen Fall wie den unseren hat es bislang noch nie gegeben. Aber wie auch immer die Weitergabe der Magie erfolgt, sie stünde meiner Tochter zu.«
»Dann glaubt Ihr – und Euer Bruder glaubt das auch –, dass, solltet Ihr eine Tochter gebären, die Macht von Euch beiden auf sie übergehen wird«, schloss ich und begann zu lächeln. Ich wartete gar keine Antwort mehr ab, sondern lief sogleich in den hinteren Teil des Unterschlupfs, um mir einen Pergamentbogen und eine Schreibfeder zu holen.
»Alera, was geht hier vor?«
Diesmal war es mein Vater, der mir diese Frage stellte und gänzlich unerfreut über mein so wenig damenhaftes Benehmen schien.
»Wir müssen dem Overlord eine weitere Nachricht zukommen lassen«, verkündete ich, drehte mich um und sah den anwesenden Männern nacheinander in die Augen. Galen saß immer noch und schärfte ein Schwert. Cannan war an der Seite seines Sohnes, der sich wieder mühsam auf einen Ellbogen stützte und mich entgeistert anstarrte. Halias wachte neben der Hohepriesterin, und mein Vater reichte meiner frierenden Mutter und meiner Schwester gerade weitere Decken. Rasch erklärte ich ihnen meine Idee genauer und kam dann zum entscheidenden Schluss.
»Wir werden ihm mitteilen, seine Schwester sei schwanger. Und dass wir mit ihr verschwinden werden, sofern er das hytanische Volk und London nicht unverzüglich aus seiner Gewalt entlässt.«
»Und das soll er uns glauben?«, fragte Halias.
»Er muss es gar nicht glauben«, sagte ich mit der Feder in der Hand, weil ich entschieden hatte, die Nachricht selbst zu verfassen. »Er muss es nur fürchten.«
Als es darum ging zu entscheiden, wer dem Overlord die Nachricht überbringen sollte, überraschte Temerson uns alle durch sein freiwilliges Angebot.
»Ich möchte helfen«, sagte er nur.
Ich zögerte und bemerkte bei den anderen ähnliche Reaktionen. Temerson war noch kein erwachsener Mann, seine Verfassung noch instabil, und wir zweifelten wohl allesamt daran, dass er in der Lage wäre, dem grausamen Herrscher gegenüberzutreten, der vor seinen Augen seinen Vater getötet hatte. Allerdings wollte auch niemand ihm genau das ins Gesicht sagen.
»Junge, das tust du doch«, versuchte Halias für uns alle zu sprechen.
»Nein«, erwiderte Temerson unerwartet scharf. »Ich habe zu viel gesehen, um noch ein Junge zu sein. Und nun möchte ich das Gesicht dieses Bastards sehen, wenn er liest, was Königin Alera ihm mitzuteilen hat.«
Das verblüffte uns so, dass wir erst einmal schwiegen. Vor nicht langer Zeit hätte uns die Vorstellung einer solchen Äußerung von Temerson zum Lachen gebracht. Schließlich ergriff der Hauptmann – wie immer der Besonnenste unter uns – das Wort.
»Galen wird ihn begleiten.« Für alle Fälle, fügte ich im Stillen für mich hinzu. Aber die Idee war in jedem Fall gut, denn der Haushofmeister hatte ja bereits ausgekundschaftet, wohin der Overlord London verschleppt hatte. »Er wird warten, während Temerson die Nachricht überbringt.«
Früh am nächsten Morgen brachen die beiden auf. Temerson hatte den von mir unterzeichneten Pergamentbogen in der Hand. Sie wollten rechtzeitig dort sein, bevor der Overlord eintraf, um London möglicherweise noch vor den Qualen dieses Tages retten zu können. Noch ehe die Männer wieder zurückkamen, wussten wir, dass unser Plan aufgegangen war, denn es schollen keine Schmerzensschreie mehr durchs Gebirge. Als Temerson und Galen eintrafen, bestätigten sie uns, dass die Botschaft den Overlord tatsächlich getroffen hatte – er war sofort in Richtung unserer Stadt aufgebrochen und hatte London mitgenommen. Nun blieb uns nichts anderes als zu warten.
Und es war ein langes Warten. Die Tage vergingen, unsere Zuversicht schwand, Wut flammte auf und die Ungewissheit machte uns zu schaffen. Halias war aufgebrochen, um die Stadt zu beobachten, falls der Overlord unserer Forderung nachkam, aber danach hörten wir nichts von ihm. Die Möglichkeit des Scheiterns stand uns allen vor Augen. Und wenn nicht bald etwas passierte, blieb uns ohnehin keine andere Wahl, als zu verschwinden, wie wir es angedroht hatten.
»Er sucht nach einem anderen Weg, meine Freilassung zu erzwingen«, sagte die Hohepriesterin, die als Einzige unter uns nicht beunruhigt wirkte. »Aber natürlich gibt es keine Alternative. Am Ende wird er genau das tun, was Ihr verlangt.«
»Warum beruhigst ausgerechnet du uns?«, giftete Galen, der neben Steldor stand und unablässig seinen Dolch in die Luft warf und wieder auffing. Er schien aufgebracht, was in letzter Zeit zu einer Art Dauerzustand bei ihm geworden war.
»Im Krieg bin ich erbarmungslos«, erklärte Nantilam ihm knapp. »Ich tue, was getan werden muss, um den Sieg zu erringen. Aber ob Ihr es glaubt oder nicht, ich kenne auch Gnade. Nachdem es unterworfen ist, würde Eurem Volk von meiner Hand kein Unheil drohen. Das ist nur die Art des Overlord, der sich am Schmerz anderer ergötzt. Daher wird meine größte Herausforderung, sobald ich wieder frei bin, darin bestehen, ihn in die Schranken zu weisen.«
Galen funkelte sie an und schien es nicht zu goutieren, dass sie von seinem unterworfenen Volk sprach.
»In einem einzigen Punkt magst du recht haben«, warf er ihr hin, »ich glaube dir nicht.«
Dann verließ er die Höhle zusammen mit Steldor, der zwar noch schwach, aber zum Glück wieder auf den Beinen war. Von Natur aus rastlos verbrachte mein Gemahl täglich einige Zeit außerhalb unseres Unterschlupfes. Dann atmete er frische Luft und genoss das Sonnenlicht, blieb aber stets in der Nähe, da er noch nicht in der Lage gewesen wäre, eine Waffe zu führen.
Plötzlich verkündeten Galen und Steldor Halias’ Rückkehr.
»Er ist da!«, riefen sie und stürmten aus dem hellen Vormittag zurück in die Höhle. Temerson hielt draußen Wache, während Cannan die Hohepriesterin bewachte. Wir anderen hatten uns um die Feuerstelle versammelt. »Halias ist zurück!«
Alle waren aufgestanden und starrten auf den Höhleneingang. Fast schien es, als wage niemand zu atmen, während wir darauf warteten, welche Nachrichten Halias uns bringen würde. In jedem Fall würden wir erfahren, ob wir zumindest einen kleinen Sieg zu verzeichnen hätten. Es dauerte nicht lange, da kam der Hauptmannstellvertreter, vor Eile keuchend.
»Er hat die Tore öffnen lassen«, sagte Halias schwer atmend und sah uns der Reihe nach an. »Er hat getan, was wir verlangt haben. Unsere Leute haben freien Abzug.«
Wir brachen in Jubelgeschrei aus, und Erleichterung erfasste uns wie eine kräftige Frühlingsbrise. Ich schaute zur Hohepriesterin, die ebenfalls ein zufriedenes Gesicht machte, dann sah ich wieder zu Halias, der ungläubig den Kopf schüttelte, während er sich vorbeugte und die Hände auf die Knie stützte, um wieder zu Atem zu kommen. Ich vermochte mir nicht einmal vorzustellen, wie das ausgesehen haben musste, als Tausende Menschen durch die Stadttore in die Umgebung hinausgezogen sein mussten.
»Ein Wunder!«, rief mein Vater, doch der Elitegardist hatte uns noch mehr zu berichten.
»Der Overlord hat Männer zu der Lichtung geschickt, auch London ist bei ihnen. Sie werden nach ihrem Herrscher schicken, sobald wir mit der Hohepriesterin dort erscheinen.«
»Dann ist London also am Leben?«, fragte ich und hörte dabei mein Herz heftig in meinen Ohren pochen.
»Ich denke schon.« Halias’ Blick ging zu Cannan, denn er erwartete dessen Meinung zu seiner nächsten Äußerung. »Vielleicht gelingt es uns doch noch, ihn zu retten.«
Der Hauptmann schwieg nachdenklich, und auch ich erwartete nervös seine Einschätzung.
»Wenn er noch ein wenig durchhält, schaffen wir es vielleicht«, sagte er endlich. »Aber ich hielte es für besser, den Overlord erst zu treffen, nachdem der Großteil unserer Bevölkerung sicheren Boden erreicht hat.« Sein wachsamer Blick ging zu Nantilam, bevor er fortfuhr. »Das könnte verhindern, dass er sein Wort bricht.«
Halias nickte. Dann schickte Cannan Galen los, um die Evakuierung zu leiten und Männer zu bestimmen, die die Zivilisten weiter westwärts führen sollten. Steldor hätte seinen besten Freund am liebsten begleitet, doch es war nicht einmal nötig, dass sein Vater ihn darauf hinwies, wie unzureichend seine gegenwärtige Verfassung für einen so langen Ritt wäre.
Stunden verstrichen, aber bestimmt nicht genug Zeit, um alle außer Reichweite des Overlord zu bringen. Andererseits wuchs unser Unbehagen, wenn wir an London dachten, der sich nach wie vor in der Hand der Schergen des ruchlosen Kriegsherrn befand. Als Cannan meinte, wir hätten die Geduld unseres Widersachers bis an ihre Grenzen strapaziert, fesselte Halias der Hohepriesterin die Hände vor dem Körper und verband ihr die Augen. Wenn die Sache schiefging, hatte der bedachtsame Hauptmann sich überlegt, sollte Nantilam nicht in der Lage sein, zu unserem Unterschlupf zurückzufinden. Dann nahm Halias die Zügel ihres Pferdes, während er, Cannan und ich ebenfalls aufsaßen. So machten wir uns mit unserer Gefangenen auf den Weg zu ihrem Bruder. Steldor beobachtete unseren Aufbruch. Er blieb nicht nur wegen der zu großen körperlichen Anstrengung zurück, sondern nicht zuletzt, weil ich diejenige war, die dies hier initiiert hatte und es daher auch zu Ende bringen sollte. Er und ich hatten seit seiner unerwarteten Genesung noch kaum miteinander gesprochen, doch sein Verhalten verriet mir, dass er mich mit neu entdecktem Respekt betrachtete.
Der Weg, den wir dann zurücklegten, erschien mir als der längste von allen. Selbst länger als damals in der Nacht, als wir aus dem Schloss geflohen waren. Furcht und Misstrauen plagten uns bei jedem Schritt, denn die Cokyrier waren nun einmal berüchtigt für ihre Falschheit. Ich spürte zwar auch Zuversicht und freudige Erwartung, denn obwohl wir unser Heimatland würden verlassen müssen, waren unsere Untertanen frei und damit hatten wir die Chance, irgendwo ein neues Hytanica zu gründen.
Als wir wachsam auf die Lichtung kamen, war der Overlord bereits zugegen. Und obwohl der Schnee schon schmolz und ein lauer Frühlingswind mir das Haar zerzauste, schien die Gegenwart des Kriegsherrn einen eisigen Schatten auf alles zu werfen und mir jegliche Hoffnung aus den Tiefen meiner Seele zu rauben. Ich schloss kurz die Augen und versuchte, meine Furcht abzuschütteln.
Narian war wieder an der Seite seines Herrn und Meisters. Er hielt London. Ich musterte den jungen Mann genau und suchte nach Anzeichen dafür, dass er immer noch der Junge war, in den ich mich einst verliebt hatte. Als seine strahlend blauen Augen auf meine trafen, hatte ich meine Antwort gefunden. Die Sorge darin war unübersehbar. Egal, ob Narian näher bei Cannan oder dem Overlord stand, er würde stets mir zur Seite stehen.
London war völlig reglos. Sein Kopf hing auf seine Brust herab, und ich fragte mich, ob wir Nantilam nicht vielleicht gegen einen Leichnam tauschen würden. Cannan hatte die Hohepriesterin vor sich gezogen und benutzte sie als Schild gegen die Magie des Kriegsherrn. Außerdem hielt er ihr einen Dolch an die Kehle. Er war gewillt, sie zu töten, wenn es sein musste, und wollte sichergehen, dass ihr Bruder keine Chance hätte, dies zu verhindern.
»Ich habe meinen Teil des Handels erfüllt«, stellte der Overlord eisig fest. »Jetzt gebt mir meine Schwester zurück.«
»Zuerst London«, erwiderte ich sofort mit fester Stimme. »Denn wir genießen einen ehrenwerteren Ruf, als Cokyri ihn je haben wird.«
Verächtlich starrte er mich an. Voller Hass, erneut in Zugzwang zu sein, doch schließlich gab er Narian brummend ein Zeichen, den stellvertretenden Hauptmann weiter vorzuschaffen.
»Lass ihn da fallen«, befahl er, als Narian die halbe Entfernung zu uns zurückgelegt hatte.
Und auch wenn Narian sicher gewartet hätte, bis Halias zur Stelle gewesen wäre, um ihn sanfter zu übernehmen, gehorchte er seinem Gebieter ohne zögern und ließ London unverzüglich hart auf die Erde fallen. Dann trat er einige Schritte zurück. Als Halias seinen immer noch reglosen Kameraden erreicht hatte, fasste er ihn unter den Achseln und zog ihn hinter uns in den Schutz des Waldes.
»Und jetzt meine Schwester«, verlangte der Overlord, während Cannan schon das Messer fortnahm. Er schnitt damit die Fesseln an ihren Händen durch. Dann nahm er Nantilam die Binde von den Augen und stieß sie vorwärts. Sie fand rasch ihr Gleichgewicht wieder und schritt so würdevoll wie immer zu der Seite, auf die sie gehörte. Da machte auch Narian kehrt und folgte ihr.
»Damit sind wir hier fertig«, erklärte der Hauptmann nüchtern und zugleich wachsam, denn nun hatte der Overlord keinen Grund mehr, uns zu verschonen. Also begannen Cannan und ich vor den Feinden in Richtung des schützenden Waldes zurückzuweichen. Dort wartete auch Halias mit London.
»Sind wir das wirklich?« Der Overlord verschränkte die Hände hinter dem Rücken und ein beunruhigendes Grinsen umspielte seine Lippen. Seine ganze Erscheinung war eine unausgesprochene Drohung. »Und ich hatte gedacht, wir würden uns vorher noch ein wenig besser kennenlernen.«
»Geht, Alera«, riet mir Cannan mit Nachdruck. »Sofort.«
Ich konnte die Anspannung des Hauptmannes in Erwartung einer Gefahr neben mir spüren. Rasch warf ich einen Blick zu Narian, dessen Körperhaltung sich ebenfalls geändert hatte und mir seine gesteigerte Wachsamkeit verriet.
»Ja, Alera, geht«, höhnte der Overlord. »Flieht wie ein Feigling und lasst Euren Hauptmann zurück. So wie er selbst geflohen ist und seinen Bruder zurückgelassen hat. Oder erweist Euch als würdige Königin und bleibt, um mir die Stirn zu bieten.«
Obwohl ich wusste, dass ich besser auf Cannan hören sollte, blieb ich an Ort und Stelle. Ich zitterte am ganzen Körper vor Angst, doch mein Herz loderte vor Zorn. Ich musste an Baelic denken, an Destari und an all unsere gefallenen Soldaten. Ich dachte an Miranna und meine Mutter und deren Wunden an Körper und Seele. Ich schaute Narian in die Augen und wusste, dass trotz der Versuche des Overlords, ihn zu missbrauchen, eine gute Seele in ihm wohnte. Dann erinnerte ich mich noch an Londons Mut, als er diesem Bösewicht in Menschengestalt gegenübergestanden hatte. Daraufhin richtete ich mich kerzengerade auf und stellte mich dem Blick des Overlord, denn ich war des Fliehens und Versteckens müde.
»Ihr habt mir viel Kummer bereitet«, sagte er mit leiser, gefährlicher Stimme. »Mit allen anderen hatte ich meinen Spaß, denn ich habe sie alle bestraft … Eure Armee ist zerstört. Den Bruder Eures Hauptmannes habe ich gefoltert. Der Gardist, der Euch heute hierherbegleitet hat, hat unter meinen Händen mehr erlitten, als er je preisgeben wird. Dem Jungen, der sich bei Euch versteckt, habe ich den Vater genommen. Und London hat Schmerzen über sich ergehen lassen müssen, die hundertmal schlimmer sind als alles, was Ihr Euch vorstellt. Doch Ihr … Ihr seid mir entkommen, bis jetzt.«
»Ich habe den Schmerz jedes einzelnen meiner Untertanen gefühlt«, erwiderte ich und verbarg meine Angst hinter meinem unbändigen Zorn.
»Dann müsst Ihr schier unerträglich leiden«, sagte er und lächelte höhnisch. »Und der Tod wird Euch eine willkommene Erlösung sein.«
Ich sah noch den Schrecken in Narians Gesicht, bevor ein infernalisches Feuer mich durchfuhr. Es versengte mich, doch es war unter meiner Haut, sodass ich es nicht sehen, berühren oder löschen konnte. Mir wurde schwarz vor Augen, und ich spürte nur noch, wie es brannte, unerträglich brannte … Schreie waren vergeblich, aber dennoch vermochte ich sie nicht zurückzuhalten. Zugleich erschienen sie mir stumm, weit weg, als kämen sie von einer anderen Person als mir. Ich glaubte, die Erde hätte sich aufgetan und ich sei in die Hölle hinabgestürzt.
Dann ließ der schreckliche Schmerz unvermittelt nach, und ich blieb zitternd und schwach zurück. Ich lag auf der kalten Erde, Cannan kniete schwankend neben mir, und ich begriff, dass er den gleichen Schmerz verspürt haben musste, als er versucht hatte, mich abzuschirmen. Ich setzte mich mühsam auf und hielt nach unserem Feind Ausschau, um zu verstehen, warum er mich nicht getötet hatte, oder, falls er das noch vorhätte, meine Exekution noch ein wenig aufschob. Doch es war nicht der Overlord, der meine Aufmerksamkeit fesselte, sondern Narian. Er stand zwischen seinem Gebieter und mir und wehrte so dessen Angriff ab.
Der Overlord ließ seine Hand sinken, denn offenbar wollte er dem jungen Mann, der gerade mein Leben gerettet hatte, nichts tun. Narian hielt sich aufrecht, war immerhin nicht zu Boden gegangen. Er richtete sich hoch auf und forderte den Kriegsherrn heraus, auf dessen Gesicht ich Unglauben und noch größeren Zorn entdeckte.
»Zur Seite!«, befahl er.
Narian schüttelte den Kopf und ballte die Fäuste. Wutschnaubend stapfte der Overlord auf ihn zu und stieß ihn mit einem furchterregenden Knurren beiseite. Narian stürzte zu Boden und Cannan schützte mich mit seinem Körper, denn unser Feind machte Anstalten, mich erneut zum Schreien zu bringen.
Es war jedoch nicht ich, die aufschrie, sondern der Overlord, nachdem Narian die Macht benutzt hatte, die man ihn gelehrt hatte. Er richtete also den Zauber seines Meisters gegen diesen selbst. Die Wirkung hielt allerdings nicht lange an, denn der Overlord wischte diese Magie so mühelos beiseite, wie er meinen Beschützer zuvor weggestoßen hatte. Dabei schrie er wohl weniger vor Schmerz, sondern eher vor Erstaunen auf. Aber dennoch, der junge Mann, der einst versprochen hatte, mir niemals wehzutun, war erfolgreich, denn die drohende Miene seines Herrn und Meisters war nicht mehr auf mich fixiert.
Narian hatte ihn gegen sich aufgebracht – das war offensichtlich, denn jetzt bediente der Overlord sich nicht mehr seiner Magie, sondern seiner eigenen brutalen Körperkraft. Er ging auf Narian los, packte ihn am Hemd und zerrte ihn wieder auf die Füße. Drohend blickte er auf den jungen Mann hinunter, den er selbst ausgebildet hatte. Dann schlug er ihm mit dem Handrücken aufs Gemeinste ins Gesicht, sodass Narian erneut zu Boden ging und ich einen kleinen Schreckenslaut nicht unterdrücken konnte.
»Du bist mir nicht mehr von Nutzen, Narian«, knurrte der Overlord. »Das wäre Grund genug für mich, dich zu töten. Und solltest du dich noch ein einziges Mal einmischen, werde ich das auch ganz sicher tun.«
Ich sah, dass Narian Blut über die Wange lief. Offenbar hatte der Ring des Overlords, den er vermutlich London abgenommen hatte, ihm eine Wunde gerissen.
»Dann solltet Ihr Euch besser beeilen, denn ich werde nicht zulassen, dass Ihr sie angreift!«
Ohne ein Wort zu erwidern, zog der Kriegsherr sein Schwert.
»Trimion!«
Aus der Stimme der Hohepriesterin klangen Unglaube und Wut, und ihr Bruder wandte den Kopf. Das gab dem am Boden Liegenden exakt den nötigen Moment, um das Schwert mit einem Fußtritt aus der Hand des Overlord zu schlagen. In hohem Bogen flog es ins Unterholz, und Narian verlor keine Zeit, sondern sprang wieder auf die Füße.
»Ich brauche kein Schwert, um dir dein Ende zu bereiten, du Welpe«, höhnte der Overlord und ballte seine nun leeren Hände zu Fäusten. Mit einem furchterregenden Schrei schleuderte er einen unsichtbaren Zauber in Richtung seines widerspenstigen Mündels, das jedoch zur Seite sprang und sich über den Boden wegrollte, um der Macht seines Meisters nicht zum Opfer zu fallen.
»Kein Schwert«, stieß Narian keuchend hervor, der mit einem Knie am Boden blieb, um rasch reagieren zu können, »aber Ihr müsst Euch mich mit Magie vom Leib halten.«
Die Lippen fest aufeinandergepresst, die Augen zusammengekniffen, ging der Overlord entschlossen auf ihn zu, um sich gegen diese Unterstellung zu wehren. Narian kam inzwischen wieder auf die Beine und zog sein Schwert, während er wohl rasend schnell die Vor- und Nachteile eines solchen Kampfes abwog. Zu meinem Erstaunen hob er das Schwert jedoch nicht zum Angriff, sondern stieß es vor sich mit der Spitze in die Erde. Anscheinend wollte er auf die Waffe verzichten, da auch sein Meister über keine solche mehr verfügte. Der Overlord grinste höhnisch über das freiwillige Opfer seines Truppenkommandanten und schien den gleichen Schluss daraus zu ziehen. Umso unerwarteter traf es ihn und er fiel flach auf den Rücken, als Narian den Schwertknauf mit beiden Händen packte und sich daran hochschwang, um seinem Gegner einen mächtigen Tritt vor die Brust zu verpassen.
Narian landete geschmeidig und zog sein Schwert aus der Erde, doch auch der Overlord hatte sich rasch wieder gefangen und war bereits auf den Knien. Narian stürmte mit erhobener Klinge auf ihn zu. An seiner entschlossenen Bewegung und der vollkommenen Konzentration konnte ich ablesen, wie sehr ihm davor graute, die Oberhand zu verlieren, aber ich war mir nicht sicher, ob er sie zwingend verlieren würde. Da wehrte der Overlord das Schwert mit einer seiner metallenen Armschienen ab, schlug es mit einem Knurren weg und traf Narian mit der Faust so heftig, dass dieser bäuchlings zu Boden ging.
Nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, hielt der Overlord Narian davon ab, sich ebenfalls zu erheben, indem er einen Fuß auf den Rücken des jungen Mannes stellte.
»Dann wollen wir doch mal sehen, was du mit einem gebrochenen Kreuz gegen mich ausrichtest, Junge«, tönte er und weidete sich daran, wie seine Beute versuchte, sich von ihm zu befreien.
Ich atmete keuchend, hatte eine Hand vor den Mund geschlagen und versuchte, nicht zu schreien. O Gott, nein, nicht sein Rücken. Steh auf, Narian, steh auf, irgendwie, bitte … Der Overlord hob den Fuß ein wenig an, um mit voller Kraft auf ihn einzutreten, doch das genügte Narian, um mit seiner rechten Hand nach hinten zu schlagen und seinen Meister mit der Zauberkraft zu treffen, die ihm die Legende vom blutenden Mond verliehen hatte. Als der Overlord seitwärts taumelte, erhob Narian sich, spuckte Blut und machte sich nicht einmal die Mühe das Rinnsal fortzuwischen, das ihm aus der Nase lief.
Auch wenn Narian sich seine Magie als letzte Rettung aufgespart hatte, kochte der Overlord. Nachdem er seinen Meister zuerst der Feigheit bezichtigt hatte, erwies sich der Junge selbst als Heuchler, indem er sich ebenfalls der Magie bediente. Als ich sah, wie der Kriegsherr den Mund verzog, da wusste ich, dass Narian in noch größerer Gefahr schwebte als zuvor. Narian schien das auch zu wissen, denn ursprünglich hatte er ja versucht, die Zauberei aus diesem Kampf herauszuhalten.
Von jeglicher Zurückhaltung befreit ließ der Overlord eine Hand vorschnellen, aber wieder duckte Narian sich und schaffte es, der unsichtbaren Bedrohung auszuweichen. Damit kam er seinem Meister wieder näher und brachte es fertig, ihm die Füße unter dem Leib wegzureißen. Dann riss er den Dolch aus der Scheide, die an seinem Unterarm befestigt war. Er machte einen Satz nach vorn, um seinen Gegner wo auch immer zu treffen. Doch der im Verhältnis zu seiner Größe ungeheuer schnelle Kriegsherr fing seine Hand ab. Ich hörte den Schrei, der das Knacken von Narians Handgelenk begleitete, bevor der Overlord ihn beiseiteschleuderte.
Über den Boden rollend kam Narian geschickt wieder auf die Füße, hielt aber mit der anderen Hand sein gebrochenes Gelenk umklammert. Ich fragte mich, wie lange er das aushalten würde, wie viel der Mann, den ich liebte, wohl noch einstecken könnte. Doch als der Overlord erneut auf seinen Gegner zusteuerte, rief die Hohepriesterin ihren Bruder zum zweiten Mal bei seinem Namen.
»Trimion – lass ihn. Er kann nicht mehr gegen dich kämpfen. Es ist vorbei.«
»Nein!« Wütend drehte der Overlord sich zu seiner Schwester um, und einen Augenblick lang fürchtete ich, er würde ihr etwas antun. »Es ist erst vorbei, wenn er tot ist.« Dann richtete er seinen furchterregenden Blick wieder auf Narian. »Jetzt hat er mich zum letzten Mal herausgefordert. Wieder und wieder hat er seine Bedeutung ausgespielt, aber damit ist jetzt Schluss. Sein hytanisches Blut wird sogleich fließen, und zwar so, dass er es gut sehen und begreifen wird, wie wenig es ihm genutzt hat.«
Es quälte mich, Narian so hilflos zu erleben, dabei war er nicht annähernd so hilflos wie ich selbst, die ich traurig alles mit ansehen musste. Tief in meinem Herzen wusste ich, dass es selbst mit einem so kräftigen Mann wie Cannan an meiner Seite sinnlos wäre, sich in die Auseinandersetzung einzumischen. Doch trotz seiner Erschöpfung und seiner Schmerzen weigerte Narian sich zu kapitulieren. Als der Overlord ihm schon gefährlich nahe war, hechtete er nach vorn und dann zur Seite, sodass der Overlord das Gleichgewicht verlor, über den Rücken seines Kommandanten fiel und ein weiteres Mal zu Boden ging. Narian selbst taumelte so rasch von ihm weg, wie er es vermochte, doch der Zorn des Overlord war schneller. Er sprang auf die Füße und streckte den Arm in Richtung seines Opfers aus.
Diesmal war Narian gefangen und nicht mehr in der Lage, dem bösen Zauber auszuweichen. Der Overlord traf ihn und ließ erst wieder von ihm ab, als er schreiend und sich windend niederfiel. Ich hatte das Gleiche nur für wenige Augenblicke zu spüren bekommen und mich nach dem Tod gesehnt. Jetzt brachte ich es zwar nicht über mich, Narian den Tod zu wünschen, aber gleichzeitig ertrug ich es kaum, ihn leiden zu sehen. Ich hätte für ihn um Gnade gefleht, wäre ich dazu in der Lage gewesen. Doch Cannan hielt mich fest, auch wenn er nicht mehr versuchte, mich zum Verlassen des Schauplatzes zu bringen. Er war selbst zu sehr gefangen von dem Kampf, der sich hier abspielte. Sobald Narian tot wäre, würden wir uns vorwerfen müssen, unsere Chance zur Flucht nicht genutzt zu haben, doch im Moment waren wir dazu schlicht außerstande.
Der Overlord näherte sich mit nach wie vor ausgestreckter Hand seinem Opfer, bis er direkt über Narian stand und höhnisch auf den jungen Mann herablächeln konnte, der sich zu seinen Füßen vor Schmerz krümmte. Ich schluchzte und kümmerte mich nicht mehr um meine Sicherheit. Als ein Schrei um Gnade in meiner Kehle aufstieg, legte sich Cannans Hand fest über meinen Mund und verhinderte mein unüberlegtes, sinnloses Aufbegehren.
Narian lag leblos am Boden, als sein Meister endlich die Hand sinken ließ.
»Du hättest mich nicht herausfordern sollen, Junge«, sagte er verächtlich und rollte sein benommenes Opfer mit einem Tritt seiner Stiefelspitze auf den Rücken. Nachdem er einen Dolch gezückt hatte, bückte er sich und zog Narian an den Haaren hoch. Dann warf er einen Blick zu mir, wie ich in Cannans Armen dastand, und richtete einen letzten Satz an Narian.
»Leider wird dein eigener Tod dich daran hindern, den ihren mit anzusehen.«
Ich machte mich darauf gefasst, den Dolch in Narians freigelegten Nacken fahren zu sehen, denn ich konnte den Blick nicht abwenden, doch plötzlich schien der Overlord erstarrt. Etwas war geschehen, etwas, das ihn zögern ließ. Doch die Kontrahenten waren zu dicht beieinander, als dass man hätte erkennen können, um was es sich handelte. Dann ließ unser Erzfeind Narians Haare los und sank auf die Knie. Seine Hände umklammerten den Knauf des Dolches, den Narian ihm in den Bauch gerammt hatte.
Der Kriegsherr war zu siegessicher gewesen.
Der Mann, den ich liebte, kauerte sich erneut zusammen und unternahm noch den schwachen Versuch, beiseitezukrabbeln und so viel Abstand wie möglich zwischen sich und seinen Meister zu bringen. Er kam nur ein kleines Stück weit und brach schließlich zusammen. Der Overlord verfolgte ihn nicht, sondern zog mit einem Schmerzenslaut die Klinge aus seinem Bauch. Dabei strömte das Blut nur so über seine Hände und tränkte seine Kleidung.
»Schwester«, rief er und schien gegen die Benommenheit zu kämpfen, die seinen Geist zu umnebeln drohte. »Heile mich.«
Nantilam kam rasch und entschlossen zu ihm und nahm ihm den blutigen Dolch ab, der ihn verwundet hatte. Als sie eine Hand tröstend auf seine Schulter legte, schloss er die Augen und schien darauf zu vertrauen, dass sie sich um ihn kümmern würde. Er bemerkte nicht, wie sie hinter ihn trat, und ahnte gewiss nicht, was sie vorhatte.
»Ich werde um dich weinen, Bruder«, sagte sie leise, aber es klang nicht nach einer Rechtfertigung. Dann griff sie mit dem Dolch um ihn herum und zog ihn über seine Kehle.
Schockiert riss er die Augen auf und fasste sich an den Hals, aus dem das Blut herausschoss. Er versuchte zu sprechen, doch man vernahm nur noch ein kehliges Husten und Würgen. Langsam sackte er zur Seite und fiel schließlich auf den Rücken. Sein Körper zuckte noch ein paarmal, bevor er das Bewusstsein verlor. Immer noch floss Blut aus seinen Wunden, tränkte den Boden um ihn und trug das Leben fort von ihm.